Kapitel 7
Weg in die Zukunft

Dämmer wachte früh auf und seine Muskeln taten so weh, dass er sich fragte, ob er wirklich zum Fliegen geschaffen sei. Wenn er einatmete, pochte es heiß in seiner Brust und durch seine Schultern zuckte ein Schmerz. Jede Bewegung der Segel ließ ihn stöhnen. Er blieb ganz still liegen und hörte zu, wie die Vögel ihre Morgengesänge anstimmten. Erst erklangen einzelne Töne durch den Wald, die sich dann wie Echos vervielfachten.
Normalerweise erfüllte Dämmer diese Musik mit einem Gefühl von Staunen und Wohlbehagen. Er stellte sich dann immer vor, die Vögel würden den Tag besingen, um die Sonne heraufzubeschwören. Doch an diesem Morgen fühlte er sich schwer vor Sorgen.
Dabei sollte er doch glücklich sein. Gestern waren er und Sylph vor den anderen zum Baum zurückgekehrt und konnten sich wieder unter die Neugeborenen mischen, ohne dass ihre Abwesenheit von der abgehetzten Bruba überhaupt bemerkt worden war. Sie hatten ihr Abenteuer gehabt und waren einer Bestrafung entgangen. Bis zum Abend waren nach und nach alle Suchtrupps wieder zu der Lichtung zurückgekehrt und alle brachten dieselbe Nachricht. Es gab keinerlei Anzeichen von Sauriern oder Sauriernestern. Im Mammutbaum herrschte eine fröhliche Stimmung. Dämmer war erleichtert, dass die Insel sicher war, und erfreut darüber, dass sein Vater Nova bewiesen hatte, dass sie im Unrecht war.
Aber nichts davon schien wirklich wichtig zu sein.
Er konnte fliegen.
Dämmer schloss die Augen und erinnerte sich an das aufregende Gefühl. Doch jetzt fühlte er sich so unbeweglich wie ein Stein. Sollte er seinen Eltern erzählen, dass er fliegen konnte? Oder musste er das sein ganzes Leben lang verbergen? Er blickte hinüber zu seinem Vater und seiner Mutter, die die Augen noch geschlossen hatten, und überlegte, was sie wohl sagen würden.
»Komm schon«, sagte Sylph und schob sich neben ihn. »Ich bin hungrig.«
Völlig steif folgte er seiner Schwester. Als er sich in die Luft warf, musste er sich zurückhalten, nicht zu flattern. Beim Entfalten der Segel stöhnte er leise auf vor Schmerz, stellte sie fest und fing an zu jagen. Sein Magen knurrte laut, doch er war lustlos.
»Geht es dir gut?«, frage Sylph, als sich ihre Wege kreuzten.
»Nur Muskelkater«, murmelte er.
Als die Sonne aufging, wurde es auf der Lichtung belebter. Dämmer jagte ziemlich gelangweilt. Irgendetwas schwelte hinter seiner Niedergeschlagenheit, und dann wurde ihm klar, dass es Wut war. Jeder Muskel in Schultern und Armen wollte flattern, und doch verweigerte er es sich selbst. Er konnte fliegen, warum tat er es also nicht? Warum sollte er solche Angst davor haben, das zu sein, was er war?
»Du wirst doch nicht irgendwelche Dummheiten machen?«, fragte Sylph besorgt, während sie neben ihm einherglitt.
Wütend schwenkte er ab.
Er versuchte, eine Sumpfmotte zu fangen, verfehlte sie aber.
»Es läuft heute wohl nicht so gut, was, Haarloser?«
Das kam von Jib, der über ihm segelte.
Dämmer beachtete ihn gar nicht. Er sah eine Libelle, wendete zu scharf und seine Beute schoss über seinen Kopf hinweg.
Jibs höhnische Bemerkungen prasselten wieder auf ihn ein.
»Ich zeig dir mal, wie das geht, Haarloser«, sagte er und stürzte sich auf die Libelle.
Dämmer hielt es nicht mehr aus. Seine Segel explodierten förmlich, er flatterte heftig, stieg auf und legte sich zugleich in die Kurve, und sein Jagdschnalzen führte ihn direkt zu der Libelle. Er schnappte sie aus der Luft, nur einen winzigen Augenblick vor Jib.
»So«, schrie er, »macht man das!«
Jib war so verblüfft, dass es nicht einmal für einen entrüsteten Schrei ausreichte. Er taumelte kurz durch die Luft, richtete sein Gleiten wieder aus und blickte ungläubig zu Dämmer hoch.
Mit triumphierend klopfendem Herz landete Dämmer auf einem Ast. Noch nie hatte eine Libelle besser geschmeckt. Doch seine Freude war nur von kurzer Dauer. Ihm fiel auf, dass alle Chiropter in der Nähe, einige gleitend, andere auf den Ästen hockend, ihn anblickten. Sie starrten ihn an wie etwas Fremdes, das vom Himmel gefallen war. Sylph kam schnell und setzte sich neben ihn.
»Was hast du da bloß gemacht?«, zischte sie. »Was ist denn jetzt mit dem Geheimhalten?«
»Ich … ich konnte nicht anders«, sagte Dämmer.
Sylph, die sich noch nie gescheut hatte, laut zu werden, zu streiten oder jemanden zu ärgern, sah verschreckt aus.
»Das wird jetzt richtig übel«, sagte sie.
Dämmers Hals war trocken und er wäre fast an dem letzten Stück Libelle erstickt.
»Wie hast du das gemacht?«, hörte er jemanden rufen.
»Er ist geflogen!«, schrie ein anderer. »Ikarons Sohn ist geflogen.«
»Du bist geflogen!«, stieß Jib hervor, während er den Baumstamm zu ihm hochkletterte. »Was für eine Missgeburt bist du eigentlich?«
»Chiropter können nicht fliegen«, stellte jemand anderes fest.
»Der hier schon. Ich hab ihn genau gesehen. Er hat geflattert.«
»Er ist so eine Art Mutant!« Das war wieder Jib, auf demselben Ast nun, mit einem unergründlichen Blick, der in seinen Augen flackerte. War das Neid, Angst oder Hass?
Immer mehr Chiropter sammelten sich um ihn herum, was Dämmer nicht gefiel. Warum hatte er sich nicht besser beherrscht? Der Fehler eines winzigen Augenblicks würde ihm nun mehr Schwierigkeiten einbringen, als er sich vorstellen konnte. Einige der Chiropter klangen weniger überrascht, dafür umso wütender, und Dämmer bekam langsam Angst davor, was sie vielleicht tun würden. Ein Schwall von Aggression zog an ihm vorüber. Als er dann seinen Vater auf den Ast zugleiten sah, war er doch sehr erleichtert.
»Was ist hier los?«, verlangte Ikaron zu wissen, und seine Nasenflügel zuckten, als er die unerfreuliche Stimmung witterte.
Die Chiropter auf dem Ast machten ihm Platz, während sie alle durcheinandersprachen.
»Er hat geflattert!«
»Dämmer ist geflogen!«
»Wir haben es alle gesehen!«
»Er hat geflattert wie ein Vogel!«
Qualvoll wartete Dämmer ab, bis sein Vater näher gekommen war.
»Stimmt das?«, fragte Ikaron.
Dämmer nickte.
So unglücklich er sich auch fühlte, so war er doch erleichtert, dass sein Geheimnis nun gelüftet war und ihn nicht länger belastete.
»Zeig es mir«, sagte Ikaron schroff.
Dämmer schleppte sich gehorsam an den Rand des Asts. Traurig erinnerte er sich daran, wie ihm sein Vater das Gleiten beigebracht hatte, dann sprang er, entfaltete seine Segel und erhob sich in die Luft. Er konnte das erschrockene und verwunderte Raunen der Chiropter, die ihn beobachteten, unter sich hören.
Einen Augenblick lang überlegte er, noch höher zu fliegen und ganz zu verschwinden, damit er sich nicht dem Zorn und der Schmach seines Vaters stellen müsste. Er würde schon irgendwo einen neuen Ort finden, an dem er leben könnte, und dann würde er wirklich sonderbar und stinkend und verlaust werden. Doch es würde auch bedeuten, dass er seine Mutter und seinen Vater, Sylph, sein Zuhause und alles, was er liebte, zurücklassen müsste, und er wusste genau, dass er das niemals machen würde. Er musste seinem Vater gegenübertreten. Er seufzte tief auf, wendete und flog zurück, um wieder auf dem Ast zu landen.
Den Blick auf seine Krallen gesenkt, ging er zwischen den verstummten Chiroptern auf seinen Vater zu.
»Wie lange kannst du das schon?«, hörte er seinen Vater fragen.
»Gestern habe ich es herausgefunden.«
Er wusste nicht genau, wie er bestraft werden würde, doch er konnte sich vorstellen, dass die Strafe sehr streng ausfallen könnte. Du bist kein Vogel. Du flatterst nicht. Chiropter gleiten, sie fliegen nicht. Ob sie ihn ausstoßen würden?
»Es tut mir leid«, murmelte er.
»Ich finde das sehr außergewöhnlich«, sagte sein Vater.
Ungläubig blickte Dämmer zu ihm auf und sah, dass sein Gesicht weder Ärger noch Missbilligung zeigte, sondern einfach nur Erstaunen. Die anderen Chiropter waren plötzlich ganz still geworden und beobachteten ihren Anführer gespannt.
»Findest du?«, fragte Dämmer.
»Ehrlich?« Sylph war völlig fassungslos.
»Breite deine Segel aus«, sagte Ikaron zu Dämmer. »Lass mich dich mal ansehen.«
Dämmer tat, was ihm gesagt worden war. Sein Vater kam näher und betrachtete schweigend die Unterseite von Dämmers Segeln.
»Wenn du flatterst«, fragte Ikaron, »woher kommt dann die Kraft?«
»Aus den Schultern und aus der Brust, denke ich.«
Ikaron nickte. »Ja, ich sehe es. Das ist hier. Deine Brust ist breiter und stärker als normal. Deine Schultern auch. Die waren schon immer so. Seit deiner Geburt. Man braucht eine Menge Muskeln, um mit seinen Segeln so schnell zu flattern, wie du es tust.«
Dämmer konnte nicht anders, er musste immer wieder zwischen Sylph und Jib hin- und herblicken. Stärker als normal. Eine Menge Muskeln.
»Er kann doch nicht der Einzige sein, der so was kann«, sagte Jib vorlaut.
»Versuch es doch«, schlug ihm Ikaron vor. »Ich habe noch nie von einem anderen Chiropter gehört, der fliegen kann. Ich glaube nicht, dass die Kraft unserer Muskeln ausreicht.«
»Es muss noch andere geben«, sagte Dämmer zu seinem Vater.
»Ich glaube nicht, Dämmer.« Ikaron schüttelte den Kopf und betrachtete wieder die Segel seines Sohns. »Es ist wirklich bemerkenswert. Als du bei deinem ersten Gleiten geflattert hast, hatte ich ja noch keine Ahnung, überhaupt keine Ahnung …«
»Es ist so ungerecht!«, seufzte Sylph und kletterte den Baum hinauf.
Die anderen Chiropter fingen nun auch an, sich zu zerstreuen, machten mit der Jagd weiter oder putzten sich geschäftig.
Dämmer fing ein paar vorsichtige Blicke auf und hörte einiges an Gemurmel, dass das alles nicht richtig wäre und überhaupt, wer wollte denn schon fliegen wie ein Vogel?
»Es ist also in Ordnung, wenn ich fliege?«, fragte Dämmer.
»Warum nicht«, sagte sein Vater. »Ich finde, das ist eine wunderbare Fähigkeit.«
Dämmer hatte immer noch Schwierigkeiten damit, die Reaktion seines Vaters zu begreifen. Er schien ernsthaft begeistert zu sein, und das half Dämmer, sich von der zerstörerischen Angst zu befreien, die er empfunden hatte.
»Pass aber auf, dass du unter dem Oberen Holm bleibst«, erklärte ihm Ikaron. »Die Vögel würden einen anderen Flieger in ihrem Gebiet bestimmt nicht willkommen heißen.«
Den ganzen Morgen lang flog Dämmer durch die Lichtung, stieß herab und stieg vergnügt wieder auf. Ein berauschendes Gefühl von Freiheit erfüllte seinen neuen Körper.
Überallhin. Er konnte überallhin fliegen.
Er fing mehr Beute als je zuvor. Er war jetzt so viel beweglicher. Und das Beste von allem: Er musste nie mehr die erschöpfende Strecke den Baum zurück nach oben klettern. Mitleidig sah er zu den anderen Chiroptern hinunter, die sich den Stamm hochschleppten.
Er merkte allerdings, dass er immer noch sehr schnell müde wurde. Zehn Minuten war die längste Zeit, die er in der Luft bleiben konnte, dann brauchte er eine ordentliche Pause. Doch seine Jagd war so viel ergiebiger, dass er trotzdem immer noch Zeit sparte. Mit mehr Übung, da war er sich sicher, würden seine Muskeln stärker und ausdauernder.
Die Neuigkeit, dass er fliegen konnte, brauste schneller als ein Sturm durch die Kolonie. Immer wieder sah er Neugeborene, einschließlich Jib, die verzweifelt versuchten zu fliegen. Keiner von ihnen hatte auch nur im Geringsten mehr Erfolg als Sylph, und als ihre Eltern das sahen, wurden sie ärgerlich und befahlen ihnen, damit aufzuhören.
Am Mittag, als die Sonne am hellsten schien und das Lied der Zikaden am lautesten schrillte, fand Dämmer Sylph im Nest, wo sie im Schatten ruhte. Er ließ sich neben ihr nieder und begann sich zu putzen. Sie bot nicht an, ihm den Rücken zu kämmen.
»Weißt du, was mich am meisten aufregt?«, sagte sie. »Wenn ich es gewesen wäre, die fliegen kann, hätte mir Papa das nicht erlaubt.«
»Wie bitte?«
»Du weißt genau, dass das stimmt«, sagte sie mit zuckenden Ohren. »Wenn ich das gewesen wäre, hätte er nur wieder etwas darin gesehen, das ich falsch mache.«
»Sylph, das stimmt nicht. Es wäre genau dasselbe gewesen.«
Sie drehte sich zu ihm um und Dämmer war erschrocken über die Verachtung in ihren Augen.
»Denke, was du willst«, sagte sie. »Aber das ändert nichts daran, dass es stimmt.«
Sie glitt in die Lichtung hinaus.
Dämmer blickte ihr hinterher, erst verletzt, dann ärgerlich. Sie war schlicht und ergreifend eifersüchtig.
Doch das, was sie gesagt hatte, ging ihm den ganzen Nachmittag nicht aus dem Sinn, und er fragte sich, ob etwas Wahres dran war. Wäre sein Vater mit Sylph so überraschend großzügig gewesen? Machte sein Vater speziell für ihn eine besondere Ausnahme?
Wenn er durch die Lichtung flog, starrte ihn jeder an. Die Blicke waren nicht alle nur freundlich. Auch wenn manche Augen groß vor Verwunderung waren, so hatten andere sie doch argwöhnisch geschlossen. Er mochte es nicht, wenn so viele Augen auf ihn gerichtet waren. Das machte ihn verlegen. Sylph wäre da anders gewesen, sie hätte die ganze Aufmerksamkeit genossen. Es wäre unmöglich gewesen, sie aus der Luft zu bekommen.
»Geh mir aus dem Weg!«, schnauzte ein Chiropter, als Dämmer steil aufstieg, um eine Florfliege zu verfolgen.
»Entschuldigung«, sagte Dämmer und schwenkte zur Seite, bevor er nach oben schoss, um seine Beute abzufangen.
»Das war meine!«, rief sein Bruder Südwind ärgerlich.
»Entschuldigung«, sagte Dämmer. »Ich hab dich nicht gesehen.«
»Dann pass besser auf! Und überhaupt, du kannst die Beute nicht von unten fangen. So geht das nicht. Damit stiehlst du jemand anderem das Essen. Arbeite von oben, wie wir alle.«
Dämmer entschuldigte sich noch einmal, doch er hatte bestimmt nicht die Absicht, Beute nur von oben zu schnappen. Was würde das Fliegen sonst für einen Sinn machen? Allerdings konnte er auch verstehen, wie aufreizend es sein musste, wenn einem ständig die Insekten von einem, der von unten kam, weggeschnappt wurden.
Vielleicht sollte er sich seine Nahrung außerhalb des eigentlichen Hauptjagdgebiets suchen. Da war es viel weniger belebt und er wäre nicht ständig jemandem im Weg. Er seufzte. Sylph war schon böse auf ihn, und wenn er nicht ganz besonders vorsichtig war, würde sie nicht die Einzige in der Kolonie bleiben.
In der Nacht wachte er von den leisen Stimmen seiner Eltern auf. Sie waren auf dem Ast ein Stück nach außen gerückt, doch Dämmer konnte sie klar verstehen, wenn er die Ohren gut spitzte. Sylph neben ihm schlief tief. Sein Magen prickelte: Wenn seine Eltern sich mitten in der Nacht zurückzogen, um sich alleine zu unterhalten, dann musste es sich um etwas Wichtiges handeln.
»Du weißt, was mit ihm damals auf dem Festland geschehen wäre?«, fragte seine Mutter.
»Das weiß ich sehr gut. Die Kolonie hätte ihn ausgestoßen.«
»Oder ihn getötet«, fügte seine Mutter hinzu.
Dämmer wurde ganz kalt vor Angst. Sie sprachen über ihn! Er befürchtete, die Eltern könnten sein nervöses Atmen hören.
»Deshalb habe ich der Kolonie deutlich gezeigt, dass ich ihn ganz und gar akzeptiere«, sagte sein Vater. »Wenn sie merken, dass er die Anerkennung des Anführers hat, werden sie ihn auch anerkennen. Wir müssen ihn schützen, Mistral.«
»Bei unseren Erstgeborenen wärst du nicht so duldsam gewesen. Du hättest es ihnen verboten.«
Ikaron klang belustigt. »Vielleicht, aber die Jahre voll Frieden und Überfluss haben mich sanfter werden lassen. Und außerdem ist das wirklich eine erstaunliche Sache, Mistral. Das musst du zugeben.«
»Andere werden das nicht so freundlich bewerten«, antwortete seine Mutter. »Einige dürften neidisch sein, die meisten aber werden ihn einfach als Missgeburt ansehen.« Dämmer hörte, wie seine Mutter seufzte. »Er wird Schwierigkeiten haben, eine Gefährtin zu finden.«
Dämmer entspannte sich ein bisschen. Machte sich seine Mutter nur darüber Sorgen? Er war nicht im Geringsten beunruhigt. Die meisten Chiropter fanden ihre Gefährtin erst in ihrem zweiten oder dritten Jahr. Außerdem hatte er daran gar kein Interesse. Das wäre keine solche Tragödie, wenn er niemals eine Gefährtin fände. Er hatte seine Mutter, seinen Vater und Sylph – obwohl Sylph wahrscheinlich fortginge, um mit ihrem Gefährten zu leben, sobald es an der Zeit war.
»Er sieht nun mal sehr seltsam aus«, sagte seine Mutter traurig. »Ich liebe ihn, und es sollte keine Rolle spielen, doch wenn ich ihn so ansehe, sieht er einfach nicht so aus wie meine anderen Kinder. Es ist, als würde er zu irgendeiner anderen Art gehören.«
Dämmer wusste nicht, ob er überhaupt noch mehr hören wollte, doch er musste einfach weiterlauschen.
»Er ist unser Kind, genau wie die anderen auch«, sagte Ikaron sanft. »Und er hat etwas, das niemand von uns sonst hat. Er kann schneller jagen, den Wald wirkungsvoller absuchen, hoch fliegen und die Welt um uns herum besser beschreiben. Er kann jeden Feind, der sich nähert, schon aus der Entfernung sehen und uns warnen. Macht ihn das etwa nicht zu einem begehrenswerten Gefährten?«
»Ja, natürlich. Aber manchmal ist es nicht gut, sich zu sehr von den anderen zu unterscheiden. Wir werden von Wesen angezogen, die so sind wie wir selbst. So ist das nun einmal.«
»Ich habe dich ja auch als meine Gefährtin gewählt«, sagte Ikaron.
»Ja, aber meine Andersartigkeit ist nicht sichtbar.«
Dämmer reckte die Ohren noch höher. Worüber sprach seine Mutter?
»Alle können Dämmers Andersartigkeit deutlich sehen«, fuhr seine Mutter fort. »Aber du bist der Einzige, der von meiner weiß. Und du warst einverstanden, dass es das Beste wäre, es geheim zu halten.«
Dämmer hörte, wie sein Vater seufzte. »Vielleicht war das falsch. Wieso sollte es eine Schande sein, bei Nacht sehen zu können?«
»Ich kann das auch!«, brach es aus Dämmer heraus, bevor er es unterdrücken konnte. Er krabbelte auf seine bestürzten Eltern zu.
Sehr viel leiser sagte er dann: »Ich kann auch im Dunkeln sehen.«
»Das kannst du?«, fragte seine Mutter schwach.
Dämmer nickte. »Mit meinem Jagdschnalzen. Damit kann ich alles sehen. Ist das bei dir genauso?«
»Ja«, sagte sie mit einem leisen Lachen. Dann runzelte sie die Stirn. »Wie viel hast du gehört?«
»Ein bisschen«, sagte er verlegen.
Sie kam zu ihm und drückte sich an ihn. »Ich habe dich genauso lieb wie meine anderen Kinder. Es tut mir leid, wenn es anders geklungen hat. Und jetzt höre ich, dass wir sogar noch mehr gemeinsam haben. Echosehen.«
»So nennst du das?«
»Warum hast du uns das nicht früher gesagt?«, fragte sein Vater.
»Ich hab Angst gehabt, ihr würdet euch für mich schämen«, sagte Dämmer. »Weil ich doch schon anders genug war.«
»Wir haben uns nie für dich geschämt«, sagte seine Mutter. »Ich hab einfach nur gewollt, dass du die besten Möglichkeiten hast. Deshalb habe ich gedacht, manche Dinge sollten lieber geheim bleiben.«
»Aber du hast Papa von deinem Echosehen erzählt.«
»Aber nur ihm.«
»Das war ein Riesenvorteil für eine Saurierjägerin«, sagte Ikaron. »Deine Mutter konnte auf größere Entfernungen sehen und auch bei Nacht. Die Saurier sehen ziemlich schlecht, vor allem im Dunkeln. Deine Mutter konnte uns direkt zu den Nestern führen, ohne bemerkt zu werden.«
Dämmer betrachtete seine Mutter mit gesteigerter Bewunderung – und auch mit Erleichterung. Er war mit seiner seltsamen Begabung wenigstens nicht alleine.
»Warum können wir das?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht hatte mein Vater oder meine Mutter dieselbe Fähigkeit. Aber sie haben nie darüber gesprochen. Und ich habe mich ihnen nie anvertraut.«
»Hast du Angst gehabt, dass du gemieden wirst?«
»Ja.«
»Aber vielleicht gibt es noch andere, die das können?«, fragte Dämmer hoffnungsvoll. »Die bloß Angst haben, es zu sagen, genau wie wir auch.«
»Das kann schon sein«, meinte Ikaron.
»Es wäre besser, wenn jeder einfach alles sagen würde«, sprudelte es aus Dämmer heraus. »Dann müsste niemand mehr Angst haben, anders zu sein.«
Mistral nickte bedrückt. »Der Drang, so zu sein wie die anderen, ist sehr stark. Er durchströmt unsere Adern zusammen mit unserem Blut.«
»Aber es ist wohl auch so«, sagte Ikaron, »dass in jedem von uns der Samen gelegt ist für eine Veränderung. Wann und warum er aufgeht, weiß niemand.«
Dämmer starrte hinaus in die Dunkelheit der Lichtung. Er war etwas verwirrt von all den neuen Dingen, die er gerade erfahren hatte. Für den Moment reichte es ihm. Ein bisschen wünschte er sogar, er könnte in der Zeit so weit zurückgleiten, bevor der Saurier in ihre Welt abgestürzt war. Doch viel mehr erregte ihn sein neues Selbst mit all seinen Möglichkeiten.
»Ich hatte Angst, ich könnte ein Saurier sein«, gestand er verlegen.
»Aber doch nicht im Ernst, Dämmer?«, fragte seine Mutter bestürzt.
»Nur ein bisschen«, sagte er verlegen. »Meine Segel. Die sind wie die Saurierflügel. Ohne Haare. Und wir können beide fliegen.«
»Ich habe zugesehen, wie du geboren worden bist«, sagte sein Vater liebevoll. »Und ich kann dir versichern, dass du nicht aus einem Ei geschlüpft bist.«
»Bist du sicher, dass es keinen in unserer Familie gegeben hat, der mal geflogen ist?«, fragte Dämmer.
»Du bist der Erste«, sagte ihm Mistral.
»Aber vielleicht nicht der Letzte«, sagte Ikaron. »Wer kann schon sagen, ob nicht eines Tages alle Chiropter fliegen und bei Nacht sehen können? Vielleicht bist du ein Vorbote.«
»Jetzt setz ihm mal keine Flausen in den Kopf«, schimpfte Mistral ihren Gefährten. »Fürs Erste sollte er sein Echosehen geheim halten.«
»Sylph weiß es«, gestand Dämmer.
»Aha, dann hoffen wir mal, dass sie es für sich behält. Um das Fliegen zu verschweigen, ist es eindeutig zu spät. Ich habe noch immer Sorge, dass die anderen dich deshalb meiden werden.«
»Das werde ich nicht dulden«, sagte Ikaron mit fester Stimme. »Nicht weil ich der Anführer bin, sondern weil wir keine Angst davor haben sollten, dass einer von uns anders ist. Diese ganze Kolonie besteht nur deshalb, weil sich eine kleine Gruppe von uns getraut hat, anders zu sein. Vor zwanzig Jahren haben wir den Pakt gebrochen und haben uns nicht nur gegen unsere eigene Kolonie, sondern gegen das gesamte Bündnis der Tiere gestellt. Manchmal kann uns unser Anderssein auch stark machen und uns in eine bessere Zukunft führen.«
Reißzahn kehrte mit hoch erhobenem Haupt zur Meute zurück. Er schämte sich nicht, er würde nicht wie irgendein in Ungnade gefallenes Tier angeschlichen kommen.
Zwei Tage lang war er fortgeblieben, tief im Wald, unsicher darüber, was er tun sollte. Hatte Panthera sein Geheimnis preisgegeben? Tobte Patriofelis bereits? Er überlegte, ob er fliehen und sich neue Jagdgründe suchen sollte, doch das käme viel zu sehr einem Eingeständnis von Schuld gleich, einer Niederlage. Und er hatte nichts Unrechtes getan.
Als er sich dem Giftholzbaum, dem Zentrum der Meute, näherte, hatte die Sonne fast ihren höchsten Stand erreicht. Träge lagen die Feliden nach ihrem Morgenmahl da und beobachteten ihn vom Boden aus und von den Ästen. Diesmal fehlte ihren Blicken der Kitzel der Bewunderung, und sie vermieden es, ihm in die Augen zu sehen. Er nahm den Geruch ihrer angespannten Abneigung auf.
Sie wussten es.
Sein Schritt stockte, als er Panthera entdeckte, die auf ihn zuging. Sein Herz schlug schneller. Sie hielt nicht an, um mit ihm zu sprechen, doch im Vorbeigehen flüsterte sie: »Ich hab ihnen nichts verraten. Andere haben dich gesehen und es Patriofelis berichtet. Ich möchte, dass du das weißt.«
Sie ging weiter, ohne auch nur einmal zurückzublicken.
Reißzahn war innerlich gerüstet, als er den Giftholzbaum erreichte und Patriofelis auf einem der unteren Äste ausgestreckt liegen sah. Als der Anführer Reißzahn erblickte, stand er auf, ließ sich aber nicht dazu herab, ihn zu grüßen.
»Du kommst zu uns zurück«, sagte der Anführer der Feliden.
»Ja.«
»Und stimmt das, was wir gehört haben?«, wollte Patriofelis wissen.
»Es stimmt«, bestätigte Reißzahn mit fester Stimme.
»Du hast ein Mitgeschöpf getötet. Hast du keine Gewissensbisse?«
»Wir töten die ganze Zeit. Maden und Insekten.«
»Die sind unwichtig. Sie haben kein Gefühl.«
»Sie zucken zusammen, wenn wir sie töten. Sie wollen auch leben. Wir respektieren das nur nicht.«
Patriofelis schnaubte ungeduldig, völlig unbeeindruckt von Reißzahns Argumenten. »Du hast ein anderes Tier getötet. Das ist nicht der Lauf der Dinge!«
»Die Saurier haben uns gefressen. Wir müssen andere fressen, wenn wir überleben wollen.«
»Das hast du schon einmal gesagt.« Patriofelis ging auf seinem Ast im Giftholzbaum auf und ab. »Das würde die Ordnung unserer ganzen Welt zerstören. Wenn wir uns alle gegenseitig jagen würden, gäbe es mehr Blutvergießen als zu der Zeit, in der die Saurier uns als Beute jagten.«
»So sollte es aber sein«, sagte Reißzahn.
»Nein. Ich verbiete es.« Dann wurde die Stimme des Anführers für einen Augenblick sanfter. »Du warst ein beliebtes Mitglied der Meute, Reißzahn. Keiner hat besser gejagt und härter darum gekämpft, den Pakt zu erfüllen. Kehre zu uns zurück. Kehre zu uns zurück und schwöre der ungesunden Begierde ab.«
»Das werde ich nicht«, sagte er. »Meine Begierden sind natürlich und richtig.«
»Dann kann das hier nicht länger deine Heimat sein.«
»Nicht mit dir als Anführer.« Reißzahn spürte, wie sich seine Muskeln und Sehnen spannten. »Vielleicht bist du ja derjenige, der sich ändern sollte.«
»Nein, Reißzahn, du musst es.«
Reißzahn hob sein linkes Hinterbein, urinierte ausgiebig auf den Boden und markierte damit sein Gebiet.
»Komm von deinem Baum herunter«, sagte er. »Wir wollen sehen, wer für die Führung besser geeignet ist.«
»Das wäre eine armselige Probe, um die Tauglichkeit eines Führers zu bestimmen«, sagte Patriofelis.
Aus den umstehenden Bäumen ließ sich ein Dutzend der stärksten Feliden auf den Boden fallen. Sie umringten Reißzahn, um ihren Anführer zu schützen.
»Geh!«, schrie Patriofelis. »Such dir eine neue Heimat, möglichst weit weg!«
Reißzahn kauerte sich nieder und fletschte knurrend die Zähne. Und für einen Augenblick zögerten die anderen Feliden. Er kannte sie alle. Sie hatten zusammen gespielt, sich geputzt und gejagt, und einzeln war keiner von ihnen ihm gewachsen. Doch sie zögerten nur einen kurzen Moment, dann gingen sie auf ihn los. Er wurde zu Boden geworfen, gekratzt, geschlagen und getreten. Krallen zerfurchten ihm Bauch und Flanken, Zähne schlugen sich in sein Fleisch.
Er wälzte sich und kämpfte, rasend vor Zorn, dass sie so zahlreich waren. Und er hoffte, dass Panthera diese Erniedrigung nicht sah. Ihm war klar, dass er einen solchen Kampf nicht gewinnen konnte. Dann kam er schwankend auf die Beine und raste davon, drehte sich immer wieder um und fauchte und spuckte seine Verfolger an. Sie kamen für einen Kampf nicht dicht genug an ihn heran, rückten ihm aber langsam immer näher, zwangen ihn von der Meute fort.
Als sie dann von ihm abließen und er alleine war, humpelte er mit blutenden Wunden in den Wald. Sein Kopf brannte vor Schmerz und Wut.