Acht

 

 

Am Freitagvormittag gab ich mir alle Mühe, die befremdliche Unterhaltung vom Abend vorher für den Moment zu vergessen und mich stattdessen in meine Arbeit zu vertiefen. Da wusste ich genau, was ich zu tun hatte und konnte mich völlig darauf konzentrieren, sodass ich nicht mehr unerwartet in diese sonderbaren Welten rutschen konnte … Das hoffte ich jedenfalls. Die lauernden Schatten verließen mich zwar nicht ganz, blieben aber auf Distanz und waren somit einfacher zu ignorieren.

Die meisten Namen auf Colleens Liste halfen nicht weiter. Wenn ich mal jemanden telefonisch erreichte, wusste niemand Bescheid, wo Cameron steckte. Seine Verwandten und Freunde hatten ihn in der Regel schon länger nicht mehr gesehen als seine Mutter. Was auch immer ihn dazu veranlasst haben mochte zu verschwinden – der Grund dafür musste wohl bereits vor dem ersten März zu finden sein.

Aber ich hatte auch Glück, denn ich schaffte es, Camerons Mitbewohner dazu zu überreden, sich zwischen zwei Seminaren an der Uni mit mir zum Mittagessen zu treffen.

Richard »RC« Calvin wartete vor einem kleinen griechischen Cafe an der University Avenue auf mich. Er war nicht sehr groß, aber recht muskulös und wirkte ansonsten eher unauffällig. Wir bestellten an der Theke und nahmen dann an einem kleinen Tisch Platz.

Ich legte meinen Notizblock neben meine Kaffeetasse. »Ich weiß, dass Sie glauben, nichts zu wissen. Aber mit Ihrer Hilfe hoffe ich zumindest zu erfahren, wo ich bei meiner Suche ansetzen kann. Wann haben Sie Cameron das letzte Mal gesehen?«

Er rollte mit den Augen, während er nachdachte. »Na ja … das muss irgendwann Ende Februar gewesen sein, glaube ich. Es war wohl ein Donnerstagabend, denn donnerstags sind wir immer beide zu Hause gewesen, weil Cam am Freitag keine Vorlesungen hatte und bis spät in die Nacht auf war. Wenn ich von meiner Abendvorlesung zurückkam, war er eigentlich immer zuhause.«

»Ist er nicht ausgegangen?«

»Oh, doch. Nachdem wir über die Miete, Rechnungen und solche Sachen gesprochen haben, ging er weg. Wissen Sie, es ist merkwürdig, aber bis gerade eben hatte ich ganz vergessen, dass er an diesem Abend meinte, er würde wohl etwas länger fort sein. Ich sollte mir aber keine Sorgen machen. Anscheinend habe ich ihn beim Wort genommen. Ich habe mir nämlich nichts weiter dabei gedacht, bis seine Mutter anrief und sich nach ihm erkundigte. Seltsam, oder?«

»Nicht wirklich. Hatten Sie den Eindruck, dass er seitdem zwischendurch mal in der Wohnung gewesen ist?«

»Ja, ich denke schon. Vor ungefähr zwei Wochen waren plötzlich einige seiner Sachen weg. Ich wollte mir ein Buch von ihm ausleihen und bin also in sein Zimmer – und da war ziemlich viel nicht mehr da. Es fehlten hauptsächlich kleine Dinge wie seine Klamotten und ein paar Bücher, aber auch größere wie sein Laptop. Vieles war aber auch noch da, deswegen dachte ich eigentlich nicht, dass er jetzt ganz abgehauen wäre oder so. Seine große Tasche und den Rucksack hatte er auch mitgenommen. Ich dachte einfach, dass er irgendwo hin verreist war.«

»Und er hat Sie nie angerufen?«

»Nein, wir teilen uns nur die Wohnung, mehr nicht. Wir sind nicht befreundet, denn im Grunde kommen wir aus total verschiedenen Welten, verstehen Sie?«

Ich nickte. »Schien er in letzter Zeit mit etwas beschäftigt zu sein oder war er irgendwie anders als sonst? Haben sich vielleicht seine Gewohnheiten geändert?«

»Na ja, eine Zeit lang dachte ich, dass er eine Freundin hat, denn irgendeine Tussi hat öfter mal bei uns angerufen und er war fast jede Nacht unterwegs. Aber er meinte, das sei seine Schwester, und so habe ich nicht weiter darüber nachgedacht. Dann rief einige Male ein Typ an – immer ziemlich spät nachts, wenn ich gerade ins Bett gehen wollte. Cam war jedesmal zu Hause und hat das Telefon in sein Zimmer mitgenommen. Als ob ich nicht hören sollte, worum es ging. Keine Ahnung, aber vielleicht ist er ja schwul oder so. Nach den zwei Anrufen hat sich der Typ allerdings nie wieder gemeldet.«

»Wäre es möglich, dass dieser Fremde etwas mit Camerons Verschwinden zu tun hat?«

RC zuckte mit seinen fleischigen Schultern und schob sich eine Gabel voll Souvlaki in den Mund. Er beugte sich über das Essen, als ob er Angst hätte, dass es ihm jemand wegessen könnte. Dann antwortete er mit vollem Mund. »Keine Ahnung. Ich glaube nicht. Cam war um diese Zeit krank und schlief sehr viel. Vielleicht war es ja jemand von der Uni, könnte doch sein, oder? Der Typ klang schon ein bisschen älter, vierzig oder vielleicht fünfzig. Schwer zu sagen, wissen Sie, und mich ist es ja sowieso nichts angegangen.«

»Erinnern Sie sich noch an den Namen des Mannes? Hat er ihn genannt?«

Er nahm einen Schluck Limonade, ehe er antwortete. »Das weiß ich nicht mehr. Ich glaube, er hat ihn einmal erwähnt … Everett oder so. Irgendwas, das sich nach Geld anhörte. Ich kann mich aber nicht mehr genau erinnern.«

»Bitte rufen Sie mich auf jeden Fall an, falls er Ihnen doch wieder einfallen sollte. Sie sagten, dass Cameron krank war. Woher wissen Sie das?«

»Wenn jemand eine ganze Woche lang kotzt, ist das ziemlich eindeutig, oder? Außerdem war er verdammt blass – so käsig, wissen Sie – und irgendwie ausgemergelt. Wenn er nicht ständig über der Toilette gehangen hätte, würde ich auf Drogen getippt haben. Er sah aus wie jemand aus so einem alten Film, der von einer tödlichen Krankheit befallen ist – ganz bleich mit riesigen Augen. Ständig kam ihm alles wieder hoch. Eine Weile hat er überhaupt nichts mehr gegessen, sondern nur Wasser getrunken und eine fürchterlich stinkende Suppe.« Er sah hoch und bemerkte, dass ich meinen Teller noch nicht angerührt hatte.

»Habe ich Ihnen den Appetit verdorben? Tut mir leid. Ich kann mittlerweile alles ertragen, ich studiere nämlich Medizin. Kurz vor seinem Verschwinden machte Cam einen etwas besseren Eindruck, er war aber immer noch verdammt blass.«

»Und Sie sind sich absolut sicher, dass er die Grippe hatte? Hätte es nicht eine andere Krankheit sein können oder doch Drogen?«, hakte ich nach und nahm einen Schluck Kaffee.

Erneut zuckte er mit den Schultern. »Vielleicht war es auch etwas anderes. Hundertprozentig kann ich das nicht sagen. Schließlich bin ich noch kein fertig ausgebildeter Arzt. Aber eine richtige Grippe kann einen ganz schön mitnehmen. Die meisten glauben ja, dass das nur eine harmlose Krankheit ist, aber Grippe kann tödlich sein, verstehen Sie? Außerdem gibt es so etwas wie eine Ein-Tages-Grippe überhaupt nicht. Das ist dann meistens eine milde Form der Lebensmittelvergiftung. Eine richtige Grippe, die rafft ganze Völker dahin. Die Spanische Grippe 1918 tötete Millionen. Und es ist der gleiche Bakterienstamm, der uns auch heute noch über der Schüssel hängen lässt. Erschreckend, was?«

Ich stimmte nickend zu. »Ja, erschreckend. Hat Cameron während seiner Krankheit Besuch gehabt? Vielleicht eine Freundin, irgendwelche Kommilitonen oder so?«

»Nein, niemand. Eine Freundin habe ich, wie gesagt, nie mitbekommen – außer eben der Sache mit der Schwester. Sonst war niemand in der Wohnung, nur einige meiner Freunde und der Vermieter. Und seit Camerons Verschwinden war auch niemand da.« RC schob sich eine letzte Gabel Pilaw-Reis in den Mund und spülte ihn mit einem Schluck Limonade runter. »Mögen Sie Spinakopita nicht?«

Ich schaute auf meinen unberührten Teller. »Doch, eigentlich schon, aber ich habe keinen Hunger. Möchten Sie?« Ich schob ihm den Teller hin.

Er nickte dankend und lud sich die Gabel voll. Ich beobachtete ihn leicht amüsiert und nahm einen Schluck Kaffee. Sein Anblick erinnerte mich an einen Zeitungsartikel, den ich mal gelesen hatte, in dem es hieß, dass Assistenzärzte normalerweise an Unterernährung und Schlafmangel litten. Offensichtlich gedachte Richard Calvin, dem vorzubeugen, ehe sein zukünftiger Beruf die Chance hatte, ihn zu zermürben. Ob er seine freien Tage wohl auch im Bett verbrachte, um auf Vorrat zu schlafen?

»Sie haben also seitdem nichts mehr von Cameron gehört?«

»Nein, kein Wort.«

»Was haben Sie dann mit seinen restlichen Sachen gemacht? Und wie bezahlen Sie die Miete und dergleichen?«

»Seine Mutter hat die Miete und die ausstehenden Rechnungen bezahlt und mich gebeten, seine Sachen zusammenzupacken und in der Wohnung zu lassen, bis er zurückkommt. In der Zwischenzeit suche ich mir einen neuen Mitbewohner – alleine kann ich mir die Bude nämlich nicht leisten. Cams Mutter hatte nichts dagegen.«

»Haben Sie vor kurzem mit ihr gesprochen?«

»Ja. Ich habe sie angerufen, um ihr zu sagen, dass ich Sie treffen würde. Wissen Sie, ich wusste ja nicht, ob Sie auch seriös sind und so. Aber sie meinte, ich könnte Ihnen ruhig alles anvertrauen, und das habe ich ja nun auch gemacht. Ich weiß wirklich nicht viel über Cam, wie Sie bemerkt haben dürften. Gibt es noch etwas, womit ich Ihnen helfen kann?«

»Nein, eigentlich nicht. Etwas hätte ich allerdings noch gerne erfahren. Hatte er vielleicht eine Lieblingskneipe? Oder gibt es einen Ort, an den er schon immer wollte? Gehörte er vielleicht zu irgendeiner Clique?«

RC grunzte. Es war mir nicht ganz klar, ob er damit das Essen loben wollte oder ob er es immer tat, wenn er nachdachte. »Ich bin mir nicht sicher. Aber ich weiß, dass er auf Musik gestanden hat. Einmal wollte er seine Schwester in der Stadt treffen, aber wo das war, weiß ich nicht. Mehr kann ich dazu leider auch nicht sagen.«

»Gut«, sagte ich. »Ich werde Ihnen meine Visitenkarte geben, und falls Ihnen noch etwas einfallen sollte – irgendetwas, wie zum Beispiel der Name dieses Anrufers –, dann melden Sie sich bitte bei mir. Okay?«

»Alles klar«, erwiderte er und verputzte den letzten Bissen Spinakopita. Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne und entfernte damit jeglichen Spinat, ehe er seine Limonade leerte. Ich holte währenddessen eine meiner Visitenkarten hervor und reichte sie ihm.

»Sie haben sich als sehr hilfreich erwiesen, RC.«

»Ehrlich? Cool.« Er nahm die Karte, steckte sie in seine Brusttasche, griff nach seinem Rucksack und machte sich auf den Weg zur Tür. »Vielen Dank für die Einladung.«

Ich sah ihm nach, ehe ich mich zum Verwaltungsgebäude der Universität aufmachte. Nachdem ich dort eine Liste von Camerons Dozenten zusammengestellt hatte, schlenderte ich zum Ingenieur- und Maschinenbautrakt hinüber.

Ich traf dort nur einen seiner Dozenten an, der ziemlich ungehalten reagierte, als ich ihn auf Cameron ansprach. »Nein, den habe ich schon lange nicht mehr gesehen, weder bei den Vorlesungen noch in einem der Seminare. Und gehört habe ich auch nichts von ihm. Es sieht so aus, als ob er das fahr nicht bestehen wird. Warten Sie, seit wann war er schon nicht mehr hier?« Er blätterte in seinem Terminkalender. »Mindestens seit einem Monat. Wenn er sich nicht bald bei mir meldet, fallt er durch. Richten Sie ihm das bitte von mir aus!«

»Das werde ich bestimmt, wenn ich ihn gefunden habe. Vielen Dank.«

Ich verließ sein Büro – verdammt froh, dass ich meine Studienzeit hinter mir hatte.

Auf dem Rückweg über den Campus fing mein Piepser auf einmal zu vibrieren an. Ich sah mich um, konnte aber keine Telefonzelle entdecken. Also lief ich zum nächstgelegenen Gebäude, wo ich neben dem Institut für Mathematik einen öffentlichen Apparat fand. Irgendwann werde ich mir ein Handy anschaffen, das schwöre ich! Für den Moment jedoch blieb mir nichts anderes übrig als meine Piepser-Nummer anzurufen und mir die neue Nachricht anzuhören.

»Hi Harper, hier Quinton. Ich habe jetzt alles für Ihr Alarmsystem zusammen, möchte aber vor der Installation noch einige Details mit Ihnen besprechen. Am liebsten wäre es mir, wenn wir das heute noch erledigen könnten, sofern Ihnen das passt. Rufen Sie doch bitte zurück.« Er ratterte eine Telefonnummer herunter. »Aber noch vor zwei wenn möglich, weil ich dann einen anderen Termin habe und nicht erreichbar bin. Danke und bis bald.«

Ich schaute auf die Uhr. »Ach, was soll’s.« Es war fünf Minuten vor zwei. Ich wählte die angegebene Nummer und hörte, wie es klingelte.

Als jemand abnahm, konnte ich durch den Höllenlärm, der im Hintergrund herrschte, gerade noch eine männliche Stimme ausmachen. Ich verstand nur das letzte Wort: »… Werkstatt.«

»Könnte ich bitte mit Quinton sprechen?«, brüllte ich in den Hörer.

»Einen Augenblick.«

Kurz darauf hörte ich Quintons Stimme und das Hintergrundgeräusch war so gut wie verschwunden. »Quinton am Apparat. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Harper Blaine hier. Sie hatten mich angerufen.«

»Ja, vielen Dank, dass Sie sich so schnell melden, Harper. Ich bin jetzt soweit und kann Ihren Auftrag ausführen, sobald Sie mich in Ihr Büro lassen. Wann würde es Ihnen am besten passen?«

War das der gleiche Typ? Man konnte förmlich hören, wie ihm eine Krawatte den Hals zuschnürte. »Sind Sie bei der Arbeit?«, wollte ich wissen.

»Nicht ganz, aber in gewisser Weise schon. Hätten Sie um drei Uhr Zeit?«

»Ich wollte eigentlich noch in die Stadt, um einige Recherchen anzustellen; es könnte also ein bisschen später werden, bis ich ins Büro komme. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn Sie ein paar Minuten warten müssten?«

»Kein Problem. Bis dann also, und vielen Dank für Ihren Rückruf.« Er legte auf.

Ich ging zu meinem Rover und stieg ein. Statt mir über Quinton, sein merkwürdiges Verhalten und seine offenbar noch merkwürdigere Arbeit den Kopf zu zerbrechen, versuchte ich mich auf die Aufgaben, die vor mir lagen, zu konzentrieren. Er spielte eben nach anderen Regeln als der Rest von uns.

Ich bog auf die Schnellstraße ab und fuhr in Richtung Zentrum. Dabei dachte ich fest an meinen Auftrag, meinen Auftrag … aber schlimmer als je zuvor drängten sich mir gespenstische Gebilde auf. Ein kalter Dunst wirbelte durch den Wagen. Als ich die Schnellstraße verließ, fand ich mich in der Geisterstadt vom Tag davor wieder. Ich parkte und machte mich innerlich bebend und mit einem starken Schwindelgefühl daran, mir durch einen dünnen Nebel aus Schattengestalten einen Weg zum Stadtarchiv im Rathaus zu bahnen.

Ein kalter Wind schien durch mich hindurch zu blasen. Ich zitterte und lehnte mich gegen die Wand des U-Bahnausgangs, um tief durchzuatmen. Einige heruntergekommene Straßenhändler warfen mir schräge Blicke zu. Es war wohl besser, mich rasch aus dem Staub zu machen, ehe sie den Eindruck bekamen, ich würde das Lokalkolorit ihres Viertel verschmutzen.

Kurz darauf war ich im Archiv, wo anscheinend selbst Geister tödliche Langeweile fürchteten und deshalb hier nicht zu entdecken waren. Ich suchte nach einer Firma namens Ingstrom, die während der letzten fünfundzwanzig Jahre irgendetwas mit Möbeln, Import, Export oder Logistik zu tun gehabt hatte. Die Liste der in Frage kommenden Unternehmen war erfreulich kurz, dafür aber wenig ermutigend: ein Schiffsbauer, ein Immobilienmakler und ein Bäcker. Es gab dafür wesentlich mehr Privatleute mit diesem Nachnamen, da ungefähr ein Fünftel des heutigen Seattle ursprünglich von Norwegern und Schweden besiedelt worden war. Ich ließ mir also die Listen kopieren.

Als ich endlich alles erledigt hatte, war es bereits Viertel nach drei. Ich machte mich schnell auf den Weg in mein Büro. Obwohl ich Sergeyevs Geld bereits angenommen hatte, konnte ich dafür recht wenig vorweisen. Das wurmte mich. Ich hatte kurz die Papiere durchgesehen, die er mir geschickt hatte, und war gerade eine gute Stunde möglicherweise umsonst im Stadtarchiv gewesen. Vielleicht stammte Ingstrom ja gar nicht aus dieser Gegend. Vielleicht diente Seattle nur als ein Umschlaghafen. Der Kerl konnte das Harmonium von Pullman nach Seattle transportiert haben, damit es dann irgendwohin weiter verfrachtet wurde. Ehrlich gesagt wusste ich ja kaum, was ich mir unter einem Harmonium überhaupt vorzustellen hatte.

Als ich die Treppe zu meinem Büro hochstieg, fand ich Quinton, der es sich vor meiner Tür auf dem Boden bequem gemacht hatte. Mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, las er eine Taschenbuchausgabe von Tocqueville. Er trug ein Jackett, ein unauffälliges Hemd und eine ganz normale Hose; eine Krawatte war nirgends zu sehen. Ohne mich anzusehen, stand er auf. Er sagte kein Wort, bis er den Abschnitt fertig gelesen und die Seite mit einer abgerissenen Theaterkarte gekennzeichnet hatte. Dann verschwand das Buch in seinem Rucksack.

»Hi«, begrüßte er mich. »Ich habe schon angefangen, mir Sorgen zu machen. Als ich kam, lungerten zwei ziemlich unangenehm aussehende Typen vor Ihrer Tür herum. Das war so ungefähr vor einer halben Stunde. Sie haben wohl bemerkt, dass ich hier warten wollte, und sind wieder abgezogen. Aber ich habe schon befürchtet, dass sie unten auf Sie warten könnten. Haben Sie die Kerle gesehen?«

»Nein«, antwortete ich. »Wie sahen sie denn aus?«

»Der eine wirkte betont unauffällig – sehr beige, sehr langweilig. Sehr unheimlich. Der andere schien heruntergekommener, aber für dieses Viertel ist das ja nichts Ungewöhnliches«, erklärte er, während ich die Tür aufschloss.

Ich nickte. »Wahrscheinlich sind es die gleichen Typen, die mein Büro durchwühlt haben. Entweder das, oder es ist die Steuerfahndung.«

Diesmal nickte er. »Dachte ich mir auch – die sahen aus wie Ganoven.«

Ich sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen ironisch an. Er grinste.

»Also – ich habe alles dabei, um die gesamte Alarmanlage heute einzubauen. Das Ganze sollte nicht länger als zwei Stunden oder so dauern«, sagte er und lehnte den Rucksack vorsichtig gegen meinen Aktenschrank.

»Ich muss allerdings noch etwas arbeiten«, warnte ich ihn. »Ich werde doch hoffentlich nicht das Büro verlassen müssen?«

»Das wird nicht nötig sein. Ich muss einige Löcher bohren und etwas an Ihrem Telefon herumbasteln, aber das sollte ohne großen Lärm vonstattengehen. Ach ja, und ich muss eine neue Software auf Ihren Rechner laden, aber das dauert nur ein paar Minuten. Das mache ich dann am Schluss.«

»Sagen Sie Bescheid, ehe Sie das Telefon bearbeiten. Ich muss noch einige Anrufe erledigen.«

»Kein Problem«, erwiderte Quinton und begann in seinem Rucksack herumzuwühlen.

Ich machte es mir hinter meinem Schreibtisch bequem und rief Shadleys Bank an. Nachdem ich mich vorgestellt und mein Anliegen vorgebracht hatte, dauerte es ein wenig, ehe ich mit der zuständigen Frau verbunden wurde, die Zugang hatte zu den Codes der Geldautomaten.

Die Angestellte fragte mich nach den Codenummern. Ich nannte sie ihr und hörte, wie sie am anderen Ende der Leitung auf ihre Tastatur tippte.

»Einige dieser Automaten gehören nicht uns. Das heißt, dass ich Ihnen keine weiteren Informationen geben kann außer denen, die hier im Computer stehen. Es sieht so aus, als ob sich die Automaten alle in Seattle in der Innenstadt befinden. Von unseren Automaten kann ich Ihnen natürlich den genauen Standort sagen. Einen Augenblick, bitte … Also in der First Avenue, in Cherry, Main, Pine und Seventh Avenue. Und da haben wir noch South Industrial.«

»Und wo genau finde ich die Geldautomaten in der Main Avenue und South Industrial?«, wollte ich wissen.

»Main ist um die Ecke der Pioneer-Square-Filiale, die Adresse lautet Occidental Avenue 300. Der andere befindet sich in der First Avenue South bei South Forest, nicht weit vom Baseball-Stadion.«

Ich bedankte mich und notierte alles genau, ehe ich meinen Stadtplan von Seattle hervorholte und alle mir bisher bekannten Orte markierte, die Cameron offenbar aufgesucht hatte.

Dann machte ich Quinton Platz, der etwas an meinem Schreibtisch zu tun hatte. Währenddessen rief ich weitere Banken an, um mehr Informationen über die Geldautomaten zu bekommen. Wieder markierte ich die Punkte auf der Karte. Die meisten befanden sich in der Innenstadt, insbesondere in und um den Pioneer Square. Wenn ich herausfinden konnte, welches Ziel Cameron verfolgte, oder etwas über den Verbleib seines Autos in Erfahrung bringen würde, dann standen die Chancen, ihn bald ausfindig zu machen, gar nicht so schlecht.

»Ich muss mich jetzt an die Telefonleitung machen. Es wird nicht lange dauern, sicher nur ein paar Minuten«, erklärte Quinton, der unter meinem Schreibtisch verschwunden war. »Sollte Ihr Rechner auf einmal spinnen, sagen Sie mir bitte Bescheid.« Für einen Moment tauchte sein Kopf auf, mit Kopfhörern auf den Ohren und voller Staub. »Okay?«

Ich nahm mir die Dokumente vor, die Sergeyev geschickt hatte. »Kein Problem. Ich muss sowieso etwas lesen. Sagen Sie mir aber bitte, wenn das Telefon wieder benutzbar ist.«

Er nickte und tauchte ab.

Ich las. Das Harmonium war ungefähr einen Meter achtzig hoch und neunzig Zentimeter breit und laut Beschreibung aus europäischem Walnussholz geschnitzt. Gebaut wurde es 1905 von einer bayerischen Firma namens Tracher und hatte anscheinend verschiedene Register, die teilweise mit recht aufwendigen Verzierungen aus Elfenbein und Gold geschmückt waren. Es bestand aus einem Gehäuse, in dem sich der innere Mechanismus und das Gebläse befand, dessen Pfeifen mit einem rot-blauen Stoff umhüllt waren. Der gleiche Stoff war auch auf den Pedalen zu finden, während vorne am Gehäuse anscheinend ein Spiegel angebracht war. Das Ganze hörte sich ziemlich auffällig und grell an.

Zudem war der Beschreibung ein unvollständiger Frachtbrief beigelegt. Eine Ecke war abgerissen, sodass man das Datum nicht mehr lesen konnte, und einige Angaben waren zu verschmiert, um sie noch zu erkennen. Anscheinend war das Harmonium zusammen mit einer Ladung Haus- und Büromöbel von Oslo nach Seattle verschifft worden. Wie es ursprünglich nach Oslo gekommen war, ließ sich nicht rekonstruieren. Ich entdeckte zudem eine nicht mehr lesbare Schiffsnummer und den Teil eines Briefkopfes, auf dem man gerade noch die Buchstaben »–gst –« und die Unterschrift »Ingstrom« entziffern konnte. Vor dem Nachnamen befand sich unleserliches Gekritzel – es hätte so ziemlich alles zwischen einem e, n, u oder vielleicht auch w sein können. Sogar ein i wollte ich nicht ganz ausschließen.

Das waren natürlich alles höchst vage Hinweise. Der Frachtbrief schien von der Reederei in Oslo zu stammen. Falls Sergeyev falsch lag, dann konnte auch Ingstrom der Absender und nicht der Empfänger sein. Ich hatte eigentlich keinerlei Lust, eine Reederei in Oslo ausfindig zu machen, die vor über dreißig Jahren jemanden mit dem Namen Ingstrom eingestellt hatte.

Gedankenverloren nahm ich den Hörer ab, denn ich wollte die Hafenbehörde oder die Küstenwache anrufen, um mich über die Schiffsregister zu informieren. Aber die Leitung war tot. Auf einmal hörte ich ein Knistern und ich schüttelte den Hörer.

»Hallo?«

»Miss Blaine?«

»Am Apparat.« Quinton war wohl gerade mit der Leitung fertig geworden.

»Hier Grigori Sergeyev. Ich wollte Sie ja noch einmal anrufen.«

»Ja. Ich habe mir gerade die Dokumente angesehen, die Sie mir geschickt haben. Viel, an dem ich mich orientieren kann, gibt es da ja nicht.«

»Ich habe noch eine Kleinigkeit vergessen, die ich Ihnen mitteilen wollte. Außerdem habe ich jetzt eine Telefonnummer, unter der Sie mir Nachrichten hinterlassen können.«

»Gut. Wie lautet sie?«

Er gab sie mir durch. Es hörte sich nach einer Vorwahl aus Tacoma an.

»Haben Sie noch Fragen?«

»Ja. In den Unterlagen, die Sie mir zukommen ließen, steht der Name Ingstrom. Es ist allerdings nicht eindeutig, ob es sich um den Absender oder den Empfänger handelt. Ich halte es sogar für möglich, dass er nur ein Schiffsmakler in Oslo war. Die Informationen reichen nicht aus, um das eindeutig zu klären.«

»Das Schiff war beschädigt. Was Sie da haben, ist eine Liste der Fracht, die geborgen werden musste. Dieser Ingstrom nahm die Fracht, um so für die Reparaturen zu zahlen«, erklärte mir Sergeyev.

»Ich verstehe. Nun gut, es gibt oder gab jedenfalls in Seattle eine Schiffsbaufirma namens Ingstrom.«

»Sehr gut. Das ist doch schon eine Spur. Ich muss jetzt aufhören. Bitte hinterlassen Sie mir regelmäßig Nachrichten, wie Sie vorankommen.«

Plötzlich war die Verbindung unterbrochen.

»Quinton!«, rief ich empört. »Was machen Sie mit meinem Telefon?«

Quintons Kopf tauchte hinter dem Computermonitor auf. »Ich habe gerade alles fertig verkabelt. Es sollte jetzt eigentlich funktionieren. Versuchen Sie es einmal.«

»Jetzt mag es ja funktionieren, aber wie stand es vor dreißig Sekunden?«

»Da war es noch außer Betrieb.«

»Das ist aber merkwürdig, denn das Telefon hat einwandfrei funktioniert.«

Er zuckte mit den Schultern. »Hm, da hätte die Leitung eigentlich tot sein müssen, aber egal. Der automatische Sender ist jetzt in die Modemleitung eingebaut.«

»Kann ich jetzt also telefonieren, ohne unterbrochen zu werden?«, wollte ich wissen.

»Klar. Ich prüfe jetzt zwar noch einmal, ob die Elektronik funktioniert, aber das sollte sich nicht auf Ihre Telefonate auswirken.« Er verschwand wieder unter dem Schreibtisch, und ich nahm den Hörer ab.

Ich wählte die Nummer von der Schiffsbaufirma Ingstrom in Seattle.

Eine sehr junge, männliche Stimme meldete sich am anderen Ende der Leitung. »Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?«

»Ich versuche die Schiffsbaufirma Ingstrom zu erreichen. Habe ich die richtige Nummer gewählt?«

»Ja, das haben Sie. Die Firma hat leider ihr Geschäft aufgeben müssen. Ich helfe bei der Versteigerung. So weit ich weiß, sind die Geschäftsunterlagen entweder noch bei der Familie oder schon bei den Anwälten.«

»Ich versuche ein Möbelstück ausfindig zu machen. Aber was meinten Sie mit Versteigerung?«

»Sowohl Geschäft als auch Immobilie werden versteigert. Und zwar von McCain Antiques & Auctions.«

»Eine Versteigerung der Immobilie? Ist denn jemand gestorben?«

»Ja, der Eigentümer und sein Sohn sind beide bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen. Schrecklich, oder? Da baut und repariert man Boote, aber in seinem eigenen geht man unter. Mir läuft es bei dem Gedanken wirklich kalt den Rücken hinunter.«

»Ja, wie das Leben manchmal so spielt. Hören Sie, ich möchte nicht aufdringlich sein, aber ich muss mit jemandem über dieses Möbelstück sprechen.«

Er zögerte. »Es geht hier zurzeit ziemlich hektisch zu … Wenn Sie aber zur Vorbesichtigung kommen möchten, könnten Sie Will oder Brandon persönlich sprechen. Das wäre wohl das Beste. Die Besichtigung hat um fünfzehn Uhr begonnen und endet um neunzehn Uhr.«

Ich notierte mir die Adresse und erklärte ihm, dass ich mich gleich auf den Weg machen würde. Als ich einen Blick auf die Uhr warf, war es Viertel vor sechs.

»Quinton, ich muss los. Sind Sie fertig?«

Er summte leise vor sich hin, als er aufstand und zu mir trat.

»Ja, beinahe.« Er schob eine Diskette in den Computer. »Ich muss nur noch diese Software hier installieren.«

Der Rechner gab einige knirschende Geräusche von sich, ehe eine Nachricht auf dem Monitor aufblinkte. Quinton tippte eine Reihe von Befehlen ein und sah dann zu, wie sie ihre Wirkung zeigten.

»Okay, das sieht schon mal gut aus und sollte uns weiter keine Probleme bereiten. Also, um die Tür und das Fenster zu sichern, müssen Sie auf der Menü-Leiste nur dieses Pulldown-Menü anklicken …« Er zeigte mir, wie man die Alarmanlage an- und ausschaltete und wie das neue System insgesamt funktionierte.

Dann wies er mich auf die Unterkante meines Schreibtischs hin, wo eine kam sichtbare rote LED-Anzeige angebracht war. »Sehen Sie dieses Licht hier? Wenn die Bewegungsmelder ausgelöst werden, also sich zum Beispiel jemand an Sie heranschleichen will, fängt es an zu blinken. Außerdem ruft Sie das System auf Ihrem Piepser an, falls es ausgeschaltet sein sollte, während es sich in Alarmbereitschaft befindet. Dann verfügt es noch über einen Passiv-Modus und einen Alarmknopf. Wenn Sie den Panik-Ferncode auslösen oder den Alarmknopf drücken …« – Er wies auf einen Schalter unter dem Schreibtisch – »… wird hier ein Höllenlärm losgehen. Sie können zudem Ihren Computer anrufen und sich Ihr Büro mit Hilfe einer Kamera über der Tür aus sicherer Entfernung ansehen. Und schließlich haben Sie jetzt einen Zungenschalter an der Tresortür, der Ihnen zeigt, ob er in Ihrer Abwesenheit geöffnet wurde. Gefällt es Ihnen?«

»Oh ja, sehr. Wie viel schulde ich Ihnen?«

Er winkte ab. »Ich habe es noch gar nicht ausgerechnet. Ich bringe Ihnen die Rechnung einfach demnächst mal vorbei. Einverstanden?«

»Klar. Aber jetzt muss ich los. Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen?«

»Nein, danke. Ich glaube, ich gehe jetzt ins Kino. Möchten Sie …?« Er sah mich fragend an.

Ich war bereits dabei, meine Tasche zu nehmen und eilig das Büro zu verlassen. »Heute Abend kann ich nicht, trotzdem danke. Aber wir sehen uns ja wieder, wenn Sie mir die Rechnung bringen.«

Er zögerte einen Moment, packte dann aber seinen Rucksack und folgte mir. »Kein Problem. Sie wissen ja, wo Sie mich finden. Ich bin fast immer in der Bibliothek.« Damit verabschiedete er sich und ging.

Ich wartete, bis er verschwunden war. Diesen Typen verstand ich einfach nicht. Einmal benahm er sich wie ein guter Freund, den ich schon seit Jahren zu kennen schien, und dann verwandelte er sich plötzlich wieder in einen Fremden. Es wurmte mich, aber doch nicht genug, um mir groß den Kopf darüber zu zerbrechen. Ich musste mich sputen. Mit etwas Glück würde ich heute Abend herausfinden, was mit der Schiffsbaufirma Ingstrom und mit Sergeyevs Erbstück passiert war.