KAPITEL 11
Ein Schwall kalten Wassers weckte Res zu einem Bewusstsein auf, das sich anfühlte, als hämmerten Riesen auf ihrem Kopf herum.
»Auf, auf, neues Syndikatsmitglied«, forderte eine Stimme in unerträglich fröhlichem Tonfall. »Ein neuer Tag mit möglicher Arbeit ruft!«
Unwillig hob sie ein Augenlid und sah einen Himmel aus Kristallsplittern über sich. Neben ihr stöhnte jemand. Sie öffnete auch noch das andere Auge und sah den Rand eines Holztischs in ihr Blickfeld hineinragen. Erst als sich ein gewaltiger Bauch über sie beugte und ein zweiter Schwall Wasser ihr Gesicht traf, begriff Res, dass sie auf dem Boden der Mörderschenke in Kading liegen musste. Sie schreckte hoch, sprang auf, und ihr wurde sofort übel. Würgend lehnte sie sich über den Tisch, aber eine Hand hielt ihr hilfreich einen Eimer hin, in dem immer noch etwas Wasser war.
Während sie sich erbrach, hörte sie den Wirt kommentieren: »Du meine Güte, du bist im Zechen wirklich nicht erfahren, Mädchen, was?«
Wieder kam ein tiefes Stöhnen vom Boden.
»Und du auch nicht. Nun kommt schon, ihr beiden. Ein neuer Tag, ein neues Geschäft, wie man bei uns zu sagen pflegt. Schließlich müsst ihr euren ersten Beitrag abarbeiten.«
»Beitrag?«, fragte Res schwach, als sie von dem Eimer zurücktaumelte, wo sie umgehend von einem würgenden Yen Tao-tzu abgelöst wurde.
»Tja, ihr habt beide bei Halbert unterschrieben und gehört damit zu unserem Syndikat. Keine Sorge, der erste Auftrag kommt bestimmt, und eure Schulden hier könnt ihr dann auch gleich bezahlen.«
Yen Tao-tzu hob den Kopf aus dem Eimer. »Seit dem Tod meines ehrenwerten Vaters bin ich das Oberhaupt des Hauses Yen«, erklärte
er. »Ich bin Mitglied der Dichtergilde von der Brücke über dem See und erster Alchemist von Lo-yang. Der Sohn des Himmels selbst hat geruht, Neugier hinsichtlich meiner Theorien zu zeigen. Aber ganz gewiss bin ich kein Mitglied einer Vereinigung von Mördern.«
»Halbert hat sich schon gedacht, dass einer von euch zweien oder ihr alle beide da Zweifel haben würdet«, entgegnete der Wirt, schob zwei Finger zwischen die Lippen und pfiff. Eine Spinne, die bis zu Res’ Knie reichte, tanzte auf acht Beinen herbei. Auf dem Rücken trug sie einen runden Kristall. Der Wirt legte einen Daumen darauf.
»Die Verträge der Mitglieder 98 und 99 bitte«, sagte er förmlich.
In dem Kristall erschienen zwei eng beschriebene Dokumente. Auf einem erkannte Res etwas, das eindeutig wie ihre Unterschrift aussah. Auf dem anderen waren ein paar von den Baumzeichen mit wenigen Ästen, die der Sühneträger hin und wieder vor sich hin gezeichnet hatte.
»Die Originale sind natürlich bei Halbert unter Verschluss«, ergänzte der Wirt beiläufig.
Res wandte sich ab. Das Ganze war lächerlich, aber sie hatte keine Lust, deswegen zu streiten. Sie musste nur die Fürstin finden und befragen, dann konnte sie Kading wieder verlassen. Es sei denn… Schlagartig fiel ihr ein, dass sie ihren Weidenkorb am Vortag in einer Ecke der Schenke abgestellt und seither nicht mehr angerührt hatte. Sie schaute sich hastig um und entdeckte ihn. Eilig stürzte sie zu ihm und riss den Deckel herunter. Erleichterung überflutete sie, als sie den Teppich fand, zusammengerollt und heil.
»Tss. Wir sind Mörder, keine Diebe«, bemerkte der Wirt.
»Das spricht für Euch«, sagte Yen Tao-tzu, der nach wie vor auf die Spinne mit dem kristallenen Rücken starrte, »doch ich mache Euch darauf aufmerksam, dass jenes Dokument nicht mein Siegel trägt. Selbst Barbaren wie die Khitan oder die Juchen wissen, dass ohne Siegel keine Unterschrift im Reich der Mitte gültig ist.«
Der Wirt zuckte die Achseln. »Das kümmert uns nicht. Hier sind wir in Kading«, gab er grinsend zurück und schlug Yen Tao-tzu auf die Schulter. »Nehmt’s leicht, ihr beiden. So geht es jedem Neuling. Aber es ist wirklich kein schlechtes Leben. Ordentliche Entlohnung, und wenn die Kadinger über uns die Nase rümpfen, was soll’s? Brauchen tun sie uns doch. Also macht euch fertig, und dann sage ich Halbert Bescheid, dass er euch zur Einschwörung bei der Fürstin mitnehmen kann.« Naserümpfend fügte er hinzu: »Aber gebt euch ein bisschen Mühe. Ihr dürft auch meine Wanne benutzen. Sonst seid ihr ja eine Schande für das gesamte Syndikat.«
Yen Tao-tzu öffnete den Mund, doch Res kam ihm zuvor. »Wir werden bei der Fürstin eingeschworen?«, wiederholte sie langsam.
»Bei wem sonst? Sie regiert die Stadt und musste unsere Regeln genehmigen, ehe wir uns organisieren durften. Im Grunde ist sie uns gewogen, aber wehe, wir entrichten nicht rechtzeitig unsere Steuern.«
Res packte den Weidenkorb mit der einen Hand und ließ ihn sofort wieder sinken. »Yen Tao-tzu«, sagte sie so erschöpft wie möglich, »willst du mir nicht helfen?«
Angesichts der bisherigen Reise und der dunklen Erinnerung an einen Trinkwettbewerb gestern wäre es ihr albern vorgekommen, ihn weiterhin formell anzureden. Yen Tao-tzu kämpfte sichtlich mit seiner guten Erziehung, doch er kam zu ihr und nahm ihr den Weidenkorb ab.
»Nun zeigt uns die Wanne«, sagte Res freundlich zu dem Wirt.
»Ich möchte so gut wie möglich aussehen, wenn ich der Fürstin begegne.«
»Das ist die richtige Einstellung«, antwortete er und kniff sie in die Wange.
Wenn ich wirklich Mörderin würde, dann wäre er mein erstes Opfer, dachte Res, und erst als keine Antwort kam, wurde sie sich wieder bewusst, dass die Katze sie nicht mehr hören konnte.
Auf dem Weg zum Palast der Fürstin starrten sie diesmal weniger Kadinger an als gestern, aber Res hörte abermals Gelächter.
Der Zwerg Halbert, der sie und Yen Tao-tzu in der Schenke abgeholt hatte, zuckte die Achseln. »Man gewöhnt sich daran«, sagte er.
»Sie lachen nicht, wenn man sie abmurkst.«
Die Straßen aus Licht und die Kristallpyramiden waren an diesem Morgen wahre Folterinstrumente. Wenn nicht die Aussicht bestanden hätte, endlich ein paar Antworten zu erhalten, hätte sich Res am liebsten irgendwo in einem dunklen Winkel verkrochen. So schritt sie mit zusammengebissenen Zähnen hinter Halbert her. Immerhin fühlte sie sich nicht mehr so verdreckt und verschwitzt. Ihr Haar war noch feucht, doch es trocknete rasch in der leichten Brise, die durch Kading wehte.
Yen Tao-tzu war offenbar zu dem Schluss gekommen, dass es sich gleich blieb, ob er immer noch träumte oder durch einen bösen Zauber nach Phantásien gebracht worden war. »Ich muss in meine Heimat zurückkehren«, teilte er Res mit. »Der Herr über zehntausend Jahre wartet dringend auf Neuigkeiten hinsichtlich meiner Erfindung, und ich stehe kurz vor einem Durchbruch. Wenn ich Erfolg habe, wird er Lo-yang endlich wieder die Sonne seines Antlitzes zuwenden. Wir waren einmal das Herz des Reiches, aber dann brachen Aufstände los, und der damalige Sohn des Himmels war gezwungen zu fliehen. Der erhabene Hsien-tsung hat die Ordnung wiederhergestellt, doch vergeben hat er Lo-yang noch nicht.«
»Ich würde das an deiner Stelle der Fürstin gegenüber nicht erwähnen«, erwiderte Res. »Nach allem, was ich in Sassafranien gehört habe, hasst sie Aufstände.« Und bestraft sie grausam, fügte sie im Stillen hinzu; sie hielt es nicht für klug, dergleichen hier laut zu äußern, zumal sie etwas von der Fürstin wollte.
»Welcher Herrscher tut das nicht?«, seufzte Yen Tao-tzu. »Meister K’ung lehrt, dass sie gegen die natürliche Ordnung der Dinge verstoßen. Doch beginnt jede Dynastie mit einem solchen Verstoß, und ich frage mich manchmal…«
Er verstummte. Res erinnerte sich daran, wie die Anführer der Gilde ganz Siridom verheimlicht hatten, in welcher Gefahr sie schwebten, so dass immer neue Trosse ungewarnt loszogen, nur des Gewinns wegen, und sie dachte, dass ein Aufstand auch eine gute Sache sein konnte. Wenn alles ein glückliches Ende fand und sie wieder nach Siridom zurückkehrte, würde sie sich jedenfalls niemals mehr auf die Gilde verlassen oder vom Rat Befehle annehmen.
Der Palast der Fürstin erwies sich als Pyramide wie alle anderen auch; Res erkannte keinen Unterschied zwischen diesem und anderen Gebäuden und stellte fest, dass sie Glück im Unglück gehabt hatte. Ohne einen Führer hätte sie gewiss nie die richtige Kristallpyramide gefunden.
In der Empfangshalle tummelten sich eine Reihe von kugeligen, struppigen braunen Wesen, die ständig Purzelbäume schlugen, wenn sie nicht aus dem Brunnen in der Mitte der Halle tranken, wo eine rote Flüssigkeit aus einer gläsernen Hand rann. Res kam der Wein vom gestrigen Abend in den Sinn, und sie schauderte. Ihr tat immer noch der Kopf weh. Aber die rote Flüssigkeit roch ganz anders.
»Herzbeerensaft«, erklärte Halbert, der ihrem Blick gefolgt war.
»Schmeckt bitter für unsereins, aber die Lügenbolde sind verrückt danach.«
»Lügenbolde?«, wiederholte Yen Tao-tzu sichtlich verwundert.
»Sie beraten die Fürstin. Viel zuverlässiger als Prophetinnen und Wahrsager. Bei Lügenbolden kann man völlig sicher sein, dass jede einzelne Vorhersage falsch ist, und sich nach dem Gegenteil richten.«
Einer der Lügenbolde hatte die Neuankömmlinge entdeckt und rollte zu ihnen hinüber. Er fuhr mit einer großen blauen Zunge über Res’ linke Hand, ehe sie zurückzucken konnte, und verkündete mit quiekender Stimme: »Ihr seid völlig sicher in dieser Stadt!«
»Das habe ich mir gedacht«, sagte Res trocken.
Der Lügenbold zwinkerte ihr aus großen gelben Augen zu. »Ihr werdet Eure Heimat und Phantásien retten und glücklich in Euer Heim zurückkehren.«
»Habe ich nicht gesagt, dass du dich besser darauf einrichtest, hier den Rest deines Lebens zu verbringen?«, bemerkte der Zwerg.
»Ihr werdet den Rest Eures Lebens hier verbringen und niemals mehr von Freunden verraten werden«, verkündete der Lügenbold prompt und kugelte zu Yen Tao-tzu weiter. Res bildete sich ein, ihr Herz hämmern zu hören. Was der Lügenbold behauptete, war also immer falsch, aber das brauchte nicht zu heißen, dass das Gegenteil immer richtig sein würde. Nicht im Geringsten.
Als der Lügenbold mit seiner Zunge Yen Taotzus Hand berührte, geschah etwas Merkwürdiges. Das Kugelwesen fuhr zurück und überschlug sich ein paarmal. Dann rollten tatsächlich große, gelbliche Tränen aus seinen Augen.
»Das ist möglich«, kreischte der Lügenbold, »absolut möglich! Seine Zukunft ist nicht aufgebraucht! Er hat ein Leben!«
In Kading war es, im Vergleich zu den übrigen Stationen von Res’ bisheriger Reise, ohnehin eher kühl, aber nun konnte sie nicht verhindern, dass ein Frösteln ihre Haut überlief, so dass jedes Härchen sich aufstellte. Ihr fiel wieder ein, wie die Katze den Flammen der Zeit das Leben des Sühneträgers angeboten hatte. Bis jetzt hatte ihr noch niemand erklären können, warum Yen Tao-tzu dabei nicht gestorben war.
»Genug ist genug«, sagte Halbert, während der Lügenbold zu seinen Gefährten rollte und von ihnen getröstet wurde, und musterte Yen Tao-tzu unbehaglich. »Wir dürfen die Fürstin nicht warten lassen. Sie hat schließlich nicht den ganzen Tag Zeit, ein paar neue Mörder einzuschwören.«
Von der Halle aus führte ein Gang schräg nach oben zur Mitte der Pyramide. Dort lag ein kleinerer Empfangsraum, der von zwei Kadingern bewacht wurde. Neben dem leisen Flattern ihrer Flügel hörte man nur den Klang einer Flöte.
»Neue Rekruten, Halbert?«, fragte einer von ihnen. »Du hast Glück. Bis zur nächsten Audienz dauert es noch ein Weilchen. Hinein mit dir.«
Das Innere des Raumes erinnerte auf den ersten Blick ein wenig an die Mörderschenke, weil die Wände auch hier nicht aus großen, geschliffenen Kristallplatten bestanden, sondern aus zahllosen Splittern. Doch im Gegensatz zu der wahllosen Unordnung in der Schenke und den dort verwendeten Splittern, die voller Sprünge waren und von der Form her oft nicht zusammenpassten, war hier jedes Stück sorgfältig ausgesucht und fügte sich in ein harmonisches Ganzes. Es glich den Wandteppichen aus Siridom und enthielt sogar Muster und Bilder.
In der Mitte des Raumes, auf einer Liege, die von einem wirklichen Teppich gepolstert wurde, lag eine grazile Gestalt mit matt ausgebreiteten Flügeln und silbernem Haar, das ein wenig länger als das der übrigen Kadinger und mit Perlen durchwirkt war. Von ihr stammten die Flötentöne. Sie hielt ein Schilfrohr in der Hand, das sie absetzte, als sie Halberts gewahr wurde, doch sie richtete sich nicht auf. »Man hat mir schon berichtet, dass Neuankömmlinge in der Stadt seien«, sagte sie, und weder ihre Miene noch ihre Stimme ließen besonderes Interesse erkennen. »Sind sie bereit, den Eid zu leisten?«
»Ja, Herrin«, bestätigte Halbert.
»Nein«, sagte Res klar und deutlich.
Die Fürstin warf ihr einen Blick zu, als bemerke sie zum ersten Mal, dass Halbert sich in Gesellschaft befand. Ihre Augenbrauen hoben sich. Dann lachte sie. Es war das gleiche klingende Lachen, das die übrigen Bewohner von Kading auszeichnete, verstärkt durch den leichten Widerhall, der in diesem Raum herrschte.
»Ich bin nicht hier, um einem Mördersyndikat beizutreten«, erklärte Res so ruhig wie möglich und kam sich neben der Fürstin plump und hässlich vor. »Ich bin hier, weil Ihr vor vielen Jahren bei den Weberinnen von Siridom einen Teppich bestellt habt, der den Triumph des Verlorenen Kaisers zeigen sollte. Ihr habt ihn gekannt, und ich muss wissen, wo er sich befindet.«
Sie schluckte ihren Stolz hinunter und kniete nieder. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Yen Tao-tzu es ihr gleichtat. Mehr noch, er streckte die Arme aus und legte sein Haupt auf den Boden. »Bitte«, schloss sie, »helft mir. Siridom wird vom Nichts bedroht, und viele andere Orte in Phantásien ebenfalls. Der Verlorene Kaiser hat es einmal besiegt. Ich muss ihn finden, damit es ihm erneut gelingt.«
Als sie zu Ende gesprochen hatte, ahmte sie Yen Tao-tzu nach und presste ihr Gesicht ebenfalls auf den Boden. Es wirkte noch demütiger als eine Verbeugung, und wenn es die Fürstin günstig stimmte, dann kam es Res nicht darauf an. Über sich hinweg hörte sie die Stimme der Fürstin befehlen:
»Halbert, verschwinde.«
»Euer Erhabenheit…«
»Hinaus. Lass uns allein.«
Die leichten Schritte des Zwergs entfernten sich rasch. Dann näherte sich ein Flattern, bis Res spürte, wie die gefächelte Luft ihre Wangen berührte.
»Steht auf«, sagte die Fürstin. »Alle beide.«
Res gehorchte. Die Fürstin schwebte direkt vor ihr. Aus der Nähe fielen Res vor allem ihre Augen auf, die einen hellen, harten Glanz versprühten, wie Diamanten.
»Es hat mehr als einen Kaiser in Phantásien gegeben«, sagte die Fürstin. »Weißt du überhaupt, welchen du meinst, Mädchen? Ich kann mich unmöglich an alle erinnern.«
Also hatte die Katze in diesem Punkt die Wahrheit gesagt. Unwillkürlich fuhr sich Res mit der Zungenspitze über die Lippen. »Es mag mehr als einen gegeben haben«, erwiderte sie, »aber Ihr habt nur diesen einen Teppich in Siridom bestellt und nie abholen lassen. Der Verlorene Kaiser muss Euch im Gedächtnis geblieben sein.«
»Hm«, sagte die Fürstin und fuhr mit ihrer schmalen Hand unter Res’ Kinn. Die Berührung war eiskalt. Sie zog Res näher an sich heran und wisperte: »Mag sein, dass ich mich erinnere. Aber es sind keine guten Erinnerungen. Du hast mir Kummer bereitet, weil du sie in mir geweckt hast. Warum also sollte ich dir helfen?«
In der Nähe solcher Kälte fiel Res das Atmen fast so schwer wie in der Hitze und dem Ruß der Flammen von Brousch. »Weil Kading sonst früher oder später ebenfalls an das Nichts fällt«, presste sie heraus.
Die Fürstin ließ sie los, klatschte in die Hände und lachte erneut.
»Und warum sollte mich das kümmern? Ich lebe schon sehr lange. Ja, früher dachte ich, dass ich des Lebens nie satt werden würde oder der Süße der Macht. Aber nun zehre ich schon Ewigkeiten davon und finde sie bitter. Kading ist die sicherste Stadt von Phantásien, und ich bin eine gute Herrscherin. Hier geht nichts vor sich, was ich nicht will. Einst dachte ich, das würde mir Frieden geben und mich wieder glücklich machen, aber inzwischen bin ich es leid. Ich bin der Anbetung meiner Untertanen überdrüssig und auch ihres Neids und ihres versteckten Grolls, wenn sie mich betrachten. Ich finde keine Freude mehr daran, immer dieselben Streitereien zu schlichten und stets aufs Neue die gleichen Befehle zu geben. Mag das Nichts wiederkommen! Es bringt zumindest Abwechslung.«
Seit er seinen Verstand wiedererlangt hatte, hatte Res die Stimme des Sühneträgers nicht mehr so gebrochen und fassungslos gehört wie jetzt. »Und Eure Untertanen?«, fragte er und starrte die Fürstin an, als stünde ein Ungeheuer vor ihm. »Sollen Eure Untertanen sterben, nur weil Ihr Euch langweilt?«
Res, die genau das Gleiche gedacht hatte, erwartete, dass die Fürstin erneut in Gelächter ausbrechen würde. Stattdessen überzog ein Ausdruck von Verwunderung das silberne Gesicht. Wie gerade eben bei Res berührte sie mit ihren Fingern Yen Tao-tzus Kinn.
»Das ist unmöglich«, stieß sie hervor. Dann wirbelte sie herum und flatterte wieder zu Res. »Willst du dich über mich lustig machen, Weberin?«
»Nein«, entgegnete Res beschwörend und schüttelte verzweifelt den Kopf. Sie musste die Fürstin überzeugen, ganz gleich, wie abscheulich ihr die Frau erschien, sonst war alles umsonst gewesen.
»Ich will nur, dass Ihr mir helft, den Verlorenen Kaiser zu finden.« Die lichten, kalten Augen der Fürstin wanderten an ihr entlang.
»Du glaubst, was du sagst«, stellte die Fürstin fest und kehrte zu ihrer Liege zurück. Ihre melodische Stimme klang wie das Hämmern in einem Silberbergwerk, als sie fortfuhr: »Dann lass mich dir etwas erzählen. Du und dein Begleiter, ihr scheint Anstoß daran zu nehmen, dass mich das Schicksal meiner Untertanen nicht mehr kümmert. Nun, ich habe eine Unendlichkeit gebraucht, bis ich so weit gekommen bin. Aber der Verlorene Kaiser, dieser Feigling, war nie anders. Er hätte Phantásien regieren können. Die Kindliche Kaiserin war verschwunden, sie hatte es ihm überlassen. Er war der Retter, und wir alle folgten ihm. Dazu hatte er uns ermutigt. Wir sollten belohnt werden und die wenigen Toren, die sich widersetzten, bestraft. Aber dann ließ er uns alle im Stich. Denn in Wahrheit wollte er nicht regieren. Er wollte diese Bürde nicht tragen. Er wollte nur eines: sich selbst vernichten. Als ich das herausfand, hätte ich ihm diese Aufgabe gerne abgenommen, doch da war es schon zu spät. Und meine gesamte Familie war tot, gestorben für eine Sache, an die ihr Anführer nie geglaubt hatte. Das ist der Mann, von dem du dir Hilfe erhoffst, Weberin.« Sie fasste Yen Tao-tzu ins Auge und schloss: »Sage mir, mein Freund, ist er nicht durch und durch verabscheuungswürdig?«
Yen Tao-tzu presste die Handflächen gegeneinander und erwiderte: »Dem mag so sein. Doch das enthebt Euch nicht der Verantwortung. Harmonie ist zwischen Herrschenden und Untertanen so wichtig wie zwischen Himmel und Erde, und ohne einander können sie nicht sein. So lehren es die Meister.«
Ohne den Blick von ihm zu wenden, nahm die Fürstin ihre Flöte vom Boden auf und setzte sie an ihren Mund. Diesmal jedoch spielte sie keine Melodie darauf, sondern blies nur einen einzigen, scharfen Ton. Sofort erschienen zwei ihrer Wachen.
»Näht ihm den Mund zusammen«, sagte sie und wies auf Yen Tao-tzu. »Ich habe das alles schon einmal gehört, und ich lege keinen Wert darauf, wieder mit dergleichen belästigt zu werden.«
»Aber Ihr könnt nicht…«, begann Res, und die Fürstin schenkte ihr ein dünnes Lächeln.
»Ich kann alles. Ich kann dir sogar sagen, was du wissen möchtest. Wo der Verlorene Kaiser hingegangen ist in seiner Feigheit. Willst du das wissen oder ein Heldenspiel versuchen?«
Res stockte, und das Lächeln der Fürstin vertiefte sich.
»Was ist wichtiger, dieser Mann oder die Rettung deiner Heimat?«
Es war die Wahl, die sie vor den Flammen der Zeit nicht hatte treffen müssen. Res kam es vor, als ginge ein Riss durch ihren gesamten Körper. Noch nie hatte sie jemanden gehasst. Kunlas Vater vielleicht, aber nicht wirklich; sie war enttäuscht und wütend gewesen, doch sie hatte ihm nichts Böses gewünscht. Nun jedoch stieg eine schwarze Flut des Hasses in ihr hoch. Sie wünschte sich, sie könnte die Fürstin in Grund und Boden stampfen; sie wünschte sich, die Flammen wären hier und würden die Frau vor ihr an Ort und Stelle verschlingen.
Aber nicht, ehe sie ihr den Aufenthaltsort des Verlorenen Kaisers verraten hatte. Mit der Bitte um Verzeihung in den Augen und brennender Scham im Herzen schaute Res Yen Tao-tzu nach, wie er von den Wachen fortgeführt wurde. Aber sie rührte sich nicht vom Fleck, unternahm nichts, um ihm zu helfen, und erhob nicht mehr die Stimme zum Protest.
»Niemand soll sagen, dass ich meine Versprechen nicht halte«, meinte die Fürstin, als er den Empfangsraum verlassen hatte. »Der Verlorene Kaiser ging dorthin, wohin alle Kaiser Phantásiens am Ende gelangen; in die Alte Kaiser Stadt. Sie liegt unweit des Nebelmeers, nördlich von hier. Du brauchst noch nicht einmal befürchten, dass er inzwischen gestorben ist.« Sie bog einen Finger und winkte.
»Tritt näher.«
Es schien Res, dass ihre Füße von alleine einen Schritt nach dem anderen taten, bis sie vor der Liege der Fürstin stand.
»Setz dich zu mir.«
Res ließ sich auf die Liege sinken. Dabei streiften ihre Hände den Seidenteppich, der über die Liege gespannt war, und das vertraute Gefühl erinnerte sie daran, dass all dies wirklich geschah. Es war kein Traum. Sie hatte gerade erfahren, wo sich der Verlorene Kaiser befand. Sie hatte gerade einen Freund im Stich gelassen. Sie saß gerade jetzt neben einer Frau, die ihr nach dem Nichts das Schlimmste in ganz Phantásien war.
»Niemand stirbt in der Alten Kaiser Stadt. Sie würden es sich zwar wünschen, wenn sie noch wünschen könnten, aber sie sterben nie. Doch ich fürchte«, murmelte die Fürstin und legte ihre frostige Hand auf Res’ Nacken, wo die Spitzen ihres kurz geschnittenen Haares, die noch feucht waren, sofort zu Eis gefroren, »ich fürchte, meine Liebe, diese Auskunft wird dir nichts nützen. Denn siehst du, niemand, der einen Mord begangen hat, um nach Kading zu gelangen, kann die Stadt ohne meine Einwilligung wieder verlassen. Das verhindern die Schutzzauber. Und meine Einwilligung gebe ich dir nicht.«
Ihre silbernen Locken streiften Res’ Wange, und ihre Lippen, so kalt wie alles andere an ihr, berührten das Ohr des Mädchens, als sie flüsterte: »Betrachte dich als eingeschworen. Jetzt kannst du gehen.«
Kunlas Dolch steckte in ihrem Korb, sicher verwahrt, um niemanden in Kading zu beleidigen oder argwöhnisch zu machen. Einen Moment lang fragte sich Res, ob es möglich war, das allgegenwärtige Kristall hier zu zerbrechen und der Fürstin einen Splitter ins Herz zu stoßen. Wie eine Ertrinkende an ein Tau klammerte sie sich an das, was die Vernunft ihr sagte. Der Fürstin irgendeine Art von Schaden zuzufügen, hier, im Zentrum ihrer Macht, war gewiss unmöglich. Aber sie konnte versuchen, Yen Tao-tzu zu finden und ihm zu helfen. Sie schuldete es ihm. Außerdem hatte die Fürstin bei all ihrer Bosheit tatsächlich verraten, wo der Verlorene Kaiser zu finden war. Und, was genauso viel zählte, die Fürstin konnte nicht ahnen, dass sie die Stadt betreten hatte, ohne einen Mord zu begehen, und daher nicht auf ihre Einwilligung angewiesen war, um die Schutzzauber zu überwinden.
Wie das im Einzelnen zu bewerkstelligen war, wusste Res noch nicht, doch sie würde es herausfinden. Und dazu musste sie den Audienzraum der Fürstin verlassen, ohne ihr einen Grund zu geben, sie aufzuhalten.
Stocksteif, während sich ihre Fingernägel in ihre Handballen bohrten, stand Res auf. Sie drehte sich nicht mehr um, als sie hinausging, doch das silberne Lachen der Fürstin hallte hinter ihr her.
Vor dem Empfangszimmer wartete der Zwerg Halbert. Seine tiefliegenden Augen musterten Res mit einer Mischung aus Verständnis und Abschätzung. »Tja«, sagte er. »Du hast sie nun kennen gelernt, wie?«
Res traute ihrer Stimme noch nicht und nickte.
»Das war’s dann«, meinte Halbert. »Du kannst in der Schenke wohnen, bis du genügend Aufträge bekommen hast, um dich irgendwo einzumieten. Womit kannst du am besten umgehen?«
»Mit dem Webschiffchen und der Nadel«, entgegnete Res und war überrascht, dass ihre Stimme zwar ein wenig gepresst klang, aber nicht zitterte. Sie erwartete, dass Halbert wegen der patzigen
Antwort aufbrausen würde, doch stattdessen zuckten seine Mundwinkel.
»Bei mir war es die Axt. Webschiffchen und Nadel, wie? Nadeln lassen sich auf mancherlei Weise anwenden.«
»Das habe ich gehört«, platzte Res heraus. »Halbert, wir müssen versuchen, Yen Tao-tzu zu finden. Du kennst dich doch hier aus, du musst wissen, wo die Wachen ihn hingebracht haben, um ihn zu bestrafen.«
Halbert strich sich über seinen Bart. »Mag sein, dass ich das weiß, aber wenn er das Missfallen der Fürstin erregt hat, ist es klüger, ihn sich selbst zu überlassen. Jeden anderen Feind kann man sich hier in Kading leisten. Nur nicht die Fürstin.«
»Es kümmert sie nicht weiter, was aus ihm wird«, sagte Res drängend, »Außerdem habe ich diesen Vertrag gelesen, den du uns hast unterschreiben lassen. Yen Tao-tzu auch. Darin steht, dass das Syndikat für die Behandlung seiner Mitglieder geradesteht. Nun, Yen Tao-tzu ist ein Mitglied, und er braucht Unterstützung.«
Der Zwerg gab nach und führte Res in einen der unteren Räume der Pyramide. Halbwegs erwartete sie einen finsteren Kerker, doch die Kammer, in der sie Yen Tao-tzu fanden, war genauso lichtüberflutet wie fast alles hier in Kading. Außerdem gab es nirgendwo auch nur die geringste Spur von Blutstropfen. Halbert bemerkte ihre verdutzte Miene, grinste schwach und rief:
»He, Surrin, wir wollen deinen neuen Gast abholen, und hier wundert sich jemand, dass die Unterbringung so sauber ist.«
Ein Kadinger erschien, dessen grüner Westenbrokat um den Oberkörper so fein und sorgfältig mit Gold bestickt war, dass eine Weberin neidisch werden könnte. Seine Bronzeknöpfe bebten vor Entrüstung, als er klirrend erwiderte: »Und wie sonst sollte sie sein? Jenseits von Kading, bei den Barbaren, mag man die Dinge schludern lassen, aber ich führe hier saubere Zellen. Keine Mäuse, keine eingekratzten Sprüche und keine Gespenster.«
Res hörte nicht richtig zu. Sie schaute auf Yen Tao-tzu, der mit dem Rücken zu ihr im Schneidersitz in einer Ecke saß. Seine Schultern zuckten, und sein Oberkörper bewegte sich leicht hin und her, was sie an den namenlosen Sühneträger von einst erinnerte. Sie wollte nicht sehen, was man ihm angetan hatte, was sie hatte geschehen lassen, doch sie zwang sich, zu ihm zu gehen und neben ihm niederzuknien.
»Yen Tao-tzu«, sagte sie behutsam, »wir können diesen Ort nun verlassen.«
Langsam drehte er ihr sein Gesicht zu, und sie stieß den Atem aus, den sie angehalten hatte. Es war nicht ganz so schlimm wie in ihrer Vorstellung. Was auch immer das weiße Material war, das die Wachen benutzt hatten, um ihm dem Befehl ihrer Fürstin gemäß den Mund zuzunähen, es hinterließ keine blutenden Wunden. Doch statt eines Mundes hatte er nun einen breiten, weißen Strich im Gesicht, der aus lauter nebeneinander gesetzten Querstichen bestand.
Es gab nichts, was sie sagen konnte. Er wusste genau, dass sie ihn im Stich gelassen hatte, und sie wusste es auch. Mit dem Wärter zu reden fiel ihr leichter. »Das können wir doch?«, fragte sie laut.
Der Kadinger zuckte die Achseln. »Die Fürstin hat nur befohlen, ihm den Mund zu stopfen. Von einer Haft hat sie nichts gesagt. Nehmt ihn nur mit, dann bin ich ihn los.«
Zögernd hielt sie Yen Tao-tzu eine Hand hin, um ihm beim Aufstehen zu helfen. Genauso zögernd ergriff er sie. Er ließ sie auch auf dem Rückweg zur Schenke nicht los, doch er sah Res nicht an. Als sie in der Schenke angelangt waren, setzte er sich auch dort so schnell wie möglich in eine Ecke und versank in von Schaudern unterbrochene Reglosigkeit.
Ein paar der Gäste vom Vortag waren anwesend, einschließlich des blauen Dschinn, dem Halbert zunickte. »Linus«, sagte der Zwerg, »ein Fall für dich. Unser neues Mitglied hier braucht Behandlung, wie du siehst, sonst verhungert er bald.«
Der Dschinn zog eine Brille mit großen, runden Gläsern aus seinem Burnus, setzte sie sich auf die Nase und begutachtete Yen Taotzu kopfschüttelnd. »Respekt, Respekt«, seufzte er schließlich. »Das ist echte Wertarbeit. Du musst wirklich jemanden verärgert haben. Wen denn, wenn man fragen darf?«
»Das willst du nicht wissen«, entgegnete Halbert.
»Gewiss will ich das«, erwiderte der Dschinn gekränkt. »Das ist sogar eine Voraussetzung, um einen magischen Heilungsprozess zu beginnen, und ich heile nur magisch.«
»Die Fürstin war es«, sagte Res knapp.
Sofort wurde der Dschinn rauchig in Fingern, Füßen und Nasenspitze. Seine Stimme kletterte in die Höhe, als er ausrief: »Die Fürstin? Dann soll er sich selbst behandeln. Dafür bezahlt mir das Syndikat nicht genügend.«
»Was habe ich dir gesagt, Kind?«, kommentierte Halbert, schenkte Res ein bedauerndes Lächeln und gesellte sich zu den anderen Gästen, die alle an einem Tisch zusammengerückt waren, so weit wie möglich von Yen Tao-tzu entfernt.
Res holte tief Luft und erklärte: »Ich kann dir noch mehr bezahlen.«
»Wie denn?«, fragte der Dschinn misstrauisch. »Du hast doch noch nicht mal deinen ersten Mitgliedsbeitrag abgeleistet.«
Verschwörerisch zog sie ihn zur Seite. Der Dschinn war erheblich größer als sie, also musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihm zuzuflüstern:
»Ich weiß, wie man Kading ohne Einwilligung der Fürstin verlassen kann.«
Die buschigen Augenbrauen des Dschinns schossen in die Höhe. Dann verschränkte er die Arme ineinander, und Res sah eine Art weißen Blitz, der sie einen Herzschlag lang blind machte. Als sie wieder sehen konnte, entdeckte sie, dass Yen Tao-tzu und sie sich gemeinsam mit dem Dschinn in einer kristallenen Laube befanden.
»Hier ist angeblich früher die Freiheit von Kading gefeiert worden«, sagte der Dschinn. »Also kommt heute freiwillig niemand mehr hierher. Wir sind ungestört. Weißt du, was du da gerade behauptet hast? Niemand, der nicht aus Kading stammt, kann ohne Einwilligung der Fürstin die Stadt verlassen, und wer aus Kading stammt, will es nicht.«
»Ich brauche ihre Einwilligung nicht«, beharrte Res. »Ich werde auf gar keinen Fall hier bleiben, und ich glaube, du willst das auch nicht. Bei uns in Siridom leben keine Dschinn, aber wir liefern ihnen
regelmäßig Teppiche, und nach allem, was ich von deinem Volk gehört habe, hasst es das Eingesperrtsein. Was ist Kading denn schon als eine große, mit einem Pfropfen verschlossene Flasche?«
Der Dschinn runzelte die Stirn. »Mag sein«, erwiderte er. »Aber hier habe ich keinen Meister, dem ich gehorchen muss. Ich bin gut in meinem Geschäft. Ich kann mir meine Auftraggeber aussuchen, und wenn der Auftrag erledigt ist, können sie mir nichts mehr befehlen. Hier werde ich geschätzt und gebraucht, nicht nur als Mörder, sondern auch als Heiler für Syndikatsmitglieder. Ich kann mich noch gut erinnern, wie es dort draußen zugeht. Wenn man Pech hat, landet man in einer Duftwasserflasche von irgendeinem verwöhnten Fräulein«, schloss er und blitzte sie an, als sei sie ein Beispiel für diese Gattung.
»Ein verwöhntes Fräulein kann ein gewitzter Dschinn wie du leicht überlisten. Und hier in Kading hast du sehr wohl einen Meister. Die ganze Stadt hat einen. Die Fürstin gebietet über euch alle. Sie hat das Syndikat mit seinen Regeln nur zugelassen, weil es ihr so gefiel, und wenn sie es sich morgen anders überlegt, kann sie euch alle zu Sklaven machen. Wer sollte sie in dieser Stadt daran hindern?«
Diesmal löste sich der gesamte Kopf des Dschinn in blauen Rauch auf, der sich jedoch rasch wieder zu einem turbanbesetzten Haupt verfestigte. »Hin und wieder träume ich von der Freiheit«, gestand er ein.
»Dann erfülle dir deinen Traum!«
»Also gut«, gab der Dschinn nach. »Wenn du mir versprichst, dass niemand meinen Namen erfährt, falls es misslingt und du erwischt wirst.« Mürrisch fügte er hinzu. »Aber es gibt keine zusätzlichen magischen Heilungen, falls du die Absicht hast, von mir einen neuen Finger zu erhalten.«
»Ich schwöre es«, sagte Res erleichtert, versuchte nicht daran zu denken, was es bedeuten würde, wieder einen vollständigen kleinen Finger zu haben, und verzichtete darauf zu erwähnen, dass sie seinen Namen gar nicht kannte. Dann erst fiel ihr ein, wie Halbert ihn genannt hatte.
»Linus«, fügte sie rasch hinzu, »wenn du Yen Tao-tzu geheilt hast, musst du mir noch einen Gefallen tun, damit wir hier wegkommen. Ich muss unbedingt eine buttergelbe Katze mit blauen Augen finden.«
Wenn sie das Opfer für den Teppich rückgängig machte, dachte sie, dann würde das vielleicht auch die Flugmagie ruinieren. Nein, sie hatte mit ihrer Wunde zu leben gelernt. Es war wichtiger, Schnurrspitz aufzustöbern.
»Ihr Frauen neigt alle zum Herumkommandieren«, grummelte der Dschinn.