Kapitel 6
Die Expedition

Voller Neid sah Dämmer zu, wie der Suchtrupp seiner Mutter in den Wald davonsegelte. Die Sonne hatte kaum den Horizont erhellt, und die Gruppe seines Vaters war bereits aufgebrochen, zusammen mit mehr als einem Dutzend anderer, die alle verschiedene Ziele an der Küste hatten.
Früher am Morgen hatte Dämmer einen letzten Versuch unternommen und seinen Vater angebettelt, ob er nicht doch mitkommen könnte. Er erinnerte ihn daran, dass er selbst gesagt habe, es gebe sowieso keine Sauriernester auf der Insel, sodass es vollkommen sicher sei, und warum er und Sylph dann nicht auch mitdürften? Er dachte, das sei ein richtig gutes Argument, und Sylph fand das auch, zumal sie sich das selbst überlegt hatte.
Aber sein Vater hatte einfach nur wieder Nein gesagt, und ihre Mutter meinte zu ihm und Sylph, sie sollten schön brav sein und beim Baum bleiben, bis sie alle am Abend zurückkämen. Bruba, eine ältere Schwester, die Dämmer kaum kannte, sollte ein Auge auf sie haben.
»Das wäre für uns wahrscheinlich die erste und letzte Gelegenheit, einen waschechten Saurier zu sehen«, sagte Sylph, während sie beide über die Lichtung segelten und halbherzig jagten.
»Wir haben schon einen gesehen«, erinnerte Dämmer sie.
»Der war aber tot«, sagte sie. »Oder praktisch tot.«
Weit unten konnte Dämmer den Quetzal riechen, der allmählich anfing, in den Bäumen zu verwesen. Aus irgendeinem Grund mochte Dämmer nicht daran denken, wie er von Insekten und Aasfressern bis auf die Sehnen und Knochen abgenagt werden würde.
»Möchtest du denn kein Nest sehen?«, fragte Sylph. »Mit Sauriereiern?«
»Es gibt wahrscheinlich gar keine mehr«, sagte Dämmer.
»Aber vielleicht doch.« Sylph blickte ihn an. »Was meinst du?«
»Was?«
»Lass uns selbst nachsehen.«
»Wir verirren uns nur«, sagte Dämmer, aber er war bereits interessiert.
»Wir fliegen einfach hinterher«, sagte Sylph und deutete mit einer Kopfbewegung zum letzten Suchtrupp, der gerade vom Ast startete.
Dämmer merkte sich ihre Richtung. »Wir müssen aber weit hinter ihnen bleiben«, flüsterte er. »Wenn wir erwischt werden …«
»Werden wir nicht«, sagte Sylph. »Wir folgen ihnen einfach, verstecken uns und beobachten sie, während sie die Küste absuchen.«
»Und was ist mit Bruba?«, fragte Dämmer.
»Sie hat zwei Dutzend Neugeborene, auf die sie aufpassen soll, dazu noch ihre beiden eigenen. Sie wird sich kaum um uns kümmern. Außerdem kann sie uns, glaube ich, gar nicht auseinanderhalten. Heute Morgen hat sie mich dreimal anders genannt.«
Dämmer kicherte nervös. Er wollte keinen Ärger bekommen. Sylph war ja daran gewöhnt, Probleme zu haben, er aber nicht. Sein äußeres Erscheinungsbild zog genügend Aufmerksamkeit auf sich, und er fand es nicht besonders schlau, die Geduld der ganzen Kolonie herauszufordern, auch nicht die seiner Eltern. Jibs Stichelei, er könnte ausgestoßen werden, verfolgte ihn immer noch.
Und trotzdem wollte er mit Sylph gehen. Er bezweifelte zwar, dass sie einen Saurier oder gar ein Nest finden würden, doch er würde die Küste der Insel und den offenen Himmel sehen – und vor allem fliegende Vögel.
»Ja«, sagte er. »Wir machen das.«
Es war erstaunlich einfach, sich davonzustehlen.
Ein paar Minuten lang glitten sie mit einer großen Gruppe von Neugeborenen herum, und dann, als Bruba gerade nicht hinsah, schwenkten sie in den Wald ab. Sie segelten so lange, bis sie sicher waren, von der Lichtung aus nicht mehr gesehen zu werden, und landeten dann atemlos vor Aufregung.
In der Ferne konnte Dämmer ein paar Chiropter des Suchtrupps ausmachen. Er drehte sich in Richtung des Mammutbaums um und spürte, wie ihm die Kehle seltsam eng wurde. Um zu jagen, verließ er jeden Tag die Geborgenheit des Baums, doch nie besonders lang und mit Sicherheit nicht so weit, dass er ihn nicht mehr sehen konnte. Er blickte auf die Rinde unter seinen Krallen. Sie war weich und blätterte ab, keine Mammutbaumrinde. Er sah, wie auch Sylph zurückblickte, doch wenn sie irgendwelche Bedenken wegen ihres Abenteuers hatte, so äußerte sie sie nicht. Genauso wenig wie er selbst.
»Komm weiter«, sagte sie.
Sie segelten los, hinter den anderen Chiroptern her. Plötzlich fiel Dämmer auf, dass er sein ganzes Leben lang nichts anderes getan hatte, als nur hin und her über die Lichtung zu gleiten. Nun war er zum ersten Mal irgendwohin unterwegs. Er hatte ein Ziel, das außerhalb seiner Blickweite lag.
Bei jedem Gleiten versuchten er und Sylph, so weit wie möglich zu kommen. Das war schwierig, denn der Wald war dicht und üppig gewachsen. Oft mussten sie abschwenken oder unter einem Ast durchtauchen. Wenn sie so dicht bis hinab zum Boden gesunken waren, wie sie sich trauten, landeten sie und machten sich an die mühsame Kletterei den Stamm hinauf, bis sie einen anderen Absprungplatz fanden. Dämmer war klar, dass er eine lange und anstrengende Reise vor sich hatte.
»Kannst du ein bisschen schneller klettern?«, fragte Sylph ungeduldig.
»Nein«, keuchte er, »kann ich nicht.«
Er verfluchte seine fehlenden Krallen und schwachen Beine. Er blickte sich um und hoffte auf eine Säule aus kräftigem Sonnenlicht, das vielleicht eine Thermik in Gang setzen würde, die ihn nach oben tragen könnte. Doch der Wald war hier viel dunkler und der Himmel durch das Blätterdach der Bäume fast ganz ausgesperrt.
Sylph wurde langsamer, sodass sie nebeneinander klettern konnten.
»Es ist einfach nicht zu fassen, dass Mama und Papa Saurierjäger waren«, sagte sie.
Dämmer nickte zustimmend. Er konnte es selbst kaum glauben. Auch wenn er wusste, dass der Pakt falsch war, erfüllte es ihn doch mit Stolz, sich seinen Vater als tapferen Jäger nach Sauriereiern vorzustellen. Er sah ihn direkt vor sich, wie er in ein Nest kroch, ein Nest, das vielleicht von grimmigen Sauriern bewacht wurde. Möglich, dass sein Vater von den Bäumen aus alles beobachtet hatte, und wenn keiner etwas merkte, geräuschlos nach unten gesegelt war, direkt ins Nest, und die Eier zerstört hatte, ohne je gesehen worden zu sein. Doch aus dem Nest wieder herauszukommen war wohl der gefährlichste Teil. Er konnte ja nicht einfach davongleiten. Man musste rausklettern, über den Boden krabbeln, und das ging nur gefährlich langsam. Sein Vater musste schrecklich klug und mutig gewesen sein.
»Ich wette, ich wäre darin auch gut gewesen«, sagte Sylph.
»Da hättest du aber sehr leise sein müssen«, sagte Dämmer gutmütig.
»Ich kann leise sein, wenn ich will. Aber stell dir mal vor, wenn alles anders gelaufen wäre und wir nie das Festland verlassen hätten. Das wäre so aufregend gewesen.«
»Und jede Menge Chiropter wären wahrscheinlich dabei umgekommen.«
»Ich aber nicht«, sagte Sylph. »Ich wäre wie Mama. Und alle fänden mich gerissen und toll. Sogar Papa.«
Dämmer sagte darauf nichts. Er wollte Sylphs Wunschträume nicht zerstören.
Sie gingen über einen hohen Ast nach außen und hielten nach einem guten Absprungplatz Ausschau.
»Oh nein«, sagte Sylph bestürzt. »Wir haben sie jetzt schon verloren.«
Dämmer spähte in den düsteren Wald und auch er konnte keinen der anderen Chiropter mehr entdecken.
»Du bist eben zu langsam«, beschwerte sich Sylph.
»Die Schatten sind hier aber auch so dunkel«, wehrte er sich und dann hatte er eine Idee.
Er schloss die Augen, atmete tief ein und stieß eine lange Salve von Schnalzern aus. Danach wartete er ab und beobachtete im Kopf, wie die Echos zu ihm zurückkehrten. Zuerst zeigte sich ein Gewirr aus Ästen und Baumstämmen, und dann, einen Augenblick später, kam ein helles Aufflackern von ausgebreiteten, leicht schimmernden Segeln.
»Ich sehe sie!« Er machte die Augen auf.
»Mit deinen Echos?«
Er nickte. »Sie sind direkt vor uns.«
Sie schloss die Augen und schickte einen Schnalzerhagel los, runzelte aber dann bloß die Stirn und schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, wie du das machst. Hast du Mama oder Papa danach gefragt?«
»Dazu war keine Zeit.«
Sylph grunzte. »Na ja, das nützt uns jetzt natürlich schon was.«
Sie segelten weiter hinter den Chiroptern her. Ein Vogel flatterte vorbei, flitzte zum Himmel und Dämmer beobachtete ihn mit der immer gleichen Wehmut.
»Hast du«, fing er zögernd an, »schon mal davon geträumt, zu fliegen?«
Er hatte niemals jemandem gegenüber seine Träume auch nur angedeutet, weil sie ihm irgendwie Schuldgefühle bereiteten. Aber vielleicht war das ja dumm von ihm, weil alle manchmal solche Träume hatten.
Sylph sah zu ihm herüber. »Nein«, sagte sie.
»Wirklich? Niemals?« Er war enttäuscht.
»Nie. Und du?«
»Ein- oder zweimal«, log er und bedauerte, dass er das Thema angesprochen hatte.
Sylph antwortete nichts.
»Du glaubst, dass ich eine Missgeburt bin, stimmt’s?«, fragte er unglücklich.
»Nein, keine Missgeburt. Du bist nur … anders.«
»Ich fühle mich auch anders«, gab er zu. Hier, mitten im Wald, weg von ihrem Baum, konnte er ehrlicher sprechen. »Zumindest glaube ich, dass ich das tue. Es ist so schwer zu wissen, was normal ist. Findest du dich normal?«
»Ich denke schon«, sagte Sylph.
Dämmer suchte nach den richtigen Worten. »Du hast nie das Gefühl, dass du etwas anderes sein solltest?«
»Wovon redest du überhaupt?«, fragte Sylph aufgebracht.
»Willst du nicht manchmal …« Dämmer verlor den Mut und brach ab.
»Was?« Sie schrie schon fast, und Dämmer befürchtete, die anderen Chiropter würden sie hören. »Sag’s mir!«
»Ist ja gut, ist ja gut«, flüsterte er. »Wünschst du dir manchmal, dass du fliegen kannst?«
Er achtete genau auf ihr Gesicht.
»Das geht nicht«, sagte sie.
»Aber wünschst du es dir manchmal?«, fragte er beharrlich.
»Ja, sicher. Aber wir können nicht fliegen, warum also Zeit damit verschwenden, darüber nachzudenken?«
Dämmer sagte nichts. Sylph klang wie ihre Mutter und das überraschte ihn.
»Du bist anders, Dämmer. Aber du bist nicht so sehr anders. Glaubst du denn jetzt, du könntest fliegen?«
»Nein, nein«, sagte er hastig. Er hatte ihr nie von seinen geheimen Versuchen auf dem Oberen Holm erzählt.
»Das würde ich aber sonst niemandem erzählen«, meinte sie. »Das ist genauso, als würdest du sagen, dass du dir wünschst, ein Vogel zu sein.«
»Ich möchte kein Vogel sein«, betonte er. »Es war nur, als ich den Saurier gesehen hab …«
Sylph schnappte nach Luft. »Willst du ein Saurier sein?«
»Nein! Aber seine Flügel haben irgendwie so wie meine ausgesehen, und da habe ich mich einfach gefragt: Wenn der fliegen kann, warum dann nicht ich?«
»Willst du kein Chiropter sein?«
»Natürlich will ich das sein. Ich wünsche mir nur einfach, ich könnte auch fliegen.«
Schweigend zogen sie weiter. Gleiten. Klettern. Gleiten. Unter ihnen wuselten Grundlinge durch das Unterholz. Sie taten Dämmer leid, sie mussten schrecklich schmutzig werden, wenn sie immer in der Erde wühlten. Er betrachtete die Bäume genauer. Er sah neue Arten, manche mit breiten Blättern, die im leichten Wind raschelten. Er sah neue Moosarten und Flechten, die an den Bäumen hingen, und Blumen, die er noch nie vorher gesehen hatte. Von keiner kannte er den Namen. Es traf ihn, wie wenig er wusste, wie wenig er gesehen hatte. Der fliegende Saurier und die Geschichten seines Vaters aus der Vergangenheit hatten ihm das schmerzhaft bewusst gemacht. Er lebte in einem Baum auf einer Lichtung in einem Wald auf einer Insel und die ganze Welt erstreckte sich ungesehen um ihn herum. Der Gedanke daran erregte ihn und erschreckte ihn zugleich.
Während er auf einem Ast hockte und sich vom Klettern ausruhte, bemerkte Dämmer, dass vor ihnen Licht zwischen die Bäume fiel.
»Das muss eine Lichtung sein«, meinte Sylph.
»Das ist keine Lichtung!«, rief Dämmer. Er warf sich von dem Ast und rief zu seiner Schwester zurück: »Es ist das Meer!«
Eine Brise spielte in seinem Fell und trug ihm einen ungewohnten Duft zu. Die anderen Chiropter vor ihnen konnte er nicht mehr sehen, und er nahm an, dass sie die Küste bereits erreicht hatten und nun auf der Suche waren. Nur um sicherzugehen, wich er von dem Kurs ab, den sie eingeschlagen hatten, und hielt sorgfältig Ausschau. Er wollte nicht mitten in sie hineinfliegen.
Als sie sich den letzten Bäumen näherten, musste Dämmer im Licht blinzeln. Nach der Düsternis des Waldes war es geradezu blendend. Dann entdeckte er einen Ast mit vielen Blättern, hinter denen sie sich verstecken könnten, und sie landeten. Nebeneinander schoben sie sich auf dem Ast weiter vor, um einen guten Aussichtspunkt zu finden.
Und dann schauten sie nur noch.
Sein ganzes Leben lang war Dämmer von Bäumen und Blättern umgeben gewesen. Der weite Blick vor ihm drückte ihm wie ein Gewicht auf die Brust. Der Wind rauschte in seinem Fell. Sein Atem ging schnell und flach. Er musste sich umdrehen und zurück in den Wald blicken, um sein Herz zu beruhigen. Es war einfach zu viel.
»Geht es dir gut?«, fragte Sylph. Er bemerkte, dass auch sie keuchte.
»Es gibt so viel zu sehen«, sagte Dämmer mit rauer Stimme.
»Ja, sehr viel«, stimmte seine Schwester zu.
Langsam drehte er sich wieder um. Der Boden streckte sich einige Meter leicht schräg dahin, bevor er scharf zum Wasser abfiel. Das meiste Wasser, das Dämmer bisher gesehen hatte, hatte sich in einer großen Furche auf einem Ast des Mammutbaums angesammelt. Aber hier breitete sich das Wasser von der Küste immer weiter und weiter aus, bis es den Himmel erreichte. Er holte tief Luft. Das war der salzige Geruch, den er bereits vorher wahrgenommen hatte, doch hier war er schärfer. Die Wasseroberfläche glitzerte hell und zwang Dämmer, den Blick abzuwenden. Auch den Himmel hatte er noch nie in einer solche Weite und Höhe gesehen. Am liebsten hätte er sich dicht an den Ast gepresst und festgekrallt.
Einen Moment lang blickte er seine Krallen auf der Rinde an, dann spähte er die Küste hinauf und hinunter, doch von dem Suchtrupp war nichts zu sehen.
»Wie gehen die wohl bei ihrer Suche vor?« Dämmer flüsterte das seiner Schwester zu, falls doch andere Chiropter in der Nähe wären.
»Machen die das nicht einfach von den Bäumen aus?«
Dämmer blickte nach unten in das Gewirr von Büschen, Gräsern und Schatten. Man konnte sehr leicht etwas übersehen. »Müssten sie nicht runter auf den Boden gehen?«, sagte er. »Um richtig gucken zu können?«
Bei dem Gedanken schauderte es ihn. Auf den Füßen waren Chiropter ziemlich langsam. Und vom Boden aus konnten sie sich nicht zum Gleiten in die Luft stürzen. Da saß man in der Falle. Es war kaum zu glauben, dass seine Eltern während der Jahre, als sie Saurierjäger waren, ein so entsetzliches Risiko auf sich genommen hatten.
»Lass uns doch von hier oben aus suchen«, schlug Sylph vor.
»Wir müssen auch ein Auge auf die anderen Chiropter haben«, erinnerte er sie.
»Wie sieht wohl so ein Nest aus?«
Dämmer rümpfte über ihr beiderseitiges Unwissen die Nase. Da waren sie den ganzen Weg hergekommen, ohne eine klare Vorstellung davon zu haben, wonach sie eigentlich suchen wollten.
»Müsste wohl wie ein Vogelnest aussehen, was meinst du?«, sagte er. »Nur eben auf dem Boden. Rund, aus Blättern, Stöcken und Zweigen gemacht.« Das kam ihm ziemlich logisch vor.
»Da unten ist alles irgendwie so durcheinander«, sagte Sylph.
Dämmer hatte eine Idee. Er schloss die Augen und schickte Klang aus. Seine Echos durchstießen die Schatten und das Gemisch von Farben und brachten ihm ein unglaublich scharfes Bild zurück.
»Benutzt du das Jagdschnalzen?«, fragte Sylph neben ihm.
Er nickte und suchte den Boden weiter mit Schall ab:
Gras.
Ein Lorbeerzweig.
Felsen.
Ein Teebusch.
Etwas Rundes, aus vertrockneten Blättern …
Er ließ seine Echos dort etwas verweilen. Es war ein Kreis aus Blättern – und genau in der Mitte lag etwas Eiförmiges.
Dämmer riss die Augen auf, sein Herz hämmerte.
»Da ist ein Nest!«, keuchte er.
Jetzt, da er eines gefunden hatte, fühlte er sich ganz und gar unvorbereitet. Völlig verängstigt sah er sich um. Wo waren die Sauriereltern? Würden sie vom Himmel kommen wie der Quetzal oder vom Boden oder aus den Bäumen?
»Wo? Wo ist es?«, wollte Sylph wissen.
Mit einer Kopfbewegung wies er ihr die Richtung. »Da.«
»Meinst du wirklich?« Sylph klang unsicher.
Dämmer starrte wieder auf die Stelle. Nur mit den Augen war es lange nicht so klar zu erkennen. Mit Sicherheit war das Ei größer als ein Vogelei – er hatte einmal ein zerbrochenes gesehen, das auf den Waldboden gefallen war. Dies hier war größer und grober und an den Enden spitzer. Etwas schief lag es auf dem Blätterpolster.
»Das müssen wir den anderen sagen«, meinte Dämmer.
»Wenn wir denen das erzählen, kriegen wir großen Ärger, weil wir uns fortgeschlichen haben.«
Dämmer dachte an den Zorn seines Vaters bei der Versammlung.
»Aber wenn das ein richtiges Nest ist, was dann?«, fragte er aufgeregt.
»Wir müssen ganz sicher sein, Dämmer.«
»Woher soll ich wissen, wie ein Saurierei aussieht? Mama und Papa haben ja nie darüber gesprochen.«
»Wenn es eines ist, wissen wir das«, sagte Sylph mit völlig unbegründeter Selbstgewissheit.
Unentschlossen biss Dämmer die Zähne aufeinander. Er fürchtete zwar den Zorn seines Vaters, doch er konnte den Gedanken nicht ertragen, nichts zu tun, wenn das wirklich ein echtes Sauriernest war. »Ich schau zu, dass ich näher rankomme.«
»Nein, ich gehe«, sagte Sylph. »Ich bin älter.«
»Drei Sekunden älter!«
»Aber ich bin schneller auf dem Boden. Du hast schwache Beine.«
Dämmer erschrak, als er die Jagdgier in ihren Augen sah.
»Nein«, sagte er schnell. »Ich hab es zuerst gesehen. Und einer von uns beiden muss hier oben bleiben und Wache halten.«
Dämmer wollte nicht mit ihr darüber streiten. Und noch bevor sie widersprechen konnte, warf er sich vom Ast, segelte ins Freie und landete so dicht wie möglich bei dem Nest. Im selben Moment, in dem er aufsetzte, wusste er, dass er einen schrecklichen Fehler gemacht hatte. Er war noch nie auf dem Boden gewesen. Über die Schulter blickte er zurück zu den Bäumen, und sie wirkten sehr weit weg. Dann erkannte er Sylph, die vorgeneigt auf dem Ast kauerte und zu ihm herunterblickte. Er wollte ganz schnell zu ihr zurück, doch er verbot es sich, so feige zu sein.
Auf seinen schwachen Beinen schleppte er sich durch das widerspenstige Unterholz. Dann erreichte er das Nest und kletterte auf den niedrigen Rand. Innen fiel das Nest zu einer unregelmäßigen Mulde ab.
Auf dem Boden, nur ein paar Zentimeter von ihm entfernt, lag das Ei.
Dämmer zuckte zurück und sah sich ängstlich nach allen Seiten um. Was hatte ihn bloß geritten, dass er hier heruntergekommen war und sich selbst so angreifbar gemacht hatte? Da konnte gut ein Erwachsener in der Nähe sein. Und was war mit dem Ei selbst? War es kurz vor dem Schlüpfen oder gerade erst gelegt? Jeden Augenblick konnte es beben und anfangen zu splittern. Sogar ein frisch geschlüpfter Saurier würde größer sein als er und müsste nicht einmal kauen, um ihn zu verschlingen.
Aber war es denn wirklich ein Ei? Er musste noch näher herangehen. Er holte Luft, hielt sie an und eilte auf das Ei zu, bis er mit der Nase die Schale berührte. Er schnüffelte. Es roch nach Erde. Er berührte es mit einer Kralle. Es war überhaupt nicht warm – müsste es nicht eigentlich warm sein? –, und als er verwirrt die Kralle zurückzog, platzte ein Stück von der Eierschale ab. Er grunzte vor Überraschung.
Das war kein Stück Eierschale, das abgebrochen war, das war getrockneter Schlamm.
Er blickte wieder auf das Ei, und da, wo der Schlamm abgeblättert war, konnte er sehen, was sich darunter befand.
Ein riesiger Kiefernzapfen, der völlig von Schlamm überzogen war.
Vor lauter Erleichterung musste er lachen. Er hätte gerne Sylph wissen lassen, dass alles in Ordnung war, aber er wollte nicht laut rufen, falls doch jemand von der Kolonie in der Nähe war. Daher hob er nur die Segel und winkte ihr zu. Doch als er bemerkte, dass sie wie wahnsinnig mit den Segeln schlug, krampfte sich sein Magen schmerzhaft zusammen.
Irgendetwas raschelte im Unterholz.
Dämmer warf sich herum. Der Rand des Nests war gerade so hoch, dass er nicht sehen konnte, was sich dahinter auf dem Boden befand. Das Geräusch war sehr nahe und klang nach etwas Großem. War das ein Saurier? Sein Herz flatterte.
Fieberhaft kletterte er auf den Rand. Das Geräusch wurde lauter. Zweige knackten. Aus dem Augenwinkel sah er ein paar Blätter auffliegen. Eine furchtbare Schwäche überkam ihn. Er war an den Boden gefesselt, er war so langsam. Er war hilflos.
Noch mehr lautes Rascheln, näher als zuvor. Wenn er nichts tat, würde er gefressen. Der plötzliche in ihm siedend heiß aufsteigende Wille zu überleben ließ seine Schwäche verfliegen.
Ehe er überhaupt wusste, was er tat, war er in die Luft gesprungen und flatterte mit den Segeln – ganz schnell. Eine Kraft, die er noch nie erlebt hatte, stieg von seiner Brust aus in die Schultern und hinunter in seine Arme, strahlte bis in die Finger wie gezackte Blitze. Sein Atem beschleunigte sich, das Herz schlug rasend schnell. Die Pausen zwischen Auf- und Abschwung verschmolzen, bis er das eine nicht mehr vom anderen unterscheiden konnte und ihm nur noch bewusst war, dass sich seine Arme und Segel in beständiger Bewegung befanden.
Er stieg auf.
Der Boden wich unter ihm zurück. Erst ein bisschen, dann ein halber Meter, ein Meter! Diesmal war da keine Thermik, die ihm half. Das war allein seine Kraft. Er war von der Erde befreit! Kein Feind konnte ihn mehr erwischen. Er blickte von einer Seite zur anderen, sah das Schwirren seiner Segel und verstand kaum, wie das möglich sein konnte. Es war, als wären alle seine früheren unterdrückten Impulse zu flattern schließlich explosionsartig freigesetzt worden.
Unter ihm drängte sich etwas mit Flügeln aus dem Unterholz und in die Luft, es hatte den Schnabel voller Zweige.
Es war nur ein Vogel, der etwas für sein Nest gesucht hatte! Der also hatte ihn halb zu Tode erschreckt. Auf dem Boden hatte er so riesig geklungen.
Dämmer stieg jetzt nicht länger nur auf, er bewegte sich nun vorwärts und wurde schneller. Als er nach oben zu den Bäumen abdrehte, schwenkte er von einer Seite zur anderen und wusste nicht richtig, wie er, wenn er sich selbst antrieb, steuern sollte. Sein ganzer Körper war ihm plötzlich fremd und er traute sich keine Landung zu. Dann erblickte er Sylph, die ihn von der Astspitze aus fassungslos anstarrte. Da hörte er auf zu flattern, stellte die Flügel fest und glitt schwankend nach unten neben sie.
»Du bist geflogen«, japste sie.
»Ich bin geflogen«, keuchte er.
Eine Weile, während er wieder zu Atem kam, sagten beide nichts.
»Es ist die Schnelligkeit«, sagte er aufgeregt. »Früher habe ich einfach nicht schnell genug geflattert.«
»Früher? Hast du das früher schon mal versucht?«, rief Sylph aus.
Er fuhr zusammen, doch sein Geheimnis war nun gelüftet. »Na ja, ein paar Mal.«
»Auf dem Oberen Holm, stimmt’s?«, sagte sie. »Ich hab’s gewusst! Ich hab gewusst, dass du da oben irgendwas Verrücktes treibst!«
»Ich hab versucht, die Vögel nachzumachen, aber das hat nicht geklappt, weil die nicht so schnell flattern müssen wie ich.«
Sylph beugte sich eifrig vor. »Zeig es mir.«
»Nicht hier«, sagte er. Er hatte Angst, jemand vom Suchtrupp könnte sie hören oder sehen und würde kommen, um nachzuschauen.
Sie glitten ein Stück zurück in den Wald und ließen sich auf einem ausladenden Baum nieder.
Dämmer holte Luft, schloss die Augen und versuchte, das genaue Gefühl für das Fliegen wieder aufzurufen. Er fand es einfacher, es mit den Segeln zu demonstrieren.
»Runter und nach vorne, also so, strecken, und dann musst du sie durchbiegen …«
»An Ellbogen und Handgelenk abwinkeln?«, fragte Sylph und beobachtete ihn aufmerksam.
»Ja. Und dann, schau her, dann bringst du sie direkt nach oben, aufgestellt. Weit über den Kopf. Und dann geht alles wieder von vorne los.«
»Das ist alles?«, fragte Sylph unbeeindruckt.
»Das ist alles.«
»Das dürfte kein Problem sein.«
»Du musst schnell flattern«, sagte Dämmer ein bisschen verärgert. Wenn sie so aufgeblasen tat, wollte er vielleicht gar nicht, dass sie auch fliegen konnte.
»Wie schnell?«
»So schnell du nur kannst.«
»Gut.« Und damit sprang Sylph.
Als sie sich von den Ästen entfernt hatte, pumpte Sylph ihre Segel auf und nieder. Sie gab sich große Mühe, doch ihre Bewegungen waren lahm und ihre Segel blähten sich bei jedem Schlag. Wütend peitschte sie die Luft, doch langsam, aber sicher bewegte sie sich nur immer weiter abwärts.
»Halt die Segel straff!«, rief Dämmer. Obwohl er sich über sie geärgert hatte, wollte er nicht, dass sie scheiterte. Wenn sie das könnte, hieße das, dass auch andere das könnten, und dann wäre er damit nicht mehr allein. Er wollte keine Missgeburt sein. »Schlag schneller. Und denk an das Beugen beim Aufschwung.«
Es ging nicht, aber sie ließ nicht locker, während sie immer weiter fiel. Von seinem Ast aus konnte Dämmer hören, wie sie vor Anspannung und Enttäuschung spitze Schreie ausstieß.
Als sie schließlich aufgab und zu den unteren Ästen des Baums glitt, machte sie keine Anstalten, zu Dämmer nach oben zu klettern. Daher glitt er zu ihr hinunter.
»Warum hat das nicht geklappt?«, keuchte Sylph.
»Ich weiß nicht. Hast du so fest geschlagen, wie du konntest?«
»Ja.«
»Du kriegst den Dreh noch raus«, sagte er zuversichtlich und hoffte, seine Zweifel verbergen zu können. »Ich hab bei meinen ersten Versuchen auch nichts zustande gebracht.«
»Ich versuche es später noch mal«, sagte Sylph.
»Gut.«
»Jetzt sollten wir uns aber auf den Heimweg machen.«
Dämmer nickte. Die Möglichkeit, ein Sauriernest zu finden, schien ihm gar nicht mehr so aufregend. Das Aufregendste, was er sich vorstellen konnte, war ihm gerade passiert und die Erinnerung an seinen ersten Flug pochte durch jeden Muskel und jede Sehne seines Körpers.
Auf dem Rückweg zum Mammutbaum wusste Dämmer nicht, ob er wieder fliegen sollte. Er wollte nicht, dass Sylph dachte, er würde angeben, damit sie sich schlecht vorkam. Doch seine Schultern, Brust und Arme fühlten sich jetzt ganz anders an. Der Drang zu flattern war überwältigend, und er musste sich unbedingt vergewissern, dass er es wieder tun konnte und es nicht nur ein dummer Zufall gewesen war.
Mitten im Gleiten machte er den ersten Schlag. Nach unten mit den Segeln! Ihr Wind fuhr ihm durch das Gesicht. Er schoss vorwärts und nach oben. Dann beugte er Ellbogen und Handgelenke, faltete die Segel ein, winkelte die Vorderkante nach oben und hob sie mit aller Macht. Und dann brauchte er nach ein paar Sekunden nicht mehr zu überlegen: Der lang verleugnete Instinkt übernahm.
Er gab darauf acht, nicht zu weit vor Sylph herzufliegen, und kam im Kreis zurück, wobei er seine Wendungen übte. Die waren kompliziert, und er war es nicht gewöhnt, sich so schnell zwischen den Ästen zu bewegen. Mehrfach hätte er sich fast den Schädel eingeschlagen.
Landen war eine andere Herausforderung, weil er auch sonst immer dazu neigte, zu schnell reinzukommen. Jetzt, mit eigenem Antrieb, war er noch unkontrollierter. So ging er jetzt erst mal in den weniger schnellen Gleitflug über und landete, wie er es immer tat. Es fühlte sich nicht ganz richtig an, aber daran konnte er immer noch arbeiten.
Wie hatte er nur all die Monate mit Gleiten überstanden? Das war so wirkungslos, so begrenzt, immer zog einen die Erde nach unten. Beim Fliegen gab es alle diese Einschränkungen nicht mehr. Er konnte aufsteigen und sinken, wie er wollte. Es war, als hätte sein Körper geduldig darauf gewartet, dass er das volle Ausmaß seiner Fähigkeiten erkannte. Es war die reine Freude.
Erschöpfung war der einzige Preis, den er zahlen musste. Er konnte nur etwas länger als eine Minute fliegen, bevor er zu keuchen begann und sich ausruhen musste. Er hoffte, dass sein Durchhaltevermögen mit der Zeit besser würde.
»Ich möchte es noch einmal versuchen«, sagte Sylph. »Ich habe zugeschaut. Ich glaube, ich kann es jetzt.«
»Lass mal sehen«, meinte Dämmer. »Ich bin bestimmt nicht der Einzige, der das kann. Das ist genau wie mit der Thermik – niemand hat sich bisher die Mühe gemacht, es zu versuchen. Wenn ich das kann, können andere das auch.«
Mit einem Schrei warf sich Sylph vom Ast und fing an zu flattern. Wenn Dämmer flog, konnte er seine eigenen Flügel nur noch verschwommen sehen. Wenn er dagegen seine Schwester beobachtete, konnte er jeden einzelnen ihrer Schläge zählen. Sie war nicht annähernd schnell genug. Wieder sank sie wild zappelnd immer weiter ab. Entmutigt landete sie.
»Ich kann meine Segel einfach nicht schneller bewegen«, sagte sie niedergeschlagen.
Dämmer flatterte zu ihr hinunter, aber sie weigerte sich, ihn anzusehen. Seine Hochstimmung ließ nach.
»Erst kannst du im Dunkeln sehen«, murmelte sie. »Und nun das.«
»Tut mir leid«, sagte er.
»Ich bin deine Schwester! Ich müsste das doch genauso können!«
»Ich versteh es auch nicht.«
»Oh, ich schon«, sagte sie nach einer Weile. »Du bist anders, Dämmer. Bist du immer schon gewesen. Aber das hier, das Fliegen, lässt alles andere völlig unbedeutend erscheinen.«
»Es muss noch andere geben, die das können …«
Sylph unterbrach ihn. »Kein anderer Chiropter ist jemals geflogen, Dämmer.«
»Wir wissen nur nichts davon.«
»Es ist nicht richtig.«
Es tat ihm weh, was sie sagte, denn derselbe Gedanke hatte ihn bereits bedrückt. Aber noch war er nicht bereit, irgendetwas einzugestehen.
»Nur weil etwas ungewöhnlich oder neu ist, ist es doch nicht verkehrt«, beharrte er.
»Da bin ich mir nicht so sicher«, erwiderte sie scharf und richtete ihre zornigen Augen auf ihn. »Ich weiß nur, dass Fliegen etwas ist, das die Vögel tun.«
»Und Saurier mit Flügeln«, sagte er nachdrücklich.
Plötzlich erinnerte er sich an den Traum aus der letzten Nacht. Ich gebe dir meine Flügel, hatte der tote Saurier zu ihm gesagt. Es war nur ein Traum gewesen, doch bei dem Gedanken daran fühlte er sich immer noch ein bisschen schlecht.
»Chiropter sind zum Gleiten geboren«, sagte Sylph.
»Ich weiß nicht so genau, ob das bei mir auch so ist«, sagte Dämmer. »Mit meinen Segeln ging das Gleiten nie so gut. Und ich habe immer flattern wollen. Immer.«
Zum ersten Mal überhaupt hatte er das zugegeben, und das Geheimnis, das so lange in ihm eingeschlossen war, kam wie ein triumphierender Schrei heraus.
»Wie ich schon gesagt habe, genau deshalb bist du eben anders. Das ist unnatürlich.« Sylph machte eine Pause, als überlegte sie, ob sie noch etwas sagen sollte. »Es ist, als ob du gar kein Chiropter wärst.«
Dämmers Herz hämmerte. »Sag das nicht. Natürlich bin ich ein Chiropter!« In seiner Angst hätte er das fast herausgeschrien. Er wollte nicht so anders sein. Allein der Gedanke daran versetzte ihn in Schrecken.
In diesem Augenblick wünschte er, er könnte alles ungeschehen machen. Wenn er bloß nicht auf dem Boden gelandet wäre.
Wenn doch bloß dieser elende Vogel nicht dort rumgewühlt und ihn fast zu Tode erschreckt hätte. Wenn er doch nicht geflattert hätte.
»Ist anders sein denn schlecht?«, fragte er Sylph.
Sie grunzte. »Papa wird richtig wütend sein.«
»Meinst du?«
»Er ist der Anführer der Kolonie. Glaubst du, er will einen Sohn haben, der herumflattert wie ein Vogel?«
Dämmer schluckte.
»Und denke dran, was Mama gesagt hat. Benimm dich wie die Kolonie oder du wirst von der Kolonie gemieden.«
»Du darfst niemandem davon erzählen«, sagte Dämmer drängend. »Versprich mir das, Sylph.«
»Keine Sorge«, sagte sie freundlich. »Das verspreche ich. Ich bewahre dein Geheimnis.«
Reißzahn streifte durch den Wald.
Nach seinem ersten erbeuteten Tier hatte ihn Scham überkommen, die fast so überwältigend war wie der Schmerz, der in seinen Eingeweiden gewühlt hatte. Noch am Ufer des Flusses hatte er einen Teil dessen, was er gefressen hatte, wieder erbrechen müssen, und als er dann zur Meute zurückging, versprach er sich selbst, so etwas nie wieder zu tun. Patriofelis hatte recht. Es war barbarisch.
Doch der Tag und noch einer vergingen und die Erinnerung an das warme Paramusfleisch ließ ihn nicht los. Sie schmeckte in seinem Mund nach und kitzelte seine Speicheldrüsen. Seine Zähne konnten die Verzückung beim Reißen des Fleisches nicht vergessen. In seinem Kopf jagten sich die Gedanken und lieferten sich Schlachten, bis er völlig erschöpft war.
Es war unnatürlich. Es war natürlich.
Er würde es nie wieder tun. Er würde es wieder tun.
Selbst im Schlaf wurde er von Jagdvisionen gequält, die im gleichen Maß Reue und Hochgefühle brachten.
Nun senkte sich die Nacht über das Land und er war tief im Wald mit geweiteten Pupillen. Drei Worte hämmerten in seinem Kopf: Es muss sein.
Die anderen Feliden waren weit weg, doch er wollte sicher sein, dass auch kein anderes Tier zusah.
Er versperrte seinen Kopf gegen alle anderen Gedanken und Zweifel.
Er knirschte mit den Zähnen, seine Nasenlöcher blähten sich.
Da.
Ein kleiner Grundling wühlte am Fuß eines Baums herum. Reißzahn schlich sich von hinten an. Das war kein er und keine sie, es war ein es. Das war weder Sohn noch Tochter, Vater oder Mutter. Es war einfach Beute. Es war da, um von ihm verschlungen zu werden.
Ein Zweig knackte unter seiner Pfote, der Wühler blickte über die Schulter nach hinten und ihre Blicke trafen sich. Zuerst empfand der kauernde Wühler keine Gefahr. Es war normal, Feliden im Wald zu sehen, alle möglichen Tiere liefen sich hier friedlich über den Weg. Doch dann musste der Wühler bei Reißzahn etwas anderes als reine Gleichgültigkeit gespürt haben.
Reißzahn sah, wie der Wühler sich anspannte, um zu fliehen.
»Nein!«, quietschte das Tier.
Reißzahn rannte los, dann sprang er. Es war ein abstoßender Kampf. Der Wühler wehrte sich mit aller Kraft, kratzte und biss, und zwei Mal konnte er sich aus Reißzahns Griff befreien und versuchen, sich auf seinen verwundeten Beinen davonzuschleppen. Doch jedes Mal packte ihn Reißzahn wieder und umklammerte seine Kehle fester. Es war ein schweißtreibendes, schmutziges und lautes Geschäft. Als der Körper des Wühlers schließlich erschlaffte, befürchtete Reißzahn, dass jemand etwas gehört haben könnte.
Keuchend zerrte er den Kadaver hinter den dichten Blätterschutz eines Teebuschs. Sein Atem ging in abgehackten, kurzen Stößen. Er lauschte eine Weile, hörte aber nichts in der Nähe. Und dann konnte er sich nicht länger beherrschen. Das Blut pochte in seinen Adern und er wimmerte fast vor Verlangen. Er stieß das Gesicht des Wühlers nach unten, damit ihn seine toten Augen nicht anblickten, und riss das weiche Fleisch seiner Beute auf. Er wusste, dass er schnell fressen musste, denn der reiche, berauschende Geruch der Eingeweide würde sich im Wald so rasch verbreiten wie ein Windstoß.
Er fraß ohne jeden Sinn für alles sonst, als hätte er tagelang gehungert.
Als er den Kopf hob, um Luft zu holen, wurde er von Panthera beobachtet, von der anderen Seite des Buschs, keine anderthalb Meter entfernt.
»Was hast du getan?«, flüsterte sie.
Ihre Nase zuckte bei dem Geruch, ihre Schnurrhaare zitterten vor Aufregung und die Ohren waren steil aufgerichtet. Ihre Verwunderung machte ihm bewusst, wie er aussehen musste: das Gesicht verschmiert von geronnenem Blut, Fleischfetzen zwischen den Zähnen.
»Wir sind dazu geboren worden, es zu tun«, sagte er leise. »Versuch mal davon.«
Sie zog sich ein paar Schritte zurück.
»Panthera«, sagte er, verletzt von der Angst und dem Ekel in ihren Augen, »das ist der Weg in die Zukunft. Auf diesem Weg werden wir die Herrschaft übernehmen.«
Sie drehte sich um und rannte davon.