Kapitel 7
Weg in die Zukunft
Dämmer wachte früh auf und seine Muskeln taten
so weh, dass er sich fragte, ob er wirklich zum Fliegen geschaffen
sei. Wenn er einatmete, pochte es heiß in seiner Brust und durch
seine Schultern zuckte ein Schmerz. Jede Bewegung der Segel ließ
ihn stöhnen. Er blieb ganz still liegen und hörte zu, wie die Vögel
ihre Morgengesänge anstimmten. Erst erklangen einzelne Töne durch
den Wald, die sich dann wie Echos vervielfachten.
Normalerweise erfüllte Dämmer
diese Musik mit einem Gefühl von Staunen und Wohlbehagen. Er
stellte sich dann immer vor, die Vögel würden den Tag besingen, um
die Sonne heraufzubeschwören. Doch an diesem Morgen fühlte er sich
schwer vor Sorgen.
Dabei sollte er doch glücklich
sein. Gestern waren er und Sylph vor den anderen zum Baum
zurückgekehrt und konnten sich wieder unter die Neugeborenen
mischen, ohne dass ihre Abwesenheit von der abgehetzten Bruba
überhaupt bemerkt worden war. Sie hatten ihr Abenteuer gehabt und
waren einer Bestrafung entgangen. Bis zum Abend waren nach und nach
alle Suchtrupps wieder zu der Lichtung zurückgekehrt und alle
brachten dieselbe Nachricht. Es gab keinerlei Anzeichen von
Sauriern oder Sauriernestern. Im Mammutbaum herrschte eine
fröhliche Stimmung. Dämmer war erleichtert, dass die Insel sicher
war, und erfreut darüber, dass sein Vater Nova bewiesen hatte, dass
sie im Unrecht war.
Aber nichts davon schien wirklich
wichtig zu sein.
Er konnte fliegen.
Dämmer schloss die Augen und
erinnerte sich an das aufregende Gefühl. Doch jetzt fühlte er sich
so unbeweglich wie ein Stein. Sollte er seinen Eltern erzählen,
dass er fliegen konnte? Oder musste er das sein ganzes Leben lang
verbergen? Er blickte hinüber zu seinem Vater und seiner Mutter,
die die Augen noch geschlossen hatten, und überlegte, was sie wohl
sagen würden.
»Komm schon«, sagte Sylph und
schob sich neben ihn. »Ich bin hungrig.«
Völlig steif folgte er seiner
Schwester. Als er sich in die Luft warf, musste er sich
zurückhalten, nicht zu flattern. Beim Entfalten der Segel stöhnte
er leise auf vor Schmerz, stellte sie fest und fing an zu jagen.
Sein Magen knurrte laut, doch er war lustlos.
»Geht es dir gut?«, frage Sylph,
als sich ihre Wege kreuzten.
»Nur Muskelkater«, murmelte
er.
Als die Sonne aufging, wurde es
auf der Lichtung belebter. Dämmer jagte ziemlich gelangweilt.
Irgendetwas schwelte hinter seiner Niedergeschlagenheit, und dann
wurde ihm klar, dass es Wut war. Jeder Muskel in Schultern und
Armen wollte flattern, und doch verweigerte er es sich selbst. Er
konnte fliegen, warum tat er es also nicht? Warum sollte er solche
Angst davor haben, das zu sein, was er war?
»Du wirst doch nicht irgendwelche
Dummheiten machen?«, fragte Sylph besorgt, während sie neben ihm
einherglitt.
Wütend schwenkte er ab.
Er versuchte, eine Sumpfmotte zu
fangen, verfehlte sie aber.
»Es läuft heute wohl nicht so gut,
was, Haarloser?«
Das kam von Jib, der über ihm
segelte.
Dämmer beachtete ihn gar nicht. Er
sah eine Libelle, wendete zu scharf und seine Beute schoss über
seinen Kopf hinweg.
Jibs höhnische Bemerkungen
prasselten wieder auf ihn ein.
»Ich zeig dir mal, wie das geht,
Haarloser«, sagte er und stürzte sich auf die Libelle.
Dämmer hielt es nicht mehr aus.
Seine Segel explodierten förmlich, er flatterte heftig, stieg auf
und legte sich zugleich in die Kurve, und sein Jagdschnalzen führte
ihn direkt zu der Libelle. Er schnappte sie aus der Luft, nur einen
winzigen Augenblick vor Jib.
»So«, schrie er, »macht man
das!«
Jib war so verblüfft, dass es
nicht einmal für einen entrüsteten Schrei ausreichte. Er taumelte
kurz durch die Luft, richtete sein Gleiten wieder aus und blickte
ungläubig zu Dämmer hoch.
Mit triumphierend klopfendem Herz
landete Dämmer auf einem Ast. Noch nie hatte eine Libelle besser
geschmeckt. Doch seine Freude war nur von kurzer Dauer. Ihm fiel
auf, dass alle Chiropter in der Nähe, einige gleitend, andere auf
den Ästen hockend, ihn anblickten. Sie starrten ihn an wie etwas
Fremdes, das vom Himmel gefallen war. Sylph kam schnell und setzte
sich neben ihn.
»Was hast du da bloß gemacht?«,
zischte sie. »Was ist denn jetzt mit dem Geheimhalten?«
»Ich … ich konnte nicht anders«,
sagte Dämmer.
Sylph, die sich noch nie gescheut
hatte, laut zu werden, zu streiten oder jemanden zu ärgern, sah
verschreckt aus.
»Das wird jetzt richtig übel«,
sagte sie.
Dämmers Hals war trocken und er
wäre fast an dem letzten Stück Libelle erstickt.
»Wie hast du das gemacht?«, hörte
er jemanden rufen.
»Er ist geflogen!«, schrie ein
anderer. »Ikarons Sohn ist geflogen.«
»Du bist geflogen!«, stieß Jib
hervor, während er den Baumstamm zu ihm hochkletterte. »Was für
eine Missgeburt bist du eigentlich?«
»Chiropter können nicht fliegen«,
stellte jemand anderes fest.
»Der hier schon. Ich hab ihn genau
gesehen. Er hat geflattert.«
»Er ist so eine Art Mutant!« Das
war wieder Jib, auf demselben Ast nun, mit einem unergründlichen
Blick, der in seinen Augen flackerte. War das Neid, Angst oder
Hass?
Immer mehr Chiropter sammelten
sich um ihn herum, was Dämmer nicht gefiel. Warum hatte er sich
nicht besser beherrscht? Der Fehler eines winzigen Augenblicks
würde ihm nun mehr Schwierigkeiten einbringen, als er sich
vorstellen konnte. Einige der Chiropter klangen weniger überrascht,
dafür umso wütender, und Dämmer bekam langsam Angst davor, was sie
vielleicht tun würden. Ein Schwall von Aggression zog an ihm
vorüber. Als er dann seinen Vater auf den Ast zugleiten sah, war er
doch sehr erleichtert.
»Was ist hier los?«, verlangte
Ikaron zu wissen, und seine Nasenflügel zuckten, als er die
unerfreuliche Stimmung witterte.
Die Chiropter auf dem Ast machten
ihm Platz, während sie alle durcheinandersprachen.
»Er hat geflattert!«
»Dämmer ist geflogen!«
»Wir haben es alle gesehen!«
»Er hat geflattert wie ein
Vogel!«
Qualvoll wartete Dämmer ab, bis
sein Vater näher gekommen war.
»Stimmt das?«, fragte
Ikaron.
Dämmer nickte.
So unglücklich er sich auch
fühlte, so war er doch erleichtert, dass sein Geheimnis nun
gelüftet war und ihn nicht länger belastete.
»Zeig es mir«, sagte Ikaron
schroff.
Dämmer schleppte sich gehorsam an
den Rand des Asts. Traurig erinnerte er sich daran, wie ihm sein
Vater das Gleiten beigebracht hatte, dann sprang er, entfaltete
seine Segel und erhob sich in die Luft. Er konnte das erschrockene
und verwunderte Raunen der Chiropter, die ihn beobachteten, unter
sich hören.
Einen Augenblick lang überlegte
er, noch höher zu fliegen und ganz zu verschwinden, damit er sich
nicht dem Zorn und der Schmach seines Vaters stellen müsste. Er
würde schon irgendwo einen neuen Ort finden, an dem er leben
könnte, und dann würde er wirklich sonderbar und stinkend und
verlaust werden. Doch es würde auch bedeuten, dass er seine Mutter
und seinen Vater, Sylph, sein Zuhause und alles, was er liebte,
zurücklassen müsste, und er wusste genau, dass er das niemals
machen würde. Er musste seinem Vater gegenübertreten. Er seufzte
tief auf, wendete und flog zurück, um wieder auf dem Ast zu
landen.
Den Blick auf seine Krallen
gesenkt, ging er zwischen den verstummten Chiroptern auf seinen
Vater zu.
»Wie lange kannst du das schon?«,
hörte er seinen Vater fragen.
»Gestern habe ich es
herausgefunden.«
Er wusste nicht genau, wie er
bestraft werden würde, doch er konnte sich vorstellen, dass die
Strafe sehr streng ausfallen könnte. Du bist kein Vogel. Du
flatterst nicht. Chiropter gleiten, sie fliegen nicht. Ob sie
ihn ausstoßen würden?
»Es tut mir leid«, murmelte
er.
»Ich finde das sehr
außergewöhnlich«, sagte sein Vater.
Ungläubig blickte Dämmer zu ihm
auf und sah, dass sein Gesicht weder Ärger noch Missbilligung
zeigte, sondern einfach nur Erstaunen. Die anderen Chiropter waren
plötzlich ganz still geworden und beobachteten ihren Anführer
gespannt.
»Findest du?«, fragte
Dämmer.
»Ehrlich?« Sylph war völlig
fassungslos.
»Breite deine Segel aus«, sagte
Ikaron zu Dämmer. »Lass mich dich mal ansehen.«
Dämmer tat, was ihm gesagt worden
war. Sein Vater kam näher und betrachtete schweigend die Unterseite
von Dämmers Segeln.
»Wenn du flatterst«, fragte
Ikaron, »woher kommt dann die Kraft?«
»Aus den Schultern und aus der
Brust, denke ich.«
Ikaron nickte. »Ja, ich sehe es.
Das ist hier. Deine Brust ist breiter und stärker als normal. Deine
Schultern auch. Die waren schon immer so. Seit deiner Geburt. Man
braucht eine Menge Muskeln, um mit seinen Segeln so schnell zu
flattern, wie du es tust.«
Dämmer konnte nicht anders, er
musste immer wieder zwischen Sylph und Jib hin- und herblicken.
Stärker als normal. Eine Menge Muskeln.
»Er kann doch nicht der Einzige
sein, der so was kann«, sagte Jib vorlaut.
»Versuch es doch«, schlug ihm
Ikaron vor. »Ich habe noch nie von einem anderen Chiropter gehört,
der fliegen kann. Ich glaube nicht, dass die Kraft unserer Muskeln
ausreicht.«
»Es muss noch andere geben«, sagte
Dämmer zu seinem Vater.
»Ich glaube nicht, Dämmer.« Ikaron
schüttelte den Kopf und betrachtete wieder die Segel seines Sohns.
»Es ist wirklich bemerkenswert. Als du bei deinem ersten Gleiten
geflattert hast, hatte ich ja noch keine Ahnung, überhaupt keine
Ahnung …«
»Es ist so ungerecht!«, seufzte
Sylph und kletterte den Baum hinauf.
Die anderen Chiropter fingen nun
auch an, sich zu zerstreuen, machten mit der Jagd weiter oder
putzten sich geschäftig.
Dämmer fing ein paar vorsichtige
Blicke auf und hörte einiges an Gemurmel, dass das alles nicht
richtig wäre und überhaupt, wer wollte denn schon fliegen wie ein
Vogel?
»Es ist also in Ordnung, wenn ich
fliege?«, fragte Dämmer.
»Warum nicht«, sagte sein Vater.
»Ich finde, das ist eine wunderbare Fähigkeit.«
Dämmer hatte immer noch
Schwierigkeiten damit, die Reaktion seines Vaters zu begreifen. Er
schien ernsthaft begeistert zu sein, und das half Dämmer, sich von
der zerstörerischen Angst zu befreien, die er empfunden
hatte.
»Pass aber auf, dass du unter dem
Oberen Holm bleibst«, erklärte ihm Ikaron. »Die Vögel würden einen
anderen Flieger in ihrem Gebiet bestimmt nicht willkommen
heißen.«
Den ganzen Morgen lang flog
Dämmer durch die Lichtung, stieß herab und stieg vergnügt wieder
auf. Ein berauschendes Gefühl von Freiheit erfüllte seinen neuen
Körper.
Überallhin. Er konnte überallhin
fliegen.
Er fing mehr Beute als je zuvor.
Er war jetzt so viel beweglicher. Und das Beste von allem: Er
musste nie mehr die erschöpfende Strecke den Baum zurück nach oben
klettern. Mitleidig sah er zu den anderen Chiroptern hinunter, die
sich den Stamm hochschleppten.
Er merkte allerdings, dass er
immer noch sehr schnell müde wurde. Zehn Minuten war die längste
Zeit, die er in der Luft bleiben konnte, dann brauchte er eine
ordentliche Pause. Doch seine Jagd war so viel ergiebiger, dass er
trotzdem immer noch Zeit sparte. Mit mehr Übung, da war er sich
sicher, würden seine Muskeln stärker und ausdauernder.
Die Neuigkeit, dass er fliegen
konnte, brauste schneller als ein Sturm durch die Kolonie. Immer
wieder sah er Neugeborene, einschließlich Jib, die verzweifelt
versuchten zu fliegen. Keiner von ihnen hatte auch nur im
Geringsten mehr Erfolg als Sylph, und als ihre Eltern das sahen,
wurden sie ärgerlich und befahlen ihnen, damit aufzuhören.
Am Mittag, als die Sonne am
hellsten schien und das Lied der Zikaden am lautesten schrillte,
fand Dämmer Sylph im Nest, wo sie im Schatten ruhte. Er ließ sich
neben ihr nieder und begann sich zu putzen. Sie bot nicht an, ihm
den Rücken zu kämmen.
»Weißt du, was mich am meisten
aufregt?«, sagte sie. »Wenn ich es gewesen wäre, die fliegen kann,
hätte mir Papa das nicht erlaubt.«
»Wie bitte?«
»Du weißt genau, dass das stimmt«,
sagte sie mit zuckenden Ohren. »Wenn ich das gewesen wäre, hätte er
nur wieder etwas darin gesehen, das ich falsch mache.«
»Sylph, das stimmt nicht. Es wäre
genau dasselbe gewesen.«
Sie drehte sich zu ihm um und
Dämmer war erschrocken über die Verachtung in ihren Augen.
»Denke, was du willst«, sagte sie.
»Aber das ändert nichts daran, dass es stimmt.«
Sie glitt in die Lichtung
hinaus.
Dämmer blickte ihr hinterher, erst
verletzt, dann ärgerlich. Sie war schlicht und ergreifend
eifersüchtig.
Doch das, was sie gesagt hatte,
ging ihm den ganzen Nachmittag nicht aus dem Sinn, und er fragte
sich, ob etwas Wahres dran war. Wäre sein Vater mit Sylph so
überraschend großzügig gewesen? Machte sein Vater speziell für ihn
eine besondere Ausnahme?
Wenn er durch die Lichtung flog,
starrte ihn jeder an. Die Blicke waren nicht alle nur freundlich.
Auch wenn manche Augen groß vor Verwunderung waren, so hatten
andere sie doch argwöhnisch geschlossen. Er mochte es nicht, wenn
so viele Augen auf ihn gerichtet waren. Das machte ihn verlegen.
Sylph wäre da anders gewesen, sie hätte die ganze Aufmerksamkeit
genossen. Es wäre unmöglich gewesen, sie aus der Luft zu
bekommen.
»Geh mir aus dem Weg!«, schnauzte
ein Chiropter, als Dämmer steil aufstieg, um eine Florfliege zu
verfolgen.
»Entschuldigung«, sagte Dämmer und
schwenkte zur Seite, bevor er nach oben schoss, um seine Beute
abzufangen.
»Das war meine!«, rief sein Bruder
Südwind ärgerlich.
»Entschuldigung«, sagte Dämmer.
»Ich hab dich nicht gesehen.«
»Dann pass besser auf! Und
überhaupt, du kannst die Beute nicht von unten fangen. So geht das
nicht. Damit stiehlst du jemand anderem das Essen. Arbeite von
oben, wie wir alle.«
Dämmer entschuldigte sich noch
einmal, doch er hatte bestimmt nicht die Absicht, Beute nur von
oben zu schnappen. Was würde das Fliegen sonst für einen Sinn
machen? Allerdings konnte er auch verstehen, wie aufreizend es sein
musste, wenn einem ständig die Insekten von einem, der von unten
kam, weggeschnappt wurden.
Vielleicht sollte er sich seine
Nahrung außerhalb des eigentlichen Hauptjagdgebiets suchen. Da war
es viel weniger belebt und er wäre nicht ständig jemandem im Weg.
Er seufzte. Sylph war schon böse auf ihn, und wenn er nicht ganz
besonders vorsichtig war, würde sie nicht die Einzige in der
Kolonie bleiben.
In der Nacht wachte er von den
leisen Stimmen seiner Eltern auf. Sie waren auf dem Ast ein Stück
nach außen gerückt, doch Dämmer konnte sie klar verstehen, wenn er
die Ohren gut spitzte. Sylph neben ihm schlief tief. Sein Magen
prickelte: Wenn seine Eltern sich mitten in der Nacht zurückzogen,
um sich alleine zu unterhalten, dann musste es sich um etwas
Wichtiges handeln.
»Du weißt, was mit ihm damals auf
dem Festland geschehen wäre?«, fragte seine Mutter.
»Das weiß ich sehr gut. Die
Kolonie hätte ihn ausgestoßen.«
»Oder ihn getötet«, fügte seine
Mutter hinzu.
Dämmer wurde ganz kalt vor Angst.
Sie sprachen über ihn! Er befürchtete, die Eltern könnten sein
nervöses Atmen hören.
»Deshalb habe ich der Kolonie
deutlich gezeigt, dass ich ihn ganz und gar akzeptiere«, sagte sein
Vater. »Wenn sie merken, dass er die Anerkennung des Anführers hat,
werden sie ihn auch anerkennen. Wir müssen ihn schützen,
Mistral.«
»Bei unseren Erstgeborenen wärst
du nicht so duldsam gewesen. Du hättest es ihnen verboten.«
Ikaron klang belustigt.
»Vielleicht, aber die Jahre voll Frieden und Überfluss haben mich
sanfter werden lassen. Und außerdem ist das wirklich eine
erstaunliche Sache, Mistral. Das musst du zugeben.«
»Andere werden das nicht so
freundlich bewerten«, antwortete seine Mutter. »Einige dürften
neidisch sein, die meisten aber werden ihn einfach als Missgeburt
ansehen.« Dämmer hörte, wie seine Mutter seufzte. »Er wird
Schwierigkeiten haben, eine Gefährtin zu finden.«
Dämmer entspannte sich ein
bisschen. Machte sich seine Mutter nur darüber Sorgen? Er war nicht
im Geringsten beunruhigt. Die meisten Chiropter fanden ihre
Gefährtin erst in ihrem zweiten oder dritten Jahr. Außerdem hatte
er daran gar kein Interesse. Das wäre keine solche Tragödie, wenn
er niemals eine Gefährtin fände. Er hatte seine Mutter, seinen
Vater und Sylph – obwohl Sylph wahrscheinlich fortginge, um mit
ihrem Gefährten zu leben, sobald es an der Zeit war.
»Er sieht nun mal sehr seltsam
aus«, sagte seine Mutter traurig. »Ich liebe ihn, und es sollte
keine Rolle spielen, doch wenn ich ihn so ansehe, sieht er einfach
nicht so aus wie meine anderen Kinder. Es ist, als würde er zu
irgendeiner anderen Art gehören.«
Dämmer wusste nicht, ob er
überhaupt noch mehr hören wollte, doch er musste einfach
weiterlauschen.
»Er ist unser Kind, genau wie die
anderen auch«, sagte Ikaron sanft. »Und er hat etwas, das niemand
von uns sonst hat. Er kann schneller jagen, den Wald wirkungsvoller
absuchen, hoch fliegen und die Welt um uns herum besser
beschreiben. Er kann jeden Feind, der sich nähert, schon aus der
Entfernung sehen und uns warnen. Macht ihn das etwa nicht zu einem
begehrenswerten Gefährten?«
»Ja, natürlich. Aber manchmal ist
es nicht gut, sich zu sehr von den anderen zu unterscheiden. Wir
werden von Wesen angezogen, die so sind wie wir selbst. So ist das
nun einmal.«
»Ich habe dich ja auch als meine
Gefährtin gewählt«, sagte Ikaron.
»Ja, aber meine Andersartigkeit
ist nicht sichtbar.«
Dämmer reckte die Ohren noch
höher. Worüber sprach seine Mutter?
»Alle können Dämmers
Andersartigkeit deutlich sehen«, fuhr seine Mutter fort. »Aber du
bist der Einzige, der von meiner weiß. Und du warst einverstanden,
dass es das Beste wäre, es geheim zu halten.«
Dämmer hörte, wie sein Vater
seufzte. »Vielleicht war das falsch. Wieso sollte es eine Schande
sein, bei Nacht sehen zu können?«
»Ich kann das auch!«, brach es aus
Dämmer heraus, bevor er es unterdrücken konnte. Er krabbelte auf
seine bestürzten Eltern zu.
Sehr viel leiser sagte er dann:
»Ich kann auch im Dunkeln sehen.«
»Das kannst du?«, fragte seine
Mutter schwach.
Dämmer nickte. »Mit meinem
Jagdschnalzen. Damit kann ich alles sehen. Ist das bei dir
genauso?«
»Ja«, sagte sie mit einem leisen
Lachen. Dann runzelte sie die Stirn. »Wie viel hast du
gehört?«
»Ein bisschen«, sagte er
verlegen.
Sie kam zu ihm und drückte sich an
ihn. »Ich habe dich genauso lieb wie meine anderen Kinder. Es tut
mir leid, wenn es anders geklungen hat. Und jetzt höre ich, dass
wir sogar noch mehr gemeinsam haben. Echosehen.«
»So nennst du das?«
»Warum hast du uns das nicht
früher gesagt?«, fragte sein Vater.
»Ich hab Angst gehabt, ihr würdet
euch für mich schämen«, sagte Dämmer. »Weil ich doch schon anders
genug war.«
»Wir haben uns nie für dich
geschämt«, sagte seine Mutter. »Ich hab einfach nur gewollt, dass
du die besten Möglichkeiten hast. Deshalb habe ich gedacht, manche
Dinge sollten lieber geheim bleiben.«
»Aber du hast Papa von deinem
Echosehen erzählt.«
»Aber nur ihm.«
»Das war ein Riesenvorteil für
eine Saurierjägerin«, sagte Ikaron. »Deine Mutter konnte auf
größere Entfernungen sehen und auch bei Nacht. Die Saurier sehen
ziemlich schlecht, vor allem im Dunkeln. Deine Mutter konnte uns
direkt zu den Nestern führen, ohne bemerkt zu werden.«
Dämmer betrachtete seine Mutter
mit gesteigerter Bewunderung – und auch mit Erleichterung. Er war
mit seiner seltsamen Begabung wenigstens nicht alleine.
»Warum können wir das?«, fragte
er.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht
hatte mein Vater oder meine Mutter dieselbe Fähigkeit. Aber sie
haben nie darüber gesprochen. Und ich habe mich ihnen nie
anvertraut.«
»Hast du Angst gehabt, dass du
gemieden wirst?«
»Ja.«
»Aber vielleicht gibt es noch
andere, die das können?«, fragte Dämmer hoffnungsvoll. »Die bloß
Angst haben, es zu sagen, genau wie wir auch.«
»Das kann schon sein«, meinte
Ikaron.
»Es wäre besser, wenn jeder
einfach alles sagen würde«, sprudelte es aus Dämmer heraus. »Dann
müsste niemand mehr Angst haben, anders zu sein.«
Mistral nickte bedrückt. »Der
Drang, so zu sein wie die anderen, ist sehr stark. Er durchströmt
unsere Adern zusammen mit unserem Blut.«
»Aber es ist wohl auch so«, sagte
Ikaron, »dass in jedem von uns der Samen gelegt ist für eine
Veränderung. Wann und warum er aufgeht, weiß niemand.«
Dämmer starrte hinaus in die
Dunkelheit der Lichtung. Er war etwas verwirrt von all den neuen
Dingen, die er gerade erfahren hatte. Für den Moment reichte es
ihm. Ein bisschen wünschte er sogar, er könnte in der Zeit so weit
zurückgleiten, bevor der Saurier in ihre Welt abgestürzt war. Doch
viel mehr erregte ihn sein neues Selbst mit all seinen
Möglichkeiten.
»Ich hatte Angst, ich könnte ein
Saurier sein«, gestand er verlegen.
»Aber doch nicht im Ernst,
Dämmer?«, fragte seine Mutter bestürzt.
»Nur ein bisschen«, sagte er
verlegen. »Meine Segel. Die sind wie die Saurierflügel. Ohne Haare.
Und wir können beide fliegen.«
»Ich habe zugesehen, wie du
geboren worden bist«, sagte sein Vater liebevoll. »Und ich kann dir
versichern, dass du nicht aus einem Ei geschlüpft bist.«
»Bist du sicher, dass es keinen in
unserer Familie gegeben hat, der mal geflogen ist?«, fragte
Dämmer.
»Du bist der Erste«, sagte ihm
Mistral.
»Aber vielleicht nicht der
Letzte«, sagte Ikaron. »Wer kann schon sagen, ob nicht eines Tages
alle Chiropter fliegen und bei Nacht sehen können? Vielleicht bist
du ein Vorbote.«
»Jetzt setz ihm mal keine Flausen
in den Kopf«, schimpfte Mistral ihren Gefährten. »Fürs Erste sollte
er sein Echosehen geheim halten.«
»Sylph weiß es«, gestand
Dämmer.
»Aha, dann hoffen wir mal, dass
sie es für sich behält. Um das Fliegen zu verschweigen, ist es
eindeutig zu spät. Ich habe noch immer Sorge, dass die anderen dich
deshalb meiden werden.«
»Das werde ich nicht dulden«,
sagte Ikaron mit fester Stimme. »Nicht weil ich der Anführer bin,
sondern weil wir keine Angst davor haben sollten, dass einer von
uns anders ist. Diese ganze Kolonie besteht nur deshalb, weil sich
eine kleine Gruppe von uns getraut hat, anders zu sein. Vor zwanzig
Jahren haben wir den Pakt gebrochen und haben uns nicht nur gegen
unsere eigene Kolonie, sondern gegen das gesamte Bündnis der Tiere
gestellt. Manchmal kann uns unser Anderssein auch stark machen und
uns in eine bessere Zukunft führen.«
Reißzahn kehrte mit hoch
erhobenem Haupt zur Meute zurück. Er schämte sich nicht, er würde
nicht wie irgendein in Ungnade gefallenes Tier angeschlichen
kommen.
Zwei Tage lang war er
fortgeblieben, tief im Wald, unsicher darüber, was er tun sollte.
Hatte Panthera sein Geheimnis preisgegeben? Tobte Patriofelis
bereits? Er überlegte, ob er fliehen und sich neue Jagdgründe
suchen sollte, doch das käme viel zu sehr einem Eingeständnis von
Schuld gleich, einer Niederlage. Und er hatte nichts Unrechtes
getan.
Als er sich dem Giftholzbaum, dem
Zentrum der Meute, näherte, hatte die Sonne fast ihren höchsten
Stand erreicht. Träge lagen die Feliden nach ihrem Morgenmahl da
und beobachteten ihn vom Boden aus und von den Ästen. Diesmal
fehlte ihren Blicken der Kitzel der Bewunderung, und sie vermieden
es, ihm in die Augen zu sehen. Er nahm den Geruch ihrer
angespannten Abneigung auf.
Sie wussten es.
Sein Schritt stockte, als er
Panthera entdeckte, die auf ihn zuging. Sein Herz schlug schneller.
Sie hielt nicht an, um mit ihm zu sprechen, doch im Vorbeigehen
flüsterte sie: »Ich hab ihnen nichts verraten. Andere haben dich
gesehen und es Patriofelis berichtet. Ich möchte, dass du das
weißt.«
Sie ging weiter, ohne auch nur
einmal zurückzublicken.
Reißzahn war innerlich gerüstet,
als er den Giftholzbaum erreichte und Patriofelis auf einem der
unteren Äste ausgestreckt liegen sah. Als der Anführer Reißzahn
erblickte, stand er auf, ließ sich aber nicht dazu herab, ihn zu
grüßen.
»Du kommst zu uns zurück«, sagte
der Anführer der Feliden.
»Ja.«
»Und stimmt das, was wir gehört
haben?«, wollte Patriofelis wissen.
»Es stimmt«, bestätigte Reißzahn
mit fester Stimme.
»Du hast ein Mitgeschöpf getötet.
Hast du keine Gewissensbisse?«
»Wir töten die ganze Zeit. Maden
und Insekten.«
»Die sind unwichtig. Sie haben
kein Gefühl.«
»Sie zucken zusammen, wenn wir sie
töten. Sie wollen auch leben. Wir respektieren das nur
nicht.«
Patriofelis schnaubte ungeduldig,
völlig unbeeindruckt von Reißzahns Argumenten. »Du hast ein anderes
Tier getötet. Das ist nicht der Lauf der Dinge!«
»Die Saurier haben uns gefressen.
Wir müssen andere fressen, wenn wir überleben wollen.«
»Das hast du schon einmal gesagt.«
Patriofelis ging auf seinem Ast im Giftholzbaum auf und ab. »Das
würde die Ordnung unserer ganzen Welt zerstören. Wenn wir uns alle
gegenseitig jagen würden, gäbe es mehr Blutvergießen als zu der
Zeit, in der die Saurier uns als Beute jagten.«
»So sollte es aber sein«, sagte
Reißzahn.
»Nein. Ich verbiete es.« Dann
wurde die Stimme des Anführers für einen Augenblick sanfter. »Du
warst ein beliebtes Mitglied der Meute, Reißzahn. Keiner hat besser
gejagt und härter darum gekämpft, den Pakt zu erfüllen. Kehre zu
uns zurück. Kehre zu uns zurück und schwöre der ungesunden Begierde
ab.«
»Das werde ich nicht«, sagte er.
»Meine Begierden sind natürlich und richtig.«
»Dann kann das hier nicht länger
deine Heimat sein.«
»Nicht mit dir als Anführer.«
Reißzahn spürte, wie sich seine Muskeln und Sehnen spannten.
»Vielleicht bist du ja derjenige, der sich ändern sollte.«
»Nein, Reißzahn, du musst
es.«
Reißzahn hob sein linkes
Hinterbein, urinierte ausgiebig auf den Boden und markierte damit
sein Gebiet.
»Komm von deinem Baum herunter«,
sagte er. »Wir wollen sehen, wer für die Führung besser geeignet
ist.«
»Das wäre eine armselige Probe, um
die Tauglichkeit eines Führers zu bestimmen«, sagte
Patriofelis.
Aus den umstehenden Bäumen ließ
sich ein Dutzend der stärksten Feliden auf den Boden fallen. Sie
umringten Reißzahn, um ihren Anführer zu schützen.
»Geh!«, schrie Patriofelis. »Such
dir eine neue Heimat, möglichst weit weg!«
Reißzahn kauerte sich nieder und
fletschte knurrend die Zähne. Und für einen Augenblick zögerten die
anderen Feliden. Er kannte sie alle. Sie hatten zusammen gespielt,
sich geputzt und gejagt, und einzeln war keiner von ihnen ihm
gewachsen. Doch sie zögerten nur einen kurzen Moment, dann gingen
sie auf ihn los. Er wurde zu Boden geworfen, gekratzt, geschlagen
und getreten. Krallen zerfurchten ihm Bauch und Flanken, Zähne
schlugen sich in sein Fleisch.
Er wälzte sich und kämpfte, rasend
vor Zorn, dass sie so zahlreich waren. Und er hoffte, dass Panthera
diese Erniedrigung nicht sah. Ihm war klar, dass er einen solchen
Kampf nicht gewinnen konnte. Dann kam er schwankend auf die Beine
und raste davon, drehte sich immer wieder um und fauchte und
spuckte seine Verfolger an. Sie kamen für einen Kampf nicht dicht
genug an ihn heran, rückten ihm aber langsam immer näher, zwangen
ihn von der Meute fort.
Als sie dann von ihm abließen und
er alleine war, humpelte er mit blutenden Wunden in den Wald. Sein
Kopf brannte vor Schmerz und Wut.