Darken hatte eine ziemlich bescheidene Woche hinter sich. Die Wunde heilte schlechter als vermutet, da sie doch tiefer war als angenommen. Der Gedanke an die Feier am Samstag nervte ihn; er ging selbstverständlich davon aus, dass die Hauptperson, Sirona, nicht anwesend sein würde. Wer wusste schon, wo sie sich versteckt hielt!
Er hatte Aluinn beauftragt, die Feierlichkeiten abzusagen, da er seine Ruhe haben wollte, aber Aluinn hatte sich wie schon so oft diplomatisch durchgesetzt. Er hatte die betrieblichen Belange in den Vordergrund gestellt, aber vor allem auch die Tatsache, dass Freddie, einer von Darkens Vertrauten, nach mindestens 150 Jahren wieder einmal die Chance erhielt, Darken gegenüberzutreten. Seitdem Freddie damals um Taamins Aufnahme in den Orden gebeten und Darken aus Verbundenheit mit Freddie zugestimmt hatte, gab es kaum jemanden an Darkens Seite, der loyaler gewesen wäre als Freddie. Allein ihm zuliebe ließ Darken sich von Aluinn breitschlagen, das Fest für die Mitarbeiter stattfinden zu lassen.
Darken erinnerte sich noch gut, wie verzweifelt Freddie damals gewesen war. Er hatte sich gegen alle Vernunft in eine Sterbliche verliebt. Sie war Indianerin vom Stamm der Dog Rib Rae und Tochter eines Häuptlings. Als sie für Freddie den Stamm verließ, zogen sie nach Yellowknife, wo er begann in Darkens Namen eine Holding mit weltweit gestreuten Tochtergesellschaften aufzubauen. Sie hatten keine gemeinsamen acht Jahre, bevor sie starb.
Den Schmerz über den Verlust hatte Freddie nie verwunden. Es gab nach ihr keine Frau mehr in seinem Leben, nur den gemeinsamen Sohn Taamin, für den er immer da war und für den er alles gab, was er hatte. Als Taamin zehn Jahre alt wurde, bat Freddie Darken darum, ihn in die Universidad Privada Élite De Las Espadas aufzunehmen, eine Schule im Landesinneren von Mexiko.
Darken hatte diese Schule im Schutzmantel der Holding gegründet. So konnte er alle fünfzig Jahre einen fiktiven Nachfolger für seine Person heranziehen, um unangenehmen Fragen bezüglich der Erbfolge aus dem Weg zu gehen. Dass es einen angeblichen Sohn gab, der ihn regelmäßig beerbte, war für alle Behörden dieses Planeten nachvollziehbar, und aufgrund seines seltenen Auftritts in der Öffentlichkeit konnte niemand Verdacht schöpfen, denn kein Mensch überlebte mehr als zwei Generationen von Darkens Lebensspanne. Gleichzeitig rekrutierte die Schule aus den Kindern von Ordensbrüdern oder auffälligen, hochinteressanten Kindern, die keine Familie hatten, ihren Nachwuchs für weitere Vakanzen in der Bruderschaft.
Zurzeit gab es neben Darken nur acht Ordensbrüder und Darken war immer bemüht, diesen Kreis so klein wie möglich zu halten. Lediglich die wichtigsten Schlüsselfunktionen waren mit unsterblichen Ordensbrüdern, die in Darkens Geheimnis eingeweiht waren, besetzt. Alle waren in ihrer Lebensdauer abhängig von ihm. Starb er, starben auch sie. Aber nicht nur sein eigener Tod konnte für sie das Ende bedeuten, allein sein Wille und seine Macht konnten ihren Tod heraufbeschwören.
Taamin war damals schon auffällig begabt, als er 1920 der Schule beitrat. Im Januar desselben Jahres trat der Friedensvertrag von Versailles in Kraft und beendete damit offiziell den Ersten Weltkrieg. Als Taamin seine Ausbildung und Studien nach neunzehn Jahren auf der Schule beendete, brach im September 1939 in Europa der Zweite Weltkrieg aus. Darken, der bereits 1937 die Entwicklung vorausgesehen hatte, als die Japaner mit ihrer zweiten Invasion in China die ersten Impulse dafür schufen, hatte sich 1938 nach Mexiko zurückgezogen und seine Besitztümer gesichert. Auf seine Anweisungen hin wurden alle Schüler in der Schule zurückgehalten und aufgefordert, zusätzliche Studien aufzunehmen.
1938 begegnete er Taamin zum ersten Mal. Taamin fiel nicht nur durch seine Schönheit auf, die er zweifellos der Herkunft seiner Mutter zu verdanken hatte, auch seine Beobachtungsgabe war ungewöhnlich. Es dauerte nicht lange, bis Taamin erkannte, wer der Gastdozent der Schule war, und ihn, Darken, direkt darauf ansprach.
Darken und Taamin verbrachten viel Zeit miteinander und sieben Jahre später, am 8. Mai 1945, als der Zweite Weltkrieg offiziell beendet wurde, ernannte Darken Taamin zum Ordensbruder und machte ihn damit unsterblich … Taamin, den er geliebt hatte wie einen eigenen Sohn, den er nun fast getötet hätte … der Einzige, der wusste, wo Sirona war, und der sich von seinem Ziehvater losgesagt hatte. Darken fragte sich, wie weit Freddie über den jetzigen Verbleib Taamins informiert war und wie weit er seiner Loyalität Darken gegenüber vertrauen konnte, wenn er dafür seinen Sohn Taamin opfern sollte.
Die Tage bis zum Wochenende schleppten sich dahin. Darken schlief lange und viel, allein durch die Wunde auf seiner Brust war er noch nicht wieder in der Lage, sein Trainingsprogramm aufzunehmen. Er begnügte sich daher damit, seine Kondition durch lange Spaziergänge einigermaßen aufrecht zu halten. Dieser Umstand verbesserte natürlich nicht seine Laune, die von Tag zu Tag schlechter wurde. Zwischendurch hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Einmal, am Montag, hätte er sogar schwören können, dass sie hinter ihm am Fenster gestanden hatte. Immer wieder empfand er unerklärliche Angstzustände, die er nach außen hin kaschierte.
Es war bereits Freitag. Er wusste, dass die Busse aus den einzelnen Ländern anreisten und er in spätestens 24 Stunden die Tore von Castello Del Guardiano Della Spada öffnen musste.
Der Gedanke, so viele Sterbliche in seiner Nähe zu haben, gefiel ihm nicht. Dies alles lag auf seinem Gemüt, und die Aura um ihn herum wurde dunkel und bedrohlich.