Taamin hatte für sie bewusst nicht das Hotel Suitess gewählt, sondern das Radisson Blu Gewandhaus, circa einen Kilometer vom Suitess entfernt. Ein Aufeinandertreffen der Gäste war daher unwahrscheinlich. Das Radisson Blu war zwar nicht so luxuriös und stilvoll, aber es ließ trotzdem keine Wünsche offen. Sie trafen am frühen Abend ein.

Seit der Landung fühlte Sirona sich verspannt, eine gewisse Unruhe war einfach nicht zu verleugnen. Sie bezog die Prinz-Phillippe-Suite, Taamin ein angrenzendes, jedoch nicht mit der Suite verbundenes Einzelzimmer.

Die Reise war nicht besonders lang und strapaziös gewesen, und trotzdem fühlte sich Sirona völlig erschöpft. Ihr Verstand sagte ihr, sie sollte auf der Hut sein, vorsichtig bleiben und sich nicht zu sicher fühlen. Müde und erschöpft ging sie, eingewickelt in einen flauschigen Bademantel, ins Bett und fiel in einen langen und erholsamen Schlaf. Sie hatte keine schweren Gedanken beim Einschlafen, keine Träume, die neue Rätsel aufwarfen. Da war nur der süße Schlaf, der ihre Seele streichelte und sie am nächsten Morgen durch den Duft von frischem Kaffee in der Nase mit dem Gefühl erwachen ließ, frisch geboren worden zu sein.

Sie blinzelte etwas irritiert und sah Taamin gegenüber ihrem Bett in einem bequemen Sessel sitzen. In seinen Händen hielt er eine Tasse heißen Kaffee, aus der er, als sie die Augen öffnete, gerade einen Schluck genommen hatte.

»Schleichst du dich immer in die Schlafzimmer holder Jungfrauen?«, krächzte sie ihn mit hochgezogenen Augenbrauen überzogen pikiert an.

Er grinste. »Als dein Schutzengel gibt es für mich kaum ein Geheimnis, was dich betrifft, und es ist meine Verpflichtung, meinem Schützling den Puls zu fühlen, wenn er um dreizehn Uhr mittags immer noch reglos im Bett liegt und keine Anstalten macht, die Augen zu öffnen, obwohl heute doch der große Tag ist.«

»Dreizehn Uhr!« Sirona fiel fast aus dem Bett, als sie aufsprang. »Oh Gott!«

»Ich dachte, du möchtest vorher noch einen Kaffee trinken.«

Sie streckte ihm die Hand entgegen, um nach einer Tasse Kaffee zu betteln. Sirona trank ihn und spürte, wie er in ihrem Magen ankam und sich ausbreitete. Sie war sich ziemlich sicher, dass die plötzliche Übelkeit, die sie überfiel, nicht vom dem schwarzen Gebräu herrührte, sondern etwas mit ihrer Nervosität zu tun hatte, die sie schlagartig übermannte, wenn sie an den heutigen Tag dachte.

Sie ging ins Bad und stellte sich so lange unter die Dusche, bis sich ihr Magen beruhigte. Sie dachte an Darkens Augen, die neben Stärke auch so viel Dunkelheit ausstrahlten. Sie dachte an den Tod. Sie erinnerte sich an das Gefühl, als sie in den Rückspiegel geschaut hatte, an das Wissen, ihn bereits zweimal besiegt zu haben. Aber das waren nur Scheinsiege gewesen. Wenn er gewollt hätte, dann würde sie jetzt nicht hier unter der Dusche stehen, sondern irgendwo unter der Erde liegen. Sie erinnerte sich an seinen Blick, als er ihr in einem früheren Leben den tödlichen Stoß versetzt hatte, an seine dunklen, blitzenden Augen, als er vor einer Woche wieder mit dem Schwert auf sie zugekommen war. Sie erinnerte sich an ihre Geistreise auf dem Felsen, als sie zu ihm geflogen war, um seine Ängste zu spüren und seine Panik, sie zu verlieren. Sie hatte hinter seine Fassade gesehen. Sie erinnerte sich an sein Verlangen nach ihr, wie er sich nach ihr verzehrte. »Ich bin reiner Geist, reiner Geist bin ich, frei von allen Grenzen, sicher geheilt.« Sie erinnerte sich an Claire, die ihr eindringlich geraten hatte, ihren Verstand auszuschalten und einfach nur ihren Wahrnehmungen zu vertrauen und ihnen zu folgen, statt sie ständig unter dem Deckmantel angeblicher Vernunft zu verstecken. Ihr Verstand sagte ihr, sie sollte auf der Hut sein, vorsichtig sein und sich nicht allzu sicher fühlen. Ihr Bauch und ihr Geist sagten ihr, dass sie heute da ankommen würde, wo sie immer schon ankommen wollte.

Es klopfte an der Tür, und die Friseurin trat ein, ausgestattet mit Kamm, Föhn und einem gewaltigen Bürstenset. Sirona fragte sich, wo sie diese ganzen Bürsten an ihrem Kurzhaar einsetzen wollte. Und tatsächlich dauerte es keine zwanzig Minuten, bis die Frisur saß.

Beim Make-up legte sie selbst Hand an. Es entsprach dem normalen Make-up, das sie fast täglich trug, ein heller passender Lidschatten, heute in einem Eisblau, zum Augenwinkel hin etwas ins Anthrazit verlaufend. Sie legte immer einen dunklen, breiten Lidstrich auf, den sie mit Wasser und schwarzem Lidschatten selbst anrührte. Mit Mascara ging sie stets sehr großzügig um. Die Brauen, die in der Regel dunkelblond gefärbt waren, zog sie noch mit einem Hauch von hellbraunem Lidschatten nach. So sehr sie dunkelroten Lippenstift auch bevorzugte, griff sie aufgrund des hellen Kleides heute zu einem zartrosa Lipgloss, der laut Verpackung 24 Stunden haltbar und kussecht sein sollte. Keine Frau konnte so einem Versprechen Glauben schenken, nicht umsonst gingen die Damen von Welt nie ohne Handtasche aus dem Haus.

Sirona hatte sich aus dem Stoff des Kleides eine kleine Handtasche gekauft, in die gerade mal der Lippenstift und die mit dem Spiegel ausgestattete Puderdose passten. Puder war gut, damit konnte man wunderbar Angstschweiß überdecken, dachte sie und grinste gemein. Fragte sich bloß, wer zuerst in Angstschweiß ausbrechen würde, wenn sie aufeinandertrafen. Sirona spürte Sarkasmus in sich aufsteigen und wurde etwas euphorischer.

Als sie das Schlafzimmer verließ, um im Salon nach der Handtasche zu sehen, stand Taamin bereits in der Tür. Ohne auch nur eine Sekunde den Blick von ihr zu wenden, schloss er die Tür, ging schweigend auf sie zu und kniete vor ihr nieder.

»Sirona, du bist nicht nur meine Königin, du bist wahrlich die Königin und nur dir will ich ewig dienen!«

Sirona schluckte. »Bitte, Taamin, steh auf, ich weiß, wer du bist. Ich weiß, was du mir geben willst. Bitte steh auf, hilf mir jetzt durch deine Stärke würdevoll aufzutreten und nicht einzuknicken. Denn egal wie ich jetzt aussehe, ich bin Sirona, die du gewärmt hast, als sie zitterte, die du weggetragen hast, als sie sich im Kolosseum die Seele aus dem Leib gebrüllt hat, und die jetzt in diesem Moment mehr Angst als Vaterlandsliebe besitzt. Die all ihre Kraft jetzt darauf konzentriert, würdevoll und stark zu wirken, in dem Wissen, es nicht zu sein. Bleib jetzt an meiner Seite und sei einfach da.«

Taamin stand auf, nickte und öffnete die Tür, um sie vorgehen zu lassen.

Im Hotel waren sie ganz normal abgestiegen unter den Namen Paul Bennet und Sirona Kern. Jetzt, als sie aus dem Fahrstuhl heraus in die Halle traten, spürte sie die Blicke jeder einzelnen Person in der Halle. Sie hätte gern die Gedanken der Menschen gehört, die sie so anstarrten.

Sie holte tief Luft, als sie in die wartende schwarze Limousine stieg. Taamin schloss behutsam die Tür mit den dunkel getönten Scheiben hinter ihr. Sicherheit, erst einmal war sie jetzt in Sicherheit. Taamin gab dem Fahrer die Adresse und der Wagen rollte an.

Sie schwiegen. Sirona ging in Gedanken alle Situationen durch, die in circa vierzig Minuten auf sie warten könnten. Robert und Lora würden da sein, mal ganz zu schweigen von ihrem Boss Henry. Was würde sie tun, wenn Darken nicht da war? Wenn er abgereist war, weil er nicht mehr mit ihr gerechnet hatte? Was, wenn er da war und sie beschimpfte oder einfach übersah? Oder wenn er Taamin bedrohte?

Sie teilte Taamin ihre Befürchtungen mit, und er nahm ihre Hand. »Er wird da sein, er wird dich nicht übersehen, und im Kofferraum liegt dein Schwert!«

»Mein Schwert, oh mein Gott, Taamin! Ich kann ihn doch nicht töten, ich will ihn nicht töten.«

»Du bist nicht allein. Wenn er da ist, wovon ich ausgehe, dann bin ich doch auch da und ich werde nicht von deiner Seite weichen. Und wenn ich jetzt auch mal fluchen darf: Schalte verdammt noch mal deinen wunderschönen Kopf aus, wenigstens jetzt, wo er dir so sehr im Weg ist!« Dann ließ er ihre Hand los, lehnte sich bequem zurück und schickte eine Welle von Ruhe und Gelassenheit, die sie dankbar annahm. »Mal so ganz nebenbei, es ist nur deiner Tapferkeit zu verdanken, dass mein Kopf noch da ist, wo er jetzt ist, nämlich auf meinem Hals. Also erzähl mir nicht, dass du Angst hast.«

»Gut, dass du an mein Schwert gedacht hast, das beruhigt mich doch ungemein«, sie sah ihn an und lächelte zynisch. »Ich fühle mich jetzt besser in der Gewissheit, dass ich dich im schlimmsten Fall beschützen kann.«

Das Tor von Castello Del Guardiano Della Spada stand weit offen, als sie in den schmalen Waldweg einfuhren. Taamin gab dem Fahrer Anweisungen, später hinter dem Haus zu parken und dort so lange zu verweilen, bis er den ausdrücklichen Auftrag bekam, das Gelände zu verlassen. Es schien Taamin offensichtlich nicht schicklich, vor den ganzen Gästen ein Schwert aus dem Kofferraum zu ziehen. Mal davon abgesehen, wie das auf Darken gewirkt hätte.

Sirona atmete tief durch. Mit dem Wagen im Rücken und Taamin an ihrer Seite hatte sie sich für einen Augenblick sicherer gefühlt. Jetzt war das Auto fort. Gleich stünde sie ihm gegenüber, ihm, dem Tiger. Und Tiger griffen stets von vorne an.

Die Zusammenkunft
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