Eiszeit
„Was meint sie denn damit?“, flüsterte Tori fassungslos. Nachdem die beiden Polizisten beim Verlassen der Futterkammer noch einmal über Washington gestolpert waren, waren sie in ihren Dienstwagen gestiegen und weggefahren. Sue war wortlos in ihrem Büro verschwunden. Ohne einen Wutausbruch und ohne eine Strafpredigt darüber zu halten, wie wichtig peinliche Sauberkeit und Hygiene bei der Pferdeernährung waren. Ohne ein einziges Wort hatte sie die Freundinnen einfach stehen lassen.
„Es klingt, als ob sie selbst schon darüber nachgedacht hätte, die Ranch zu schließen“, wisperte Ayla.
„Aber das wäre ja …“, begann Sina und verstummte.
Den anderen schienen ebenfalls die Worte zu fehlen. Tori kaute auf einer Strähne ihrer langen weißblonden Haare herum. Das tat sie immer, wenn ihr nichts mehr einfiel.
Es ist einfach undenkbar, dachte Sina. Wenn Sue die Sunshine Ranch dichtmachen würde – das wäre, als ob wir alle miteinander unser Zuhause verlieren würden. Wo sollten wir unsere Nachmittage verbringen, worüber würden wir reden? Seit vier Jahren trafen sie sich jeden Tag auf der Ranch. Nicht nur an Schultagen, sondern auch am Wochenende und in den Ferien. Die Pferdemädchen waren immer füreinander da. Wenn eine von ihnen krank war oder in Urlaub fuhr, übernahm eine andere ihre Pflichten auf der Ranch. Wobei sie ohnehin nur gezwungenermaßen verreisten, weil die Eltern darauf bestanden oder weil die Großeltern verlangten, dass sie sich endlich einmal wieder blicken ließen. „Warum sollten wir wegfahren?“, hatte Ayla es neulich auf den Punkt gebracht. „Besser als hier ist es nirgendwo.“
„Ist ja wohl klar, was jetzt ansteht“, bestimmte Tori. „Wir treffen uns morgen Nachmittag hier. Dann wird zuerst die Futterkammer ausgeräumt. Alles, was nicht tipptopp in Ordnung ist, wird entsorgt. Danach nehmen wir uns den Stall und die Scheuer vor. Wir dürfen nichts übersehen.“
Normalerweise hätte sich Sina über Toris Kommandoton geärgert, aber nun war sie einfach nur froh über die entschiedene Art ihrer Freundin.
„Glaubst du denn, das bringt was?“ Hannah blinzelte nervös unter dem langen, dunklen Pony hervor, der ihr Kindergesicht noch runder erscheinen ließ.
„Na klar. Wenn die Polizisten beim nächsten Mal nichts mehr finden, lassen sie Sue in Ruhe, das hast du doch gehört.“
„Aber vielleicht nützt das Aufräumen ja gar nichts“, wandte Ayla leise ein.
„Wie meinst du das?“ Tori zog fragend die Augenbrauen hoch.
Aber Sina hatte verstanden. „Du meinst, dass da irgendjemand seine Finger im Spiel hat?“
„Ganz genau. Der Sack mit dem schimmeligen Müsli wäre Juliana doch gestern aufgefallen. Wenn er schon in der Kammer gestanden hätte.“
„Aber da war nichts“, ergänzte Juliana.
„Versteht ihr? Das bedeutet, dass irgendjemand den Sack heute in die Kammer gebracht hat. Zusammen mit dem verdorbenen Brot.“
„Und wer immer das getan hat“, fuhr Tori nachdenklich fort. „Der hat Sue auch angezeigt.“
Von einer Sekunde auf die andere war Sinas Mund ganz trocken.
„Wer könnte so etwas tun?“, flüsterte Ayla.
„Und warum?“, wisperte Hannah.
Sina raste über den holprigen Trampelpfad in Richtung Stadtzentrum. Mit etwas Glück würde sie es noch einigermaßen pünktlich zur Eisdiele schaffen. Wenn sie mit aller Kraft in die Pedale trat und alle Ampeln grün waren und die Schranke am Bahnübergang offen stand …
Aber natürlich standen sämtliche Ampeln auf Rot, die Schranke war zu und Sina traf erst mit zwanzigminütiger Verspätung bei Alberto ein. Als sie in die Eisdiele stürmte, wollte David gerade gehen.
„Entschuldigung! Ich bin viel zu spät“, keuchte sie.
„Ist nicht so schlimm.“ David zuckte mit den Schultern, aber sein Gesichtsausdruck sagte etwas anderes. Sein Gesichtsausdruck sagte: Ich bin total genervt.
Sina wollte ihm von dem verdorbenen Futter erzählen, aber sie war noch völlig außer Atem. Während sie nach Luft rang, starrte David sie an. Und plötzlich sah Sina sich selbst, wie er sie sehen musste.
Die widerspenstigen dunklen Locken standen in alle Richtungen ab, ihre Stirn glänzte und auf ihrem Kinn prangten drei große Pickel. Sie trug immer noch ihre dreckigen Reitklamotten, die ausgebeulte Jeans mit den Grasflecken und das verschwitzte T-Shirt, auf dem zu allem Überfluss ein großes Herz mit der Aufschrift „I’m your darling“ gedruckt war.
Sie sah definitiv nicht gut aus. Und sie roch auch nicht gut. Sie stank nach Pferd.
„Pferde stinken nicht“, widersprach Sina ihrer Mutter immer, wenn die ihre dreckigen Reitklamotten mit spitzen Fingern in die Waschmaschine beförderte. „Sie duften!“
Aber in diesem Moment war ihr Jankos warmer, durchdringender Pferdegeruch ausgesprochen unangenehm.
„Tut mir leid“, flüsterte sie.
„Schon gut.“
„Ich lad dich zum Eis ein. Als Entschädigung dafür, dass ich dich so lange hab warten lassen“, sagte Sina.
„Nee. Ich muss … leider weg. Mir ist gerade eingefallen, dass ich … äh … noch Hausaufgaben machen muss“, stotterte David.
Das war so offensichtlich eine Ausrede, dass Sina gar nicht mehr versuchte, ihn zum Bleiben zu überreden. Er hob unsicher seine Hand und grüßte. Dann war David weg.
Sina sah durch die Schaufensterscheibe, wie er auf sein Fahrrad stieg und losfuhr, ohne sich noch einmal umzuwenden. „Verdammt“, murmelte sie. „Verdammt, verdammt, verdammt.“
David ging seit Beginn des Schuljahres in ihre Klasse. Er war aber kein Sitzenbleiber wie Tilman oder Jan, obwohl er ein bisschen älter war als die anderen Jungs. Seine Eltern waren in den Sommerferien aus Hamburg in ihre Stadt gezogen.
David sah richtig gut aus. Er war groß und dunkelhaarig und trug seine Haare so lang, dass sie ihm in die Augen fielen. Nur wenn er den Kopf zurückwarf, um sie aus der Stirn zu schütteln, sah man, dass er strahlend blaue Augen hatte.
David war von Anfang an der Schwarm aller Mädchen gewesen. Er schien das gar nicht zu bemerken. Vielleicht merkte er es auch und es ließ ihn einfach kalt. Jedenfalls behandelte er die Mädchen nett und freundlich, aber gleichgültig. Alle, bis auf Sina.
David und Sina saßen in Kunst nebeneinander. Nur in diesem einen Fach und das auch nur zufällig. Aber beim Zeichnen hat man viel Zeit zum Quatschen und so hatten sie sich besser kennengelernt und festgestellt, dass sie sich eigentlich ziemlich ähnlich waren.
Dinge, die David und ich gemeinsam haben, hatte Sina in ihr Tagebuch geschrieben.
1. Wir lieben Pferde. David ist mal geritten und überlegt, ob er wieder damit anfangen soll.
2. Wir brauchen beide genau sieben Minuten zur Schule (mit dem Fahrrad). Leider kommen wir aus unterschiedlichen Richtungen.
3. Unser Lieblingsessen ist Spaghetti Carbonara.
4. Unsere Lieblingsfarbe ist Orange.
5. Wir stehen beide auf Linkin Park.
6. Unsere Lieblingseissorten sind Erdbeere und Pfirsich.
7. Unser meistgehasstes Fach ist Mathe.
8. Unsere meistgehasste Lehrerin ist Frau Rottman-Ermisch.
9. Unser Lieblingsfach ist Kunst. Davids, weil er unheimlich gut zeichnen kann. Meins, weil ich dann neben David sitze.
In der Zeit von einer Kunststunde zur nächsten dachte Sina ziemlich viel an David. Genau genommen dachte sie pausenlos an ihn.
Sie redete auch viel von ihm. Tori war jedenfalls schon misstrauisch geworden.
„Hast du dich etwa verknallt?“, hatte sie Sina vor Kurzem gefragt.
„Quatsch!“, hatte Sina mit fester Stimme und großer Empörung erwidert. „Wie kommst du denn darauf? Ich find ihn ganz nett, das ist alles.“ Sie hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als Tori zu verraten, dass ihre Knie immer zu zittern begannen, wenn sie David irgendwo traf.
„Wenn du in ihn verknallt wärst, wär das auch ziemlich bescheuert“, hatte Tori gesagt. „David steht nämlich total auf Lucie aus der 7c.“
Sina hätte Tori zu gerne gefragt, woher sie das wusste und vor allem: ob sie sich da wirklich sicher war. Aber das ging natürlich nicht. Denn wenn sie damals nicht sofort das Thema gewechselt hätte, wäre Tori noch viel misstrauischer geworden.
Vielleicht hat sie ja Recht, hatte Sina in ihr Tagebuch geschrieben. Vielleicht bin ich wirklich in David verknallt.
Aber wenn es so war, dann sollte es keiner wissen. Tori nicht. Und David selbst schon gar nicht.
Warum auch?, dachte Sina. Wir verstehen uns prima, wir quatschen und lachen und haben eine Menge Spaß, wenn wir in Kunst nebeneinandersitzen. Mehr ist da nicht.
Dann hatte David vorgeschlagen, dass sie auch mal ein Eis zusammen essen könnten. Oder war das mit dem Eis Sinas Idee gewesen? So ganz genau konnte sie sich nicht mehr erinnern.
Auf jeden Fall hatten sie sich über ihre Lieblingseissorten unterhalten und dabei hatte Sina zufällig herausgefunden, dass David Albertos Eisdiele am Markt nicht kannte. „Aber bei Alberto gibt es das beste Eis der ganzen Stadt!“, hatte Sina gerufen und daraufhin hatte David gemeint, dass sie sich mal dort treffen könnten. Um herauszukriegen, ob das Eis wirklich so gut war.
Und Sina hatte alles vermasselt. Zwanzig Minuten hatte sie ihn warten lassen! Und warum? Wegen eines blöden Sacks mit verdorbenem Pferdemüsli und eines Korbs mit verschimmelten Brot!
„Ciao, bella!“
Sina fuhr zusammen. Neben ihr stand Viktor Hagenbusch. Blondes Wuschelhaar, unzählige Sommersprossen auf Wangen, Nase, Kinn und Stirn, auf Hals, Nacken, Armen und Beinen und vermutlich auch auf dem Rest seines schlaksigen Körpers.
Viktor und Sina kannten sich auch aus der Schule. Viktor ging in die Parallelklasse. Außerdem war er ein paar Monate lang zum Reiten auf die Sunshine Ranch gekommen, bis er dann im Sommer … Nein, daran wollte Sina jetzt lieber nicht denken.
„Hi, Viktor“, sagte sie lahm. „Was machst du denn hier?“ Blöde Frage. Was macht man wohl in einer Eisdiele? Klamotten kaufen?
„Ich wollte mir grade ein Eis holen. Soll ich dir eins mitbringen?“, erkundigte sich Viktor und steuerte schon auf die Theke zu. Hinkte er immer noch leicht oder bildete sich Sina das bloß ein?
„Welche Sorten willst du denn?“, rief er über die Schulter zurück.
Sina unterdrückte ein Seufzen. Erst vermasselte sie die Sache mit David und nun hatte sie auch noch Viktor am Hals. Warum war er überhaupt so freundlich zu ihr? Nach der Sache im Sommer hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt.
„Lass mal!“, rief sie ihm nach. „Ich wollte hier nur jemanden … ich hab jemanden gesucht.“
Jetzt kam er wieder zurück. „Echt? Schade. Na, auch gut. Hast aber was verpasst, ich hätte dich nämlich eingeladen.“ Er steckte sein Portmonee zurück in die Hosentasche. Anscheinend hatte er auch keine Lust mehr auf Eis.
„Ich muss los“, sagte Sina. „Hausaufgaben machen.“
Sie wurde rot. Dieselbe blöde Ausrede, die David benutzt hatte! Und Viktor glaubte ihr offensichtlich genauso wenig, wie sie David geglaubt hatte.
Als Sina die Eisdiele verließ, spürte sie seinen Blick im Rücken. Aber genau wie David vorhin drehte sie sich nicht mehr zu ihm um.