Kapitel 1
Der Sprung
Noch nie war ihm der Baum so hoch
vorgekommen.
Dämmer mühte sich den Stamm des
riesigen Mammutbaums nach oben, wobei er seine Krallen tief in die
weiche, rötliche Rinde versenkte. Bleiche Flechten wuchsen auf
deren hervorstehenden Rippen und hier und da glänzte etwas Harz
matt in den Furchen auf. In der Wärme der frühen Morgendämmerung
dampfte der Baum und verströmte seinen berauschenden Duft. Um
Dämmer herum funkelten und wirbelten Insekten, doch jetzt gerade
hatte er keine Lust auf sie.
Sein Vater Ikaron kletterte neben
ihm, und obwohl er schon alt war, kam er schneller voran als sein
Sohn. Dämmer strengte sich an, um auf gleicher Höhe zu bleiben. Er
war nur mit zwei statt drei Krallen an jeder Hand geboren worden
und sich selbst den Baumstamm hochzuhieven war sehr
anstrengend.
»Werden meine anderen Krallen auch
noch wachsen?«, fragte er seinen Vater.
»Kann gut sein.«
»Und wenn nicht?«
»Dann hast du weniger, mit denen
du greifen und dich hochziehen kannst«, sagte Ikaron. »Aber du hast
ungewöhnlich starke Brust- und Schultermuskeln.«
Dämmer sagte nichts, freute sich
aber.
»Das hilft, die Schwäche deiner
Beine auszugleichen«, fügte sein Vater sachlich hinzu.
»Oh«, sagte Dämmer und blickte
überrascht nach unten. Ihm war gar nicht bewusst, dass er schwache
Beine hatte, doch sein Vater hatte das offenbar bemerkt. Vielleicht
war das eine Erklärung dafür, warum ihm das Klettern so
schwerfiel.
Vor genau vier Wochen war er
geboren worden, mit dem Hinterteil zuerst und drei Minuten nach
seiner Schwester Sylph. Blind und nackt, wie alle neugeborenen
Chiropter, war er am Bauch seiner Mutter hochgekrochen und hatte
sofort zu saugen angefangen. Innerhalb von Tagen konnte er klar und
scharf sehen, es war ihm ein Fell gewachsen und er hatte an Gewicht
gewonnen. Nun aß er die Insekten, die ihm seine Mutter gefangen und
vorgekaut hatte.
Und an diesem Morgen hatte ihn
sein Vater im Nest geweckt und gesagt, es sei nun an der Zeit, den
Baum hochzuklettern. Dann waren sie aufgebrochen, nur sie beide.
Und obwohl Dämmer ziemlich nervös war, gefiel es ihm doch, wie alle
auf ihn blickten: den jüngsten Sohn des Anführers der
Kolonie.
»Sehe ich komisch aus?«, fragte
Dämmer jetzt. Er wiederholte lediglich, was er andere hatte sagen
hören, einschließlich seiner eigenen Mutter, als sie dachte, er
würde schlafen.
Ikaron blickte zu ihm zurück. »Ja,
du siehst ziemlich komisch aus.«
Die Antwort enttäuschte Dämmer,
auch wenn er wusste, dass es stimmte. Wenn er die anderen
Neugeborenen betrachtete, sah er den Unterschied. Seine Brust und
seine Schultern waren massiger als üblich und ließen ihn kopflastig
erscheinen. Seine Ohren waren sehr groß und standen zu weit ab. Und
am beschämendsten war, dass ihm auch nach vier Wochen noch kein
Fell auf den Armen und den Segeln gewachsen war, weshalb er sich
nackt vorkam wie ein frisch Geborenes. Er wünschte sich sehr, dass
wenigstens seine Segel so aussähen wie die seines Vaters.
»Papa, wie ist das, wenn man der
Anführer ist?«
Sein Vater streckte ein Hinterbein
aus und zauste zärtlich das Fell auf Dämmers Kopf. »Das bedeutet
viel Verantwortung, wenn man versucht, sich um jeden zu kümmern. Es
ist nicht leicht, immer an alles zu denken.«
»An was zum Beispiel?«
»Also, bisher haben wir hier viel
Glück gehabt. Reichlich zu essen. Keine Feinde. Ich hoffe, das
bleibt auch so. Doch wenn es sich ändert, muss ich schwerwiegende
Entscheidungen treffen.«
Dämmer nickte und versuchte ernst
auszusehen, wobei er keinerlei Vorstellung davon hatte, worüber
sein Vater eigentlich sprach.
»Werde ich eines Tages auch
Anführer?«, fragte er.
»Das glaube ich kaum.«
»Wieso nicht?«, fragte Dämmer
entrüstet.
»Wenn ein Anführer stirbt, wird
sein erstgeborener Sohn der neue Anführer.«
»Das wäre dann Südwind«, sagte
Dämmer verdrossen. Er kannte seinen ältesten Bruder kaum. Südwind
war achtzehn Jahre älter als Dämmer und hatte eine Frau und viele
Kinder. Dämmer war der Onkel von Dutzenden Nichten und Neffen und
Großonkel von Hunderten anderen – und er war jünger als praktisch
alle von ihnen. Das wurde schnell sehr verwirrend.
»Aber«, sprach Ikaron weiter,
»wenn durch irgendeine schreckliche Entwicklung der erstgeborene
Sohn tot ist, übernimmt der zweitälteste Sohn die Führung und so
weiter.«
»Borasco, Shamal, Vardar …« Dämmer
war stolz, dass er die Namen seiner acht älteren Brüder kannte,
obwohl er mit den meisten von ihnen bisher nur ein paar Worte
gewechselt hatte.
»Und wenn keine Söhne da sind«,
fuhr Ikaron fort, »aber auch nur dann, geht die Führung an die
Töchter weiter.«
»Also könnte Sylph eines Tages
Anführerin werden?«, fragte Dämmer alarmiert.
»Eine schreckliche Vorstellung,
wirklich«, sagte sein Vater. »Natürlich müssten ihre sieben älteren
Schwestern vor ihr sterben. Jedenfalls ist es sehr
unwahrscheinlich, dass du als mein neuntgeborener Sohn einmal
Anführer wirst.«
»Ich verstehe«, sagte Dämmer und
fand das alles furchtbar ungerecht.
Er hielt an, um wieder zu Atem zu
kommen. Weit über sich konnte er durch die gewaltige Krone des
Mammutbaums kleine Stückchen Himmel ausmachen. Einige elegante,
gefiederte Geschöpfe schossen durch die Luft. Der Anblick ihrer
schlagenden Flügel ließ seinen Bauch aufgeregt kribbeln.
»Sind wir mit den Vögeln
verwandt?«, fragte er seinen Vater.
»Natürlich nicht«, antwortete der.
»Wir haben keine Federn. Wir werden nicht in Eiern ausgebrütet. Und
wir können nicht fliegen.«
Dämmer spähte in der Hoffnung nach
oben, noch mehr Vögel zu sehen. Er fand es schön, wie sie sich so
mühelos emporschwangen.
»Wie viel höher gehen wir noch?«,
fragte er.
Sicher hatte sein Vater nicht vor,
ihn bis zum Baumwipfel mitzunehmen. Dort herrschten die Vögel, und
den Neugeborenen wurde immer gesagt, sie sollten sich da
fernhalten. Die Flieger verteidigten energisch ihr Revier,
insbesondere dann, wenn sie ihre Brut aufzogen. Zum Glück war der
Mammutbaum über hundert Meter hoch und groß genug für sie alle.
Dämmer und alle anderen Chiropter lebten im mittleren Bereich.
Inmitten der Unmenge mächtiger Äste nisteten sie in den tiefen
Kerben, welche die Rinde durchzogen.
»Jetzt nur noch ein bisschen«,
sagte sein Vater zu ihm.
Obwohl ihn das Klettern so
anstrengte, war Dämmer gar nicht so wild darauf, das Ziel zu
erreichen, denn er wusste, was ihn dort erwartete. Er und die
anderen Neugeborenen hatten zwar endlos darüber geredet, doch
Dämmer konnte nicht anders – er hatte Angst.
»Ist das der größte Baum im
Wald?«, fragte er. Er wollte reden.
»Ich habe nie einen gesehen, der
größer war.«
»Wie alt ist er?«
»Sehr alt. Tausende von
Jahren.«
»Bist du auch alt?«, fragte er
seinen Vater.
Der lachte überrascht auf. »Nicht
ganz so alt. Aber alt genug, um viele Söhne und Töchter zu
haben.«
»Siebzehn zusammen mit Sylph und
mir«, sagte Dämmer.
»Das stimmt, aber ich denke, ihr
zwei seid meine letzten.«
Dämmer war beunruhigt. »Stirbst du
bald?«
»Bestimmt nicht. Aber jeder
erreicht mal ein Alter, in dem es nicht länger möglich ist, noch
mehr Kinder zu bekommen.«
Plötzlich hielt Ikaron an. »Das
ist der Obere Holm«, sagte er, während er vom Stamm weg auf einen
gewaltigen, sehr dicken Ast trat, der über die Lichtung
hinausragte. »Bis hierher gehen wir Chiropter. Merk es dir gut. Von
hier an aufwärts gehört der Baum den Vögeln.«
Dämmer betrachtete den Ast genau
und prägte sich seine Umrisse ein.
»Hier entlang«, sagte Ikaron und
ging auf allen vieren den Oberen Holm nach außen.
Mit zittrigen Gliedmaßen zögerte
Dämmer einen Augenblick.
»Du brauchst keine Angst zu
haben.« Sein Vater hatte sich ihm zugewandt und wartete.
Dämmer kam zu ihm. Seite an Seite
gingen sie weiter den Ast entlang, dann hintereinander über einen
dünneren Ast mit üppigen, nadelartigen Blättern und Kiefernzapfen,
die fast so groß wie Dämmer waren. Kurz vor dem Ende des Asts
hielten sie an. Er neigte sich leicht unter ihrem Gewicht.
Das Zirpen der Zikaden hörte
plötzlich auf, dann setzte es mit erneuter Kraft ein.
Dämmer blickte in die Tiefe
zwischen den Ästen hindurch bis zum Waldboden, der unglaublich weit
entfernt war. Er pinkelte geräuschvoll auf die Rinde.
»Bist du bereit?«, fragte sein
Vater.
Dämmer antwortete nicht.
»Spring!«, forderte ihn sein Vater
auf.
»Ich will nicht springen.« Seine
Stimme war nur noch ein ungewohntes Krächzen.
»Du musst aber.«
Dämmer hatte noch nie den Baum
verlassen. »Kann ich zum Nest zurückgehen?«, fragte er.
»Nein.«
Dämmer spürte, wie ihm die Kehle
eng wurde. Mehr als alles andere wollte er in die tiefe Kerbe
kriechen, in der er schlief, und die duftende Rinde des Baums um
sich fühlen.
»Es ist Zeit«, sagte sein Vater.
Obwohl seine Stimme ruhig klang, spürte Dämmer, dass es keine
weitere Diskussion geben würde. »Bist du bereit?«
»Ich kann mich nicht mehr an all
das erinnern, was du mir gesagt hast«, sagte Dämmer voller
Panik.
»Das spielt keine Rolle.«
»Sag’s mir noch mal, bitte!«
Sein Vater drückte ihn sanft an
sich, dann stieß er ihn vom Ast.
Dämmer stieß einen Schrei aus,
sowohl vor Überraschung als auch vor Schreck, drehte sich und
wollte sich festklammern, egal, an was. Aber der Ast war schon
außer Reichweite, und er fiel, nun mit dem Kopf voran. Wind verfing
sich in seinen Ohren. Zweige schnellten an ihm vorbei. Die Welt
unter ihm wuchs ihm entgegen. Er zitterte am ganzen Körper und sein
Magen wollte sich umdrehen. Instinktiv streckte er die Arme aus,
stieß mit den Beinen nach unten und breitete seine Segel weit
aus.
»Genau! Gut!«, schrie Ikaron,
plötzlich neben ihm, und breitete nun auch seine pelzigen Segel
aus.
Merkwürdigerweise empfand Dämmer
den überwältigenden Drang zu flattern.
»Hör auf damit!«, rief sein Vater.
»Du bist kein Vogel! Streck sie aus! Weiter! So weit es geht! Genau
so! Jetzt halt sie gestreckt! Du gleitest jetzt!«
Luft strömte um Dämmers Segel und
füllte sie. Kopf und Schultern hoben sich, als er aus dem Sturzflug
auftauchte. Er atmete stoßweise und fühlte sich, als wäre er vom
Blitz getroffen worden. Er segelte von dem Mammutbaum weg, seinem
Zuhause, über die große Lichtung auf die gewaltigen Bäume auf der
anderen Seite zu. Motten und Fliegen wirbelten an ihm vorbei.
Er segelte zu schnell, viel zu
schräg nach unten. Jedes Mal, wenn er die anderen Chiropter hatte
gleiten sehen, hatten sie sich immer so gelassen bewegt und so gut
wie keine Höhe verloren. Er aber hatte fast keine Kontrolle über
das Ganze.
»Langsamer!«, hörte er seinen
Vater rufen.
»Wie?«, schrie er.
»Hast du die Segel ganz
ausgebreitet?«
Dämmer streckte die Segel so weit
aus, wie er konnte, und wurde ein bisschen langsamer, doch er fiel
immer noch zu schnell. Voller Schrecken bemerkte er, wie er sich
den Bäumen auf der anderen Seite der Lichtung näherte.
»Langsamer, Dämmer!«, schrie sein
Vater noch einmal.
»Ich versuch’s ja!«
»Wir drehen jetzt um!«, rief
Ikaron. »Neige dich einfach ein bisschen nach rechts. Benutze deine
Beine ebenso wie deine Finger und Arme. Gut! Etwas mehr. Halt die
Segel straff! Falte sie nicht zusammen! Na also!«
Dämmer machte eine schnelle,
ruckartige Wendung, taumelte etwas, und der Wald schwankte, als
Dämmer sich zurück auf ihren Mammutbaum ausrichtete. Bei seinem
Anblick fühlte er sich besser. Weiter unten konnte er die
vertrauten Äste ihrer Nester und Jagdzweige ausmachen. Immer wieder
durchkreuzten die anmutigen Umrisse von Chiroptern die Lichtung auf
der Jagd nach Insekten. Er streckte sich und empfand ein bisschen
den Kitzel des Erfolgs.
»Wir landen jetzt«, sagte Ikaron
und schob sich vor ihn. »Du segelst hinterher und machst genau das,
was ich mache.«
Dämmer versuchte, der Gleitbahn
seines Vaters zu folgen, doch er verlor zu schnell an Höhe.
»Papa!«, rief er, als er tiefer
als sein Vater sank.
Ikaron blickte zurück und
verstellte seine Segel zum Abtauchen.
»Halt deine Segel flach,
Dämmer!«
Er hielt seine Segel flach,
doch das schien gar nichts zu nützen. Den Blick auf seinen Vater
gerichtet, wurde ihm klar, dass der einen viel tieferen
Landungsanflug machte als sonst.
»Wenn du fast auf dem Ast bist,
stell die Segel auf!«, schrie Ikaron zu ihm zurück. »Winkel sie ab
und lass alle Luft raus, dann hältst du an. Auf geht’s!«
Er beobachtete aufmerksam, wie
sich sein Vater einem angenehm breiten Ast näherte, der weit in die
Lichtung hinausragte. Ikaron pendelte sich mühelos ein, stellte
seine Segel senkrecht auf und landete auf den hinteren Krallen.
Dann legte er die Segel zusammen und ließ sich auf allen vieren
nieder, bevor er herumwirbelte, um Dämmer zu beobachten.
»Langsam jetzt!«, stieß er aus.
»So langsam, wie du kannst!«
Dämmer sah den Ast auf sich
zuschwanken und wusste, dass er zu schnell und zu steil
hereinkam.
»Flacher werden! Flacher!«, schrie
Ikaron.
Und wieder wurde das Bedürfnis zu
flattern übermächtig und Dämmer durchschnitt die Luft mit den
Segeln.
»Nein!«, schrie Ikaron. »Das
bringt nichts. Hör auf damit! Stell die Segel auf!«
Dämmer stellte seine Segel auf und
bremste so stark ab, dass er das Gefühl hatte, nach hinten gezogen
zu werden. Ein scharfer Schmerz schoss ihm durch Arme und
Schultern. Noch in der Luft kam er zum Stillstand und fiel schnell
auf den Ast zu, wobei er unwillkürlich wieder flatterte. Dann
plumpste er auf seinen Vater.
»Entschuldigung«, keuchte Dämmer,
als sie sich entknäult hatten.
»Alles in Ordnung?«, fragte
Ikaron.
»Ich glaub schon.« Dämmers Brust
hob und senkte sich, als er um Atem rang.
Er bewegte alle Glieder, um
sicherzugehen, dass nichts gebrochen war, dann blickte er seinen
Vater finster an. »Du hast mich runtergestoßen!«
»Ich stoße alle meine Kinder
runter«, antwortete sein Vater leise lachend. »Glaub mir, niemand
will seinen ersten Sprung machen.«
Dämmer fühlte sich schon besser.
»Auch Sylph nicht?«
»Auch Sylph nicht.«
Gestern hatte sein Vater Sylph zu
ihrem ersten Gleitunterricht mitgenommen, und sie hatte nichts
davon erzählt, dass sie runtergestoßen worden war.
»Wie war ich denn?«, fragte
Dämmer. Er zitterte immer noch.
»Ich hatte noch keinen, der
flattern wollte.«
»Tut mir leid«, sagte Dämmer
kleinlaut. »Ich dachte, es wäre das Richtige.«
»Deine Segel sind zum Gleiten
gemacht, nicht zum Fliegen. Denk daran.«
Dämmer nickte gehorsam.
»Du hast es gut gemacht«, sagte
sein Vater. »Ein bisschen zu schnell. Ich frage mich, ob es daran
liegt, dass deine Segel kein Fell haben.« Er musterte Dämmer
genauer. »Und deine Schultern und die Brust machen dich vorne etwas
schwerer. Das mag erklären, weshalb du dich leicht nach vorne
neigst. Du wirst auf jeden Fall ein schneller Gleiter werden. Ein
wilder Jäger. Die Schwärmer werden keine Chance haben. Aber an
deiner Landung musst du wirklich noch arbeiten.«
»Das mach ich. Versprochen.«
»Willst du es noch mal
versuchen?«
Dämmers Herz hämmerte wild. »Ja«,
sagte er sofort.