KAPITEL 19

 

Das Land Anansi zu überfliegen erwies sich als nicht eben leicht. Das Nichts trat an mehreren Stellen auf, noch nicht riesig, nur so breit wie Tempelsäulen, aber dafür häufig, und es beschränkte sich nicht auf den Boden, sondern zog sich endlos in die Höhe. Res schaute nie lange genug hin, um zu überprüfen, ob sich überhaupt irgendwo ein Ende zeigte; nach ihrer letzten Erfahrung mit dem Nichts wollte sie sich lieber nicht der Gefahr aussetzen, seine seltsame Anziehungskraft auf sich wirken zu lassen.

Gelegentlich in Anansi zu landen war ein übles Erlebnis. Das ganze Land war auf den Beinen. Flüchtlinge strömten entweder in Richtung der Nachbarländer oder, und das war das Schlimmste, auf die Stellen zu, an denen das Nichts auftauchte, um sich hineinzustürzen.

»Rette uns«, flehten die Einwohner, »rette uns.« Von einer Rettung durch den Alten, den niemand je gesehen hatte, wollten sie nichts wissen. Sie verlangten, dass Res ihnen ihren Teppich überließ.

Im Nachhinein betrachtet, wäre sie lieber noch ein paarmal durch das Schattenland gezogen, mit seinen Kreaturen, die einem jeden Mut nahmen, und den Gerüchten und Ängsten im Nachtwind. Sie wäre lieber wieder von den Vogelleuten verflucht worden oder vor den Leonesinnen geflohen, als den verzweifelten Blicken der Bewohner von Anansi zu begegnen und »nein« sagen zu müssen. Von dem Wandernden Berg gab es keine Spur.

Aus dem Land der Steinbrüche wurde eine Landschaft mit zahllosen Flüssen und fetter, rotbrauner Lehme, und als der Teppich tiefer flog und Res erkannte, dass die großen rundköpfigen Figuren, die sich hin und wieder aus dem Boden erhoben, keine Statuen waren, da wusste sie, dass sie das Land der Golems erreicht hatten: Sefirot.

Es gab wenige Gebäude in Sefirot und, was bei den zahllosen Flüssen erstaunlich war, auch nur wenige Pflanzen. Die Golems lebten, wenn man es so nennen konnte, ohne Behausung. Es gab auch nur wenige Golems, und Res befürchtete, das könnte daran liegen, dass auch hier das Nichts bereits aufgetaucht war.

Hin und wieder trieben Flöße in den Flüssen. Res erinnerte sich an einen Teppich, auf dem solche Flöße dargestellt waren; sie trugen die Wortschmiede, zierliche Wesen, etwa so groß wie Zwerge, aber anders als diese nicht daran gewöhnt, in Metall zu arbeiten. Wortschmiede sprachen die Worte, welche die Golems aus dem Ton ins Leben riefen. Sie waren auch in der Lage, andere Dinge aus dem Lehm ihres Heimatlandes zu schaffen, nur durch die Aussprache von Worten; aber zu sprechen bereitete ihnen große Schmerzen, deswegen überließen sie es in der Regel den Golems, für sie die Dinge des alltäglichen Lebens zu bewerkstelligen. Die Golems waren stumm, unbezwingbar stark und nur durch die Buchstaben, welche die Wortschmiede auf ihren Stirnen eingraviert hatten, an das Leben gebunden, doch sie konnten keine einzigen dieser Lettern selbst aussprechen.

Sefirot war ein sehr stilles Land.

Als sie etwa zwei Stunden lang über Sefirot geflogen waren, dämmerte es, und Res wollte nicht die Gefahr eingehen, im Dunkeln weiterzuziehen, nicht wenn das Nichts im Nachbarland bereits auftrat und gewiss auch irgendwo in diesem Land zu finden war. Im Dunkeln war es möglich, dass sie das Nichts zu spät erkannten, um sich seiner Sogkraft zu entziehen.

»Wir müssen nur einen Ort finden, an dem uns niemand sieht«, sagte Res, immer noch niedergedrückt in Gedanken an die Bewohner von Anansi. Mit jedem »Nein« war sie sich widerwärtiger vorgekommen. Sie wich daher den Anlegestellen für Flöße ebenso aus wie einem Golem und wünschte, die Landschaft von Sefirot wäre nicht so flach. Inmitten von Hügeln konnte man sich wesentlich besser verstecken.

Sie schaute nach links, nach rechts, über ihre Schulter zurück, falls sie etwas übersehen hatte, und wieder nach vorn, als ihr plötzlich der Atem stockte. Dort am Horizont, inmitten der endlosen Flussebenen, wölbte sich ein schmaler, hoher Berg in leuchtendem Blau. Je näher der Teppich heranflog, desto klarer ließ sich erkennen, dass er aus zahllosen, bizarr geformten Zacken bestand, die wie Tropfsteine aus dem Boden wuchsen. Ein Ei von der Größe eines Hauses stand, auf drei Tropfsteine gestützt, auf halber Höhe dieses Berges.

Res brauchte keine Erklärungen von Yen Tao-tzu oder der Katze, um sich ihrer Sache gewiss zu sein: Dies war der Wandernde Berg. Ihre Lippen zitterten; sie konnte nicht sprechen, sondern wies nur stumm nach vorn. Endlich am Ziel angelangt zu sein überwältigte sie so sehr, dass sie eine Weile brauchte, um zu bemerken, dass weder die Katze noch Yen Tao-tzu besonders glücklich dreinschauten.

Die Katze schlug ihre Pfoten mit ausgefahrenen Krallen in den Teppich und zog daran. Unter anderen Umständen hätte Res ihr das verwiesen, war doch das Stopfen des Teppichs mühsam genug gewesen. Yen Tao-tzu runzelte die Stirn, und ein Hauch von Ungeduld erfasste sie. Gewiss, er würde jetzt sehr bald erfahren, wovor er all die Jahre geflohen war, doch hier ging es um so viel mehr Leben als um seines, um so viel Wichtigeres als sein persönliches schlechtes Gewissen. Sie hatte selbst Dinge getan, auf die sie nicht stolz war. Wer, außer dem Gesandten der Kindlichen Kaiserin, hatte das nicht? Aber das war nun vorbei. Der Alte würde ihr verraten, wie man das Nichts einst aufgehalten hatte und wie man es wieder aufhalten konnte. Und dann würde sie nach Siridom zurückkehren, ganz gleich, was die Lügenbolde behauptet hatten.

Inmitten des großen Eis tat sich eine kreisrunde Öffnung auf, und Res musste sich zusammennehmen, um nicht vor Freude zu jauchzen. Sie wurden willkommen geheißen. Der Alte vom Wandernden Berge erwartete sie. Natürlich; schließlich wusste er alles über jeden Schritt ihrer bisherigen Reise.

»Teppich, fliege in die Öffnung hinein«, sagte sie heiser.

»Res«, sagte Yen Tao-tzu mit einem Mal, »vielleicht solltest du dir das noch einmal überlegen und uns…«

»Was auch immer du getan hast«, schnitt Res ihm in einer Mischung aus Zuneigung und Gereiztheit das Wort ab, »wir bleiben Freunde.«

Er schüttelte den Kopf. »Darum geht es nicht. Etwas… etwas stimmt hier nicht. Als ich den Berg damals…»

Sie flogen durch die Öffnung, und es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an das neue, dämmrige Licht gewöhnten. Hinter ihnen glitt die kreisrunde Scheibe, die sich aufgetan hatte, wieder zurück.

Im Inneren des Eis roch es vertraut, das war das Erste, was Res auffiel. Staub war hier, ja, und das wunderte sie nicht, hatte doch der Alte seit so vielen Jahren nur sich selbst als Gesellschaft; aber es roch auch nach feuchtem Lehm, wie an einem Flussufer. Sie kniff die Augen zusammen und erkannte mehrere Golems, ungeschlachte, rötliche Kolosse, die reglos um einen erhöhten Stuhl herumstanden. Jeder Einzelne trug ein weißes Zeichen in seiner Stirn.

Verwirrung stieg in ihr auf. Dass der Alte gelegentlich, etwa alle paar Jahrhunderte, Besucher empfing, vor allem Wesen mit wichtiger Mission wie sie, das war begreiflich; dass er jedoch gleich ein Dutzend Golems hereingelassen haben sollte, widersprach allen Legenden, die sie je gehört hatte.

Dann seufzte Yen Tao-tzu neben ihr, und Res blickte auf die Gestalt, die zwischen den Golems saß und, als einer von ihnen beiseite trat, endlich für sie sichtbar wurde. Es war kein alter Mann, der dort auf einem Stuhl aus Elfenbein thronte, sondern die schlanke Gestalt einer Frau mit langem, silbernem Haar, das von mehreren perlenbesetzten Kämmen gehalten wurde und dennoch über ihren Rücken hinunterfiel. Als sie sich erhob, entfalteten sich die Flügel, auf denen sie schwebte.

»Aber ja, meine Lieben, ich bin es«, sagte die Fürstin von Kading.

 

Den Teppich nahm man ihnen sofort weg. Das Gepäck, sogar der Dolch und die Schlinge, kümmerten die Fürstin nicht. Warum sollten sie auch?, dachte Res bitter. Gegen die Golems war beides nutzlos.

Ein Golem war so kräftig, dass er zehn Wesen von Res’ Gewicht hätte tragen können, und unverwundbar.

»Schau nicht so verdrießlich drein, mein Kleines«, sagte die Fürstin. »Du musst zugeben, dass ich keine Mühe gescheut habe, um dich zu fangen. Es war selbst für die Golems nicht einfach, eine Kopie des Wandernden Bergs herzustellen.« Sie lächelte Yen Tao-tzu an.

»Ganz der Beschreibung meines alten Freundes, des Möchtegern-Kaisers von Phantásien folgend, so wie er sie mir vor mehr als tausend Jahren gegeben hat.«

Ihr Lächeln verhärtete sich zu dem diamantenen Glanz ihrer Augen. »So viele Wünsche erfüllen sich heute, und ich trage nicht einmal den Glanz.«

Sie wandte sich wieder zu Res und schwirrte um sie herum. »Aber ich habe mir all die Mühe nicht wegen eines nutzlosen alten Mannes gemacht, o nein. Ihn zu meinen Füßen zu sehen ist Balsam auf eine längst verheilte Wunde. Nein, Res, das alles« die Fürstin breitete ihre Arme in einer Geste aus, die den Raum, die Golems, das Ei und den gesamten Berg zu umfassen schien »geschieht nur deinetwegen.« Sie schnipste mit den Fingern. »Hinaus. Alle. Lasst mich mit dem Mädchen allein und bringt den alten Mann und die Katze in die Höhlen.«

Die Katze maunzte und fixierte die Fürstin mit ihrem Blick. Zum ersten Mal, seit Res Schnurrspitz begegnet war, wusste sie, dass die Katze mit jemandem sprach und doch für sie selbst unverständlich blieb, und die Vorstellung tat weh.

»Nein, danke«, sagte die Fürstin mit ihrem glockengleichen Lachen. »Wanderern traue ich nicht.«

Ein Golem bückte sich; die Katze passte fasst zur Gänze in seine Hand, die sich um das Tier schloss, sosehr es sich auch sträubte. Yen Tao-tzu klemmte er sich einfach unter den Arm und stapfte mit ihnen davon. Die übrigen Golems folgten ihm.

Währenddessen stöberte die Fürstin Res’ Säcke durch. »Und was haben wir hier… nein, das Kleid ist zu zerschlissen… die Farbe dieses Hemdes ist unmöglich… soll das eine Hose sein oder ein Rock, der in der Mitte zusammengenäht ist? Wirklich, Res, so kannst du dich doch nicht sehen lassen.«

»Wenn ich das nächste Mal jahrhundertealte Verrückte beraube, werde ich sie mir sorgfältiger auswählen«, entgegnete Res mit zusammengepressten Zähnen. Zuerst hatte sie sich auf die Zunge beißen müssen, um vor Wut und Enttäuschung nicht laut aufzuschreien.

»Das wird nicht nötig sein«, sagte die Fürstin und schwebte zu ihrem Thron zurück. Hinter dem Elfenbeinstuhl stand eine Truhe, die eindeutig aus Kading stammte; sie war aus Kristall, bis auf den Deckel, der aus Silber gehämmert war. »Komm her und mach sie auf«, fuhr die Fürstin fort.

Einen Moment lang war Res versucht, sich auf den Boden zu setzen und sich zu weigern, auch nur einen Schritt zu tun. Gleichzeitig wusste sie, wie töricht das wäre. Es gab sehr viel Schlimmeres, das die Fürstin ihr und ihren Freunden antun konnte, als ihr zu befehlen, eine Truhe zu öffnen. Die Herrscherin über Kading anzugreifen war ebenfalls sinnlos. Dass die Golems verschwunden waren, hieß noch lange nicht, dass die Fürstin sich jeglichen Schutzes begeben hatte. Schließlich war die Frau alles andere als dumm. Während Res also gehorchte und zur Truhe ging, schaute sie sich in dem ovalen Raum um, in den sie hineingeflogen war, und entdeckte nach einer Weile, was sie suchte: Schatten. Schatten, die von keinem Gegenstand, von keinem Wesen hier geworfen wurden. Natürlich.

Vor der Truhe kniete Res nieder und öffnete sie. Der silberne Deckel ließ sich erstaunlich leicht anheben. Er sprang auf; innen war er mit einem flachen Spiegel ausgestattet. Was Res in der Truhe fand, hätte sie nie erwartet. Es war ein Kleid, ein Wunder von einem Kleid, übersät von Perlen und mit Spitze besetzt. Der eigentliche Stoff, so erkannte sie schon auf den ersten Blick, obwohl erst ihre bebenden Fingerspitzen es ihr endgültig bestätigten, konnte in seiner Makellosigkeit nur in Siridom gewebt worden sein, nirgendwo sonst.

Er war tränenblau.

»Zieh es an«, sagte die Fürstin.

Denk nur an das Gute, befahl sich Res. Wenn sie den Stoff aus Siridom für das Kleid bekommen hat, dann heißt das, es gibt Siridom noch. Sie sind alle noch am Leben, und du wirst sie retten, sobald du hier entkommen bist. Und du wirst entkommen.

Sie zog sich das Kleid an. Tränenblau, die Farbe für fürchterliche Schuld. Selbstverständlich musste das der Fürstin bewusst sein. Doch der Stoff fühlte sich weich und einschmeichelnd auf ihrer Haut an, und das Kleid passte wie angegossen, als sei es für sie gefertigt worden.

»Ah, schon viel besser«, meinte die Fürstin. »Nur das Haar ist noch unmöglich.« Sie schwirrte zu Res, zog sich einen Kamm aus ihrem Haar und begann mit ihm und mit ihren eisigen Fingern Res’ Haar zu entwirren, zu glätten und langsam durchzukämmen.

»Du hast natürlich geglaubt«, sagte sie dabei, »dass ich dich töten, verfluchen oder foltern würde, wenn du erst wieder in meiner Gewalt bist. Aber verstehst du, Res, darum geht es mir gar nicht. All die Jahre war ich allein in meiner Stadt. Meine Untertanen fürchten und lieben mich, und sie beten mich an, aber ich bin allein. Seit mehr als tausend Jahren bin ich allein. Es hat nie jemanden gegeben, der es wert gewesen wäre, ihn an meine Seite zu erheben, seit meine Familie mir genommen wurde. Ich war so allein und so gelangweilt von dem endlosen Einerlei, dass mir das Nichts fast als willkommene Neuigkeit erschien. Aber dann kamst du.«

Die schlimmsten Knoten, die der Flugwind hinterlassen hatte, waren beseitigt; die Fürstin nahm einen zweiten Kamm aus ihrem Silberschopf und zog sie nun abwechselnd durch Res’ Haare. Es tat gut, fast so sehr wie das Gefühl von tränenblauer Seide auf der Haut.

»Ich war mir noch nicht sicher, als ich dich im Palast sah, aber als du mir entkommen bist, durch den Spiegelsee, da wusste ich es. Du musst es auch gesehen haben.«

Sie steckte die Kämme von beiden Seiten her in Res’ Haar, so dass sie es aus dem Gesicht zurückhielten, dann zog sie Res vor den Spiegel im Deckel der Truhe. »Schau«, wisperte sie.

Der Spiegel gab zwei Gestalten wieder, die Fürstin in ihrer eleganten Schönheit und jemanden, den Res kaum erkannte; ein Wesen, das geradewegs von den Teppichen des Arachnion, die Feen oder Prinzessinnen zeigten, herabgestiegen schien.

Die Fürstin legte einen Arm um Res, ohne ihren Blick von dem Spiegel zu lösen. »Du bist die Einzige in ganz Phantásien, die mich verstehen kann. Die Einzige, die mir ebenbürtig sein kann; die Einzige, die so sein kann wie ich. Ich habe so lange nach jemandem wie dir gesucht, Res, und nun habe ich dich gefunden.«

»Du meinst, du hast jemanden wie dich gesucht«, verbesserte Res, doch auch sie konnte ihre Augen nicht von ihrem Spiegelbild wenden. Es war auf wundervolle, grauenvolle Weise richtig und gleichzeitig so falsch, wie etwas nur sein konnte. Die Kälte der Frau neben ihr war nicht mehr furchteinflößend oder beklemmend, sondern erfrischend, wie eine Brise nach einem langen, heißen Tag. Sie wünschte sich, sie könnte sich in dieser Kälte versenken. Gleichzeitig schrie alles in ihr danach davonzulaufen, nicht mehr weil sie Angst hatte, sondern weil sie mit jedem Herzschlag, den sie länger blieb, mehr zu ihrem eigenen Spiegelbild wurde.

Die Fürstin lachte. »Siehst du, ich wusste, dass du mich verstehst.«

»Und was«, fragte Res und versuchte vergeblich die Augen zu schließen, um den Bann zu brechen, »soll mit meinen Freunden geschehen? Mit meiner Heimat? Mit Phantásien

Mit ihrer freien Hand machte die Fürstin eine abwertende Bewegung. »Deine Freunde? Ich versichere dir, Yen Tao-tzu würde dich jederzeit deinem Schicksal überlassen, wenn man ihm dafür verspräche, sein Gedächtnis für immer auszulöschen. Nicht den Tod; er bildet sich zwar ein, er suche den Tod, aber in Wirklichkeit ist er zu feige dafür. Fluch hin oder her, wenn er sich gewünscht hätte zu sterben, solange er noch den Glanz trug, wäre ihm das erfüllt worden. Was die Wanderin betrifft, es überrascht mich, dass du noch lebst, obwohl du schon lange mit so einem Wesen unterwegs bist. Gewöhnlich verkaufen sie einen viel schneller an den Meistbietenden.«

Sie zog Res näher, und obwohl sie die Größere von beiden war, ließ sie ihren Kopf auf Res’ Schulter sinken. »Deine Heimat? Sei nicht kindisch. Im Grunde weißt du längst, dass es kein Siridom mehr gibt. Es ist bereits vom Nichts verschlungen worden, ehe du Kading betreten hast. Du hast dir doch nicht vorgemacht, dass es in der Ebene von Kenfra langsamer wachsen würde als anderswo, oder?«

»Aber dieses Kleid«, protestierte Res. »Nur eine Weberin von Siridom kann den Stoff gewebt haben, und du hast es für mich anfertigen lassen, also muss es noch ganz neu sein.

Versuche nicht mir einzureden, dass es aus der Zeit stammt, ehe du Zeitzauber über Kading verhängt hast.«

Ohne sich zu rühren, murmelte die Fürstin: »Ach ja, das Kleid. Res, dachtest du denn, du wärst die erste Weberin von Siridom, die ihre Stadt verlässt

»Höchstens einmal in drei Generation weigert sich ein Lehrling, Weberin zu werden, und keine von ihnen hat je…«, begann Res mit dem vertrauten Satz und stockte.

»Das hat man dir dein Leben lang eingeredet«, sagte die Fürstin in behutsamem Tonfall, »damit du nicht auf falsche Ideen kommst. Alle Herrschenden wissen, dass man Kindern die richtigen Lektionen erteilen muss. Nun, es hat Weberinnen gegeben, die es nach Kading verschlug, aber anders als du hatten sie nicht den Mut, es wieder zu verlassen. Und ich habe sie und ihre Nachkommen sehr nützlich gefunden.«

Sie lügt, dachte Res, und dem Gedanken folgte ein zweiter: Sie spricht die Wahrheit.

»Vergiss diese engstirnigen Leute. Hat deine Mutter dich je verstanden? Hat sie dich nicht dein Leben lang eingesperrt? Hat sie dich nicht nach ihrem Bild formen wollen und nie verstanden, warum du dir etwas anderes gewünscht hast? Aber ich verstehe dich, Res. Du weißt, dass ich dich verstehe. Niemand in ganz Phantásien versteht dich so gut wie ich. Lass mich deine Mutter sein. Du brauchst keine andere mehr. Lass mich deine Freundin sein. Wer sonst könnte dir das Gleiche bieten wie ich? Du brauchst keine anderen Freunde mehr. Und Phantásien…«

Sie hob ihren Kopf wieder und presste ihre Wange gegen die von Res. »Ich bin unsterblich, Res. Ich habe schon viele Gefahren kommen und gehen sehen, die Phantásien befielen. Die Kindliche Kaiserin findet immer einen Retter. Es mag im letzten Augenblick geschehen oder noch in einem frühen Stadium, wenn jeden gerade die ersten Angstschauer überfallen haben, aber sie findet jemanden. Und so Leid es mir tut, dir das sagen zu müssen: Du bist es nicht. Du bist noch nicht einmal diejenige, die ihn holen kann. Du, meine Liebe, bist schon lange nicht mehr reinen Herzens. Das Tränenblau steht dir übrigens ausgezeichnet, aber das wusste ich schon vorher.«

Res riss sich los, und die Fürstin brach erneut in perlendes Gelächter aus.

»Du siehst reizend aus, wenn du empört bist. Nun, Res, wenn die Kindliche Kaiserin ihren Retter gefunden hat, dann wird Phantásien sich erneuern. Und dann wird endlich geschehen, was schon vor über tausend Jahren hätte geschehen sollen. Während der Rest von Phantásien noch damit beschäftigt sein wird, den neuen Retter zu feiern, werden du und ich die Herrschaft ergreifen. Wir mögen nicht reinen Herzens sein, aber wir wissen, was notwendig ist. Was getan werden muss. Mach dir keine Sorgen wegen der Kindlichen Kaiserin. Für sie gelten wir alle gleich. Sie wird niemanden daran hindern, die Macht auszuüben, die sie selbst nicht haben will.«

Sie deutete auf das Bild, das ihnen der umgeklappte Deckel der Truhe zurückwarf. »So wird uns ganz Phantásien sehen. Sie werden auf die Knie fallen und darum bitten, uns dienen zu dürfen. Du wirst nie mehr einen Verlust erleiden, du wirst nie mehr Furcht spüren oder dich irgendjemandem beugen müssen. Niemand wird so sein wie du.«

»Außer dir«, stellte Res fest.

»Außer mir«, bestätigte die Fürstin, und ihre klaren Augen sprühten siegesgewiss.

Res konnte es vor sich sehen, so deutlich wie jetzt ihr Spiegelbild. Eine Zukunft, in der sie und die Fürstin sich in einem endlosen Tanz zu zweit durch die Zeit bewegten. Anders als Yen Tao-tzu mit seinen Grübeleien und seiner Flucht in den Wahn würde sie ihre Schuldgefühle rasch abstreifen können. Sie verspürte jetzt schon Ungeduld mit ihnen. Und sie würde nicht allein sein. Die Fürstin hatte es versprochen, und sie war eine Tyrannin, aber keine Lügnerin.

Einer der Schatten, die hinter der Truhe an die Wand gelehnt standen, veränderte seine Position, kaum merklich, aber er veränderte sie. Es lenkte Res einen Moment lang von ihrem Spiegelbild ab, und sie sah sich den Schatten näher an. Sie erkannte den Umriss. Es war der Schatten von Li Mu Bai, den Yen Tao-tzu und sie auf der Lichtung im Schattenland getroffen hatten. Der Schatten, der sich vor vielen Jahren von seinem Urbild gelöst hatte, der die Erinnerungen von Li Mu Bai besaß, aber nie in dessen Heimat würde zurückkehren können.

Es musste entsetzlich sein, sein Leben als jemandes Schatten zu fristen.

»Werden die Sassafranier auch auf die Knie fallen und uns dienen?«, fragte Res abrupt.

Das silberne Gesicht der Fürstin verfinsterte sich. »Natürlich werden sie das.«

»Sie machten mir nämlich nicht den Eindruck, als liebten sie dich, und sie hatten von deiner Herrschaft schon vor einem Jahrtausend genug. Um ganz ehrlich zu sein, ich habe selbst in Kading niemanden getroffen, der dir gedient hätte, weil er dich liebt. Sie haben dort Angst vor dir, das ist alles.«

Die langen, schmalen Hände der Fürstin öffneten und schlossen sich. »Wenn sie mich nicht lieben«, erklärte sie endlich, als sie ihre Beherrschung wiedergefunden hatte, »dann hassen sie mich. Das ist nicht so sehr anders, Res.«

Sie wirbelte herum und schwebte zu dem Haufen von Res’ abgelegter Kleidung. Dankbar für die Unterbrechung klappte Res hastig den Deckel der Truhe zu. Mit Kunlas Dolch und der unzerstörbaren Schlinge in den Händen kehrte die Fürstin zurück.

»Nimm das«, sagte sie zu Res, und Res gehorchte. »In meinem Palast hast du begonnen, mich zu hassen. Nun, warum benutzt du dann nicht eines von beiden gegen mich?«

Weil die Schatten, mit denen du dich verbündet hast, mich daran hindern würden, dachte Res kalt. Die Fürstin mochte keine Lügnerin sein, aber sie war eine Heuchlerin, sogar sich selbst gegenüber.

»Siehst du«, schloss die Fürstin triumphierend, »du bringst es nicht fertig. Hass und Liebe sind zwei Seiten einer Münze, Res. Genauso wird es meinen neuen Untertanen auch ergehen, Res. Unseren Untertanen.«

Mit einem Mal lächelte Res. Sie knotete ein Ende der unzerstörbaren Schlinge um den Dolch und hängte sie sich um den Hals. Dann trat sie auf die Fürstin zu, nahe genug, um den eisigen Hauch, der von ihr ausstrahlte, von Kopf bis Fuß zu spüren. »Weißt du«, sagte sie, »du hast in vielen Dingen Recht. Und um Phantásien wäre es vielleicht wirklich besser bestellt, wenn es von jemandem beherrscht würde, der seine Macht auch ausübt. Aber von einer Person, die so sehr Angst vor sich selbst hat, dass sie sich in rührseligen Träumen darüber wiegt, wie all die anderen Wesen sie sehen? Nein danke, ganz bestimmt nicht. Verstehst du, du brauchst deine Untertanen, damit sie dir das Gefühl geben, mächtig zu sein, gefürchtet und bewundert. Aber sie brauchen dich nicht. Wenn du morgen ins Nichts verschwändest, würden sie dich nicht betrauern, und sie würden dich nicht vermissen. Sie würden sich entweder selbst regieren oder sehr schnell eine andere Tyrannin finden. Und ich brauche dich auch nicht.«

Sie löste die Kämme aus ihrem Haar und steckte sie in die Locken der Fürstin zurück. »Aber vielen Dank für das Kleid«, schloss sie.

Während Res sprach, hatte das Gesicht der Fürstin mehr und mehr an Glanz verloren, bis es von Silber zu unpoliertem Blei verwandelt schien und ihre Augen von Diamanten zu Glas. Nur ihre Stimme blieb gleich, auch als sie rief:

»Schafft diese Verbrecherin in die Höhlen!« Leiser fügte sie hinzu: »Morgen, Res. Morgen wirst du sehen, wie sehr du mich brauchst. Wenn ich dich deinem Tod übergebe.«