Elf
In der Nacht wachte ich immer wieder auf. Als es endlich Samstagmorgen war, begrüßte mich ein klarer blauer Himmel und die Luft war mild. Auf dem Weg nach Queen Anne überlegte ich: Was tat ich hier eigentlich? Glaubte ich auf einmal wirklich an Geister? An Monster oder Hexen? Das war doch verrückt. Aber der Biss an meinem Rücken juckte und selbst die heißeste Dusche, die ich je genommen hatte, hatte es nicht geschafft, das unheimliche Mal abzuwaschen.
Ich parkte den Wagen an der gleichen Stelle wie beim letzten Mal und betrachtete das Haus der Danzigers. Ben kam mit dem Baby auf dem Rücken auf die Veranda und ging die Stufen hinunter. Der Kleine brüllte aus schierer Lust am Leben.
Ben erspähte mich und winkte. »Brian und ich gehen ein Weilchen in den Park«, rief er.
Ich winkte ihm ebenfalls kurz zu. Nun gab es kein Zurück mehr. Etwas widerwillig stieg ich aus, betrat den Garten und ging die Stufen hinauf. Mara öffnete mir die Tür.
Wir gingen ins Wohnzimmer – ein warm wirkender Raum, der durch eine Reihe großer Fenster schön hell war. Dort ließen wir uns auf einander gegenüberstehende Sofas nieder, zwischen denen ein Couchtisch stand. Ein Hauch von Zitronenöl und frisch Gebackenem lag in der Luft, und durch die Bäume im Garten fiel grünliches Licht ein.
Mara machte es sich bequem, indem sie die Beine anzog, und betrachtete mich aufmerksam. »Gestern Abend war nicht so erfolgreich, was?«
»Nein, kann man nicht behaupten.«
»Immerhin, es war kein völliger Reinfall.«
»Das sehe ich anders. Ich wurde von einem … von einem Monster angegriffen. Es hat seine Zähne oder was auch immer in mich geschlagen, als wäre ich ein Stück Fleisch. Und ich habe keine Ahnung, wie oder warum das passiert ist.«
»Sie konnten nicht mehr zurück, weil Sie die Konzentration verloren haben. Bis dahin war alles nach Plan verlaufen. Sie haben das Grau aus freien Stücken gefunden anstatt hinein zu stolpern, wie das bisher der Fall war. Und Sie konnten es zurückweisen. Erst beim zweiten Mal lief das Ganze etwas aus dem Ruder.«
Ich schnaubte. »Was Sie nicht sagen.«
Mara sah mich aus zusammengekniffenen Augen an. Auf einmal hatte ich das Gefühl, als wäre es im Zimmer etwas kälter geworden. »Das ist Teil des Problems.«
Ich warf ihr einen skeptischen Blick zu. »Was meinen Sie damit?«
Mara schüttelte den Kopf und winkte ab. Da erschien Albert in meinem Blickfeld. Es wirkte fast so, als wäre er ein echter Mensch, so deutlich war er zu sehen. Allerdings war er noch immer in eine Nebelwolke gehüllt. »Sie sehen ein Gespenst. Und Sie wissen, dass es so wirklich ist wie … wie das Sofa, auf dem Sie sitzen. Aber Sie weigern sich, Ihren Geist zu öffnen und behaupten, das alles könnte nicht stimmen. Wenn Sie sich dagegen wehren, passieren unvorhergesehene und vielleicht sogar gefährliche Dinge. Sobald Sie aufhören zu glauben und Panik in Ihnen aufsteigt – gerade, wenn Sie sich mitten drin befinden – verlieren Sie die Kontrolle, und das ist übel. Wie kann man etwas kontrollieren, an das man nicht glaubt? Und so lange Sie dagegen ankämpfen, werden Sie nicht in der Lage sein, sich zu schützen oder das Grau zu beherrschen.«
»Zu beherrschen?«
Sie nickte. »Damit meine ich, dass Sie in das magische Feld ein- und wieder daraus auftauchen können, wie es Ihnen gefällt. Zu Hause in Irland kannte ich einen Jungen, der das problemlos beherrschte. Er war gerade mal dreizehn Jahre alt. Ständig tauchte er einfach irgendwo auf oder verschwand wieder, was ziemlich beunruhigend wirkte. Die Leute fanden allerlei Erklärungen für dieses Phänomen. Sie behaupteten, er wäre so leise wie eine Katze, weshalb man ihn nicht hören könnte. Andere vermuteten, er wäre viel zu schnell für das normale Auge. Aber alle waren sich darin einig, dass er etwas Unheimliches an sich hatte.«
»War er auch ein Grauwandler?«
Sie lachte erheitert. »Um Himmels Willen, nein! Er war einfach nur ein Hexer.«
Ich beugte mich amüsiert zu ihr. »Aber irgendwann hat er damit aufgehört, oder?«
Ihre gute Laune verflog und sie blickte zu Boden. »Ja. Er fand sich eines Tages direkt vor einem Laster auf der Autobahn wieder. Das war sein Ende.« Sie schloss für einen Moment die Augen und holte tief Luft. »Verstehen Sie jetzt, warum ich möchte, dass Sie lernen es zu kontrollieren?«
Dem Grau war es natürlich gleichgültig, ob ich in ihm vor einem Auto Zuflucht suchte oder ob es jemanden vor einem heranrasenden Lastwagen auftauchen ließ.
Ich nickte. »Ja, das verstehe ich.«
»Gut. Wollen wir es also noch einmal versuchen? Albert und ich sind hier, um Ihnen zu helfen.«
Das hatte ich nicht erwartet. »Albert?«
Sie lächelte. »Selbstverständlich. Sie können ihn sehen und er kann wie Sie das Grau betreten. Er wird also Ihr Begleiter sein.«
Ich wollte Bedenken anmelden. »Aber –«
»Sie werden sehen. Wir lassen nichts an Sie heran.« Mara neigte den Kopf zur Seite und zog die Augenbrauen hoch. »Wollen wir es probieren?«
Etwas befangen machte ich es mir auf dem Sofa bequem und schloss die Augen. Ich atmete langsam, bis ich ganz entspannt war und sich in mir eine umfassende Ruhe ausbreitete.
»öffnen Sie die Augen«, flüsterte Mara.
Ich hob die Lider. Ein Mann in einem schwarzen Anzug stand im Tisch. Er hatte sein Haar mit einem Mittelscheitel exakt geteilt und mit Pomade um sein längliches, ovales Gesicht frisiert. Auf seiner Nase saß eine kleine Nickelbrille. Ich konnte beinahe durch ihn hindurch sehen. Ein Schleier von Grau umgab ihn und je länger ich den Nebel anstarrte, desto mehr nahm er an Volumen zu.
»Schließen Sie die Augen. Schieben Sie es von sich und kommen Sie dann hierher zurück.«
Und genau das tat ich.
Mara strahlte mich an, als ich die Augen wieder öffnete. »Das war fantastisch!«
Albert stand noch immer im Tisch. Ich unterdrückte ein Schaudern. »Dieser Anblick ist etwas beunruhigend.«
»Wirklich?«
»Albert scheint an den Knien abgeschnitten zu sein. Er steht mit seinen Oberschenkeln auf dem Tisch. Sehen Sie das denn nicht?«
»Nein. Mir erscheint er lange nicht so körperlich. Ich glaube, dass Sie ihn besser wahrnehmen können als andere. Sobald Sie sich mehr auf das Grau einlassen, werden Geister und andere Wesen für Sie deutlich greifbarere Körper haben. Sie werden sie sowohl dort als auch hier wahrnehmen. Wie zwei unvollständige, übereinander gelagerte Bilder. Je weiter Sie sich vom Grau entfernen, desto undeutlicher werden sie. Versuchen Sie es doch noch einmal. Diesmal halten Sie aber die Augen geöffnet, während Sie sich dem Grau nähern.«
Mir war ein wenig schwindlig und ich fühlte mich ziemlich erschlagen. Trotzdem wollte ich es noch einmal probieren.
Ich näherte mich also der mittlerweile fast vertrauten kalten Übelkeit des Grau und Albert erschien immer deutlicher vor meinen Augen. Die Details seiner Kleidung und seines Gesichts nahmen ein surreal klares Ausmaß an, während die gierige Nebelwolke, die ihn umgab, immer größer wurde. Ich begann zu zittern. Das Wohnzimmer der Danzigers bewegte sich und wurde dabei immer verschwommener, bis ich nur noch blasse goldene Schlieren in dem dichten, eiskalten Dunst erkennen konnte.
Aus der Ferne drang Maras Stimme zu mir durch. »Sie sind hinein gerutscht. Es wäre besser, wenn Sie jetzt wieder zurückkommen.«
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Albert sich bewegte, und ich drehte mich zu ihm um. Mir wurde schwindlig. In diesem Meer aus Grau verlor ich vollkommen die Orientierung. Ich streckte einen Arm aus, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Seltsamerweise erinnerte ich mich gar nicht daran, aufgestanden zu sein. Ich wollte mich an Albert festhalten, aber meine Hände glitten durch ihn hindurch, und ein heftiger Schlag raste durch meinen Arm bis zu meinem Kopf hinauf. Ein grauenvoll chemischer Gestank stieg mir in die Nase. Heftig zuckte ich zurück.
Albert sah seinen Arm an und warf mir einen verblüfften Blick zu. Dann bewegte er den Mund, ohne dass ich etwas hören konnte, und klopfte sanft auf den Nebel zwischen uns. Mara war inzwischen ganz verschwunden. Ich starrte das Gespenst mit weit aufgerissenen Augen an, da ich plötzlich Angst hatte, zu zwinkern.
Er wollte mir zu verstehen geben, dass ich mich setzen sollte. Unentwegt wiederholte er die Mundbewegung, bis ich auf einmal begriff, was er vor mir wollte. Ich setzte mich. Nun bedeutete er mir, dass ich leise sein und die Augen schließen sollte. Ein kalter Stromschlag traf meine Schulter. Mein Magen verkrampfte sich.
Aus weiter Ferne erklang wieder Maras Stimme. »Immer ruhig atmen und konzentrieren. Dann schieben Sie es von sich. Ruhig atmen …«
Ihre Stimme wurde stärker und ich merkte, wie sich Gestank und Kälte langsam entfernten. Dann spürte ich einen kleinen Stoß …
Ich hatte das Gefühl, von der Zimmerdecke auf das Sofa gefallen zu sein. Entsetzt rang ich nach Luft und öffnete die Augen.
Mara sah ziemlich mitgenommen aus. Ihre Haare waren zerzaust und ihr Gesicht zeigte eine ungewöhnliche Blässe. »Das war etwas heftig. Geht es Ihnen gut?«
Ich schluckte etwas Galle herunter und krächzte: »Hervorragend.« Dann musste ich noch einmal schlucken. »Glaube ich zumindest.«
»Sie sehen ziemlich erschöpft aus.«
Ich schüttelte das Grauen ab, das mich noch immer im Griff hatte. »Mir geht es gut.« Mühsam stand ich auf und warf einen Blick auf meine Armbanduhr. »Aber jetzt muss ich leider los.«
Mara sah mich durchdringend an. »Übernehmen Sie sich nicht. Und bitte seien Sie vorsichtig. Sie wissen jetzt, wie Sie hinein- und wieder herauskommen, aber Sie sind noch nicht stark oder gefestigt genug. Sie müssen noch viel üben.«
Ich nickte und machte mich auf den Weg zur Haustür. »Ich weiß. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe nicht vor, mich freiwillig von irgendwelchen grauen Klippen zu stürzen.« Mir lief es beim Gedanken an das Grau erneut kalt den Rücken herunter und ich vermied es, Albert anzusehen.
Mara begleitete mich zur Tür. Sie warf mir einen scharfen Blick zu. »Das sollten Sie auch nicht. Lastwagen geben nicht nach.«
Ich lächelte sie freudlos an und versicherte ihr, dass ich vorsichtig sein würde. Dann machte ich mich innerlich fluchend auf den Weg.
Das Eintauchen ins Grau rief eine Panik in mir hervor, die ich seit der Grundschule nicht mehr erlebt hatte. Ich musste dringend weg von hier und mich eine Zeit lang in irgendetwas stürzen, das mir vertraut war und womit ich mich wohl fühlte – je länger, desto besser. Allerdings bezweifelte ich inzwischen, dass ich mich dem Grau sehr lange würde entziehen können.
Als ich die Lagerhalle von Ingstrom erreichte, hatte die Versteigerung bereits begonnen. Michael lächelte und winkte mir zu, während er die jeweiligen Kaufinteressenten in eine Liste eintrug. Wills Stimme erklang über Lautsprecher. Endlich atmete ich wieder normalen Staub und Schmutz ein – sofort fühlte ich mich besser. Ich ging in die Halle, aus der Wills Stimme kam.
Die Bieter fuchtelten mit ihren Kärtchen in der Luft herum, während Will sie professionell anstachelte. Er wusste, wie man die Leute dazu brachte, am Ball zu bleiben. Nach wenigen Minuten hatte er mehrere hölzerne Aktenschränke für einige Hundert Dollar versteigert. Es war noch recht früh, doch die Menge war bereits im Auktionsfieber.
Die Leute bildeten die übliche Mischung aus Ladenbesitzern und Auktionssüchtigen. Allerdings gab es auch eine Handvoll ausdruckslos wirkender Männer und Frauen, die in einer kleinen Gruppe bedrückt und völlig passiv an der hinteren Wand lehnten. Vermutlich handelte es sich um die ehemaligen Mitarbeiter der Firma, die gekommen waren, um mitzuerleben, wie sich die Aasgeier um die letzten Knochen ihrer ehemaligen Existenz stritten. Keiner beachtete sie.
Ein Karton voll gläsernem Tand entfachte einen wilden Kampf, bei dem schließlich eine schlanke blonde Frau und ein recht beleibter Mann übrig blieben, um es zwischen sich auszufechten. Ich konnte mich nicht an ihre Namen erinnern, obwohl ich sie von anderen Auktionen her kannte. Beide waren Antiquitätenhändler und Geschäftsrivalen. Die Frau war bei ihren Kollegen wegen ihrer schnippischen Art recht unbeliebt, und ich verdächtigte den Mann, dass er manchmal nur bot, um den Preis für sie in die Höhe zu treiben. Er machte nicht den Eindruck, als würde er sich ernsthaft für Glas interessieren.
Die mittlerweile astronomisch hohe Summe ließ sogar die Blondine innehalten, aber Will wollte sie noch zehn Dollar höher treiben. Die beiden Rivalen sahen sich um. Der Mann schnitt eine Grimasse.
Will beugte sich zum Mikrofon und schaute in die Menge. »Es handelt sich um Tischprismen in einem einzigartigen Zustand, meine Damen und Herren. Absolute Liebhaber-Objekte auf dem heutigen Markt«, erklärte er, und ließ seinen Blick auf der Frau ruhen. »Es ist Ihre letzte Chance, meine Damen und Herren.«
Die Frau biss sich auf die Lippen, und ihr Kärtchen schnellte in die Höhe. Im selben Augenblick ließ Will den Hammer mit rasender Geschwindigkeit auf sein Pult sausen, obwohl sowieso niemand Mitleid mit der Frau hatte und ein letztes Gebot versuchte. Ein Raunen ging durch die Menge und Will wandte sich dem nächsten Objekt zu. Das Gesicht der Frau verfinsterte sich für einen Moment; offensichtlich dämmerte es ihr nun, dass man sie zum Narren gehalten hatte. Dann drehte sie sich um und ging zur Tür.
Ungefähr ein gutes Dutzend Posten später verkündete Will, dass man nun eine Dreiviertel Stunde Mittagspause machen würde. Ich folgte ihm in den hinteren Teil des Lagerhauses, wo ich an der Registriertheke stehen blieb. Hier stand eine wahre Traube von Interessenten herum.
Er sah mich an und strahlte. »Hü Schön, dich wieder zu sehen.« Gleich darauf legte den Arm um eine erschöpft wirkende Frau Mitte sechzig und führte sie zu mir. »Darf ich vorstellen? Das ist Ann Ingstrom, die ältere Mrs Ingstrom. Mrs Ingstrom, das ist Ms Blaine, die Privatdetektivin, von der ich Ihnen heute Morgen erzählt habe.«
Sie trug ein edles dunkelblaues Wollkostüm, das an ihr hing, als ob sie über Nacht 20 Pfund verloren hätte. Mrs Ingstrom musterte mich aus wässrigen Augen, sagte aber nichts. Ich streckte ihr die Hand entgegen und sie gab mir die ihre mit einer steifen, ruckartigen Bewegung. Ihre Haut fühlte sich an wie feines Sandpapier.
»Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, Mrs Ingstrom. Ich würde Ihnen gerne einige Fragen stellen. Wäre es Ihnen recht, wenn ich Sie zum Mittagessen einlade? Dann könnten wir ungestört miteinander reden.«
Sie antwortete mit sanfter Stimme. »Oh. Ja. Das wäre nett. Sehr gut. Nicht weit von hier gibt es einen … einen Sandwich-Laden.«
Ich sah Will fragend an. Er schüttelte den Kopf. »Da wird es sehr voll sein – die ganzen Leute von der Auktion, wissen Sie. Warum geht ihr nicht zu Speedy’s? Man braucht nur fünf Minuten mit dem Auto, und wenn ihr euch beeilt, bekommt ihr noch einen Tisch.«
Ihr Gesicht blieb ausdruckslos, doch sie nickte. Will beschrieb mir wie man dorthin gelangte, und ich fuhr uns mit dem Wagen rüber.
Speedy’s war eine Art Lokal für Handwerker, das man durchaus auch als Spelunke oder Absteige bezeichnen konnte. Aber zumindest fanden wir wie erhofft einen Tisch und tranken Kaffee, während wir auf das Essen warteten. Nach mehreren Schlucken sehr stark gesüßten Kaffees nahm Ann Ingstrom zumindest ein wenig Farbe an.
»Dieser William ist ein netter Mann, nicht wahr?«, meinte sie mit ihrer dünnen Stimme.
»Ja, sehr nett. Ich hoffe, dass ich Ihnen nicht zu nahe trete, indem ich Sie so entführe …«
»Oh, nein. Im Gegenteil, es tut mir gut, weg zu kommen. Seitdem all das passiert ist, habe ich kaum einen Fuß aus der Lagerhalle gesetzt.« Ihre Stimme drohte zu brechen, aber sie versagte ihr nicht ganz. »Seitdem … Seit Chet und Tommy ertrunken sind. So – jetzt habe ich es gesagt, nicht wahr?«
»Ja, Mrs Ingstrom, das haben Sie. Es tut mir wirklich sehr leid«, murmelte ich. Es war ganz egal, wie oft ich schon in solchen Situationen gewesen war: Der Schmerz anderer Menschen war mir immer etwas peinlich, es kam mir immer so vor, als würde ich in ihre Privatsphäre eindringen.
»Nun«, fuhr sie fort und lehnte sich zurück, damit die Kellnerin das Essen auf den Tisch stellen konnte. »Fischer und Seeleute – das Meer nimmt sie uns. Und auf einmal kommen sie nicht wieder zurück. Aber man … man nimmt ja nie an, dass einem selbst so etwas einmal widerfahren könnte.«
»Es muss sehr schwer für Sie sein«, sagte ich.
Sie nickte. »Es ist schrecklich schwer. Aber Sie brauchen ja meine Hilfe. Worüber wollten Sie denn mit mir sprechen?«
»Ich bin auf der Suche nach einem Harmonium, das Ihre Firma in den späten siebziger oder frühen achtziger Jahren aus einem havarierten Schiff geborgen haben könnte. Erinnern Sie sich vielleicht an einen derartigen Vorfall?«
Sie kaute langsam und schluckte ihr Essen hinunter. Jedem Bissen folgte ein Schluck Kaffee. »Ein Harmonium. Ich glaube – ich weiß gar nicht mehr, wie es bei uns gelandet ist, aber wir hatten ein Harmonium in unserem Haus. Nicht sehr lange. Es war grauenvoll. Wir sind das fürchterliche Ding los geworden, als das Haus renoviert wurde. Das war 1986, glaube ich. Aber an das genaue Datum kann ich mich leider nicht erinnern. Es ist schon zu lange her.«
»Was ist mit ihm passiert?«
»Oh, das weiß ich wirklich nicht mehr. Chet hat sich darum gekümmert. Ich war nur froh, dass es endlich aus dem Haus war. Es hat mir stets ein … ein unbehagliches Gefühl bereitet. Das ist lächerlich, nicht wahr?«, meinte sie etwas beschämt. »Es hat gut funktioniert. Chet spielte einige Male darauf.« Sie schauderte. »Aber das alte Ding hörte sich für mich immer so an, als ob es kreischen und heulen würde.« Sie lachte. »Das ist natürlich dumm von mir, ich weiß. Vor einem Möbelstück Angst zu haben. Aber ich habe ihn nie gefragt, was mit dem Harmonium passiert ist.«
»Könnten Sie es herausfinden?«
»Nun … Es sollte noch irgendwelche Papiere geben. Ja, dann habe ich wenigstens etwas zu tun. Darf ich Sie anrufen, sobald ich etwas gefunden habe?«
»Das wäre sehr nett von Ihnen.« Ich suchte meine Visitenkarte heraus und schrieb meine Privatnummer auf die Rückseite, ehe ich sie ihr reichte. »Sie können mich jederzeit anrufen.«
Sie steckte die Karte in ihre Kostümjacke. »Vielen Dank, meine Liebe. Ich werde es Sie wissen lassen, sobald ich auf etwas gestoßen bin.«
Wir beendeten unser Mittagessen und fuhren dann zur Lagerhalle zurück.
Ich reichte ihr meine Hand, ehe ich sie zu Michael und den anderen Trauernden zurückbegleitete. »Noch einmal vielen Dank für Ihre Hilfe, Mrs Ingstrom.«
Diesmal ergriff sie meine Hand, als wären wir Komplizen. Sie lächelte, und ihr Gesicht wirkte auf einmal wesentlich lebendiger. »Ich werde mein Bestes tun«, flüsterte sie mir zu.
Ich kehrte auf die Auktionsfläche zurück. Der Auktionär war diesmal ein älterer Mann, der mich in seiner geschmeidigen Art an einen trägen Seelöwen erinnerte und leider auch nicht viel agiler wirkte. Er war von seiner Wichtigkeit derart überzeugt, dass er die Menge nicht aufzuheizen wusste und schlampig war. So verkaufte er ein schönes altes Mahagonipult viel zu schnell. Die Proteste der Bieter interessierten ihn nicht weiter. Endlich wandte er sich gelangweilt vom Mikrofon ab und machte Will Platz. Innerhalb kürzester Zeit war die Stimmung wieder deutlich besser.
Nach einer Weile machte Will eine kurze Pause, bevor dann mein Kabinettschränkchen unter den Hammer kam. Außer mir war tatsächlich niemand an ihm interessiert und ich ersteigerte es für zwanzig Dollar.
Gegen halb sieben war auch der letzte Gegenstand, eine riesige bronzene Schiffsschraube, verkauft, und die Auktion vorüber. Ich hatte mein Schränkchen sowie einen ziemlich abgewetzten Besucherstuhl erworben. Also schlenderte ich zu Michael hinüber, der immer noch an seinem Tisch saß, um bei ihm zu zahlen und ein paar Worte mit Will zu wechseln. Ein Mann in einem Regenmantel reihte sich hinter mir in die Schlange ein.
Will war gerade an den Tisch getreten, als die Frau, die die Schachtel mit den Glasprismen ersteigert hatte, angerannt kam und sich zu ihm vordrängte.
Ihre Stimme klang giftig. »Ich möchte Sie auf der Stelle sprechen, Mr Novak!«
Michael nahm meine Bezahlung entgegen und schaute sie dann gelassen an. »Was gibt es denn?«
Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Nicht mit Ihnen! Mit dem da!«, fuhr sie ihn an und deutete mit bebendem Zeigefinger auf Will.
Will drehte sich zu ihr um, wobei der Tisch zwischen ihnen einen gewissen Sicherheitsabstand bot. »Gibt es ein Problem, Mrs Fell?«
»Das wissen Sie ganz genau, Mr Novak! Ich wurde dazu genötigt, bei diesem Glas zu hoch zu bieten«, rief sie empört. »Und das ist Ihre Schuld! Sie haben mich dazu verleitet, das letzte Gebot abzugeben!«
Der Mann im Regenmantel hinter mir versuchte, sich einzumischen. »Entschuldigen Sie bitte, aber ich glaube, ich bin als Nächster an der Reihe …«
Will sah ihn bittend an und wandte sich dann wieder der Frau zu. »Mrs Fell, es hat Sie niemand zum Bieten gezwungen. Sie wissen, dass es Teil meiner Aufgabe als Auktionator ist, den besten Preis für meinen Kunden zu erzielen. Und zögernde Bieter zu ermutigen, gehört einfach dazu. Wenn Sie das Gebot für zu hoch hielten, hätten Sie ja jederzeit aussteigen können. Und jetzt muss ich mich wirklich noch um andere Kunden kümmern –«
»Ich wollte ja aussteigen, aber Sie haben mich hereingelegt! Sie haben mich verführt, und das wissen Sie auch!«
Will wollte ihr gerade antworten, als sich erneut der Mann im Regenmantel einmischte. »Ich glaube, ich bin an der Reihe!«
»Sir, ich weiß, dass Sie das sind, aber –«
Auf einmal tauchte der zweite Auktionator hinter Will auf. Aus der Nähe wirkten seine breiten Schultern noch massiger und man sah einen deutlichen Bauchansatz. Er ging bestimmt schon auf die sechzig zu, wirkte aber jünger. Über seiner typisch irischen Nase funkelten dunkelgraue Augen und sein Mund wirkte verkniffen.
Seine Stimme hatte die Langweile von vorhin ganz verloren. »Was ist hier los, Mr Novak?«
Will breitete die Arme aus. »Ein kleines Missverständnis, Brandon. Mrs Fell hier ist unzufrieden mit ihrem Gebot –«