KAPITEL 4
Das Arachnion erinnerte Res an das Herz eines Bienenstocks, an die Wabe, in der die Königin sich aufhielt.
»Warum?«, fragte Pallas, als sie diesen Gedanken einmal laut aussprach.
»Weil um uns herum nichts als Aufregung herrscht. Wer in Siridom nicht damit beschäftigt ist, in aller Eile den Tross für den Elfenbeinturm zusammenzustellen, klatscht darüber, was die Gilde uns sonst noch verschwiegen haben könnte. Aber nicht hier. Hier herrscht nichts als Ruhe, und trotzdem spürt man, dass etwas in der Luft liegt, genau wie die Königin sicher die anderen Bienen und deren Gesumm spürt.«
»Darüber weiß ich nichts«, entgegnete Pallas. »Ich kann dir alle Teppiche hier nennen, auf denen Bienen dargestellt sind, aber gehört habe ich natürlich nie welche.«
Pallas war wirklich wie eine Bienenkönigin, unentbehrlich, geschätzt und eingesperrt. Doch selbst Bienenköniginnen durften einmal im Jahr fliegen.
Res verbot sich die Frage, ob es sich mit den übrigen Weberinnen denn anders verhielt, nur dass ihre Wabe größer war. »Lass uns nach draußen gehen, Pallas«, sagte sie abrupt und erfasste die weißen, starken Hände. »Du zeigst mir hier so viel, und ich weiß, dass du meiner Mutter meinetwegen gut zugeredet hast. Lass mich dir auch etwas zeigen. Wir können sicher eine Pause machen; das alles hier läuft ja nicht davon.«
Mit einem Schwung, dem die überraschte Pallas sich nicht rechtzeitig widersetzte, zog sie die Weberin hoch. Zum ersten Mal, seit Res sie kennen gelernt hatte, klang Pallas unsicher.
»Ich danke dir für die Absicht, Res, aber in der Sonne kann ich nicht leben.«
»Heute ist ein wolkiger Tag, und die Nebel haben sich immer noch nicht gehoben«, sagte Res beschwichtigend. »Es ist kaum heller als sonst am späten Abend. Und du kannst einen Mantel anziehen, der dich schützt.«
»Nein«, protestierte Pallas, und diesmal war es eindeutig Furcht, die ihre Stimme in die Höhe trieb. »Ich kann nicht.«
Res schwankte. Ein Teil von ihr dachte, dass es nur gut für Pallas wäre, wenn man sie zwänge, nach draußen zu gehen. Wenn sie lange genug darauf bestünde, würde sich Pallas schon beugen. Aber dann sagte sie sich, dass es Pallas’ Entscheidung war; außerdem hatte sie ihr eine Freude machen, nicht ihr Angst einjagen wollen. »Schon gut«, sagte sie schließlich und setzte sich wieder.
Auch Pallas ließ sich erneut auf den vertrauten Teppichstapel sinken und kehrte zu der zarten, weißen Ruhe zurück, die sie sonst immer umhüllte. »Möchtest du lieber dort draußen sein, um bei den Vorbereitungen zu helfen?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Res und zog die Schultern hoch. Früher hätte sie uneingeschränkt und sofort mit »ja« geantwortet. »Ich möchte helfen, aber…«
Die Kluft zwischen der Gilde und den Weberinnen, zwischen Kunla und ihr, die ihr plötzlich bewusst geworden war, ließ sich so schwer in Worte fassen wie die unbestimmte Furcht, dass die Gesandtschaft von ihrer Reise zum Elfenbeinturm nicht rechtzeitig zurückkehren könnte.
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass es viele Verlorene Kaiser gab, nicht nur einen?«, fragte sie und wechselte das Thema,
»Viele?«, wiederholte Pallas verblüfft. »Wer hat dir denn das erzählt?«
»Eine Katze.«
»Ah. Nun, über Katzen weiß ich nichts. Man lässt sie hier nicht hinein, was du sicher verstehen wirst. Aber kann es nicht sein, dass sie dich angelogen hat?«
»Eigentlich hat sie keinen Grund dazu«, sagte Res. »Du weißt also nichts von anderen Kaisern?«
»Nein. Nur von dem einen.«
Sie erhob sich, diesmal aus eigenem Antrieb, und verschwand in das völlige Dunkel. Als sie zurückkehrte, trug sie eine Rolle. Res sprang auf, während Pallas unendlich vorsichtig einen sehr, sehr alten Teppich ausbreitete.
»Du darfst ihn berühren«, sagte sie leise.
Res sank in die Knie und spürte, wie ihre Fingerspitzen zitterten, als sie über dem Teppich schwebten. Dichte, ruhm-golddurchwirkte Blätter am oberen Rand, die kratzten; weiche, alte Seide, die entweder weiß oder silbern sein musste; und immer wieder das unverwechselbare Gefühl von Tränenblau. Um die meisten der übrigen Fäden benennen zu können, war sie noch nicht geübt genug. Nach einer Weile reimte sie sich zusammen, dass die Seide benutzt worden war, um die Kindliche Kaiserin und den Elfenbeinturm darzustellen. Am Ende, als der Teppich in lose, unverknüpfte Fäden überging, waren die weiße Seide und das Tränenblau so weit voneinander entfernt, wie es nur ging.
»Warum hat sie ihren Retter nicht bei sich behalten? Wenn Gut und Böse ihr gleich gilt, dann kann es doch keine Rolle gespielt haben, was er in seiner Heimat war?«
»Ihr mag es gleich gewesen sein«, antwortete Pallas, »doch woher willst du wissen, ob es ihm gleich war?«
Das verstand Res nicht, also konzentrierte sie sich auf etwas, das sie begriff. »Wenn man ihn suchte, müsste man also weit vom Elfenbeinturm entfernt beginnen.«
»Das müsste man, wenn er überhaupt noch am Leben ist, was ich nicht glaube. Meiner Meinung nach hat die Weberin den Teppich nie beendet, weil er vorher starb.«
»Dann hätte sie seinen Tod als letztes Bild einfügen können«, gab Res zurück und verlagerte ihr Gewicht auf die Fersen.
»Nun ja«, sagte Pallas. »Wenn er noch am Leben ist und die Kindliche Kaiserin glaubt, er könne Phantásien erneut retten, dann hat sie vielleicht bereits nach ihm gesandt. Und nun nenne mir die Art Wolle, die benutzt wurde, um die Seide für den Elfenbeinturm zu stützen.«
Auf dem Nachhauseweg beschloss Res, noch einmal bei Kunla vorbeizuschauen. Sie wollte nicht, dass er auf die Reise ging, von der sie beide immer geträumt hatten, und den bitteren Wortwechsel vom Abend zuvor als letzte Erinnerung an sie behielt. Außerdem konnte sie versuchen, ihm zu erklären, was sie bedrückte. Sie waren schließlich Freunde. Um Freundschaft lohnte es sich zu kämpfen.
Das Gehöft, in dem Kunlas Familie lebte, lag in der Nähe des Gildehauses, und Kunlas Vater hatte es sich nicht nehmen lassen, es wie das Gildehaus in Würfelform zu bauen. Lediglich die Türpfosten aus Muschelstein an der Eingangspforte waren rund, wie es die Tradition von Siridom eigentlich verlangte. Ihre ursprüngliche Rosafärbung hatte sich durch all das Öl, das die Besucher im Laufe der Jahre aufgetragen hatten, fast violett verdunkelt. Alter Gewohnheit entsprechend streckte Res beide Arme aus und strich mit den Händen hastig links und rechts über die glatte Oberfläche, um die Pfosten zu begrüßen, ehe sie durch die Pforte trat.
Die Pfosten erkannten ihre Berührung. »Geh wieder nach Hause, Res«, brummte der linke.
»Es ist niemand da«, setzte der rechte hinzu.
»Wie meint ihr das?«, fragte Res verblüfft. »Die bereiten sich hier auf eine große Reise vor, da gehen sie bestimmt nicht mehr aus. Oder sind sie alle im Gildehaus? Aber Kunlas Mutter doch bestimmt nicht.«
»Sie sind vor einer Stunde abgereist«, erwiderten die Türpfosten im Chor, »alle.«
Das war so unglaublich, dass Res sich in den Staub setzte. »Heute schon?«
Natürlich war es eine eilige Angelegenheit, aber sie hätte nicht gedacht, dass Kunlas Vater so schnell einen ganzen Tross zusammenstellen konnte. Vor einer Stunde. Sie war zu spät gekommen. Kein versöhnlicher Abschied von Kunla.
Dann drang etwas in ihr Bewusstsein, das sie zuerst überhört hatte. »Alle?«, wiederholte sie langsam. »Auch Schiri und Aife?«
»Alle«, wiederholte der rechte Pfosten.
Das ergab keinen Sinn. Kunlas Mutter Aife hatte nichts für Reisen übrig. Sie war noch nicht einmal mitgekommen, als Kunlas Vater mit seinen Kindern und Res einen Ausflug in die Ebene von Kenfra gemacht hatte. Und die Reise zum Elfenbeinturm war keine Vergnügungsfahrt; im Gegenteil, es war eine bitterernste Mission, und man sollte annehmen, dass Kunlas Vater mit so wenig Gefährten wie möglich reisen wollte, um schneller voranzukommen. Dass er seinen Sohn, der ohnehin bald zum Gildenmitglied ausgebildet werden sollte, mitnahm, war verständlich, aber seine Tochter und seine Ehefrau?
»Das verstehe ich nicht«, sagte Res hilflos. Doch allmählich kam ihr ein ungeheuerlicher Verdacht. »Haben sie irgendjemanden eingeladen, um das Haus zu hüten?«, fragte sie und spürte, wie ihr Herz schneller schlug, während sie sich befahl, nicht verrückt zu spielen. Das, was sie vermutete, konnte unmöglich stimmen.
»Nein«, gab der linke Pfosten mürrisch zurück. »Ich sehe es kommen, schon bald wird Moos an uns wachsen, oder wir ersticken in Vogelmist, wenn wir nicht regelmäßig gepflegt werden. Seit drei Generationen hüten wir das Heim der Familie. Das haben wir wirklich nicht verdient!«
Sein schönes, kostbares Haus ungeschützt zurückzulassen, nicht nur seinen Sohn, sondern seine gesamte Familie auf eine solche Reise mitzunehmen, das ergab nur unter einer Voraussetzung einen Sinn: wenn Kunlas Vater nicht mehr erwartete, hierher zurückzukehren.
Natürlich erwartet er das nicht, raunte die Stimme der Katze in ihrem Kopf, und der gelbe Kopf stupste ihre Hand an, die reglos im Staub lag. Der Mann kann rechnen, und er weiß wesentlich mehr über das Nichts als der Rest von euch. Er glaubt, dass es hier ist, noch ehe er den Elfenbeinturm erreicht.
»Woher weißt du das?«, stieß Res hervor.
Nun, ich habe natürlich versucht, ihn zu überzeugen, eine andere Richtung einzuschlagen und mich mitzunehmen, entgegnete die Katze, ohne auch nur mit einem Schnurrbarthaar zu zucken. Da du dir hier so lange Zeit lässt. Aber er will sich nicht ganz und gar pflichtvergessen vorkommen und denkt, dein Freund Kunla würde ihm nie verzeihen, wenn er nicht zumindest den Versuch macht, euch zu retten. Katzen sind da klüger. Unsere Jungen erwarten von uns nur, dass wir sie verteidigen, nicht die aus fremden Würfen.
»Du meinst, er hat uns alle abgeschrieben? Uns alle als Verlust abgeschrieben.« Seltsamerweise war ihr nicht nach Weinen zumute, nicht wie gestern, als ihre Mutter ihr Vorwürfe gemacht hatte. Sie musste nicht die kleinste Träne unterdrücken. Dazu tat es zu weh. Kunlas Familie und Kunla waren verschwunden, hatten nicht vor, nach Siridom zurückzukehren, und überließen alle ihrem Schicksal. Vielleicht hatte der Gildeherr, mit dem Wissen, das er ihnen allen vorenthielt, diese Flucht schon lange vorbereitet, und der letzte Tross verschaffte ihm nur den Vorwand, den er brauchte, um sich aus dem Staub zu machen. Das Ausmaß des Verrats schnürte ihr die Kehle zu.
Die Katze setzte sich auf ihren Schoß, und Res stellte fest, dass sie auf das Tier nicht böse war, obwohl es nach eigenem Bekunden genau das Gleiche beabsichtigt hatte. Die Katze hatte nie vorgegeben, etwas anderes als selbstsüchtig zu sein.
Res nahm sie in die Arme und erhob sich. Ihre Beine kamen ihr schwer vor, wie Steinklumpen, doch sie zwang sich, Schritt für Schritt auf Kunlas Haus zuzugehen. Die Rufe der Türpfosten hinter ihr ignorierte sie.
Das Innere des Hauses sah aus, als wäre es durchwühlt worden wie ein Kasten voller Nadelhüte und Bindfäden. Niemals hätte es Frau Aife freiwillig so zurückgelassen. An einer Wand zeichnete sich ein riesiger heller Fleck ab, und Res erinnerte sich, dass dort ein schöner Teppich gehangen hatte, ein Neujahrsgeschenk ihrer Mutter. Offenbar hatte er nicht zurückbleiben sollen. Statt sie zu besänftigen, machte dieser Anblick sie zornig.
Mit rascheren Schritten eilte sie in Kunlas Zimmer, das ordentlicher wirkte als der Rest des Hauses, weil hier kaum etwas fehlte. Kunla konnte nicht viel mitgenommen haben. Sie kniete nieder, ließ die Katze los und nahm den Holzblock aus der Wand, hinter dem er immer seine kostbarsten Schätze aus ihren gemeinsamen Expeditionen versteckt hatte. Ihre Fingerspitzen ertasteten etwas Längliches, das von einem Pergament umhüllt war. Sie zog es heraus und starrte auf den Dolch aus Fenelin-Silber, den Kunla von seinem Vater zu seinem letzten Geburtstag erhalten hatte, als Zeichen, dass er nun bald die Welt der Kinder verlassen würde. Dann entdeckte sie, dass jemand das Pergament, eine alte Warenliste der Gilde, mit hastiger Schmierschrift überschrieben hatte.
»Liebe Res«, stand dort in leuchtend grünen Buchstaben, grün wie Kunlas Haar, »ich schwöre dir, dass ich es nicht wusste. Gerade erst habe ich es erfahren. Aber ich werde dafür sorgen, dass Vater sein Versprechen hält und Hilfe holt. Deswegen muss ich ihn begleiten; wenn er nicht zum Elfenbeinturm zieht, tue ich es selbst. Der Dolch ist für Dich. Bis wir uns wiedersehen, Kunla.«
In ihr hob sich etwas, und sie kam sich nicht mehr ganz so vor, als habe sie jemand in den Magen getreten. Trotzdem wünschte sie sich immer noch, Kunlas Vater würde in den Nebeln der Ebene ersticken.
Die Katze beäugte den Dolch kritisch. Gut zum Fleischzerlegen, schnurrte sie, aber um sich zu verteidigen, sind Krallen besser. Krallen kann man nie verlieren. So ein Ding dagegen schon.
Res ließ den Dolch von einer Hand in die andere gleiten. Das Silber glänzte in dem schwachen, staubigen Licht, das die abendliche Sonne in Kunlas Zimmer warf. Es fühlte sich kühl und fest an. Die Klinge war so blank poliert, dass man sie als Spiegel benutzen konnte.
»Ich werde ihn nicht verlieren«, sagte sie laut. »Und… ich werde auch nicht darauf warten, dass Kunla zurückkommt. Oder dass die Kindliche Kaiserin uns hilft. Wenn sie es tut, dann ist es gut, aber wir müssen auch versuchen, uns selbst zu helfen. Selbst einen Weg zu finden.«
Die Katze spitzte die Ohren. Das war die ganze Zeit meine Rede. Führt dieser Weg weit vom Elfenbeinturm fort?
Res nickte. »Ich«, fuhr sie fort und begann erst es zu glauben, als sie es laut aussprach, »ich werde versuchen, den Verlorenen Kaiser zu finden.«
Diesmal wollte sie überlegter vorgehen. Nicht wie im Gildehaus. Aber sie wusste genau, dass es viel Zeit brauchen würde, ihre Mutter zu überzeugen, und die Zeit lief ihnen davon. Also beschloss Res, zum Arachnion zurückzukehren. Auf Pallas hörten die Weberinnen gewiss viel eher als auf jemanden wie sie, die noch nicht einmal ihr Gesellenstück abgeliefert hatte, und Pallas hatte sich schon einmal für sie eingesetzt.
Das Arachnion in der Dämmerstunde zu betreten war nicht leicht. Der gedrechselte Türpfosten beharrte darauf, um diese Zeit bedürfe Pallas der Ruhe und sonst befinde sich niemand mehr hier. Schließlich verlor Res die Geduld und zog Kunlas Dolch.
»Wenn du mich nicht mit Pallas sprechen lässt«, zischte sie,
»dann richte ich dich so zu, dass du ersetzt werden musst!«
Der Türpfosten weinte harzige Tränen, doch er schniefte: »Ich bin bereit, mich im Dienst meiner Pflicht zu opfern, du grässliches Ding!«
Lass mich nur machen, murmelte die Katze. Ich brauche ohnehin einen Kratzbaum.
Res atmete einmal tief durch. »Hör zu«, sagte sie beschwörend.
»Wenn du mich nicht hereinlässt, dann schreie ich hier draußen so lange, bis Pallas herauskommt. Und Pallas mag es nicht, ins Freie zu gehen. Sie hat Angst davor. Du würdest ihr wehtun. Das alles kannst du vermeiden, wenn du mich einfach mit ihr reden lässt. Es ist wirklich sehr wichtig.«
»Das ist es immer«, gab der Türpfosten zurück. »Aber gut denn. Doch die Katze«, bei dem letzten Wort kletterte seine Stimme ein paar Stufen in die Höhe, »bleibt draußen!«
Pallas war nicht in dem Raum, in dem sie während der letzten Tage miteinander gearbeitet hatten. Als Res ihren Namen rief, hörte sie die Stimme der Frau aus einem Nebenzimmer antworten. Sie ertastete sich ihren Weg dorthin und hatte das Gefühl, von einem Kokon umschlossen zu sein. Die Wände fühlten sich wie feste Seide an, es war warm, und sie sah überhaupt nichts, noch nicht einmal ihre eigenen Hände.
»Was gibt es?«, fragte Pallas aus unmittelbarer Nähe, doch Res war zu aufgeregt, um zusammenzuschrecken. Der Verrat des Gildeherrn und ihr Plan sprudelten aus ihr hervor, und mit jedem Wort war sie sich gewisser, dass ihr Vorhaben nötig war und die beste Möglichkeit für Siridom.
»Den anderen Gildenmitgliedern können wir nicht mehr trauen«, schloss sie, »und von den Weberinnen will bestimmt keine in die Ferne ziehen.«
»Wenn sie es müssten, würden sie gehen«, stellte Pallas fest.
»Doch sag mir, wie willst du ohne Hilfe der Gilde reisen? Zu Fuß? Das dauert dann bestimmt zu lang.«
Das war ein so vernünftiger Einwand, dass Res stockte. Dafür müsste sich eine Lösung finden lassen. Vergeblich versuchte sie Pallas in der Dunkelheit auszumachen, als die Weberin fortfuhr:
»Wenn du mich fragst… dann würde ich die Laufvögel und einen Wagen des verlassenen Trosses nehmen, von dem du mir erzählt hast. Niemand kann Anspruch auf sie erheben, und so fügst du auch niemandem einen Schaden zu.«
»Niemand will Anspruch auf sie erheben«, verbesserte Res und fröstelte bei dem Gedanken an die farb- und geruchlosen Vögel. »Sie sind unheimlich.« Dann schluckte sie. »Aber das ist eine gute Idee. Heißt das… heißt das, du hilfst mir?«
»Wenn das Nichts kommt, werde ich es noch nicht einmal sehen und davonlaufen können«, erwiderte Pallas. »Ich werde einfach verschluckt werden. Nur darauf zu warten… nein, ich helfe dir.«
Res drehte sich mit ausgestreckten Armen einmal um sich selbst, bis sie Pallas spürte, und umarmte sie ungeschickt. Pallas roch nach Zimt und dem Bienenwachs, mit dem die Weberinnen ihre Schiffchen pflegten, und ihre Haut war warm.
Mit Pallas als Verbündeter sah die Zukunft nicht mehr ganz so wie ein tollkühner Sprung ins Ungewisse aus. Durch ihr Talent, Kleinigkeiten zu erkennen und zu einem großen Bild zusammenzusetzen, kam Pallas bald darauf, dass die Weberin, die den Teppich über die Geschichte des Verlorenen Kaisers begonnen hatte, von irgendwoher den Auftrag erhalten haben musste, und ging mit Res in das Archiv der Bestellungen. Dort mussten sie einige schläfrige Glühwürmchen, die sich bereits zur Ruhe gebettet hatten, überzeugen zu leuchten, während Res auf Pallas’ Anweisung die alten Dokumente durchging. Im Gegensatz zu den von Pallas betreuten Teppichen waren die Dokumente sehr staubig, als seien sie schon Ewigkeiten lang nicht mehr eingesehen worden, und Res hustete beim Umblättern immer wieder. Aber sie wurde fündig.
»Die Fürstin von Kading!«, rief sie triumphierend. »Sie war es, die den Teppich ursprünglich haben wollte.«
»Dann ist Kading dein erstes Ziel«, erklärte Pallas. »Dort werden sie wissen, was aus dem Verlorenen Kaiser geworden ist. Und nun sollten wir zu deiner Mutter gehen. Sie macht sich gewiss schon Sorgen um dich.«
»Wir? Du meinst…«
»Ich werde dich begleiten«, erwiderte Pallas, und die Unsicherheit in ihrer Stimme fiel nur im Vergleich zu ihrer sonstigen Gelassenheit auf.
Von Kopf bis Fuß in weiße Gewänder gehüllt, wirkte Pallas wie ein Geist, als sie durch die nächtlichen Straßen von Siridom zog, und die Leute, die abends noch unterwegs waren, starrten sie mit weit aufgerissenen Augen an. Ihre Hand lag in der von Res und zitterte, aber ihre Schritte blieben fest, als gleite sie über die Teppiche des Arachnions. Res sprach die ganze Zeit mit ihr, beschrieb ihr, wo sie sich gerade befanden und wohin sie gingen. Die Katze war nach einem Blick auf Pallas mit gesträubtem Fell verschwunden, doch Res ahnte, dass sie sich irgendwo in der Nähe befinden musste.
Krin fiel die Schüssel, die sie gerade hielt, aus den Händen, als Res mit Pallas das Haus betrat. Ihr Gesicht war eine solche Mischung aus Entsetzen und Ehrfurcht, dass Res begann zu begreifen, wie ungeheuerlich es war, Pallas außerhalb des Arachnions zu sehen. Ein Stuhl musste für Pallas gefunden, ein Getränk angeboten werden, und in der Flut von Entschuldigungen und Erklärungen dauerte es einige Zeit, bis Res und Pallas dazu kamen, Krin von ihrem eigentlichen Anliegen zu berichten. Res begann mit der Entdeckung, die sie im Haus von Kunlas Vater gemacht hatte, und Pallas schloss mit dem Plan, den sie beide zur Rettung von Siridom gesponnen hatten.
Danach schwieg Krin. Res erwartete, dass ihre Mutter ihr voreilige Schlussfolgerungen vorhalten oder davon sprechen würde, wie unausgegoren und hoffnungslos ein solches Vorhaben sei. Oder, und das fürchtete sie am meisten, Krin würde die ganze Angelegenheit zu einem weiteren kindischen Versuch erklären, Aufmerksamkeit zu erregen. Was ihre Mutter dann jedoch sagte, war etwas ganz anderes.
»Warum meine Tochter? Warum Res? Sie ist doch…« ein Kind, stand in Krins Augen zu lesen, doch sie schluckte und fuhr stattdessen fort »noch so jung!«
»Krin«, entgegnete Pallas weich, »du hast Teppich nach Teppich gewebt, in dem jemand aufbricht, um sich seinem Schicksal zu stellen. Du kennst die Zeichen. Jeder von ihnen hatte eine Mutter, die fragte: Warum mein Kind? Das ist eine der ungelösten Fragen, und wir werden nie eine Antwort darauf finden.«
»Ich komme wieder«, rief Res impulsiv. »Ganz bestimmt!«
Später, während sie packte, fiel ihr etwas ein. Sie zögerte, dann nahm sie eine Schere und begann sich die Haare abzuschneiden. Es dauerte lange, und sie hob sehr sorgfältig jede einzelne Strähne auf und wickelte sie um eine Spindel. Ihre Mutter würde wissen, was es bedeutete: das Versprechen zurückzukehren und ihr Gesellenstück zu schaffen.
Ihr Kopf fühlte sich ungewohnt leicht und ihr Hals nackt an, als sie fertig war. Sie fror.
Rührend, sagte die Katze. Aber du kommst nicht zurück. Sie saß auf dem Weidenkorb, in den Res ein paar Kleider und Kunlas Dolch gesteckt hatte, und musterte sie mit halbgeschlossenen Augen. Ihre Vorderpfoten waren übereinander gelegt, und ihr Schwanz zuckte träge hin und her.
»Natürlich komme ich zurück. Ich bin nicht wie Kunlas Vater.«
Zweibeiner, gab die Katze verächtlich zurück. Glaubst du im Ernst, du könntest etwas Verlorenes suchen, ohne selbst verloren zu gehen? Aber solange du mich dabei in die richtige Richtung bringst, soll es mir recht sein.
Res warf mit einer leeren Spindel nach der Katze. »Wer behauptet denn, dass ich dich überhaupt mitnehme?«
Die Katze öffnete ihr Maul und gähnte. Res sah ihre rosa Zunge zwischen den nadelspitzen Zähnen.
Ich behaupte das. Weil ich dir erzählen kann, wie du nach Kading kommst.
»Es gibt Teppiche im Arachnion, die Kading zeigen und das Land um Kading herum«, gab Res zurück. »Ich habe sie mir bereits abgezeichnet.«
Zu wissen, wo es liegt und wie man es betritt, sind zweierlei Dinge. Kading ist immer am gleichen Ort, aber nie in der gleichen Zeit.
Mehr erfährst du nur, schloss die Katze, wenn du mich mitnimmst.
Und nun kraule mich.