Mister Pipifax
18:25 Uhr. Da vorn war die Eisdiele. Hier war Sina. Sie schwang sich vom Fahrrad, stellte es in den Ständer und rannte zum Eingang.
Ihre braunen Locken wehten in alle Richtungen. Die Zöpfe waren ihr genauso wenig gelungen wie die Hochsteckfrisur. Ihre wilden Haare wollten einfach nicht so, wie Sina wollte. Egal. Sie sah super aus, fand sie, als sie sich in der verspiegelten Eingangstür sah. Am liebsten wäre sie stehen geblieben und hätte sich genauer betrachtet, aber das ging natürlich nicht. David war bestimmt schon da und beobachtete sie.
Wo steckte er denn? Da hinten, an dem Tisch, an dem er beim letzten Mal gesessen hatte? Nein, da saß ein Kaffeekränzchen, lauter dicke Damen mit kleinen Kindern.
An der Theke. Bestimmt wartete er an der Theke auf sie. Nein, da war er auch nicht, da saß nur … oh nein, bitte nicht, dachte Sina. Nicht schon wieder!
„Hi, Sina!“
„Hallo, Viktor.“
„Das ist ja ein Zufall!“ Viktor rutschte vom Barhocker und kam zu ihr herüber.
„Allerdings.“ Sina blickte sich nervös um. David war noch nicht da. Ob er absichtlich zu spät kam, um ihr die Warterei vom letzten Mal heimzuzahlen?
„Wohnst du hier oder was?“, fragte sie Viktor. „Immer wenn ich reinkomme, bist du auch da.“ Du liebe Zeit, sie klang total unfreundlich. Wenn sie Viktor gewesen wäre, wäre sie auf der Stelle abgehauen.
Aber er schien ihre Genervtheit gar nicht zu bemerken. „Mein Onkel arbeitet hier.“ Viktor wies auf einen großen, jungen Mann hinter der Eistheke. „Und ich kann vielleicht auch bald hier kellnern.“
„Willst du die Schule schmeißen?“
„Quatsch. Nur so als Nebenjob. Möchtest du ein Eis?“
„Nein. Ich meine, ja. Aber … ich bin verabredet.“
„Echt? Mit wem denn?“
Geht dich nichts an, hätte Sina am liebsten erwidert. Wo blieb David denn bloß? Warum erlöste er sie nicht endlich von diesem Angeber?
„Ist ganz gut, dass ich dich treffe, Sina“, begann Viktor jetzt, wobei er ihrem Blick auswich und nervös auf den Fussboden starrte. „Ich wollte ohnehin mal mit dir reden.“
„Du mit mir?“ Sina fiel aus allen Wolken. „Wieso das denn?“
„Wegen der Sache im Sommer“, sagte er, immer noch, ohne sie anzusehen. „Mein Unfall.“
Du liebe Zeit. Sina merkte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Was gab es denn deswegen noch zu reden? Wollte er ihr Vorwürfe machen? Oder dachte er darüber nach, die Ranch zu verklagen?
„I … a … e … ih … mmm … en“, nuschelte Viktor.
„Wie bitte?“ Sina hatte kein Wort verstanden.
„Ich hab mich wie ein kompletter Vollidiot verhalten, damals“, wiederholte er.
„Du?“ Na ja, das konnte Sina nicht abstreiten. Aber wenn Tori und sie sich nicht ebenfalls wie Vollidiotinnen benommen hätten, wäre nichts passiert.
„Mir ist das total peinlich“, murmelte Viktor.
Machte er sich über sie lustig? Schlimmer noch – spielte er ihr was vor, während er gleichzeitig versuchte, die Ranch in den Ruin zu treiben?
„Ich glaub dir kein Wort, Viktor Hagenbusch“, sagte Sina. „Du bist sauer auf mich und Tori, so sieht’s doch aus. Weil wir uns über dich lustig gemacht haben. War ja auch total bescheuert und doof von uns. Also, mir tut’s jedenfalls sehr leid. Aber wenn du meinst, dass du dich jetzt an Sue dafür rächen musst, dass wir Mist gebaut haben …“
„Hä? Wovon redest du überhaupt? Warum sollte ich mich an Sue rächen wollen?“
„Du weißt genau, wovon ich spreche! Von dem verdorbenen Futter, das du heimlich auf die Sunshine Ranch gebracht hast.“ Noch bevor sie den Satz beendet hatte, merkte Sina, dass sie sich gerade um Kopf und Kragen redete.
Was für ein Schwachsinn! Wenn Viktor wirklich hinter der Anzeige steckte, dann würde er das nie und nimmer so einfach zugeben. Und wenn er nichts mit der Sache zu tun hatte, dann musste er sie für total bescheuert halten.
Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hielt er sie für total bescheuert. Viktor sah sie genau so an wie Frau Wachtel neulich, als Sina in Mathe an der Tafel vorrechnen sollte.
„Sina.“ Auch Viktors Tonfall ähnelte dem von Frau Wachtel. Er klang mitleidig und fassungslos zugleich. „Alles in Ordnung mit dir? Ich habe bestimmt kein verdorbenes Futter auf die Ranch gebracht. Wofür hältst du mich eigentlich?“
Das war eine gute Frage. Wofür hielt Sina Viktor eigentlich? Für einen Aufschneider und Angeber. Jemand, der sich bei jeder Klassenparty in den Vordergrund drängen musste, der immer alles besser wusste. Ein Blender.
Anfang der Sommerferien war er plötzlich auf der Sunshine Ranch aufgetaucht, um Reiten zu lernen. Oder vielmehr: um allen zu zeigen, was für ein toller Typ er war. Denn er war völlig davon überzeugt gewesen, dass er gar keine Reitstunden benötigte, sondern sich nur auf ein Pferd zu setzen brauchte, um die härtesten Turniere zu gewinnen.
Gleich am ersten Tag wollte er mit Sina und ihren Freundinnen ausreiten. Aber das erlaubte Sue natürlich nicht. Bevor man nicht mindestens zehn Reitstunden belegt hatte, durfte man auf der Sunshine Ranch nicht ins Gelände, das war ein ehernes Gesetz.
Mister Pipifax, hatten die Freundinnen Viktor damals getauft. Alles war für ihn „Pipifax“: das Reiten an der Longe, die Übungen, die er im Roundpen absolvieren sollte, die ersten kurzen Ausritte mit dem Reitlehrer. „Geht’s noch leichter?“, spottete er, wenn er sein Pferd dazu bewegen sollte, im Parcours ein Hindernis zu überschreiten oder ein paar Schritte rückwärtszugehen.
Er war ein begabter Reiter, daran gab es keinen Zweifel. Übungen, an denen sich andere wochenlang die Zähne ausbissen, bewältigte er auf Anhieb und scheinbar mühelos.
Das hatte die sechs Pferdemädchen natürlich am allermeisten geärgert: dass Viktor nicht nur angab, sondern tatsächlich richtig gut war. „Mädels, von mir könnt ihr euch noch was abgucken“, hatte er immer geprahlt.
Bis zu seinem Sturz.
Danach war Schluss gewesen – mit der Angeberei und mit dem Reiten. Er hatte sich niemals mehr auf der Sunshine Ranch blicken lassen.
„Hey!“ Viktor legte Sina seine Hände auf die Schulter. „Mach nicht so ein Gesicht. Ich weiß, dass ich bei deinen Freundinnen unten durch bin. Das habe ich selbst verbockt. Aber Hauptsache, du weißt, dass es mir leidtut, wie blöd ich mich damals aufgeführt habe. Ich bin in Wirklichkeit gar nicht so. Also, jedenfalls nicht ganz so schlimm.“ Er grinste.
Sina räusperte sich. Ihr Kopf war wie leer gefegt. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte.
Viktor nahm die Hände von ihren Schultern. „Also, wenn du irgendwann mal so weit bist, dass du mir verzeihen kannst, lass es mich wissen. Dann essen wir ein Friedenseis zusammen. Albertos Erdbeer-Pfirsich-Becher ist nämlich spektakulär.“
„Ich weiß.“ Sinas Stimme klang wie ein verrostetes Gartentor.
Ausgerechnet Erdbeer-Pfirsich.
Viktors Blick wanderte über ihre Schulter zur Tür. „Ich glaube, deine Verabredung ist da.“
Er nickte zu David, der im Eingang stand und zu ihnen herüberstarrte.
Sinas Herz blieb einen Moment lang stehen, dann galoppierte es los.
„Da bist du ja endlich!“ Sie bahnte sich einen Weg durch die Tische und Stühle zu David. Erst als sie ihn fast erreicht hatte, fiel ihr ein, dass sie Viktor einfach stehen gelassen hatte, ohne sich von ihm zu verabschieden. Betroffen drehte sie sich noch einmal zu ihm um. Aber er unterhielt sich jetzt mit seinem Onkel und bemerkte es gar nicht.
„Hier ist es ja total voll!“ David wandte sich um und verließ die Eisdiele wieder. Es regnete immer noch. Die Markise des Cafés stand voll Wasser und beulte sich nach unten aus.
„Aber hinten an der Wand war noch ein Tisch frei“, meinte Sina. „Komm, wir gehen wieder rein.“
„Geh du doch allein rein!“, sagte David.
Sie lachte ein wenig unsicher. Sollte das ein Witz sein?
„Stimmt was nicht?“, fragte sie dann.
„Nee, alles in Ordnung, alles bestens“, meinte er finster. „Sorry, dass ich zu spät gekommen bin. Aber im Gegensatz zu mir neulich hast du dir die Wartezeit ja prima vertrieben!“
„Ich habe … was?“ Sina verstand kein Wort. „Sag mal, bist du etwa sauer, weil ich mich mit diesem Blödmann unterhalten habe?“
Mit diesem Blödmann. Das war gemein. Aber Viktor konnte sie ja zum Glück nicht mehr hören.
„Komm, tu doch nicht so. Du hast schon beim letzten Mal mit ihm rumgemacht.“
„Bitte was?!“
„Ich weiß genau Bescheid. Ich bin nämlich noch mal zurückgekommen, weil ich es mir anders überlegt hatte. Da hab ich euch zusammen gesehen!“
„David, sag mal, spinnst du? Viktor ist früher auf der Sunshine Ranch geritten. Daher kennen wir uns. Wir haben uns nur unterhalten. Mehr ist da nicht, ich schwör’s!“
Davids linke Schuhspitze fuhr die Furchen im Kopfsteinpflaster nach. Er hielt den Kopf gesenkt, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Trotzdem merkte sie, wie sein Widerstand zu schmelzen begann.
„Komm, David. Lass uns wieder reingehen. Wir essen ein Eis. Hier draußen ist es so scheußlich und mir ist schweinekalt.“ Vielleicht doch lieber kein Eis, sondern eine heiße Schokolade.
„Ich hab gesehen, dass er dich angefasst hat.“
Sie dachte an Viktors Hände auf ihren Schultern. Hatte David sie wirklich die ganze Zeit beobachtet?
„Es ist alles vollkommen harmlos. Wirklich, du kannst mir vertrauen.“
Ich will nur dich, hätte Sina fast gesagt. Im letzten Moment schluckte sie die Worte herunter.
David wollte nicht mehr zurück ins Café, aber immerhin begleitete er Sina nach Hause.
„Vielleicht findest du das total übertrieben, aber ich hasse es, wenn ich nicht weiß, woran ich bin. Ich habe schlechte Erfahrungen gemacht“, erklärte er, als sie ihre Fahrräder nebeneinanderher durch den Nieselregen schoben.
„Womit?“
„Ich hatte mal eine Freundin, die hat was mit meinem besten Freund angefangen. Ich bin nur durch Zufall dahintergekommen. Das war echt … scheiße.“
„Kann ich mir vorstellen.“ Sina schob ihr Fahrrad durch eine tiefe Pfütze. Sie wollte einen großen Schritt darüber hinweg machen, aber sie trat zu kurz. Das Wasser schwappte in ihre Ballerinas.
David blieb stehen.
„Ich weiß gar nicht, warum ich dir das alles erzähle“, murmelte er.
Sina blieb ebenfalls stehen. Aber ihr fiel keine Antwort ein, deshalb schwieg sie.
„Ich find dich nämlich total nett.“
Sina schluckte. „Ich find dich auch total nett“, erwiderte sie.
Ihre Stimme klang schon wieder wie ein Gartentor, das dringend geölt werden musste.
Ihr Herz raste. Und der Regen verwandelte ihre Locken in nasses Gestrüpp. Wenn sie sich doch nur Zöpfe geflochten hätte!
David streckte seine Hand aus.
Mit dem Zeigefinger wischte er ihr einen Regentropfen von der Wange. Das war einerseits sinnlos, weil ja ständig neue Tropfen vom Himmel fielen. Aber andererseits auch sehr schön.
Er räusperte sich. „Lass uns weitergehen. Bevor wir hier ertrinken.“
Sie gingen schweigend bis zu Sinas Haus. Sina hatte nicht den Hauch einer Ahnung, was David dachte. Sie selbst hatte jedenfalls nur eine einzige Frage im Kopf: Ob er mich gleich küsst? Sina war noch nie von einem Jungen geküsst worden. Noch nicht einmal beim Flaschendrehen.
„Ein mieser Kuss kann echt alles verderben“, sagte Tori immer, die Sina überall voraus war, auch in puncto Jungs. „Wenn ein Junge nicht küssen kann, macht man am besten direkt wieder Schluss.“
Marten, mit dem Tori im letzten Schuljahr gegangen war, war wohl ein schlechter Küsser gewesen. Jedenfalls hatte die Beziehung zwischen ihm und Tori nur drei Wochen gehalten.
Woran erkannte man eigentlich, ob ein Kuss gut oder schlecht war, fragte sich Sina. Vielleicht war sie selbst ja eine ganz erbärmliche Küsserin.
Am liebsten wäre sie auf ihr Fahrrad gestiegen und geflohen.
David gab ihr einfach nur die Hand. „Gute Nacht, Sina. Tut mir leid, dass jetzt wieder nichts aus unserem Eis geworden ist.“
Sinas Hand war heiß und nass vor Aufregung, obwohl ihr so kalt war. „Beim nächsten Mal“, sagte sie. Ihre Stimme zitterte. Hoffentlich bezog er das auf die Kälte.
„Aller guten Dinge sind drei.“ David schaute sie nachdenklich an. Sinas Kniegelenke schmolzen. Noch so ein Blick und sie würde sich auflösen und in einer der Regenpfützen zerfließen.
„Nun haben wir uns überhaupt nicht über mein Praktikum unterhalten“, bemerkte er. „Dabei wollte ich dir doch von Robert erzählen.“
„Ach so. Genau. Wie ist es denn?“
„Gut. Interessant. Ich meine, ganz unabhängig von den Nachforschungen. Könnte mir vorstellen, dass ich so was später mal mache.“
„Und hast du irgendwas rausgekriegt – ich meine, wegen der Ranch?“ Verdammt, warum hörte sich ihre Stimme nur so an, als hätte sie Watte im Mund?
„Bis jetzt noch nichts. Aber ich hab ja auch erst einen Tag dort gearbeitet. Soweit ich es beurteilen kann, läuft die Agentur ganz gut, Robert hat viele Aufträge. Er nagt also nicht am Hungertuch.“
„Aha.“
„Er ist total sympathisch. Superlocker. Also ich kann mir nicht vorstellen, dass er seine Exfrau ruinieren will.“
„Ich eigentlich auch nicht.“ Aber zu Viktor passte die Aktion mit dem Futter genauso wenig. Nach ihrer Unterhaltung von vorhin erschien ihr der Verdacht geradezu absurd.
„Hat Ayla denn irgendwas rausgefunden? Die wollte sich doch als Putzfrau bei den Fischers einschleichen“, fragte David.
„Sie hatte heute auch ihren ersten Tag“, meinte Sina. „Wir treffen uns morgen, dann erfahr ich mehr.“
„Gib mal Bescheid, wie es bei ihr gelaufen ist. Und ich halte ebenfalls Augen und Ohren offen. Vielleicht täuscht der erste Eindruck ja und Robert verbirgt doch was.“
„Danke“, sagte Sina.
„Nichts zu danken.“ David zögerte. „Robert ist ziemlich viel unterwegs“, fuhr er dann fort. „Wenn du willst, ruf ich dich mal an, wenn die Luft rein ist, dann kannst du vorbeikommen und dir selbst einen Eindruck von der Agentur machen. Vielleicht fällt dir ja irgendwas auf, was ich übersehe.“
„Gute Idee. Gerne.“
„Also dann. Ich glaube, du solltest jetzt besser reingehen.“
Bevor Sina antworten konnte, beugte sich David nach vorn. Sein Gesicht war jetzt ganz dicht an ihrem. Sein Mund schwebte vor ihrem Mund. Ihr Herz machte einen entsetzten Satz. Als ob er ein Messer gezogen hätte, um sie damit zu bedrohen. Er gab ihr aber nur einen Kuss auf die Wange. Ganz zart. „Gute Nacht.“
„Gute Nacht.“ Sie brachte die beiden Worte kaum heraus, weil ihr Herz jetzt irgendwo in ihrem Hals schlug. Dann floh sie ins Haus, ohne sich noch einmal umzudrehen.