KAPITEL 21

 

Sie waren alle lehmverkrustet, von den Haaren bis zu den Zehen, und der Flugwind sorgte dafür, dass alles sehr schnell trocknete. Schnurrspitz insbesondere sah mehr wie die Tonfigur einer Katze aus, an die jemand ein paar Fellbüschel geklebt hatte.

Ich kann es nicht fassen, dass wir alle noch am Leben sind, sagte die Katze. Oder dass die Sandweiber ihr Wort gehalten und uns aus dem Schlamm gezogen haben. Das war der irrsinnigste Plan aller Zeiten.

Sie versuchte sich etwas von dem Lehm abzukratzen und gab es nach einer Weile auf. Ich werde mich sie schauderte waschen müssen. Nun ja, besser im Wasser zu schwimmen als im Lehm. Ich hatte die ganze Zeit Angst, dass die Wortschmiede sofort beginnen, die Golems neu zu erschaffen, aber sie waren zum Glück zu eingeschüchtert. Du, äh, warst wirklich gut mit dem Schauspielern, Res.

»War ich das?«, fragte Res ausdruckslos zurück.

»Golems zu erschaffen dauert lange«, berichtigte Yen Tao-tzu, als auf diese Antwort erneut unbehagliches Schweigen einkehrte. »Es genügt nicht, ihnen nur einfach das Wort auf die Stirn zu gravieren, das ihnen Leben verleiht. Die Wortschmiede müssen dazu außerdem in einem friedlichen, konzentrierten Zustand sein

Den werden sie so schnell nicht erreichen, sagte die Katze in schadenfrohem Tonfall und spähte zurück. Mit Halbert und der Fürstin in der Nähe und den Sandwei… Res, weißt du, dass die Leonesinnen uns folgen?

Res gestattete sich ein Schulterzucken. »So war es vereinbart.«

Ja, aber du kannst doch unmöglich die Absicht haben, dieses Versprechen zu erfüllen. Du willst doch nicht wirklich

»Ich habe nicht gelogen«, entgegnete Res. »In gar nichts.« Sie öffnete ihre rechte Hand, drehte den toten Käfer ein paarmal um sich selbst und zog ihn dann mitsamt seiner Kneifzangen aus ihrer Handfläche. Er nahm ein paar Hautfetzen mit sich, aber das machte nun auch nichts mehr aus. Res ließ ihn zur Erde hinabfallen und folgte ihm mit den Augen, bis er zu klein war, um sich noch in der Luft abzuzeichnen. »Es tut mir nur Leid um das Kleid«, sagte sie abwesend. »Es war wirklich besonders schön.«

Um das Kleid?, wiederholte die Katze. Res, wir müssen so bald wie möglich landen. Du hast eindeutig nicht mehr alles Futter in der Schale. Du brauchst Ruhe und Erholung, damit du wieder dem Verein der Vernünftigen beitreten kannst.

»So ungern ich das auch sage«, stimmte Yen Tao-tzu zu, »aber die Katze hat Recht.«

»Ich werde bald alle Ruhe haben, die ich benötige«, gab Res zurück. »Aber zuerst…« Sie blickte hoch zur Sonne und erinnerte sich wieder, wo sie sich befand. »Nach Nordosten, Teppich«, befahl sie.

»Nach Hause. Nach Siridom

Die Katze maunzte auf und kroch, gegen den Flugwind geduckt, zu Res. Sie begann Res’ Finger zu lecken, was sie lange nicht mehr getan hatte. Res, sagte sie weich. Du kannst nicht zurück nach Siridom. Das weißt du doch. Du… du wirst dort deine… du wirst dort nicht finden, was du suchst. Du wirst nichts finden. Es wird dir nur wehtun, und du bringst uns alle in Gefahr. Das weißt du.

»Ich werde dir sagen, was ich weiß, Katze«, antwortete Res träumerisch. »Ob Phantásien nun gerettet wird oder zerstört, kümmert mich nicht mehr. Du hast Recht, der Einäugige hat Recht, die Fürstin hat Recht, ihr habt alle Recht ich kann es nicht ändern. Ich will nur noch eins. Ich will meine Mutter wiedersehen. Und ich werde sie wiedersehen, in unserem Haus, und Pallas im Arachnion, und Kunla auf der Straße nach Siridom hinein, und Siridom, jede einzelne Kuppel von Siridom. Und deswegen fliegen wir jetzt dorthin.«

Aber…

Yen Tao-tzu griff die Katze beim Genick und begann sie zu streicheln, was er noch nie getan hatte. »Sei still«, sagte er fest, aber nicht unfreundlich.

In einiger Entfernung folgte ihnen die Sandwolke.

 

Es dauerte nicht lange und sie fanden die Stelle, an der das Nichts in Sefirot eingebrochen war. Um nicht in den Strudel zu geraten, der von ihm ausging, mussten sie bis weit in das Nachbarland Palali ausweichen. Als Res endlich einwilligte, zu landen und eine Pause zu machen, war es Abend. Sie fanden einen See, dessen Ufer aus Kieselsteinen bestand, nicht mehr aus Lehm. Die Katze tauchte eine Pfote in den See, schauderte, sprang zurück und näherte sich erneut widerwillig dem Wasser.

Wenn es denn sein muss…

Die verkrustete Robe auszuziehen erwies sich als wesentlich schwerer, als das Ankleiden gewesen war. Schließlich verlor Res die Geduld und riss sie sich herunter. Einige Perlen sprangen ab und kullerten zwischen die Kieselsteine. An den Risstellen war der Lehm abgefallen, und man erkannte die ursprüngliche Farbe.

Tränenblau.

Sie hätten alle sterben können. Guin war gestorben, ebenso einige der Wortschmiede. Alle Golems. Vielleicht konnten sie wiedererweckt werden. Vielleicht war aber auch jeder Golem ein Einzelwesen, und selbst wenn derselbe Wortschmied einen weiteren Golem schuf, war es ein anderer, konnte nicht mehr derselbe sein.

»Die Weberin, die seinen Teppich geschaffen hat, benutzte Tränenblau, um ihn darzustellen, und du weißt, was das bedeutet«, sagte Pallas in Res’ Erinnerung. Pallas mit ihren festen weißen Fingern und der freundlichen Gelassenheit, die ihre eigene Furcht bekämpft, das Arachnion verlassen hatte und mit zu ihrer Mutter gegangen war, damit Res Siridom verlassen konnte. Um es zu retten.

Ihre Mutter mit dem Purpurhaar, das nachts im Kerzenlicht wie geronnenes Blut schimmerte. Ihre Mutter am Webstuhl. Siridom.

Erst als sie auf die Knie fiel, wurde Res gewahr, dass sie mittlerweile bis zur Hüfte im Wasser gestanden hatte. Der Schrei, den sie so lange zurückgehalten hatte, drang aus ihr hervor, und das Wasser trug ihn davon wie den Lehm auf ihrer Haut und ihre nutzlosen, hilflosen Proteste, die immer leiser wurden und bald nicht mehr waren als die Wellen, die sich an ihren Armen brachen, als sie immer tiefer ins Wasser ging. »Nein, nein, nein, nein, nein…«

Schließlich ließ sie sich treiben, auf dem Rücken liegend, während die rote, abendliche Sonne ihre letzten warmen Strahlen auf ihrem Gesicht tanzen ließ. Es war friedlich, so im Wasser zu liegen, es dem Wasser zu überlassen, was man als Nächstes tat, wohin man trieb.

Ob man an der Oberfläche blieb.

Als sie das erste Mal untertauchte, erwartete sie halbwegs, jemanden wie den Wassermann an der Grenze zum Schattenland zu sehen, aber in diesem See gab es nichts als Wasser und immer dunklere Schatten. Schatten ohne Substanz, wie sie feststellte, als sie mit den Händen zwischen sie fuhr. Aber vielleicht schaute sie einfach nicht genau genug nach. Sie tauchte wieder auf, schöpfte Atem und ließ sich erneut sinken. Diesmal hielt sie es länger aus, aber sie konnte immer weniger erkennen. Dann wurden die Schatten von einem heftigen, soliden Etwas auseinander getrieben. Jemand packte sie unter den Armen, und sie tauchte prustend und protestierend wieder auf.

»Was hast du dir nur dabei gedacht«, schrie Yen Tao-tzu, während er sie an Land zog. »Was hast du dir nur dabei gedacht!«

»Nichts«, erwiderte Res endlich wahrheitsgemäß, als sie wieder auf den Kieselsteinen saßen, um das Feuer herum, das er inzwischen entfacht hatte. »Ich… ich habe einfach aufgehört zu denken.«

Das kann man laut sagen, murrte die Katze.

Res wärmte ihre Hände an den Flammen. Nach einer Weile sagte sie zögernd: »Es tut mir Leid.«

»Mir auch«, entgegnete Yen Tao-tzu, immer noch aufgebracht.

»Wir sind deine Freunde. Wie kannst du… wie kannst du uns nur allein lassen wollen!«

In Anbetracht seiner eigenen Geschichte erschien Res das unfreiwillig komisch, doch sie verbiss sich das Lachen. »Ich bin froh, dass ihr meine Freunde seid«, sagte sie und entdeckte, dass sie es so meinte, »und hier bei mir, hier, wo alle Dinge ihrem Ende entgegengehen.«

Dann erhob sie sich und ging zu den Leonesinnen hinüber, die in einiger Entfernung vom See lagerten. Yen Tao-tzu wollte ihr nachlaufen, doch sie rief über ihre Schulter, sie komme gleich wieder. Dennoch folgten er und die Katze ihr in einigen Schritten Entfernung. Res seufzte.

»Ich habe mein Versprechen nicht vergessen«, sagte sie zu den Leonesinnen. »Aber ich kann es erst einlösen, wenn wir zurück zu meiner Heimat geflogen sind.«

»Glauben dir«, gab eine der beiden zurück.

»Wollen Heimat selbst wieder«, fügte die andere hinzu.

»Ich fürchte nur«, meinte Res, »das ist für uns alle drei unmöglich.«

Aber wenn du nicht mehr glaubst, dass es Siridom noch gibt, fragte die Katze, als sie zurück zu ihrem Strandfeuer gingen, warum willst du dann immer noch dorthin zurückkehren?

»Weil ich auch glaube, das es noch dort ist und auf mich wartet«, sagte Res müde. »Und ich werde es erst wissen, wenn ich es mit eigenen Augen gesehen habe.«

 

In dieser Nacht träumte sie einen seltsamen Traum. Nicht von Siridom; auch nicht von der Fürstin oder den zerstörten Golems. Sie träumte von einem Raum, wie sie ihn noch nie gesehen hatte; voller Tische aus Metall, Kästen unter den Tischen und viereckigen, flimmernden Kästen auf den Tischen. Vor einem solchen Tisch saß eine Gestalt, und sie hätte nicht sagen können, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, um einen Untoten oder um einen Lebenden. Das Wesen benutzte hin und wieder Worte, die sie nicht begriff, wie »automatisch« oder »Tendenz«. Aber sie erkannte das Bild auf seinem flimmernden Kasten, in den er hineinsprach. Es war das der Katze, und sie antwortete ihm, laut, wie sie es das eine Mal in den Flammen der Zeit getan hatte.

»Mein Auftrag ist so gut wie erledigt«, sagte die Katze. »Sie ist nie auch nur in die Nähe der Lösung gekommen. Kann die Firma mich jetzt nicht gehen lassen?«

»Warum so eilig, Wanderer?«, erwiderte die Gestalt hinter dem Tisch. »Dein Auftrag ist erst erledigt, wenn es kein Phantásien mehr gibt. Die bisherigen Versuche zeigten die unangenehme Tendenz, in letzter Sekunde zu versagen. Das Mädchen ist ein Risikofaktor, also bleib, wo du bist.«

»Aber sie kann doch gar nichts mehr tun«, sagte die Katze. »Dazu brauchte sie ein Menschenkind, und der einzige Mensch, der sie kennt, ist ein alter Zweibeiner, der längst keine Wünsche mehr hat. Außerdem ist sie die ganze Angelegenheit leid, und wer kann es ihr verübeln?« Die Katze zögerte, dann setzte sie hinzu: »Es war schwer für sie. Lasst sie wenigstens in Frieden ihr Ende finden. Und lasst mich gehen. Ihr habt mir versprochen, dass ich wieder zwischen den Welten wandern kann, wenn ich eine mögliche Heldin vom Weg abbringe. Ihr habt es mir versprochen, ihr alle.«

»Und die Firma hält ihre Versprechen«, entgegnete die Gestalt geschmeidig. »Wenn die Gegenleistung erbracht ist. Du bleibst, wo… einen Moment.« Das Wesen runzelte seine Stirn, und das geschlechtslos wirkende Gesicht neigte sich etwas tiefer. »Da stimmt etwas… da hat sich jemand eingehackt. Aber das ist unmöglich. Dazu müsste einer der Gesprächsteilnehmer… du verräterisches kleines Biest!«, rief es mit einem Mal. »Du hast sie mithören lassen!«

»Ich doch nicht«, widersprach die Katze, aber das Wesen drückte mit seinen Fingern gegen den Tisch, und mit einem Mal herrschte nichts als Schwärze.

Res wachte auf.

 

Eine Zeitlang blieb sie liegen, ohne sich zu rühren. Dann drehte sie sich langsam um, zu der Katze, die an ihrer rechten Seite lag, während Yen Tao-tzu zu ihrer Linken schlief. Die Katze war wach; ihre blauen Augen glühten in der Nacht.

Was genau, fragte Res in ihrem Kopf, ist ein Wanderer?

Wenn die Katze eine andere Frage erwartet hatte, so ließ sie es sich nicht anmerken. Sie versuchte auch nicht mehr, Unwissenheit oder Missverständnisse vorzugeben.

Du stammst aus dieser Welt, erläuterte sie, und Yen Tao-tzu aus derjenigen der Menschen. Aber es gibt Wesen wie mich, die keine eigene Welt haben. Dafür können wir uns zwischen den Welten bewegen. Für euch ist das sehr schwer, fast unmöglich, und die einzige erfolgreiche Methode zerstört den Kern eures Wesens. Für uns ist es mühelos normalerweise. Aber ich fand mich eines Tages in Phantásien ohne eine Möglichkeit, in eine andere Welt zu wechseln. Das lag daran, dass zu diesem Zeitpunkt das Nichts begonnen hatte, sich auszubreiten, und es… um es einfach auszudrücken, es vergiftet die gewöhnlichen Verbindungen zwischen Phantásien und anderen Welten oder unterbricht sie ganz, bis auf eine, und die ist mir nicht zugänglich. Sie machte eine Pause. Res, keine Katze kann es vertragen, irgendwo eingesperrt zu sein. Und wäre das Gefängnis auch noch so groß. Und Phantásien wird immer kleiner.

Also hast du einen Handel abgeschlossen.

Ja.

»Und deine Aufgabe war es sicherzustellen, dass ich die rechte Lösung nicht finde«, sagte Res, merkte zu spät, dass sie laut gesprochen hatte, und verstummte. Doch an den ruhigen Atemzügen des schlafenden Yen Tao-tzu änderte sich nichts.

Ja, entgegnete die Katze wieder und fuhr fort: Es gab mehrere Phantásier, die in sich die entsprechenden Möglichkeiten trugen. Auf jeden wurde ein Wanderer angesetzt. Der Gesandte der Kindlichen Kaiserin war natürlich der wahrscheinlichste Held, also schickte man ihm einen Werwolf hinterher. Sie rümpfte die Nase. Unsereiner ist mit dem Wandererleben zufrieden, aber Werwölfe gefallen sich darin, in Selbstmitleid den Mond anzuheulen, wenn sie einem nicht an die Kehle gehen. Das kommt von der Verwandtschaft mit Hunden, wenn du mich fragst. Nur sind die Biester eben die gefährlichsten von uns.

Was ist mit dem Gesandten geschehen?

Das weiß ich nicht. Von dem Werwolf hat auch niemand mehr etwas gehört.

Was, fragte Res und wunderte sich, warum sie keinen Hass, keine Bitterkeit mehr empfand, was ist die richtige Lösung?

Die Katze schwieg.

Du hättest mich nicht mithören lassen, wenn du diesen Handel nicht leid gewesen wärst, bemerkte Res.

Die Katze vergrub ihren Kopf zwischen den Vorderpfoten. Die Kindliche Kaiserin braucht einen neuen Namen, dann wird sie geheilt, und Phantásien mit ihr. Nur ein Mensch kann ihr diesen neuen Namen geben, und der einzige Weg, der noch von der Menschenwelt aus nach Phantásien offen ist, kann nur beschritten werden, wenn es einem Phantásier gelingt, die Aufmerksamkeit eines Menschen zu erregen.

»Ich hatte sie Schwanentochter genannt«, sagte Yen Tao-tzu ruhig, und Res begriff, dass er die ganze Zeit schon wach gewesen war.

Was für ein Zeitpunkt, um den Rest deines Gedächtnisses wiederzufinden, kommentierte die Katze in säuerlichem Ton. Nur kannst du diese Heldentat nicht wiederholen, und du weißt das. Jeder von euch begegnet der Kindlichen Kaiserin nur einmal.

»Ich weiß«, bestätigte Yen Tao-tzu. »Aber warum verrätst du uns nicht, wieso du dich zu diesem letzten Seitenwechsel entschlossen hast?«

Die Katze bohrte ihre Krallen in den Boden. Nun… es ist ohnehin schon zu spät, die Auskunft nützt nichts mehr, also habe ich meinen Auftrag erfüllt. Das werden sie zugeben müssen. Noch weiter zu täuschen… also, um offen zu sein, Res, ich fand, du hast es verdient, wenigstens in Ehrlichkeit und mit dem Wissen um die Wahrheit unterzugehen.

»Und falls Phantásien doch nicht untergeht und sich im letzten Moment erneuert«, ergänzte Res mit einem schwachen Lächeln,

»dann weiß ich, dass du letztendlich doch auf meiner Seite warst, und kann dich notfalls gegen wütende Werwölfe oder dergleichen verteidigen.«

Ich wusste, dass ich es dir beibringen kann, ganz wie eine Katze zu denken.

Eine abgrundtiefe Traurigkeit erfasste Res. »Aber ich bin keine Katze«, sagte sie. »Ich… ich war einmal ein gewöhnliches Mädchen. Vielleicht zu neugierig und zu sehr überzeugt, im Recht zu sein, aber nicht… Was ich jetzt bin, das weiß ich nicht. Diese Reise hat mich zu einem Ungeheuer gemacht, Schnurrspitz, und du hättest mir das ersparen können.«

Siehst du?, sagte die Katze. Zu Beginn der Reise hättest du mir stattdessen vorgeworfen, ich hätte Phantásien die Ausbreitung des Nichts ersparen können. Aber das wäre weniger ehrlich gewesen. Du und ich, wir denken zuerst an die Auswirkungen, die Ereignisse auf uns selbst haben, wir machen uns nichts mehr darüber vor, und es hält uns am Leben. Ich würde sagen, das ist kein schlechter Tausch gegen das Mädchen, das in seinem Zimmer saß und schmollte, weil seine Mutter andere Pläne für es hatte.

Es war sinnlos. Sie redeten aneinander vorbei, obwohl ein Teil von ihr fand, dass die Katze im Recht war.

»Morgen fliegen wir nach Siridom«, sagte Res und beendete damit das Gespräch. Doch keiner von ihnen konnte in dieser Nacht noch schlafen.

 

Am Morgen suchten sie sich einige Beeren; die Katze hielt vergeblich nach Mäusen Ausschau, dann, widerwillig, nach Käfern oder Würmern, und kehrte mit dem Bericht zurück, es gebe keine mehr.

Überhaupt keine mehr, schloss sie. Und das ist unmöglich. Als ob sie alle fortgelaufen wären, aber wohin können Mäuse, Käfer und Würmer schon laufen?

»Ich habe das ungute Gefühl, dass wir es herausfinden werden«, sagte Yen Tao-tzu.

An diesem Tag konnten sie keine zwei Stunden fliegen, ohne wieder irgendwo dem Nichts ausweichen zu müssen. Ob Gegenden mit Städten, Ebenen oder Moraste, hügelige Wiesen oder feuchte Urwälder Phantásien war wie eine mit Sprüngen und Brüchen durchzogene Tonplatte, auf der einmal Figuren gestanden hatten, bis jemand begann, die Platte schräg zu halten, nicht einfach umzukippen, sondern schräg zu halten, damit sie, eine nach der anderen, abstürzten.

Das war das Schlimmste: Es gab auch keine Massen mehr, die vor der blinden Vernichtung flohen. Die einzige größere Menge von lebendigen Wesen, die sie von oben ausmachen konnten, stürzte sich geradewegs in das Nichts hinein.

Phantásien hatte sich aufgegeben.

Und warum auch nicht, dachte Res. Ich hatte ein Ziel, und ich habe es ebenfalls aufgegeben. Man erreicht einen Punkt, an dem man nur noch etwas will, das man in Händen halten kann. Nicht Rettung für jedermann, nicht Freiheit für alle, nicht Herrschaft oder Heldentaten nur diejenigen, die man liebt, noch einmal in den Armen halten. Und das ist alles.

Aber es war einmal anders gewesen, das wusste sie noch. Es hatte Orte wie das Sternenkloster Gigam gegeben, in denen die klügsten Wesen von ganz Phantásien sich zusammenfanden, um über die großen Ungelösten Fragen nachzugrübeln, nicht weil es ihnen etwas nützte, nicht weil es sie persönlich betraf, sondern weil Denken etwas Gutes war und alle anging. Es hatte Leute wie Timotheus den Walführer gegeben, die misstrauischen Fremden einfach so halfen, ohne Gegenleistung, und später keine bösen Absichten offenbarten, sondern nur gute Wünsche. Es hatte… es gab jemanden wie Pallas, die ihr Leben damit verbrachte, Teppiche wiederherzustellen, die sie doch nie sehen konnte, um der Welt ihre Schönheit zu bewahren.

Als ein Tropfen auf den Teppich fiel, schaute Res nach oben, auf der Suche nach Regenwolken, fand aber nur einen wolkenlosen blauen Himmel. Da erst merkte sie, dass sie zu weinen begonnen hatte. Es waren keine wütenden oder verzweifelten Tränen, und sie hatten kaum etwas mit ihr selbst zu tun. Es war das verlorene Phantásien, das sie beweinte.

Die nächsten Tränen rannen nicht mehr ihr Gesicht hinunter, sondern gefroren zu kleinen salzigen Kristallen auf ihren Wangen.

Täusche ich mich, oder ist es viel zu kalt hier?, beschwerte sich die Katze und kletterte auf Res’ Schoß. Yen Tao-tzu schaute hinunter, wo nichts als schneeige Berge in blendendem Weiß zu sehen waren.

»Kein Wunder«, bemerkte er und rückte dicht neben Res.

»Die Leonesinnen«, sagte sie plötzlich. »Sie werden das vielleicht nicht schaffen.«

Na und? Umso besser! Falls du es vergessen hast, die wollen immer noch…

»Ich habe es nicht vergessen«, sagte Res und drehte sich um. Die kleine Sandwolke veränderte ständig ihre Form und schien tatsächlich mit ernsthaften Schwierigkeiten zu kämpfen. »Teppich, flieg zurück, unter die Sandwolke.«

Was?!

»Ich verstehe«, sagte Yen Tao-tzu. »Jedes Leben ist kostbar, vor allem, wenn überall sonst Leben untergeht.«

Ja, vor allem mein Leben, gab die Katze zurück und beließ es dabei.

Als der Teppich unter der Sandwolke verharrte, rief Res: »Fliegt mit uns! Wenn wir alle unsere Wärme miteinander teilen, werden wir auch alle das Gebirge überqueren können.«

Die quellende, ständig mit der Erstarrung kämpfende Sandwolke zog sich zusammen. Dann strömte sie in zwei kleinen Säulen auf den Teppich und formte sich zu zwei etwas zu großen Katzen, die aber weniger Platz wegnahmen, als es zwei weitere Gestalten in Res’ Größe getan hätten. Schnurrspitz machte Anstalten, sie anzufauchen, und gab es auf, als sie nicht reagierten, sondern stattdessen bei Yen Tao-tzu Schutz suchten. Er strich einer von ihnen über den Kopf, ehe er sich darauf besann, wer sie waren.

»Sand in der Hand«, sagte er zu Res, nachdem sie den Teppich wieder in die umgekehrte Richtung gebracht hatte. »Als ich nach Phantásien kam, war ich von Reimen wie gebannt. Die Gedichte in meiner Heimat reimen sich nicht, musst du wissen. Reime waren neu, und ich lernte so viele wie möglich.«

»Weißt du inzwischen, was du in deiner Heimat getan hast?«, fragte sie. Mittlerweile war es so kalt, dass sie Mühe hatte, ihre Lippen zu bewegen. Sie wunderte sich, warum es Yen Tao-tzu weniger auszumachen schien.

Er nickte und öffnete erneut den Mund, doch kein Laut drang hervor. Stattdessen schirmte er seine Augen ab und blickte wieder auf die eisigen Gebirgsspitzen unter ihnen. Er schüttelte den Kopf und sah noch einmal hin, als traue er seinen Augen nicht. Dann deutete er stumm auf das, was er entdeckt hatte.

Die Berggipfel machten Platz für eine endlose, schneebedeckte Ebene. Und mitten in dieser Hochebene, deutlich gegen das gleißende Weiß erkennbar wie ein Stück Himmel auf der Erde, stand ein kleiner, schmaler Berg aus leuchtendem Blau.

»O nein«, sagte Res, und sogar ihre Zähne wurden taub in der Kälte. »Zweimal falle ich nicht darauf herein.«

Ich wäre ja ganz deiner Meinung, verkündete die Katze bibbernd, aber ich glaube nicht, dass die Fürstin in der Lage war, ausgerechnet hier oben noch einen gefälschten Wandernden Berg zu bauen. Außerdem, als wir sie zurückgelassen haben, war sie nicht eben in der besten Verfassung. Hoffnungsvoll fügte sie hinzu: Beim Alten vom Wandernden Berge ist es bestimmt warm.

Den Alten vom Wandernden Berge konnte man nicht suchen, nur finden. Und nun, da Res ihn nicht mehr gesucht hatte, hatte sie ihn gefunden.

Eigentlich gab es nichts mehr, was sie von ihm wissen wollte. Aber die Katze war nicht die Einzige, die zitterte; und wenn schon sonst nichts, so konnte er ihr zumindest verraten, was mit Siridom geschehen war. Vielleicht auch, ob der Gesandte der Kindlichen Kaiserin noch auf der Suche nach einem Menschenkind war.

Andererseits mochte es besser sein, all das nicht zu wissen und sich noch ein paar Stunden länger an die letzten Hoffnungen zu klammern, die ihr noch geblieben waren. Res zögerte, bis Yen Taotzu einen verwunderten Schrei ausstieß, in dem Freude und Trauer zugleich mitschwangen.

»Sieh nur!«, rief er. »Sie ist es!«

Die Fürstin?, fragte die Katze.

»Nein«, gab Res zurück.

Die kleine Gestalt dort unten war zuerst nicht zu erkennen gewesen, weil ihr weißes Haar und ihr weißes Gewand mit dem Schnee verschmolzen. Aber nun kletterte sie den blauen Berg hoch, an einer Leiter aus Buchstaben, die an der kreisrunden Öffnung des Eis endete. Res hatte sie nie zuvor in ihrem Leben gesehen, und doch wusste sie, um wen es sich handelte. Sie wusste es, wie jeder Phantásier es wusste, wenn er das Glück hatte, der Goldäugigen Gebieterin der Wünsche zu begegnen. Kein anderer Anblick konnte diese Mischung aus Ehrfurcht und Liebe hervorrufen, aus Staunen über etwas völlig Fremdartiges und dem Wiedererkennen von etwas grenzenlos Vertrautem. Gleichzeitig kämpfte sich in Res ein Satz an die Oberfläche ihrer Gedanken, den sie immer aufs Neue wiederholte, bis sie ihn selbst verstand, denn in seiner kleinen, scharfen Säure stand er so ganz und gar im Gegensatz zu der tiefen Freude, die von diesem Anblick ausging.

Wo warst du?, lautete er. Wo warst du so lange? Warum nur hast du uns nicht eher geholfen?

Dort unten, auf dem Weg zum Alten vom Wandernden Berge, kletterte die Kindliche Kaiserin.