Kapitel 23
Geburtsort

Dämmer stürzte durch das Loch in eine riesige unterirdische Höhle. Instinktiv breitete er die Flügel aus und flatterte heftig. Gewundene Stangen aus Stein stachen von der glitschigen Decke herab. Schnell wandte er sich wieder dem Loch zu, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Sylph mit einem Schrei herunterfiel, automatisch ihre Segel ausbreitete und sich zum Gleiten ausrichtete.
»Dämmer?«, rief sie.
»Ich bin hier«, sagte er und flog neben sie.
Ein unheimliches Licht strahlte von den Wänden aus. Dampf stieg aus gelblichen Tümpeln. Vom unebenen Boden wuchsen groteske Steinformationen in die Höhe, einige so glatt und blass wie riesige Eier, andere so dünn wie Sprösslinge von Mammutbäumen, und wieder andere erinnerten an riesige, aufeinandergestapelte Giftpilze.
»Hierher!«, sagte Dämmer und leitete seine Schwester zu einem der größeren Gebilde.
Sie landeten auf seiner Spitze. Der Stein unter seinen Krallen war feucht und kalkig, die Luft unangenehm warm und roch stark nach Mineralien. Wasser tropfte ihm auf Rücken und Kopf. Er leckte etwas von einer Pfütze auf und spuckte es angeekelt von dem befremdlichen Geschmack wieder aus.
»Die Feliden werden uns hierher nicht nachfolgen«, sagte Sylph und blickte zur stacheligen Decke hoch. »Sie passen nicht durch das Loch.«
Was Dämmer mehr Sorgen bereitete, war die Frage, wie sie hier wieder hinauskämen. Die Höhle schien endlos, erstreckte sich in jede Richtung in die Dunkelheit. Er würde es vielleicht schaffen, hinaufzufliegen und sich durch das Loch zu ziehen, doch Sylph konnte das auf keinen Fall. Außerdem könnten die Feliden und die Hyaenodonten da oben auf sie warten. Er blickte sich erneut in der riesigen Höhle um und trotz der Wärme war ihm plötzlich eiskalt.
Knochen.
Sie lagen nicht in irgendeiner Zuordnung, die er erkennen konnte, sondern auseinandergerissen, aufgebrochen und abgenagt auf einem riesigen Haufen. Hier lagen mehr Knochen als nur von einem Tier, auch bei Weitem mehr als von zehn.
»Dämmer«, sagte Sylph mit vor Angst heiserer Stimme. »Ich sehe Eier.«
Er folgte ihrem Blick. Dicht bei einem der dampfenden Tümpel lagen acht längliche, ledrige Eier, eingebettet in Gras und welke Blätter. In der Höhle gab es so viele seltsame Formen und Farben, dass Dämmer für einen flüchtigen Moment hoffte, sie hätte sich geirrt. Er erinnerte sich an die lächerliche Begegnung mit dem Tannenzapfen auf der Insel. Doch je länger er die Eier betrachtete, desto sicherer war er, dass Sylph recht hatte. Es war eindeutig ein sehr großes Nest mit hohem Rand, ungefähr drei Meter im Durchmesser.
Ein Nest bedeutete Erwachsene.
Dämmer blickte sich um, hob die Ohren und lauschte. Da war das beständige Tropfen auf die Felsen und in die Tümpel. Da war das Zischeln von Dampf. Da war das Geräusch von Sylphs und seinem Atem.
»Kann ein einziger Saurier alle diese Eier legen?«, fragte sie leise.
»Ich weiß nicht«, flüsterte er zurück. »Aber wenn sie hier drin ein Nest bauen, dann muss es irgendwo einen großen Ausgang geben.«
Es gab keinen Grund, warum sie beide gemeinsam danach suchen sollten, Sylph würde doch nur immer wieder landen und hochkrabbeln müssen. Er würde schneller sein und sich weit oben außerhalb der Gefahrenzone halten.
»Bleib hier«, sagte er. »Ich sehe zu, dass ich den Ausgang finde.«
Er hatte erwartet, dass sie widersprechen würde, doch sie nickte nur und blickte benommen auf die Eier.
Sehr leise flog er zu einem anderen hohen Steinturm und sah sich um. Von seinem neuen Beobachtungspunkt aus entdeckte er sofort einen Saurier, der hingestreckt auf dem Boden lag. Seine Augen standen offen, ohne zu zwinkern, und seine Brust hob und senkte sich nicht. Im unheimlichen Licht der Höhle schienen die grell grünen und roten Fäulnisflecke auf seinen Schuppen zu glühen. So, wie seine Haut durchhing und welch giftiger Gestank von ihm aufstieg, musste er schon lange tot sein. Sein Bauch und einer seiner Oberschenkel sahen angefressen aus.
Dämmer wusste nicht, welche Art Saurier das war. Bisher hatte er ausschließlich einen Quetzal gesehen und der hier hatte eindeutig keine Flügel. Er war kleiner und mit seinen dünnen und beweglichen Beinen sicherlich zu einer beachtlichen Geschwindigkeit fähig. Das im Todeskampf verzerrte Gesicht zeigte seine scharfen Zähne: eindeutig ein Fleischfresser. Sein Vater hätte bestimmt den Namen gewusst, dachte Dämmer.
Er flog weiter. In einem Tümpel lag halb unter Wasser ein weiterer Saurier, der so schrecklich aufgedunsen war, dass man kaum beurteilen konnte, ob er zu der gleichen Art gehörte wie der andere. Der Körper rutschte im blubbernden Wasser hin und her und die lose sitzende Haut schien jeden Augenblick von den Knochen gleiten zu wollen.
Er flog tiefer in die Höhle hinein, schickte Klang aus und war ermutigt, als das Echo nicht gleich wieder zu ihm zurückkam. Nach einer Weile stieg der Boden an, war nun mit Geröll bedeckt und die Dunkelheit wirkte weniger undurchdringlich. Er roch frische Luft. Eifrig flog er weiter und erreichte schließlich den Ausgang der Höhle.
Der wurde von dichtem Gestrüpp aus hohem Gras und anderen Pflanzen verdunkelt und wirkte, als ob er schon länger nicht mehr benutzt worden wäre. Dämmer landete auf einem Ästchen. Sylph und er hätten hier keine Schwierigkeit, hindurchzukrabbeln. Er konnte ein kleines Stück vom Mond sehen und hörte das Rauschen des Windes im Gras. Von außen war der Höhleneingang bestimmt nur für die zu sehen, die wussten, dass er sich hier befand. Er überlegte, wie hartnäckig Reißzahn wohl bei seiner Verfolgungsjagd sein würde. Bestimmt fand sich auf dem Grasland lohnendere Beute.
Aufgeregt machte er sich auf den Rückweg zu Sylph.
»Wir sind gerettet!«, rief er und landete neben ihr. »Es gibt einen Weg nach draußen.«
»Und was ist mit den Sauriern?«
»Ich hab zwei tote Saurier gesehen. Erwachsene. Ich glaube, sie haben diese Fäulniskrankheit gehabt, von der uns Papa erzählt hat.«
»Sie müssen hergekommen sein, um hier ihre letzten Eier zu legen«, sagte Sylph und starrte auf das Nest hinunter. »Die werden jetzt nicht schlüpfen, nicht, ohne dass sie jemand warm hält.«
»Da bin ich mir nicht so sicher. Hier drin ist es doch ziemlich warm.«
Dämmer fragte sich, ob die Saurier gewusst hatten, dass der Dampf aus den Tümpeln ihre Eier sogar nach ihrem Tod noch ausbrüten würde.
»Waren sie Fleischfresser?«, fragte Sylph.
»Ich glaube schon. Wir sollten jetzt zusehen, dass wir hier rauskommen.«
Sylph warf sich von ihrem Platz, doch anstatt möglichst hoch zu gleiten, setzte sie zum Sturzflug an, geradewegs auf die Eier zu.
Zwischen Schlamm und zertrümmerten Schwanzknochen beschnupperte Reißzahn den Dampf, der aus dem Loch in der Erde entwich.
»Die sind da unten«, sagte er.
»Wir haben genug Zeit wegen dieser erbärmlichen Beute verschwendet«, bellte Danian.
»Ich rede nicht von den Chiroptern«, sagte Reißzahn. »Das Nest ist da unten. Die Eier.«
Vermischt mit dem mineralischen Geruch der Erde stieg die Witterung auf, die er über das dunkle Grasland verfolgt hatte.
Panthera zog die Luft ein. »Ja, ich rieche sie auch.«
»Gibt es hier in der Umgebung Höhlen?«, fragte Reißzahn Danian.
»Wir kennen keine.«
»Es müsste einen Eingang geben, einen großen, nicht weit von hier«, sagte Reißzahn.
Er und Panthera sprangen auf der Suche danach in verschiedene Richtungen los. Er verlor den Geruch des Nests, doch das war jetzt nicht mehr so wichtig. Er wusste, wonach er suchen musste, und als sich im Osten das erste blasse Licht am Horizont zeigte, war das für seine Augen hell genug, um sich zurechtzufinden. Es war selten, dass Saurier ihre Nester in Höhlen bauten, doch in seinen Jahren als Jäger hatte er so einige unter der Erde entdeckt. Er durchsuchte das wogende Grasland weiter. Er brauchte einen Abhang, wo er den Eingang zu einer Höhle finden konnte.
Panthera entdeckte die Höhle zuerst. Er hörte sie rufen und rannte los, um sie am Eingang zu treffen. Er war sehr beeindruckt von ihr. Der Eingang war leicht zu verfehlen, denn er lag unter mehreren Schichten dichten Gestrüpps.
»Man kann den Dampf zwischen den Pflanzen aufsteigen sehen«, erklärte sie ihm.
Die Hyaenodonten waren in einigem Abstand gefolgt und wollten sich nicht weiter dem Eingang nähern.
»Tötet die Eier!«, schrie Danian gehässig.
»Mach ich«, sagte Reißzahn.
Mit Panthera an seiner Seite schlängelte er sich durch das Gestrüpp in die Wärme der Höhle. Er wusste, dass die meisten Saurier erst dann aktiv wurden, wenn die Sonne bereits höhergestiegen war. Zu dieser Tageszeit würden sie noch schlafen – wenn sie überhaupt noch am Leben waren. Die Fäulniskrankheit wirkte schnell und Danian hatte sie ja schon auf ihrer Haut bemerkt. Es würde auf keinen Fall mehr lange dauern, bis sie alle tot waren.
Sie arbeiteten sich weiter in die feuchte Höhle vor, vorbei an seltsamen Felstürmen und brodelnden Tümpeln. Der Geruch des Nests wurde immer stärker.
»Zwei Eier lassen wir ganz«, sagte er zu Panthera.
Verwirrt schaute sie zu ihm herüber.
»Wir müssen die Hyaenodonten mit ein paar Feinden zurücklassen, sonst werden sie zu mächtig. Wir müssen sie in Angst halten. So werden sie uns weiterhin brauchen, damit wir die Nester finden und sie zerstören.«
»Früher waren wir die Jäger der Saurier, jetzt sind wir ihre Beschützer.« Sie schnurrte anerkennend. »Meine Kinder werden sich glücklich schätzen, einen so abgefeimten Vater zu haben.«
Reißzahn blickte sie überrascht an. »Bist du sicher?«
»Aber ja«, sagte sie. »Ich kann spüren, wie sie in mir wachsen.«
Trotz der Gefahren, die auf ihn warteten, war er erfüllt von Stolz und Freude. Sie schmiegten ihre Schnauzen aneinander und fuhren dann fort mit der Suche nach den Sauriereiern.
»Sylph, zieh hoch!«, keuchte Dämmer, während er nach unten neben sie flatterte.
Die Stimme seiner Schwester klang klar und ruhig. »Wir müssen sie zerstören.«
Mit ausgebreiteten Segeln bremste sie ab und landete mitten im Nest. Dämmer setzte neben ihr auf dem dicken Pflanzenpolster auf. Jetzt, wo er sich mitten in ihm befand, wirkte das Nest noch viel größer. Um sie herum ragten die Sauriereier bedrohlich auf. Dämmer hielt sich auf Abstand. Sie waren etwa doppelt so groß wie er. Unbewegt und schweigend strahlten sie eine finstere Kraft aus. Im Innern dieser dicken Schalen, das war Dämmer bewusst, pulsierte feuchtes, eingerolltes Leben und wartete nur darauf, herauszukommen und zu fressen.
»Sylph, wir müssen hier raus! Was ist denn, wenn die Feliden den Weg hierher finden?«
Sie beachtete ihn nicht, zog sich mühsam auf das Ei hinauf, das ihr am nächsten lag, und grub ihre Krallen hinein. Dämmer packte sie am Bein und zerrte sie zurück. Mit gefletschten Zähnen wirbelte Sylph zu ihm herum. Dämmer sprang überrascht zur Seite.
»Ich glaube, sie können nicht mal klettern!«, sagte er eindringlich. »Sie sind keine Gefahr für uns!«
»Weißt du das genau? Bist du dir absolut sicher?«
»Nein.«
»Dann müssen wir sie töten.«
»Genau das hat Papa nicht gewollt!«
»Papa ist nicht mehr da.«
»Sylph, hör auf!«
»Hilf mir, Dämmer! Willst du, dass sie schlüpfen und uns in unserem neuen Zuhause ständig in Angst und Schrecken halten?«
»Ich glaub nicht, dass …«
»Ich will auch etwas Großartiges tun«, schäumte sie. »Du kannst fliegen und bei Nacht sehen und uns alle in die Sicherheit führen, und was habe ich bisher getan? Das hier wird meine große Sache sein!«
»Das ist keine große Sache, Sylph«, beschwor er sie und spürte, wie er zitterte. Denn es kam ihm vor, als ginge es ihr nicht darum, nur die Eier zu zerstören, sondern zugleich auch ihren Vater und alles, woran er geglaubt hatte. »Das hätte Papa nicht gewollt.«
»Er war nicht vollkommen, Dämmer. Zum Schluss war er nicht einmal mehr ein guter Anführer. Er war schwach und hat der Kolonie geschadet. Er hat nicht einmal seine eigenen Kinder schützen können.«
Es gelang ihr, eine Kralle tief in die Schale zu treiben und einen langen Spalt hineinzureißen.
»Sag das nicht, Sylph«, zischte Dämmer und wurde langsam zornig. »Lass das Ei in Ruhe!«
»Wir müssen für uns selber sorgen!«, tobte Sylph und versenkte ihre Krallen noch einmal in die Schale. »Weil das sonst keiner tut. Vor allem jetzt nicht. Die Welt ist ein hässlicher Ort. Die großen Tiere fressen die kleinen, die schlauen übertölpeln die dummen. So ist es doch. Wir müssen sie umbringen, bevor sie uns umbringen! Du möchtest so sehr wie Papa sein, dann tu, was er getan hat. Als es darauf angekommen ist, hat er die Eier getötet!«
»Er hat es bereut!«
»Aber er hat es getan!«
Dämmer musste an all das denken, was er seit dem Blutbad mitgemacht hatte, an all diejenigen, die ihr Leben auf der Suche nach einer neuen Heimat verloren hatten. Würde das alles, was sie geleistet und erlitten hatten, sinnlos sein, wenn die Saurier schlüpften? Er spürte, wie sich Wut und Bitternis in ihm verhärteten wie ein zusätzlicher Knochen. Vielleicht hatte Sylph recht und die Welt war ein hässlicher Ort. Sie war zu ihnen nicht freundlich gewesen, warum sollten sie freundlich zu ihr sein?
Er verstand nun, wie sich sein Vater vor all den vielen Jahren auf der Insel gefühlt haben musste. Im Kampf mit sich selbst. Er wusste, dass alles, an das er geglaubt hatte, richtig war, doch er wusste auch, was ihm am wichtigsten war: sich zu schützen und die Kolonie zu schützen.
»Wir können diese Eier töten«, sagte Dämmer langsam. »Aber vielleicht gibt es noch andere Eier in anderen Nestern. Ich gehe mal davon aus, dass wir auch die töten könnten. Aber wir werden nie vollkommen sicher sein. Was ist mit all den anderen Lebewesen, die uns jagen? Die Feliden, die Hyaenodonten und die Diatrymas? Wir können sie nicht alle umbringen. So etwas wie das Paradies gibt es nicht. Das hat Papa zu uns gesagt. Und du hast es selbst gesagt, Sylph: Die großen Tiere fressen die kleinen und die schlauen übertölpeln die dummen. Alle brauchen etwas zu essen. Ganz egal, wie sehr wir auch versuchen, dagegen anzugehen, irgendwer wird uns immer jagen. Das ist der Lauf der Welt. Das können wir nicht ändern.«
»Wir sehen die Dinge eben ganz verschieden«, erklärte Sylph. »Genau diese Saurier hier vor uns, die können wir aufhalten. Die müssen wir aufhalten.«
Schließlich brach die Schale unter ihren Krallen auf und eine klare Flüssigkeit sickerte heraus. Sylph zuckte erschrocken zurück, wie erschüttert von dem Schaden, den sie angerichtet hatte. Sie fing an zu wimmern. Dann hob sie die Krallen, um weiter die Schale aufzumeißeln, zögerte aber dann.
»Ich weiß nicht, ob ich das wirklich tun kann«, sagte sie mit zitternder Stimme.
Dämmer wollte zu ihr und sie trösten, doch aus den Augenwinkeln nahm er etwas wahr, das ihn erstarren ließ.
»Was ist los?«, fragte Sylph.
»Pst!«
Neben einem der anderen Eier im Nest lagen Schalensplitter. Vorsichtig trat Dämmer näher. Sie waren trocken. Er blickte das Ei, neben dem sie lagen, genau an. Dann kroch er, immer Abstand haltend, um es herum. Die andere Seite des Eis, die sie bisher nicht hatten sehen können, war weit aufgebrochen. Das Ei war leer.
Er hastete zu Sylph zurück. »Eins ist schon geschlüpft!«
»Wo ist es?«, quietschte Sylph.
Dämmer fiel der halb aufgefressene Leichnam des erwachsenen Dinosauriers ein. Futter!
»In der Höhle«, keuchte er. »Es lebt hier in der Höhle.«
Plötzlich stieß eine Schnauze durch den Spalt in Sylphs Ei, kleine, blutgesprenkelte Kiefer schnappten, um mehr Stücke loszubrechen. Dämmer schrie auf und stolperte in seiner Hast, wegzukommen, über seine Schwester. Eine Klaue bohrte sich durch die Schale und bog sich kraftlos. Dann kam ein schrilles Piepsen aus der Kehle des Schlüpflings.
»Komm schon, schnell!«, schrie Sylph.
Sie wollte auf den Nestrand zueilen, doch dann blieb sie mit weit aufgerissenen Augen stehen. Dämmer folgte ihrem entsetzten Blick.
Auf dem Nestrand balancierten zwei Feliden und blickten auf sie herunter.
Dämmer zischte drohend und kroch mit Sylph rückwärts. Hinter sich konnte er den Schlüpfling hören, der sich abmühte, sich aus dem Ei zu befreien. Dämmer sah, wie Reißzahns Augen zwischen ihm und dem Saurier hin- und herzuckten, als könnte er sich nicht entscheiden, wen er zuerst angreifen sollte. Der Felid hatte vor lauter Gier die Augen zu Schlitzen zusammengezogen und seine Zähne waren nass.
Dämmer zog sich weiter im Nest zurück, wobei er den Feliden fest im Auge behielt. Er konnte ja jederzeit wegfliegen, doch Sylph war völlig hilflos, solange sie keinen höheren Standort hatte.
»Schnapp dir den Flieger, Panthera!«, sagte Reißzahn.
Die Felida stürzte mit einer solchen Geschwindigkeit auf ihn zu, dass Dämmer kaum Zeit hatte, die Flügel auszubreiten und abzuheben. Panthera geriet ins Schleudern, wirbelte herum und sprang ihm nach. Dämmer flog nicht allzu hoch, dümpelte nur herum, immer nur wenige Zentimeter über Panthera, wie um sie zu verhöhnen. Während Sylph verzweifelt auf die andere Seite des Nests zukrabbelte, flatterte Dämmer knapp außerhalb Pantheras Reichweite, damit die sich voll auf ihn konzentrierte.
Dann sah er aus dem Augenwinkel, wie Reißzahn zu Sylph ins Nest sprang und sie mit fünf Sätzen erreichte. Dämmer schrie gequält auf und in diesem Augenblick machte Panthera einen Satz und erwischte ihn mit beiden Pfoten. Seine Flügel fielen zusammen, als sie beide sich ineinander verknäulten. Er kämpfte, um zu entkommen, spürte jedoch das volle Gewicht ihres kraftvollen Körpers über sich.
Sylph konnte er nicht mehr sehen, wusste nicht, was mit ihr geschah. Er wollte schreien, doch Panthera hatte bereits ihre Kiefer um seine Kehle gelegt, spannte sie an und schnitt ihm die Luft ab.
Sein Augenlicht flammte auf und wurde begrenzter, ein Tunnel, der sich immer mehr verengte. An seinem Ende sah er einen Kopf über den Nestrand spähen, einen schmalen, spitz zulaufenden Kopf mit schnellen, wachen Augen, der sich auf sie stürzte. Wie von ganz weit entfernt hörte Dämmer einen Schrei, spürte, wie er einen Moment lang in die Luft gehoben wurde, bevor er, befreit von Pantheras schreiendem Maul, nach unten fiel.
Sofort sprang er auf die Beine, drehte sich schnell um und erblickte einen jungen Saurier, der die um sich schlagende Panthera zwischen seinen Zähnen hielt. Er hatte sie fest um Bauch und Rumpf gepackt. Dämmer schätzte, dass der Saurier nur wenige Wochen alt war. Er hatte aber bereits die doppelte Größe der Feliden, ein geborener Räuber, stark geworden durch den Leichnam seiner Mutter oder seines Vaters.
»Panthera!«
Dämmer wirbelte herum und sah, wie Reißzahn Sylph losließ und sich auf den Saurier warf. Dämmer wartete keine Sekunde länger und flog zu seiner Schwester, die keuchte und sich heftig schüttelte.
»Mir ist nichts passiert«, sagte sie.
Sie kletterten über den Nestrand und rannten auf den nächsten Steinturm zu. Während Sylph an der glatten Wand hochkletterte, flog Dämmer auf die Spitze. Der Saurier hielt Panthera noch immer zwischen den Kiefern, doch sie wehrte sich nicht mehr. Reißzahn warf sich immer wieder auf den Saurier, wurde jedoch jedes Mal von dessen stämmigen Pfoten mit den drei Klauen abgewehrt. In den Schreien des Feliden lag nicht nur die Wut des Kampfs, sondern auch schreckliche Verzweiflung und Leid.
Dämmer prägte sich schnell ihre Fluchtroute ein, und als Sylph neben ihm auftauchte, glitt sie hinter ihm her auf den nächsten Turm zu, ohne auch nur einmal verschnauft zu haben. Ihr Gleitflug führte sie über das Nest, und als Dämmer hinunterblickte, sah er, wie der Kopf des Sauriers nach oben ruckte und er aufmerksam ihren Weg verfolgte.
Sie landeten, vergeudeten keinen Augenblick, sondern kletterten sofort wieder nach oben, ehe sie weiterglitten. Dämmer führte Sylph von einem Turm zum nächsten auf den Ausgang der Höhle zu. Licht sickerte durch das dichte Gestrüpp. Schlagartig wurde es Dämmer klar, dass es Morgen sein musste. Sie landeten oben mitten im Geflecht der Zweige und fingen sofort an, sich hindurchzuzwängen.
Hinter sich hörte Dämmer erstaunlich leichtfüßige Schritte. Er blickte in die Höhle zurück, doch seine Augen waren nicht mehr an die Dunkelheit angepasst. So schickte er eine Salve von Klängen aus und erblickte in ihrem Echo den schlanken Körper des Sauriers, der in schnellen und wendigen Sprüngen auf sie zukam.
»Er kommt!«, schrie er und stürzte sich zusammen mit Sylph vorwärts.
Kurz bevor sie sich ganz nach draußen gekämpft hatten, sah Dämmer durch das dünner werdende Blattwerk die vier Hyaenodonten auf dem Boden kauern. Sie hielten zwar einen guten Abstand zum Höhlenausgang, doch sie beobachteten ihn mit konzentrierter Aufmerksamkeit.
»Da runter!«, rief Dämmer und berechnete eine Gleitbahn für Sylph, die sie im hohen Gras in Deckung bringen könnte. Vielleicht würden die Hyaenodonten sie nicht bemerken.
Äste krachten, als der Saurier sich hinter ihnen seinen Weg bahnte. Blinzelnd sprang Dämmer mit Sylph an seiner Seite in das frühe Tageslicht. Ihre dunklen Körper mussten gut zu erkennen gewesen sein, denn er sah, wie zwei Hyaenodonten aufsprangen, auf sie zurannten und dann wie erstarrt stehen blieben.
Dämmer blickte zurück und sah den jungen Saurier durch das Gebüsch brechen. Der hielt inne, blinzelte und betrachtete die Welt jenseits seiner Höhle ganz offensichtlich zum ersten Mal. Mit blutverschmierter Schnauze, wie Dämmer bemerkte.
Die Hyaenodonten fingen an zu bellen und sträubten die Nacken- und Schwanzhaare. Doch sie kamen nicht näher.
Mit einer eigenartigen, fast vogelähnlichen Bewegung legte der Saurier den Kopf schräg, machte aber keine Anstalten, sich zurückzuziehen.
Und dann konnte Dämmer nichts mehr sehen, weil er von dem hohen Gras umgeben war. Er bremste mit den Flügeln ab, um auf dem schnell näher kommenden Boden zu landen. So schnell es ihnen ihr erschöpfter Zustand erlaubte, ließen Sylph und er das Gebell der Hyaenodonten hinter sich.
Dämmer flog über dem Gras und bewachte Sylph, die sich auf dem Boden abmühte. In großer Entfernung hatte er den Giftholzbaum entdeckt, und es war klar, dass es noch einige äußerst anstrengende Stunden dauern würde, bis sie ihn erreichten. Die Sonne war gerade über den Horizont gestiegen. Es gefiel ihm gar nicht, am Tag unterwegs zu sein, doch sie hatten keine andere Wahl. Er konnte nur hoffen, dass Südwind mit der Kolonie noch warten würde.
Über das Grasland galoppierten zwei Equiden auf sie zu. Besorgt blickte er hinter sie, doch er sah keinen Verfolger. Sie rannten einfach, weil sie es gut konnten und aus reinem Vergnügen, und während er sie beobachtete, merkte Dämmer, wie sein Mut wieder stieg. Als sie näher kamen, erkannte er ihre Musterung: Es waren Dyaus und Harf, und er konnte nicht widerstehen, sie anzurufen. Er war so froh darüber, Wesen zu treffen, die kein Interesse daran hatten, sie zu fressen.
Er tauchte nach unten ab, um es Sylph zu erzählen.
»Da kommen Equiden. Ich kenne die beiden und ich will mich mit ihnen unterhalten.«
Er flog auf sie zu und rief ihnen eine weitere Begrüßung zu, wobei er die Segel zur Seite neigte, damit sie ihn leichter sehen konnten.
»Ah«, sagte Dyaus, »ich erinnere mich an dich. Dämmer.«
»In dieser Richtung müsst ihr aufpassen«, sagte Dämmer. »Da gibt es Hyaenodonten und einen Saurier.«
»Ein Saurier?«, rief Dyaus aus.
»Wir haben gedacht, sie wären alle tot!«, murrte Harf.
»Nein. Da ist ein Nest in einer unterirdischen Höhle. Wir haben acht Eier gesehen. Zwei sind schon geschlüpft.«
Harf seufzte tief auf. »Noch etwas, das wir zu ertragen haben, fürchte ich.«
»Wo willst du hin?«, fragte Dyaus.
»Ich suche meine Kolonie«, sagte Dämmer, während er über ihnen auf der Stelle flatterte. »Wenigstens, was von ihr übrig ist. Wir wollten uns im Giftholzbaum treffen.«
»Mit deinen Flügeln wirst du nicht lange brauchen«, sagte Harf. »Manchmal hätte ich gerne Flügel. Das wäre doch schön.«
»Aber meine Schwester kann nicht fliegen«, erklärte Dämmer.
»Hallo«, sagte Sylph, die sie gerade erreicht hatte.
Dyaus blickte auf sie hinunter. »Auf eurem Weg gibt es Nester von Diatrymas«, warnte er.
Dämmer sog die Luft ein. »Danke, dass ihr uns gewarnt habt.« Es sah so aus, als wären die Gefahren keineswegs vorüber.
Die beiden Equiden blickten sich an.
»Ich trage sie«, sagte Dyaus, »auf dem Rücken.«
»Wirklich?« Dämmer war von ihrer Freundlichkeit überwältigt.
»Machen wir einen Wettkampf«, sagte Harf voller Begeisterung, die gar nicht zu ihm zu passen schien, »wer schneller ist, der Läufer oder der Flieger?«
Dyaus kniete sich hin und forderte Sylph auf, über seine Schulter auf seinen Rücken zu klettern.
»Vielen, vielen Dank«, sagte sie.
»Vorsicht mit den Krallen«, sagte Dyaus. »Und jetzt festhalten.«
Mit Harf an seiner Seite schoss er durch das Gras. Dämmer hörte, wie Sylph vor Begeisterung aufschrie, und dann flatterte er, so schnell er konnte, hinter den Equiden her. Wofür sie sonst auf dem Boden Stunden gebraucht hätten, dauerte nun nur wenige Minuten und der Giftholzbaum wurde rasch größer. Die Equiden ließen Dämmer hinter sich und erreichten den Baum weit vor ihm. Dämmer schlug noch schneller mit seinen Flügeln und hoffte inbrünstig, dass die Kolonie sicher hier eingetroffen war und noch immer auf sie wartete.
Er zwinkerte den Schweiß aus den Augen und behielt den Baum scharf im Auge. Und schließlich war er nahe genug, um die dunklen Gestalten vieler Chiropter ausmachen zu können, die sich hoch in den Ästen bewegten. Sein Herz machte einen Sprung.
»Da ist er!«, hörte er jemanden schreien. »Ich sehe ihn!«
»Da ist Dämmer!«, rief ein anderer.
»Dämmer und Sylph sind wieder da!«
»Er hat es geschafft!«
»Sie haben es geschafft!«
Und plötzlich war die Luft um den Baum voller gleitender Chiropter, die Willkommensgrüße riefen und Dämmer einen begeisterten Empfang bereiteten, als er zu seiner Kolonie zurückkehrte.