Neugierig geworden?

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Annemarie Schoenle

Frühstück zu viert

Roman

1. KAPITEL

Bevor Judith Uhland den Brief des Jugendamtes Ulm öffnete, schob sie Huberts Bild, das in einem kleinen Silberrahmen auf ihrem Schreibtisch stand, zwischen ihre Unterwäsche. Natürlich war dies eine kindische Reaktion, aber jedem Menschen standen schließlich Reaktionen, welcher Art auch immer, zu, befand Judith. Und da sie genau zu wissen glaubte, was Hubert über sie und ihr neuestes Vorhaben dachte, und da sie, albern wie sie nun mal war, fast befürchten musste, sein strenger Gesichtsausdruck könne noch um eine Spur strenger und die hellen blauen Augen noch ein wenig heller werden, legte sie ihren silbergerahmten Freund und Verlobten in spe liebevoll auf ihren neuesten Spitzenunterrock und hoffte sehr, ihre etwas dezente Rücksichtnahme möge ihn milder stimmen.

Dann riss sie den Brief auf. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, während sie das Formular entfaltete und es eilig überflog. Mein Gott, ja. Ja, sie hatte es geschafft: Ihr, Judith Uhland, Schwester und Schwägerin der verstorbenen Eheleute Margareth und Philip Berger, wurde die Pflegschaft für die Kinder Claudia, Stephanie und Oliver Berger zuerkannt, und Lilli, die Großmutter der drei, sollte Vormund werden. Judith starrte aus dem Fenster, ohne etwas zu sehen, und bekam einen trockenen Mund. Die Flasche Sekt im Kühlschrank, von Hubert bereits seit einem halben Jahr für eine geheimnisvoll angekündigte Gelegenheit aufbewahrt, fiel ihr ein.

Ich werde Mutter, dachte sie ergriffen. Dreifache herrliche wunderbare vierzigjährige Mutter. Sie würde einen Mittagstisch decken und einen Abendbrottisch, würde Schokoladenpudding kochen und Strümpfe stopfen, mit dem kleinen Oliver in den Zoo gehen, Claudias junge Verehrer bewirten, Steffi bei den Schulaufgaben helfen und nie mehr alleine frühstücken. Ihr Mund war nun so trocken, dass er dringend des prickelnden Sektes bedurfte, so viel war klar, und während sie hastig die Flasche entkorkte und ein hohes Sektglas aus dem Schrank holte, sah sie ihre sonnige kleine Küche vor sich, mit dem runden Eichentisch und dem bunten Tischtuch, mit drei Kindern, die leuchtenden Blicks vor bauchigen Kakaotassen saßen, während sie einen Kuchen rührte, sich eine Locke aus der Stirn strich und dazwischen ermahnte, ordentlich zu essen.

»Lilli«, jubelte sie. »Stell dir vor … oh, stell dir doch bloß vor …« Sie riss sämtliche Türen auf, stürmte ins Freie und die Außentreppe empor.

Aber Lilli war nicht da. Judith spähte ungeduldig durch einen Vorhang und bemerkte lediglich Papagei Cäsar, der sie böse aus halbgeöffneten Augen musterte und zu kreischen begann.

»Mutter?« Judith beugte sich über das hohe Holzgeländer. Aber nein, Lilli war auch nicht im Garten.

Ich muss einen größeren Terrassentisch kaufen, dachte sie plötzlich. Und dort, neben den Erdbeerstauden, wollte sie eine Schaukel für Oliver aufstellen. Sie lächelte. Immer, wenn sie das kleine Stückchen Land betrachtete, das sie zwar laienhaft, aber dafür mit sehr viel Liebe und Hingabe pflegte, wurde sie so froh und glücklich, als sei sie eine texanische Großgrundbesitzerin, deren stolzer Blick von Scholle zu Scholle des riesigen Besitztums wanderte. Sie würde Vater ewig dankbar sein, dass er, in kluger Voraussicht, sie zur Erbin des alten efeubewachsenen Hexenhauses bestimmt hatte und seiner Frau Lilli lediglich das Wohnrecht in der separaten Wohnung zugesprochen wurde, dafür aber mit kräftigem Kapitalausgleich. Denn Lilli hielt nicht viel von dem Haus, das zwar Charakter und Charme besaß, aber keinerlei Komfort bot.

»Charakter und Charme … Ich kann es nicht sonderlich charmant finden, mir im Badezimmer an allen Ecken und Enden den Kopf anzustoßen. Und die knarrenden Holztreppen finde ich ausgesprochen charakterlos.«

»Aber Mutter. Dafür haben wir den schönen Garten.«

Doch zu Gartenarbeit ließ Lilli sich nur herab, wenn Nachbar Petersen, ein rüstiger Witwer Ende Fünfzig, sich auf seiner Sonnenliege räkelte und ihr begehrliche Blicke zuwarf. Dann allerdings zog sie das Großgeblümte an, setzte einen Strohhut mit breiter Krempe auf, kramte alte Ballhandschuhe hervor und beschnitt die Rosenhecken so kokettierend und anmutig, als sei sie die bezaubernde Joséphine Bonaparte auf Malmaison und Nachbar Petersen ein beträchtlich aufgeschossener Napoleon.

Judith setzte sich unschlüssig auf den Treppenabsatz. Es war ein heißer Augusttag. Margeriten und Phlox leuchteten in sommerlicher Pracht, eine blaue Clematis rankte sich um das Blumengitter, Astern und Dahlien nickten mit den Köpfen, und die Sonnenblumen standen schwer und träge da. Ein Erntetag, dachte Judith. Ein Tag, an dem man bereits den Herbst erahnte.

Sie sprang auf. Nun gut. Wenn Mutter nicht da war, so würde eben Hubert der Erste sein, dem sie die frohe Botschaft brachte. Sie lief, zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, zurück in ihre Wohnung, schenkte sich abermals Sekt nach und leerte das Glas in einem Zug. »Prost, Mutter Judith«, sagte sie feierlich. Dann lachte sie übermütig. War wirklich gut, dieser Sekt. Für welche Gelegenheit er wohl gedacht war? Für Huberts Heiratsantrag, den die ganze Familie bereits seit fünf Jahren, mit angehaltenem Atem, sozusagen, erwartete und mit dem er sich zierte wie ein reicher Erbonkel mit seinem Hinscheiden? Tja. Sie war eben lange Zeit geprüft und immer noch nicht für gut befunden worden. Die Frage war nur: Wollte sie Hubert überhaupt heiraten? Eigentlich bezeichnend, dass dies nie zur Debatte gestanden hatte. Man war der Ansicht, es sei für sie, Judith Uhland, eine außerordentliche Ehre, Herrn Regierungsrat Ellert zu ehelichen, obwohl sie doch eine so mittelmäßige Person war. Eine mittelmäßige Person … War sie das wirklich?

Sie seufzte und griff zum Telefon.

»Hallo, Hubert. Die liebe Judith ist am Apparat. Wie geht’s?« Während sie sprach, betrachtete sie sich im Garderobenspiegel. Ihr schmales Gesicht war freudig gerötet, und ihre Augen, die wie graues Rauchglas wirkten und von einem Kranz dichter schwarzer Wimpern umgeben waren, strahlten. »Judith? Was ist los? Du klingst so aufgeregt.«

»Bin ich auch. Ich bin so kribbelig wie ein Haufen Ameisen. Ich habe nämlich Nachricht bekommen.«

»Nachricht von wem und Nachricht worüber?«

Judith blickte abermals in den Spiegel und schnitt eine Grimasse. Typisch, dachte sie. Typisch Hubert. Sprach immer, als diktiere er einen langweiligen Schriftsatz: »… und bitten wir Sie umgehend um Nachricht, von wem diesbezügliche Nachricht nachrichtlich zu benachrichtigen sei …«

»Hubert! Was interessiert mich zurzeit wohl am meisten? Und wofür habe ich am meisten gekämpft? Mit all meinen Anträgen und Briefen und den Besprechungen im Jugendamt Ulm und den Telefonaten? Na?«

»Du meinst deinen Antrag auf Pflegschaft?« Huberts Stimme rastete ein wie das kleine quietschende Gartentor vor Judiths Häuschen.

»Ja, meinen Antrag auf Pflegschaft. Er ist angenommen. Hubert, stell’ dir vor, er ist angenommen, angenommen, angenommen. Und ich sitze hier, habe deinen besonderen Gelegenheitssekt geköpft und kriege schon ganz glasige Augen. Du musst unbedingt im Amt Schluss machen und zu mir kommen. Wir wollen feiern. Bitte, Hubert!«

»Ob es für mich ein Grund zu feiern ist, wenn du plötzlich drei Kinder am Hals …«

»Hubert!«

»… wenn du plötzlich die Sorge für drei Kinder zu tragen hast; bleibt dahingestellt. Du weißt ja. Unsere Ansichten liegen in diesem Falle weit auseinander. Doch auf mich hast du leider, leider keine Rücksicht genommen bei deinem einsamen Entschluss.«

Die Gartentorstimme schnappte noch ein wenig fester ein. »Mein lieber Hubert. Wenn deine Schwester und ihr Mann bei einem Badeunfall ums Leben gekommen wären, und drei Kinder gehabt hätten, dann hättest du das Gleiche getan, da bin ich ganz sicher. Ich weiß, es wäre Margareths Wunsch gewesen, dass die Kinder zu mir und Lilli kommen. Schließlich sind wir die nächsten Verwandten. Und wir haben Platz. Ich wohne hier mietfrei, arbeite nur halbtags, wir haben einen Garten, ein Gymnasium ist in der Nähe … was will man mehr?«

»Ja, was will man mehr?«, wiederholte Hubert spöttisch.

»Außerdem war es von vornherein klar, dass die Drei nicht bei Onkel Konrad und Tante Anna in Ulm bleiben können. Die beiden haben bis zum Ende des Schuljahres ihre Gastfreundschaft angeboten, mehr nicht. Und sie sind zu alt. Ich bitte dich. Konrad ist sechzig und Anna fünfundfünfzig.«

»Und ich werde im Herbst achtundvierzig«, antwortete Hubert pikiert. »Ich hoffe, ich bin dir nicht auch zu alt.«

»Aber Hubert … du weißt doch, wie ich’s meine. Und … na ja. Anna und Konrad waren bestimmt schon als Säuglinge betagt, musst du doch zugeben. Die sind einfach kein Umgang für quicklebendige Kinder wie Steffi und Oliver. Von Claudia ganz zu schweigen. Eine Siebzehnjährige! Da werde ich sogar Schwierigkeiten haben, zurechtzukommen.«

»Du wirst in der Tat eine Menge Schwierigkeiten haben. Du vergisst, dass du genauso wenig Erfahrung hast wie Anna und Konrad. Ich weiß überhaupt nicht, woher du deine Selbstsicherheit nimmst.«

Judith schwieg verärgert. Es war immer das Gleiche! Nichts als grauer Pessimismus. Wieder starrte sie in den Spiegel. Ihr Haar sah verheerend aus, mittelbraun, langweilig, ohne jeden Schnitt. Schon möglich, dass ihr nie mehr ein anderer Mann Avancen machen würde. Aber egal. Sie war jetzt dreifache Mutter, und wenn diese Tatsache auch ihren Heiratschancen gewiss mehr als abträglich war – wer sagte eigentlich, dass sie unbedingt heiraten musste? Und dass es unbedingt ein absolut berauschendes Ereignis war, Hubert zu heiraten? Einen Mann, der in sakraler Feierlichkeit eine Flasche Sekt in ihrem Kühlschrank deponierte und sich dann beharrlich ausschwieg. Und dessen Antrag bestimmt schriftlich kam, mit fünffachem Durchschlag und der dringenden Bitte, ein Exemplar umgehend und gegengezeichnet an den Antragsteller zurückzusenden.

»Judith? Was ist los? Bist du noch dran oder schwebst du schon im siebten Mutterhimmel?«

»Kommst du jetzt feiern oder nicht?«

»Nein, ich komme nicht feiern. Aber ich lade dich zum Abendessen ein. Um sieben Uhr beim ›Alten Wirt‹.«

»Na gut«, meinte sie seufzend. »Um sieben Uhr beim ›Alten Wirt‹. Obwohl … ich meine, angesichts der Besonderheit des Tages, lieber Hubert, wäre es vielleicht ausnahmsweise angebracht, den Tagungsort in ein schickes italienisches Restaurant … nein? Okay. Nein.« Sie schnitt abermals eine Grimasse und legte auf.

Als Konrad und Anna Dehler die Kopie des Bescheides vom Jugendamt Ulm erhielten, atmeten sie erleichtert auf. Sie hatten damals, vor einem halben Jahr, getragen von dem edlen Gefühl, drei über Nacht zu Waisen gewordenen Kindern vorübergehend Heim und Schutz zu gewähren, geradezu kategorisch darauf bestanden, ihre Gastfreundschaft anzubieten, bis eine geeignete Lösung gefunden sei.

Doch bald schon und ohne es sich jemals einzugestehen, hatten sie es bitter bereut. Anna, die Schwester Lilli Uhlands, ein mütterlicher, molliger Typ mit roten Backen und flinken Augen, merkte sehr schnell, dass sie, die bis dahin kinderlos war, überhaupt nicht wusste, wie sie mit Claudia, Steffi und Oliver umgehen sollte.

Und auch Konrad benahm sich so hilflos wie ein Fisch auf dem Trockenen. Obwohl es ihn natürlich weniger betraf. Er stand den ganzen Tag im Laden, bediente die Kunden und sah diese Rasselbande nur abends. Und selbst da hatte er schon nach kürzester Zeit die Nase voll. Aber sie?

Sie hatte sich weder an den schnoddrigen Ton noch an die unmögliche Kleidung und die schlechten Manieren der drei gewöhnen können. Margareth hatte die Kinder einfach zu sehr verwöhnt … Immer öfter schüttelte Anna den Kopf, räumte Claudias nachlässig über einen Stuhl geworfene Kleider in den Schrank, ertrug Steffis freche Antworten und sah nach Oliver, der vorwiegend in düsteren Ecken hockte, in seinen Büchern schmökerte und so zugänglich war wie die Festung von Alcázar.

Doch nun war es vorbei. Es war August, und Ende des Monats würden Claudia, Steffi und Oliver nach München reisen. Koffer und Kisten standen zum Teil bereits gepackt, eingelagerte Möbelstücke würden noch diese Woche auf den Weg gebracht werden, und sie und Konrad konnten schon sehr bald wieder zu ihrem ruhigen, beschaulichen Leben früherer Tage zurückkehren. Obwohl … um den kleinen Oliver tat es Anna ein wenig leid. Denn abgesehen von seiner beständigen, traumverlorenen Schmökerei in Büchern war er ein lieber Junge, ernst, ordentlich, nie laut und wenn auch schwer zugänglich, so doch der höflichste. Er hatte bei Anna großmütterliche Gefühle geweckt, ihr kleine Botengänge abgenommen, den Abfall zur Tonne getragen und sogar die Nachbarn gegrüßt. Wenn er bei ihr bliebe … Doch auch darüber sprach sie nicht mit Konrad. Ein Esser mehr … Konrad war geizig, so geizig, dass er Anna sogar nötigte, mit bröseligen Fertigsuppen, Konserven und allerlei unverkäuflichen verstaubten Ladenhütern den Küchenzettel höchst fragwürdig zu bereichern.

»Drei Wochen Buchstabensuppe«, hatte Steffi erst gestern bemerkt. »Das macht aus jedem Analphabeten ein Genie.«

»Woanders hungern die Menschen.«

»Dann schick denen eine Ladung deiner Nudeln. Und wir machen uns an den frischen Schinken.«

Anna nahm den Brief des Jugendamtes, ging ins Wohnzimmer und sah, wie Claudia und Steffi am Boden vor dem Fernsehapparat saßen und kichernd einen Liebesfilm anschauten. Auf dem Bildschirm näherte sich der Held gerade männlich-charmant auf der Couch der Heldin und beabsichtigte ganz offensichtlich, weitere Maßnahmen zu ergreifen.

»Kinder. Das ist doch kein Film für euch.«

Claudia lachte. »Aber Tantchen. Ist doch nichts passiert. Wird auch nichts passieren. Sieh mal. Zuerst wird er sie küssen …«

»Macht er schon«, feixte Steffi.

»Und dann wird er, wenn überhaupt, mit leicht feuchten Augen seine Krawatte ablegen und die Kamera wird, schwenk-schwenk, den Rosenstrauß ins Visier nehmen und langsam ausblenden.«

»Der Film ist nämlich von neunzehnhundertsechzig«, bemerkte Steffi.

»Na und?«

»Neunzehnhundertsechzig blendete man nach der Küsserei und dem Rosenstrauß aus.«

»Aha. Und heute?«

»Auch nach der Küsserei und beim Rosenstrauß.«

»Was ist dann der Unterschied?«

»Damals war’s der Rosenstrauß mit furchtbar viel Gefiedel und Klavier im Hintergrund. Heute steht der Rosenstrauß vor einem Spiegel, und im Spiegel sieht man …«

»Ich habe Nachricht vom Jugendamt«, sagte Anna hastig. Sie wusste schließlich, was man alles in einem Spiegel sah. »Eine gute Nachricht. Tante Judiths Antrag wurde genehmigt. Ihr könnt Ende des Monats abreisen.«

Claudia und Steffi schwiegen.

»Ihr werdet euch mit Judith gut verstehen. Und München ist wirklich eine schöne Stadt. Judiths Häuschen ist zwar etwas beengt, dafür sehr gemütlich. Na ja, ihr kennt es ja. Und einen Garten habt ihr auch.«

»Ich mache mir nichts aus Garten. Terrassenwohnungen sind nobler«, sagte Claudia und blickte aus dem Fenster.

Anna lächelte nachsichtig. Sie wusste, wie sehr Claudia ihr sorgloses Leben vermisste, die Reitstunden, die Tennisturniere, die herrlichen Urlaube, zusammen mit den Eltern. Philip und Margareth hatten die Kinder vergöttert, hatten das Geld mit vollen Händen ausgegeben und sich über die Zukunft keinerlei Gedanken gemacht.

Und dann diese Katastrophe! Dieses Unglück. Philip befand sich auf einer Geschäftsreise in Neuseeland. Und Margareth begleitete ihn. »Unsere zweiten Flitterwochen«, hatte sie lachend am Telefon berichtet. Karten trafen ein. Kleine Päckchen für die Kinder. Fotos. Und dann das Telegramm der Botschaft: »Mit großem Bedauern … ein Unfall.«

Was weiter kam, war wie ein Alptraum. Die Beerdigung. Die vielen Menschen auf dem Friedhof. Die Behördengänge. Das Jugendamt. Die Kinder, wie erstarrt die erste Zeit. Oliver schreckte nachts weinend auf, erzählte, er träume von seinem Vater; wie er versucht habe, Mutter zu retten und wie beide ertranken.

Doch die Träume wurden seltener. Steffi, für ihre dreizehn Jahre noch ziemlich klein, ging wieder auf Sport- und Kinderfeste, Claudia besuchte einen Malkurs, und Oliver, gerade acht geworden, züchtete Goldhamster und las in seinen Abenteuerbüchern. Er erzählte nichts mehr von seinen Träumen, und er weinte auch nicht mehr.

»In einer halben Stunde gibt es Abendbrot«, sagte Anna.

»Buchstaben?«

»Nein. Sauerbraten.«

»Hoffentlich nicht so verstaubt wie die Buchstaben«, antwortete Steffi und biss in einen Apfel.

In München stand Judith unterdessen vor dem Kleiderschrank und musterte ihre Garderobe. Was trug eine fortschrittliche Mutter eigentlich? Ihr fiel auf, dass sie nur Faltenröcke besaß. Bürokleidung, wie Lilli des Öfteren ironisch bemerkte. »Blaues Röckchen, weißes Blüschen, flache Absätze«, pflegte sie zu spotten. »Man würde dich erst gar nicht grüßen, hättest du mal was anderes an.«

Judith duschte, zog sich an, bürstete ihr Haar und betrachtete sich. Sehr, sehr brav stand sie vor dem großen Flurspiegel, mit biederem Haarschnitt, feinem, etwas fadem Gesicht, in dem nur ihre Augen auffielen und in dem die dunklen Augenbrauen viel zu breit und unregelmäßig gewachsen waren. Ihre Figur war nicht schlecht, gut proportioniert, wenn auch zäh erkämpft, und ihre Beine waren lang, mit schmalen Fesseln und kräftigen Waden. Eigentlich wirkte sie genau so, wie Hubert sich eine nette Ehefrau vorstellte, etwas Wetterfestes, Dauerhaftes, ein praktischer Trenchcoat sozusagen. Ein pfiffiger Verkäufer würde glatt vierzig Jahre Garantie auf sie geben und dabei gar nicht falsch liegen. Sie begann sich zu ärgern. Wer wollte schon gerne ein Trenchcoat sein … Kurz entschlossen kramte sie Lippenstift und Schminke aus den tiefsten Tiefen ihres Badezimmerschränkchens und malte sich einen großen roten Mund und herrlich sündige Augen. Dann zog sie ihr Haar tiefer in die Stirn, bestäubte sich mit Parfüm und verwischte etwas Rouge auf den Wangen. Der Trenchcoat soll wenigstens ein farbiges Revers erhalten, dachte sie aufsässig und puderte sich noch die Nase.

Lilli hatte noch keine Ahnung, wie sehr sich durch jenen verhängnisvollen Brief auch ihr Leben verändern würde. Sie spazierte mit Freundin Beatrice durch den Hofgarten, verfütterte ein paar Kekse an die Tauben vor der Feldherrnhalle und errötete sanft, als ein gut aussehender, älterer Herr ihr einen aufmerksamen Blick schenkte und sanft lächelte. Lilli war klein, schmal; ihre rotblonden Locken, die sie, wie in jungen Jahren, schulterlang trug, verliehen ihr etwas Mädchenhaftes. Ihr Gesicht war zart gezeichnet und immer noch schön, trotz der kleinen Fältchen, die die Haut durchzogen und den eisblauen Augen, die nicht mehr so leuchteten wie früher.

»Wie geht es Judith?«, fragte Beatrice, mäßig interessiert.

Lilli lachte. »Wie soll es ihr schon gehen? Sie wandelt Tag für Tag in ihr verstaubtes Amt, kommt am frühen Nachmittag nach Hause, arbeitet im Garten, bereitet ein kleines Abendbrot für sich und Hubert, sieht fern und ist so langweilig wie eh und je.«

»Glaubst du, sie heiratet Hubert?«

Lilli hob die Augenbrauen. »Du stellst die Frage verkehrt herum. Doch egal. Ich würde ihn jedenfalls nicht heiraten, er ist eine alte Jungfer in Hosen. Doch was bleibt ihr übrig?«

»Du meinst, sie hat nicht allzu viele Chancen?«

»Allzu viele? Ich kenne keine außer Hubert. Sie hatte mal eine große Liebe, doch die ging nach Australien. Das war vor fünfzehn Jahren. Und dann gab es noch ein paar Interessenten aus der Nachbarschaft. Aber das waren Witwer oder Geschiedene, die wohl eher eine gute Haushälterin suchten. Und einmal hätte sie sich beinahe verlobt. Mit einem österreichischen Skilehrer. Torschlusspanik! Zugegeben, ein bildschönes Mannsbild und wohl gut geeignet für ein bisschen erotischen Nachholbedarf. Wir haben ihr diesen Mann ausgeredet, und sie brach ihren Urlaub ab und kam nach Hause.«

»Erotische Anwandlungen hätte ich ihr gar nicht zugetraut.«

»Na ja. Diese Geschichte scheint wohl auch ihr gesamtes Temperament erschöpft zu haben. Von da an lebte sie wie eine Nonne. Als sie Hubert kennenlernte, war sie bereits Mitte dreißig und ganz schrecklich anständig und brav.«

»Sonderbar, wie unterschiedlich Schwestern doch sein können. Wenn ich da an Margareth denke …«

Lilli schwieg. Sie dachte oft an Margareth, die ihre zierliche Figur, ihr rotes Haar und ihre charmante Fröhlichkeit besessen hatte und die, bevor sie Philip heiratete, umschwärmt worden war wie ein Starlet.

»Judith gleicht da mehr meinem verstorbenen Mann«, sagte sie nachdenklich. »Treu wie Gold und störrisch wie ein Maulesel. Denn sonderbarerweise – so unsicher und schüchtern sie im Alltag auch scheint – so eigensinnig und zielbewusst kann sie sein, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat.«

»Du denkst wohl an den Antrag auf Pflegschaft für Margareths Kinder?«

»Ja, genau. Sicher, ich liebe meine Enkel«, sagte Lilli hastig. »Aber weder Judith noch ich sind drei Kindern gewachsen. Ich eigne mich nun mal nicht zur Großmutter. Und Judith als Mutter …« Sie schüttelte den Kopf.

»Aber die Kinder in ein Heim zu stecken, wäre auch grausam.«

»Kein Mensch hätte sie in ein Heim gesteckt. Verschiedene Verwandte hätten geholfen. Nur alle drei Racker auf einmal, das wollte sich natürlich keiner antun. Ich kann nur hoffen, dass Judiths Antrag abgelehnt wird.« Lilli blickte sich um. Der nette Graumelierte stand vor einem Schaufenster mit Miederwaren und sah nicht so aus, als wüsste er genau, was er sich da so aufmerksam beguckte.

»Gehen wir ins ›Glockenspiel‹, einen Kaffee trinken?«, fragte sie so laut, dass Beatrice zusammenzuckte. Und als sie bemerkte, dass die grauen Schläfen sich wieder an ihre Fersen hefteten, hängte sie sich bei Beatrice ein und warf fröhlich ihren Kopf zurück.

»Du bist ja geschminkt«, stellte Hubert missbilligend fest, als Judith und er sich beim Essen gegenübersaßen.

»Na und?«

»Ich wusste gar nicht, dass dreifache Mutterfreuden zu einer Farborgie anregen.«

»Und ich wusste nicht, dass so ein bisschen Lippenstift und Rouge gleich eine Orgie sein sollen.«

»Ohne Farbe gefällst du mir jedenfalls besser«, meinte Hubert und griff nach der Speisekarte.

Judith ärgerte sich. Gott, ist der langweilig, dachte sie. Wie streng sein Gesicht aussah, wie aufrecht er dasaß; er hatte etwas Englisches an sich, etwas Distinguiertes; er sprach, als sei ihm manchmal die Zunge im Weg. Wie viele Männer kleiner Statur hielt er sich gerade und trug den Kopf leicht erhoben. Die Kellner flitzten, wenn er einen Wunsch äußerte, und in der Straßenbahn wagte keiner, ihn anzurempeln. Bei Judith flitzten die Kellner nicht, und angerempelt wurde sie oft.

»Prost«, sagte sie und lächelte mühsam. »Freu dich doch mit mir. Schließlich sind wir nicht auf einer Beerdigung.«

»Wann kommen die Kinder?«

»In zwei Wochen. Mein Gott, was ich noch alles erledigen muss … Glaubst du, es wird möglich sein, eine Woche vorher Urlaub zu bekommen?«

»Jetzt? Zur Hauptreisezeit?«

»Wenn du dich dafür verwenden würdest? Schließlich bist du mein Vorgesetzter?«

»Und wenn ich mich nicht verwende?«

»Dann werde ich krank«, antwortete Judith eisig. »Ich bekomme Bauchschmerzen, Wehen und eine dreifache Sturzgeburt. Wer kann schon arbeiten als Wöchnerin.«

»Judith. Sei doch nicht kindisch. Natürlich kannst du Urlaub bekommen. Aber sonst … Ich glaube, du bist dir immer noch nicht bewusst, was du dir alles aufhalst. Es hätte auch elegantere Lösungen gegeben. Ein Internat für Stephanie, eine Sprachenschule mit Wohnmöglichkeit für Claudia und später dann vielleicht ein Studium mit Unterbringung in einem Studentenheim. Und Oliver … nun ja. Auch hier wäre uns etwas eingefallen.«

»Die Geschwister auseinanderreißen? Nachdem sie vorher schon beide Eltern verloren haben? Wie grausam du bist.«

Hubert spielte mit seiner Serviette. »Ich bin nicht grausam«, sagte er nach einer Weile. »Nur enttäuscht. Ich liebe dein kleines Häuschen, und dann meine Pläne. Wie angenehm hätten wir beide zusammenleben können. Im Erdgeschoß das Wohnzimmer, das ich ein wenig umgebaut hätte, im ersten Stock die beiden kleinen Zimmer als Gästeraum und Bibliothek …«

»Vergiss das Schlafzimmer nicht.«

»Das Schlafzimmer kann bleiben, wie es ist.« Er räusperte sich.

»Ja. Wie gesagt. Schön hätten wir uns das Leben machen können. Ein nettes Heim, unsere Reisen nach Madeira und in die Toskana …«

»Ein bisschen arg ruhig, nicht? Das klingt so nach Rente und Parkbank in der Sonne und Sahnetorte am Sonntag, Punkt fünfzehn Uhr. Und dass du zuerst meine niedlichen Zimmerchen, dann die Reisen und mich schließlich nur am Rande erwähnst, stimmt mich recht nachdenklich. Ich weiß zwar, dass ich die Männer nicht gerade zu Leidenschaftsstürmen hinreiße. Auch bin ich kein Typ, dem sie, mit Schaum vor dem Mund, nachjagen und rote Rosen ins Haus schicken. Deshalb pflanze ich sie mir ja auch selber – die roten Rosen meine ich.« Sie lachte schroff. »Aber ein bisschen mehr Romantik wäre schon angebracht. Und eine Brise frischer Wind täte vielleicht auch dir ganz gut. Und die Kinder bringen frischen Wind, du wirst schon sehen.«

»Ich? Ich werde kaum etwas sehen. Ich wurde schließlich nicht Vater. Deine leichtfertige Entscheidung hast du schon selbst zu tragen.« Er trank einen Schluck Bier und starrte sie bitter an. Nun waren seine Augen tatsächlich so hell, wie sie schon nachmittags befürchtet hatte.

»Oh … also auch heute kein Heiratsantrag, mein lieber Hubert«, sagte sie in einem plötzlichen Anflug von Mut. »Trotz meines reizenden Häuschens mit den praktischen Umbaumöglichkeiten. Nun gut. Dann ist die nette Judith also ledige Mutter. Macht auch nichts. Ich wollte schon immer ein wenig anrüchig sein. Schließlich war ich noch nie in meinem Leben so richtig anrüchig, von meinem österreichischen Skilehrer mal abgesehen. Immer nur dusslig, brav und bieder. Und heiraten wollte ich sowieso nie. Schon gar nicht einen Mann, der mich vorzeitig zur alten Frau macht und obendrein kinderfeindlich ist.« Sie stand auf.

»Herzlichen Dank für das köstliche Abendessen. Und achte darauf, dass du nicht wieder alle Leute anpöbelst und unflätige Lieder singst nach diesem rauschenden Fest. Ein kleines Bier in nur eineinhalb Stunden …Ts, ts. Wirklich, Hubert, sehr exzessiv und höchst verwerflich. Du wirst doch nicht als Penner im Englischen Garten enden? Bei deinem Lebenswandel!«

Sie blickte ihn zornig an und verspürte einen kleinen, scharfen Stich in der Magengrube. Im Grunde hatte sie ja doch gehofft … Ach, was. Sollte Hubert doch zum Teufel gehen! Sollten alle Männer zum Teufel gehen! Sahen in ihr nur den praktischen Trenchcoat! Und bemerkten nicht das Sonntagsausgehkleid darunter. Typisch!

Als sie kurze Zeit später ihr kleines Auto parkte, sah sie, dass bei Lilli Licht brannte.

»Lilli?« Judith klopfte gegen eine Scheibe.

»Kannst du dir nicht angewöhnen zu klingeln?«, fragte Lilli missbilligend.

»Aber Lilli. Wenn du eh’ hinter der Gardine stehst und neugierig bist.«

»Ich stehe nicht und bin neugierig. Ich habe den Mond bewundert. Heute Nacht ist Vollmond.«

»Du hast plötzlich romantische Anwandlungen? Das glaubst du doch selbst nicht. Ich sah Nachbar Petersen gerade aus seiner Stammkneipe wanken. Könnte das vielleicht der Grund sein für deine Mondsüchtigkeit?«

»Ich mache mir gar nichts aus Herrn Petersen«, antwortete Lilli eisig. »Und wieso sollte ich nicht das Recht haben, romantisch zu sein.«

»Das Recht hast du ja.« Judith lachte. »Aber nicht die Gabe dazu. Du bist die realistischste Person, die ich kenne, und ich kenne eine Menge Leute. Der Mond ist dir ziemlich schnuppe. Es sei denn, du könntest damit irgendwelche Herzensbekenntnisse aus armen Junggesellen herauslocken. Dann muss er natürlich schnell mal herhalten, der gute Mond. Stimmt’s?«

»Komm endlich rein.«

Judith folgte ihrer Mutter, die genauso aufrecht ging wie Hubert.

»Lilli? Hast du auch Nachricht erhalten?«

»Als ich heute Abend nach Hause kam, fand ich den Brief.«

»Wir haben’s geschafft! Ist das nicht herrlich?«

»Du hast es geschafft«, meinte Lilli unbehaglich. »Du weißt, ich bin nicht oft mit Hubert einer Meinung. Aber dieses Mal, glaube ich, hat er recht.«

»Lilli! Du bist die Großmutter! Wie redest du denn?«

»Ich habe getan, was du wolltest. Ich habe die Vormundschaft beantragt, ich habe versucht, den Behörden zu beweisen, dass ich weder senil noch hinfällig und daher durchaus in der Lage bin, vernünftige Entscheidungen zu treffen, und betont, dass wir zusammen in einem Haus leben und es den Kindern an nichts fehlen wird, obwohl du unverheiratet bist. Und ich habe verschwiegen, dass ich eigentlich keinerlei großmütterliche Gefühle verspüre. Aber nun ist Schluss. Ich will mein Leben noch ein bisschen genießen. Und nicht drei Kinder erziehen.«

»Du erziehst sie nicht, sondern ich. Du wirst nur gefragt bei wichtigen Entscheidungen.«

»Aber ich lebe im Haus. Es wird jede Menge Unruhe geben. Und glaube ja nicht, ich spiele Babysitter, wenn du mal mit Hubert verreisen willst. Ich bin dem nicht gewachsen, ich habe eine zarte Gesundheit.«

»Du hast doch eine Gesundheit wie ein Pferd und wirst uns noch alle überleben. Und wegen der Reisen mit Hubert brauchst du dir keine Sorgen machen. Hubert hat zum Rückzug geblasen, so elegant und verlegen wie ein Tanzstundenjüngling, der bemerkt, dass seine Angebetete Schuhgröße 48 hat.«

»Du meinst, aus eurer Hochzeit wird nichts?«

»Von Heirat war sowieso nie die Rede. Aber jetzt, mit den Kindern … Nein, Hubert sucht eher etwas für Madeira und die Salzburger Festspiele. Keine Popmusik, Jeans und zerschundene Knie.« Judith lachte. »Egal, Mutter. Stell’ dir vor: Eine Menge junger Leute wird ins Haus kommen, Oliver wird im Kirschbaum sitzen, Stefanie mit ihren Freundinnen im Garten toben … Ach, ich freue mich schrecklich. Gleich morgen werde ich mit den Kindern telefonieren.«

»Ich nicht. Ich freue mich nicht, damit du es nur weißt.« Lilli zog eine Grimasse.

»Weil du eben keine Phantasie hast. Das ist es.« Judith küsste ihre Mutter auf die Stirn und klopfte beim Hinausgehen nochmals vergnügt gegen die Scheibe. »Keine Phantasie und null Bock auf Arbeit, du störrisches Großmütterlein, stimmt’s?«, rief sie übermütig.

Auch in Ulm hing der Mond prall und gelb am Himmel und wetteiferte mit den Straßenlaternen, die die dunklen Zimmer erleuchteten, in denen bereits alle schliefen. Fast alle.

»Bist du noch wach?«, fragte Steffi. Sie saß auf der Bettcouch im Gästezimmer von Anna und Konrad und starrte auf Claudia, deren blonde Locken auf dem weißen Kissen lagen und die sehr jung und verführerisch wirkte.

»Nein. Ich denke nach.«

»München?«

»Ja.«

»Magst du Judith?«

»Na ja. Sie ist ganz nett. Aber furchtbar spießig. Wenn man bedenkt, dass sie sogar zwei Jahre jünger ist, wie Mutter war …«

»Und der Typ erst, den sie da kannte. Dieser Hubert. Meinst du, die heiraten, die beiden?«

Claudia richtete sich auf. »Nur über meine Leiche, das sag’ ich dir. Der ist ja schlimmer als unser Mathe-Lehrer. Bevor der einen Witz macht, bringt er sich lieber um.«

»Aber ich glaube doch, dass er sie heiratet. So alt wie der ist, kriegt der doch keine andere mehr.«

»Da muss sie uns jetzt eigentlich fragen, ob wir einverstanden sind.«

»Glaube ich nicht, dass sie das muss. Es ist besser, wir lassen uns etwas einfallen.«

»Wir ekeln ihn raus. Ganz einfach.«

»Oder wir möbeln Judith ein bisschen auf. Dann findet sie vielleicht noch einen Jüngeren und muss nicht diesen Grufti an Land ziehen. Wenn einer schon Hubert heißt und Regierungsrat ist. Also wirklich! Mit dem muss man sich ja überall schämen.«

»Und seine Hosen hatten so messerscharfe Bügelfalten, als wolle er damit gleich zum Angriff übergehen.« Claudia kicherte.

»Du könntest ihn ja mal ein bisschen verführen. Judith will bestimmt keinen entjungferten Regierungsrat, spießig wie sie ist.«

»Nein, danke, mir ist schon schlecht. Lieber geh ich ins Kloster.«

»Okay, dann nicht. Dann ekeln wir. Ich hab’ ‘ne Idee … wir setzen Olivers Goldhamster auf seine Bügelfalten an. Das macht ihn fertig, ich schwör’s dir.« Nun kicherte auch Steffi.

Judith schlief den Schlaf des Gerechten, nicht ahnend, dass der einzige Mann, der sich in den letzten Jahren für sie interessiert hatte, vergrault werden sollte. Im Gegenteil, sie sah sich im Traum inmitten einer Schar Kinder stehen, mit einem alten Trenchcoat, den Bräutigam herbeisehnend.

»Wo ist er?«, fragte der Pfarrer streng.

»Er kommt noch«, antwortete Judith. »Ganz bestimmt.« Sie wartete zehnzehntel Sekunden, den ganzen langen Traum hindurch. Aber er kam nicht. Leider.

2. KAPITEL

»Seht euch heute noch mal gründlich um«, sagte Judith eine Woche später übermütig zu Lilli und Hubert, »In ein paar Tagen herrscht hier nämlich Tohuwabohu. Herr Petersen will mir beim Möbelverrücken helfen, Herr Möllemann steht schon mit Pinsel und Farbeimer bereit, und seine Frau hat mir Gardinen für Olivers Zimmer versprochen.«

Sie legte Lilli ein Stück Erdbeertorte auf den Teller und versuchte, Huberts Leichenbittermiene zu ignorieren. Denn fürwahr, der Gesichtsausdruck eines Mannes, der sie mit drei Kindern und einer exzentrischen Mutter einfach sitzenließ, würde ihr in Zukunft sowieso herzlich egal sein.

»Die Frau des Malers schenkt dir Gardinen?«, sagte Lilli verächtlich. Sie trug, da man auf der kleinen Terrasse saß, ein leichtes Sommerkleid, führte die Tasse anmutig zum Mund, die Beine übereinandergeschlagen und das Gesicht dezent geschminkt. Kurzum, sie befand sich ganz in Erwartung eines sonntäglichen Flirts mit Nachbar Petersen, der in seinem Garten Unkraut jätete und anbetend zu ihr herüberschmachtete.

»Warum sollte mir die Frau des Malers keine Gardinen schenken? Die beiden sind sehr viel wohlhabender als ich. Ihnen gehört das größte Haus hier im Umkreis.«

»Verrückte Welt …«, murmelte Lilli, deren ausgeprägter Standesdünkel in keinerlei Verhältnis zu ihrer Herkunft und ihrem Einkommen stand und die im tiefsten Innern ihres Herzens die Menschen immer noch einteilte nach Ober- und Unterschicht, Herrschaft und Gesinde, Elite und normal Sterbliche. Handwerker hatten brave, ehrliche Menschen zu sein, die in sauberen, einfachen kleinen Wohnungen hausten und die offensichtlich gottgewollte Ordnung, gehütet von klugen Politikern, geduldig akzeptierten. Sie hatten unter keinen Umständen Gardinen zu verschenken an Leute, deren Wände sie bepinselten.

»Ein Wort, und ich hätte dir das Geld vorgestreckt.«

»Ich will nicht auf Pump leben. Ich muss lernen, mit dem, was mir zur Verfügung steht, auszukommen.«

»Aber Gardinen vom Maler …«

»Mutter! Nun sei nicht so verdammt hochnäsig. Auch dein Mann war Handwerker.«

»Er hatte eine kleine Fabrik.«

»Er war Schreiner. Ein wunderbarer Beruf, wenn du mich fragst.«

»Er war kein Schreiner. Er war Unternehmer.«

»Er hat in seiner Eigenschaft als Schreiner ein kleines Unternehmen aufgebaut. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass er Handwerker war. Und er war stolz darauf.«

»Er hatte über fünfzig Angestellte, und er war kein x-beliebiger Schreiner, sondern Kunstschreiner und …«

»Auf jeden Fall ein sehr einfacher und gütiger Mensch. Und hatte Herzensbildung.«

»Die ich nicht habe?«

Judith blickte ihre Mutter an. »Nicht in dem Maß, wie Vater sie besaß«, antwortete sie kühl. Wenn sie nun schon vorhatte, ein neues Leben anzufangen, wollte sie auch gleich ihre Schüchternheit ablegen und endlich damit beginnen, sich nicht mehr alles gefallen zu lassen.

Da Lilli nicht antwortete, lächelte Judith nach einer Weile etwas gezwungen und sagte: »Nun passt mal auf … Ihr werdet staunen, was ich aus dem kleinen Hexenhaus alles zaubern werde. Hier unten, das Wohnzimmer, bleibt wie es ist. Die Küche erhält einen größeren Tisch, an dem vier Leute …« Sie räusperte sich. »Ich meine, an dem vier oder auch fünf Leute bequem Platz finden. In mein Schlafzimmer zieht Claudia. Meine Möbel wandern ins Gästezimmer; das kleine Zimmer daneben kriegt Steffi. Und Oliver kommt ins Souterrain. Ist doch herrlich für einen Jungen, so ein Souterrain.«

»Du meinst, er zieht in den Keller«, sagte Lilli, immer noch beleidigt. »Und wohin kommt der Kellerkrempel?«

»Auf den Speicher.«

»Und der Speicherkrempel?«

»Auf den Müll oder Flohmarkt. Mein Gott, das ist doch alles kein Problem!«

»Dein französisches Bett und der große Schrank dürften kaum in dem kleinen Gästezimmer Platz haben.« Huberts Leidensmiene verschlimmerte sich zusehends.

»Das Bett hat Platz. Und den großen Schrank brauche ich nicht, bei nur vier Blusen und fünf Faltenröcken, wie Mutter immer so treffend bemerkt.«

»Ach. Dann spannst du quer durch das kleine Zimmerchen eine Wäscheleine und hängst dort deine Kleiderbügel auf? Wie putzig!«

»Herr Möllemann baut mir einen schmalen Schrank. Und den großen habe ich bereits verkauft. An die Schwiegermutter der Möllemanns.«

»Wie schön, dass bereits die ganze Gegend so rührenden Anteil nimmt an deiner Mutterschaft«, bemerkte Hubert giftig. Er trank einen Schluck Tee und sah mit seinen halbgeöffneten Augen fast so böse aus wie Cäsar, der Papagei.

Lilli schüttelte den Kopf. »Du bist verrückt, Judith. Andere Frauen in deinem Alter kultivieren und vergrößern sich, mieten schicke Altbauwohnungen in Schwabing oder Haidhausen, kaufen sich Antiquitäten, Teppiche und machen Weltreisen. Du aber …«

»Ich vergrößere mich doch auch. Ich bekomme drei Kinder. Was willst du mehr?«

»Und wie hast du dir unser zeitweiliges Zusammenleben vorgestellt?«, fragte Hubert.

»Könnten wir darüber vielleicht später diskutieren?«

»Du meinst, wenn Lilli nicht anwesend ist? Ich bitte dich.«

»Nun gut. Dann eben gleich. Die Art unseres Zusammenlebens richtet sich nach deinem Verhalten.«

»Nach meinem Verhalten? Wie hättest du es denn gern? Dass ich euch sonntagnachmittags, ein paar Blümchen in der Hand, besuche? Und dir einen züchtigen Kuss auf die Stirn und mir eine Indianerfeder ins Haar drücke und mit Oliver im Gebüsch herumkrieche? Oder Puppenopa spiele für Stephanies Babypuppen?« Er maß Judith mit einem nahezu feindseligen Blick. »Und am Abend«, fuhr er ironisch fort, »am Abend verabschiede ich mich artig, streiche den Kindern liebevoll über die erhitzten Wangen und gehe fröhlich meiner Wege.«

»Nun, so ähnlich vielleicht. Nur die Blümchen kannst du dir sparen. Und mehr als einen züchtigen Begrüßungskuss habe ich bis jetzt auch nicht bekommen. Oder willst du etwa behaupten, du hättest mich Sonntag für Sonntag leidenschaftlich in deine Arme genommen und mir beteuert, wie unerträglich die letzten Stunden des Wartens für dich gewesen wären? Na? Also. Und artig verabschieden bräuchtest du dich auch nicht. Die Kinder sind schließlich alt genug und leben nicht hinter’m Mond. Sie haben bestimmt schon von Verhältnissen gehört.«

»Verhältnissen?«, fragte Hubert gedehnt.

»Wie würdest du unsere Art des Zusammenlebens denn bezeichnen? Wir haben doch ein Verhältnis?«

Huberts Gesicht rötete sich. »Du wirst ziemlich gewöhnlich in letzter Zeit.«

»Seit wann ist ein Verhältnis denn gewöhnlich? Ein Verhältnis kann nett sein oder traurig, es kann enden oder anfangen. Ob es gewöhnlich ist, bestimmen die Verhältnispartner.« Hubert erhob sich: »Der eine Verhältnispartner mäht jetzt den Rasen.«

»Ganz wie ein alter Ehemann. Ehemänner pflegen sich auch hinter Zeitungen oder Rasenmähern zu verschanzen, wenn das Thema ungemütlich wird.«

Lilli sah ihm kichernd nach. »Ich bin zwar nicht immer mit dir einverstanden, liebste Judith. Genau genommen bin ich sogar sehr selten mit dir einer Meinung. Aber die neue Art, dich mit Hubert zu unterhalten, gefällt mir. Sie gefällt mir sogar außerordentlich.«

Ihre neue Art, sich mit Hubert zu unterhalten … Judith saß ein paar Stunden später in einem bequemen Hauskleid auf der Terrasse und aß einen Apfel. Der Mond hatte einen silbrigen Schleier, die Sterne blinkten kühl aus der Ferne. Judith spuckte die Apfelkerne durch das Rosenspalier und betrachtete nachdenklich einen dicken braunen Käfer, der auf dem Rücken lag und mit den Beinen zappelte. Ob ihre Freundschaft mit Hubert sich dem Ende zuneigte? Sie fühlte sich unbehaglich bei diesem Gedanken. Eine Frau mittleren Alters, alleine mit drei Kindern … Ein sonderbares Gefühl überkam sie. Denn Hubert hatte auch seine guten Seiten. Er war, beispielsweise, sehr belesen, korrekt und gescheit. Er war anständig, und zwar in der Weise, dass er nie mit dem Gesetz in Konflikt kam, sich an Spielregeln hielt und seine festgefügten Meinungen sich stets mit den allgemein gültigen deckten. Er war auch ein angenehmer Gesellschafter, ein bisschen langweilig vielleicht, doch er verstand, und das war bisher sehr wichtig in ihrer beider Leben, zu reisen und diese Reisen zu kleinen, wohlgeordneten Erlebnissen zu gestalten. Er besorgte die Tickets, er kaufte die Reiseliteratur, er sprach englisch, französisch, etwas spanisch, er konnte feilschen wie ein Bazarhändler und brachte auch das schlampigste Zimmermädchen zur Räson. Er wusste, wer wann wie viel und warum Trinkgelder bekam; er konnte den Koffer tausendmal besser packen als sie, er hielt die Straßenkarten nicht verkehrt herum und sagte auf Anhieb und nach einem Blick gen Himmel, ob man nach Westen fuhr oder nach Osten oder Richtung Antarktis. Und diesen Ausbund an Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit hatte sie so vor den Kopf gestoßen! Ts. Judith zuckte mit den Achseln. Nein, danke, hatte er gesagt, als sie ihm zum Abendessen Schinkentoast und Bier anbot. Still und verdrossen schmierte er sich stattdessen Quark und Schnittlauch auf ein urgesundes Knäckebrot, trank Mineralwasser und gebärdete sich als der Ausbund an Tugendhaftigkeit gegenüber einer genüsslich in den saftigen Schinken beißenden und ihr Glas Wein schlürfenden Judith. Auch den Sonntagabend-Krimi verschmähte er. Ein schlechtes Zeichen. Normalerweise liebte er nämlich dies bisschen wöchentliche Aufregung am Bildschirm. Männer, die mit Pistolen herumfuchtelten, flapsige Sprüche klopften und rassige Blondinen an ihre dicht behaarte Brust zogen. Denn in Huberts wohlgeordnetem Tagesablauf fehlte eindeutig die Spannung, und sein bislang schlimmstes Erlebnis gipfelte in dem versehentlichen Besuch eines zweifelhaften Etablissements mit einer vollbusigen Bardame und einem rauhbeinigen Wirt. Doch sogar der rauhbeinige Wirt hatte nach einem Blick in Huberts helle Augen nicht mehr gewagt, die einhundertdreißig Mark und fünfzig Pfennige für zwei Piccolos zu verlangen. Und die vollbusige Barfrau verzog sich hinter die Theke, als Hubert sie kalt von Kopf bis Fuß musterte.

»Abgründe taten sich auf«, sagte er jedes Mal, wenn er die Geschichte zum Besten gab.

Judith seufzte und lehnte ihren Kopf gegen die Mauer des Hauses, die alt und rauh und noch warm von der Hitze des Tages war. Nicht einmal geküsst hatte er sie zum Abschied. Weder züchtig noch zärtlich, noch leidenschaftlich, sondern überhaupt nicht. Er hatte sich verabschiedet wie ein Finanzbeamter von einem säumigen Steuerzahler und ihr einen so durchdringenden Blick zugeworfen, dass sie auf der Stelle das Gefühl bekam, drei Jahre alt zu sein und aufs Töpfchen zu müssen.

Am nächsten Morgen – Judith wollte gerade das Haus verlassen – klopfte Lilli kurz ans Fenster. Sie trug ein kleines Köfferchen und sah zum Anbeißen frisch und unternehmungslustig aus.

»Mutter! Was ist denn in dich gefahren? So früh auf den Beinen? Bist du krank?«

»Ich verreise für ein paar Tage. Ich muss dringend zu Lydia. Sie hat wieder ihre Sommer-Influenza. Ich muss ihr leider ein wenig Gesellschaft leisten.« Sie schenkte Judith ein leidendes Krankenschwester-Lächeln und seufzte.

»Du meinst, ab morgen stehen sowieso die Handwerker ins Haus. Und Herr Möllemann rückt an mit Eimer und Farbe.«

»Es ist mir wirklich unangenehm, Judith, dass ich jetzt nicht helfen kann.«

»Tatsächlich? Ich dachte eher, du willst Reißaus nehmen. Ich weiß, wie sehr du alles hasst, was nach Farbe, Kleister und Putzmittel riecht.«

»Ich reiße niemals aus. Ich habe Lydias Krankheit nicht bestellt. Außerdem – hast du nicht ab morgen Urlaub?«

»Ja, Mutter«, antwortete Judith sarkastisch. »Ich habe ab morgen Urlaub.«

»Und Hubert wird doch sicher ein bisschen helfen?«

»Der wird sich hüten. Das käme ja fast einer Kapitulation gleich.«

»Na, du schaffst das schon«, sagte Lilli und zeigte ein paar blitzende Zähne, als sie Judith zuwinkte.

In Judiths Büro, das sie mit Frau Kleinschmidt teilte, lag bereits ein Zettel auf der Schreibmaschine. »Bitte Hubert, den Gestrengen, anrufen. Bin selber auch beim Diktat. Uff!« Judith lächelte. Sie verstand sich ausgezeichnet mit Frau Kleinschmidt, mit der sie ein Zimmer teilte und die sie oft um ihren unverwüstlichen Humor beneidete.

Sie griff nach dem Telefon. »Hallo, Hubert?«

»Guten Morgen. Ich wollte dir nur sagen, dass ich Fräulein Martens gebeten habe, schon ab heute für mich zu arbeiten. Dann kannst du in Ruhe deinen Schreibtisch aufräumen, bevor du in Urlaub gehst.«

»Wie lieb von dir, Hubert. Ich muss nämlich noch eine Menge erledigen. Die Ulmer Spedition will die Möbel der Kinder liefern, viel zu früh, wie du weißt und …«

»Sei mir nicht böse, aber ich bin sehr beschäftigt. Außerdem … du brauchst mich nicht einzuweihen in deine internen Familienangelegenheiten. Ich habe dir schon einmal gesagt: Es war dein Entschluss, nicht meiner.« Er legte auf.

»Na? Was gucken Sie denn so wild?«

Ruth Kleinschmidt, eine mollige Frau um die fünfzig mit gutmütigem, rundem Gesicht und kurzgeschnittenem grauem Haar, kam, einen Stoß Akten tragend, ins Zimmer.

»Mein Hubert ist sauer«, sagte Judith. »Er will partout nicht Vater werden.«

Ruth Kleinschmidt lachte. »Ich halte mich da raus. Sie wissen ja, was ich über Ihren Regierungsrat denke. Ja, ja, er ist ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle. Aber ein Gentleman hat selten eine Frau glücklich gemacht. Von Spaß ganz zu schweigen. Außerdem … Sie sind viel zu jung für ihn.«

»Ich? Ich bin schon vierzig. Und komme mir manches Mal uralt vor. Mit all meinen langweiligen Kleidern, dem dummen Haarschnitt und dem faden Gesicht.«

»O Gott, o Gott. Warum tut die Erde sich nicht auf und frisst all meine Gram und Pein«, sagte Ruth Kleinschmidt. »Es soll tatsächlich Läden geben, in denen man schicke Kleider kaufen kann. Auch den Friseur kann man wechseln. Und Puder und Schminke sollte man eben nicht nur einmal im Jahr, zur Weihnachtsfeier, auflegen.«

Nun musste auch Judith lachen. »Sie haben recht. Ich werde demnächst mein Aussehen gründlich verändern. Ich werde mich verwandeln in eine spritzige junge Mutter und von den Verehrern meiner Töchter für die ältere Schwester gehalten werden. Na? Haben Sie sich das so vorgestellt?«

»Genau«, sagte Ruth Kleinschmidt. »Genau so habe ich es mir vorgestellt.«

Doch Judith hatte keine Zeit, sich gründlich zu verändern. Sie verlegte Teppichböden, steckte Gardinen auf, dirigierte die Möbelpacker, ließ die Gartenschaukel einbetonieren und zauberte aus dem als Keller missbrauchten Souterrain-Zimmer, durch dessen Türe man direkt in den Garten laufen konnte, einen bunten Traum für einen kleinen Jungen namens Oliver.

Am Ende der Woche – Herr Möllemann war gerade mit seinen Farbeimern und Pinseln abgezogen – saß Judith in der Küche und sah sich um. Die karierten Vorhänge bewegten sich sanft im Wind, ein Strauß Astern leuchtete in der alten Kupfervase, und vier neue Serviettenringe lagen, liebevoll bemalt, auf dem Tisch. Ja, nun war es soweit. Morgen kamen die Kinder, und übermorgen gab es das erste Frühstück. Das erste Frühstück zu viert. Judith lächelte glücklich.

Am Abend spielte sie mit Hubert Schach. Und verlor. Sie verlor immer, doch nicht immer so schnell.

»Wo bist du bloß mit deinen Gedanken?« Er hasste es, allzu leicht zu siegen.

»Ich habe Bammel vor morgen. Was mache ich nun, wenn sie mich nicht akzeptieren? Oder sogar ganz und gar ablehnen?«

»Die Frage ist müßig, da du sie zu spät stellst. Außerdem haben Kinder zu gehorchen. Wenn du sie mit der nötigen Strenge behandelst …«

»Mit der nötigen Strenge?«, wiederholte Judith gedehnt. »Ich weiß nicht. Ich glaube, in erster Linie wird wichtig sein, dass sie wieder ein Zuhause bekommen und spüren, dass man sie mag.«

»Na. Du hast wohl zu viele gefühlvolle Romane gelesen in den letzten Wochen. Die heutige Jugend ist cool und clever. Deine Schützlinge werden nicht so viel übrig haben für deine spät entdeckte Mütterlichkeit.«

»Du redest, als seien sie kleine Monster.«

Er schwieg. »Spielen wir noch eine Partie?«

»Nun sei mal ehrlich, Hubert. Freust du dich kein bisschen, dass unser beider Leben sich ändert und frischer Wind durchs Haus weht?«

»Mein Leben wird sich nicht ändern. Spielen wir nun noch eine Partie oder nicht?«

»Oder nicht«, sagte Judith.

»Willst du fernsehen?«

»Nein, ich will nicht fernsehen.«

»Möchtest du gerne alleine sein?«

»Das bin ich doch schon«, sagte sie. Ein kühler Windstoß drang durch die geöffnete Terrassentür, und sie erschauderte vor Kälte und Traurigkeit.

Konrad und Anna Dehler lagen zu dieser Zeit bereits im Bett. Doch Anna fand keinen Schlaf. »Das Haus wird richtig leer sein ohne die Rasselbande«, meinte sie. »Und Oliver wird mir fehlen. Er ist sehr lieb. Findest du nicht?«

Konrad brummelte Unverständliches.

»Ja, wirklich, ein lieber Junge. Hoffentlich fühlt er sich wohl in München. Er hatte sich hier schon so gut eingelebt … Und im Laden hat er die letzte Zeit auch so nett geholfen«, schob sie vorsichtig nach. Sie drehte sich ein wenig ächzend zur Seite. »Hörst du mir überhaupt zu?«

Doch Konrad hörte nicht zu. Er schlief bereits. Oder tat zumindest so, als schliefe er.

Am nächsten Morgen regnete es in Strömen. Judith starrte aus dem Fenster. Ein paar Spatzen saßen, zerzaust und verfroren, im alten Kirschbaum, die Rosen hatten über Nacht fast alle Blätter verloren, und Olivers neue Schaukel hing traurig und tropfnass zwischen den Holunderbüschen.

Das war ungerecht. Nun wurde nichts aus ihrem schönen Grillfest, zu dem sie auch ein paar Nachbarn einladen wollte. Auch das Eis und die Pfirsichbowle konnte sie jetzt vergessen. Sie hob fröstelnd die Schultern und betrachtete das Foto der Kinder, das in der Wohnzimmervitrine stand und auf dem alle drei lächelten: Claudia, blond und schlank, mit schmalem Gesicht und leuchtend blauen Augen, Steffi, stupsnasig, sommersprossig, mit kühlem, distanziertem Blick und Oliver, der trotz seines Lächelns ernst wirkte und dessen dunkle Brille ihm das Aussehen eines kleinen, besorgten Professors verlieh. Oh, Margareth, dachte Judith. Wenn ich es nur schaffe …

Als ein paar Stunden später Konrads großes Lieferauto vorfuhr, klopfte ihr Herz bis zum Hals.

»Sie kommen«, rief sie Hubert zu und lief hinaus in den Regen. Sie patschte lachend in eine Pfütze, die Bluse rutschte aus dem Rockbund, sie umarmte ihren Onkel und die Kinder, schleppte Koffer ins Haus und atmete dann tief durch.

»Puh«, sagte sie ein wenig gekünstelt. »Was für scheußliches Wetter. Kommt nur herein in die gute Stube.«

Claudia und Steffi kräuselten die Lippen. Dann redeten alle gleichzeitig.

»Wo kann ich meine Goldhamster hinstellen? Sie sind noch im Auto.«

»Du hast Hamster? Wie reizend.«

»Ja. Prinz Eisenherz, Robin Hood, die drei Musketiere …«

»Mensch, öde uns nicht schon wieder an mit deinen blöden Viechern. Und wie die stinken!«

»Kinder …«

»Wo ist das Badezimmer?«

»Im ersten Stock.«

»Du meinst diese Nasszelle? Ist fast wie in einem Asylantenwohnheim.«

»Wieso hat Claudia ein so großes Zimmer? Sie liegt doch sowieso nur im Bett. Ich aber …«

»Hallo, Kellerassel. Deine Gemächer sind unten, wie ich gesehen habe.«

»Sind Sie nicht der Regierungsrat, der auch bei der Beerdigung war?«

»Ja, ich …«

»Haben Sie was mit der Judith? Dann gleich heraus mit der Sprache. Ich platze nämlich nicht gern in irgendwelche Zimmer, in denen irgendwelche Männer in irgendwelchen Betten liegen.«

»Guck, Tante Judith, der Hamster mit den schwarzen Pfoten ist Rasputin.«

»Mensch, Kellerassel. Stell die dussligen Käfige woanders hin. Rasputin ist übrigens ein Sexmonster. Er denkt an nichts anderes.«

»Meine armen, armen Schäfchen!« Lilli, deren Freundin Lydia termingerecht gesundet war und die bisher hinter der Gardine ihres Wohnzimmers gestanden und auf eine günstige Gelegenheit gewartet hatte, trat ein. Sie breitete die Arme aus, ihr Gesicht schmückte ein inniges, großmütterliches Leuchten.

»Oh, Großmutter«, feixte Claudia mit tiefer Stimme. »Warum hast du denn so lange Arme …«

Stunden später. Judith nahm leise den Hörer des Telefons auf und wählte.

»Frau Kleinschmidt?«, flüsterte sie.

»Mein Gott, Frau Uhland? Ist etwas passiert?«

»Bitte seien Sie nicht böse … Hoffentlich störe ich Sie nicht. Aber ich …« Judith schluckte. »Ich bin so enttäuscht«, sagte sie dann.

»Was ist los, Kindchen?«

»Alles ist los, und alles ist schiefgegangen.«

»Wieso denn? Wurden die Handwerker nicht fertig?«

»Doch, doch, sie wurden fertig. Und die Zimmer sahen so nett aus, und ich hatte mich so gefreut. Aber nun …«

»Nun?«

Judith setzte sich auf die unterste Treppenstufe. Sie fühlte sich so leer und ausgehöhlt wie Steffis unheimlicher Kürbis, den sie als erstes ausgepackt und über ihre Lampe gestülpt hatte. »Claudia findet ihre alten Kindermöbel blöd, sie will neue haben«, sagte sie erschöpft. »Steffi bockt, weil ihr Zimmer so klein ist und keinen Balkon hat. Oliver will seine Hamster unbedingt alle im Souterrain unterbringen. Lilli will nicht, dass man sie Großmutter nennt, und Hubert stand die ganze Zeit mit seinem ›Siehstduwashabichdirgesagt-Gesicht‹ neben dem Wohnzimmerschrank und betrachtete mich, als sei ich ein kompletter Idiot. Wir konnten nicht grillen, weil es in Strömen goss, Claudia wollte Wein zum Essen, Steffi Sauerkirschensaft, Oliver Coca-Cola. Ich … ich habe solche Angst, dass ich es nicht schaffe.«

»Nun hören Sie mal. Hauen Sie mit der Faust auf den Tisch. Gegessen und getrunken wird, was da ist. Und Ihr Hubert sollte sich was schämen. Machen Sie jetzt einfach ein ›Nunerstrecht-Gesicht‹ und setzen Sie sich durch.«

»Das war nie meine Stärke, wissen Sie.«

»Dann müssen Sie’s lernen. Wie lange haben Sie noch Urlaub? Bis nächsten Mittwoch?«

»Ja. Gott sei Dank.«

»Na, dann auf in den Kampf. Ich habe vier Kinder großgezogen. Ich weiß, wovon ich rede. Es ist ein ständiger Kampf.«

»Ach Gott, hätte ich bloß Ihre Erfahrungen«, sagte Judith und seufzte abgrundtief. Sie verabschiedete sich, ging zurück ins Wohnzimmer und goss sich einen Cognac ein. »This is my day«, sang eine penetrant optimistische Frauenstimme. Der Regen prasselte immer noch gegen die Scheiben.

Ein neuer Morgen. Judith stand, leise vor sich hinsummend, in der Küche. Das Wetter hatte sich beruhigt, die Sonne blinzelte sehr schuldbewusst und verlegen durch eine hellgraue Wolkendecke, und die zerzausten kleinen Spatzen badeten bereits wieder in den Wasserpfützen. Das erste gemeinsame Frühstück, dachte sie. Da war er nun, dieser unschuldig neue Morgen, den sie herbeigesehnt, auf den sie gewartet hatte, der ihr Tun rechtfertigen und sie entschädigen sollte für all den Ärger, den Lilli und Hubert ihr bereitet hatten. Wieder sah sie die Kinder um den runden Tisch sitzen und mit funkelnden Augen ihren Kakao schlürfen. Sie stellte Butter, Honig und noch ofenwarmen Kuchen auf ein Tablett und lauschte. Ob sie noch schliefen?

Sie schliefen. Sie schliefen sehr lange. Judith trank inzwischen eine Tasse Kaffee und aß ein Brötchen.

Oliver war der erste, der erschien. Er trug Rasputin in der Hand und gähnte. »Kann ich ‘n Cola haben?«

»Auf nüchternen Magen? Meinst du, das ist gut für dich?«

»Ich trinke immer Cola am Morgen.«

»Habt ihr denn sonntags nie gemeinsam gefrühstückt?«

»Ne. Haben wir nicht. Claudia ist Langschläferin. Und Steffi ist schon unterwegs.«

»Was heißt, Steffi ist schon unterwegs?«

»Unterwegs halt, Tante Judith. Mit dem Fahrrad.«

Judith lief die Treppen empor. Tatsächlich. Steffis Zimmer war leer. Der unheimliche Kürbis grinste.

Sie klopfte an Claudias Tür.

»Claudia? Was hältst du von Frühstück? Ein gemütliches Sonntagsfrühstück … Wär das nichts?« Ihre Stimme klang forsch. Sie öffnete die Tür einen Spalt und ging dann hinein. Claudia lag im Bett und starrte zur Decke. »Soll das heißen, du möchtest, dass wir jetzt jeden Sonntag gemeinsam antanzen und auf Familie machen?«, fragte sie kühl, ohne ihre Augen von der Decke abzuwenden.

Judiths Herz klopfte schnell und dumm. »Wie hast du dir das vorgestellt?«, fragte sie leise. »Dass wir hier leben wie in einer Pension? Jeder kommt und geht, wie es ihm gefällt?« Claudia schwieg.

»Sieh mal«, begann Judith zögernd. »Ich weiß natürlich, dass ich euch niemals ersetzen kann, was ihr verloren habt. Aber wir könnten trotzdem versuchen, ein wenig zu einer Familie zusammenzuwachsen. Auch ich wünsche mir eine Familie, es wäre doch schön, wenn wir …«

»Warum hast du dann nicht geheiratet und dir selbst Kinder angeschafft, als noch Zeit war?«

»Es läuft eben nicht immer alles so im Leben, wie man es sich vorstellt.« Judith lächelte angestrengt.

»Ich mag auf jeden Fall jetzt kein Frühstück. Und ich mag auch dieses Familiengetue nicht. Mit Margareth und Philip war es sehr einfach. Die schliefen immer bis in die Puppen, und Sonntagmittag gingen wir meistens zum Essen aus.«

»Das kann ich mir leider nicht leisten, Claudia.«

»Wieso? Du kriegst doch Geld für uns? Du bist doch so eine Art Pflegestelle?«

Sie war doch so eine Art Pflegestelle … »Wie du meinst«, antwortete sie und hatte einen Kloß im Hals.

Auf der Treppe blieb sie kurz stehen. Sie sah durch die geöffnete Küchentür Oliver allein an ihrem liebevoll gedeckten Tisch sitzen; er nuckelte an seiner Cola und zerbröselte den Kuchen, während Rasputin am Honig schnupperte und die Serviettenringe anknabberte. Sie presste die Lippen zusammen. Blöde Gans, dachte sie. Hast du erwartet, dass alles vom ersten Tag an klappt?

Am nächsten Tag fuhr sie die Kinder in das nahegelegene Schwimmbad. Es war heiß. Büsche und Bäume, die die kleine Alleestraße säumten, standen unbeweglich und grau vom Staub. Es roch nach Teer und Auspuffgasen, und Judith blies ihre Haare aus dem Gesicht und wünschte sich ans Meer.

»Ich hole euch um drei Uhr ab. Dann gehen wir Eisessen, wenn ihr wollt.« Sie lächelte schüchtern und öffnete die Wagentür.

»Es eilt nicht. Wir können uns auch etwas im Schwimmbad kaufen.«

»Ich will euch aber einen Eisbecher spendieren, so groß wie im Schlaraffenland. Und, bitte, passt auf. Könnt ihr eigentlich schwimmen?«

»Schwimmen ist heute Unterrichtsfach. Jeder Idiot kann schwimmen.«

»Es kann auch gefähr…« Judith hielt erschrocken inne. Was redete sie nur für Unsinn! Und dabei war es noch kein Jahr her, seit Margareth und Philip ertranken. Sie sah in Olivers abweisendes Gesicht und zog die Wagentür verlegen zu.

»Wenn sie ein schlechtes Gewissen hat, sieht sie aus wie siebzig«, sagte Steffi. »Hast du das Armband gesehen, das sie trägt?« Sie blickte mit zusammengekniffenen Augen dem Auto nach.

»Ja. Sicher.«

»Es gehörte doch Mami?«

»Sie hat es geerbt.«

»Wieso?«

»Weil es ein altes Familienstück ist, das immer die älteste Tochter kriegt oder so ähnlich.«

»Es gehörte aber Mami.« Steffis Sommersprossen leuchteten. Sie war blass. »Und die älteste Tochter bist doch du.«

»Ich mache mir nichts aus diesen altmodischen Klunkern. Außerdem – vielleicht steht Judith der Krempel wirklich zu. Schließlich kümmert sie sich um uns. Oder hättest du in ein Heim gewollt?«

»In einem Heim steht nicht ständig eine dusslige Tante hinter dir und passt auf.«

»Du hast wohl zu viele Internats-Romane gelesen. In einem Heim gibt es Lehrer und Erzieherinnen, und du teilst dein Zimmer mit ein paar anderen. Kein sehr angenehmer Gedanke, wenn du mich fragst.«

»Und ich könnte meine Hamster nicht mitnehmen.«

»Nein. Die könntest du getrost vorher abmurksen. Die will in so einem Saftladen wirklich kein Aas haben. Gehen wir?«

Oliver nahm Claudias Hand und streckte Steffi die Zunge heraus. Ehe er seine Hamster abmurkste und in ein Heim ging, murkste er lieber seine sommersprossige Schwester ab.

Judith führte inzwischen zwei äußerst aufschlussreiche Unterredungen. Nachdem sie Oliver bereits vor Tagen in der nahegelegenen Grundschule angemeldet hatte, sprach sie nun mit dem Rektor des Gymnasiums, das Claudia und Steffi besuchen sollten. Der Rektor war ein breiter, jovialer Mann, er trug den Hemdkragen offen und bedauerte es sehr, an diesem sonnigen Ferientag im Sekretariat der Schule sitzen und diese etwas sonderbare Mutter beraten zu müssen.

Ja, in dieser Ausnahmesituation könne man die beiden Mädchen durchaus noch unterbringen. Mit welchen Sprachen denn begonnen worden sei? Mit Latein oder Englisch? Sie wisse es nicht? Nun, dies sei aber sehr, sehr wichtig. Man bitte noch um Benachrichtigung.

Das zweite Gespräch fand in der vornehmen Augusten-Bücherei statt. Eine junge, stark geschminkte Verkäuferin blickte etwas ungeduldig an Judith vorbei.

»Nein, ich verstehe eigentlich nicht, was Sie wünschen, gnädige Frau.«

»Ich möchte gerne ein Buch über Erziehung kaufen. Mit sehr praktischen Ratschlägen …«

»Welches Alter?«

»Ich bin vierzig.«

»Welches Alter haben die Kinder?« Die Verkäuferin verzog den Mund.

»Siebzehn, dreizehn und acht«, antwortete Judith hastig.

»Was wollen Sie da noch erziehen?«

»Tja … ich habe so gar keine Ahnung in Erziehungsfragen.«

»Wie haben Sie es denn bisher gemacht?«

Judith wurde rot. »Bisher hatte ich keine Kinder, verstehen Sie? Ich wurde Mutter über Nacht, sozusagen.«

»Mutter wird man meistens über Nacht«, meinte die Verkäuferin und schielte nach einem Kollegen, der beifällig lächelte.

»Sehen Sie«, erklärte Judith geduldig. »Ich wurde Pflegemutter. Ganz plötzlich. Und nun weiß ich nicht einmal, ob man heute noch Pausenbrote mitgibt, was eine Siebzehnjährige alles darf und was nicht, ob der Junge in einen Sportverein soll …« Sie zuckte hilflos die Achseln.

»Die Siebzehnjährige darf so ziemlich alles, wenn Sie mich fragen. Empfehlen Sie ihr auf jeden Fall einen guten Gynäkologen, damit die Pille immer im Haus ist. Pausenbrote streicht man dann, wenn man kein Geld mitgibt. Ich find’s zwar reichlich antiquiert, aber bitte. Und ob der Junge in einen Sportverein soll … mein Gott, wenn er will …«

»Nein, ich glaube eigentlich nicht, dass er will.«

»Dann lassen Sie’s.«

»Andererseits …«

»Sonst noch etwas?«

»Sie führen wirklich keine Fachliteratur?«

»Ich habe Fachliteratur. Aber eine andere Richtung. ›Die Lustbefriedigung des Säuglings beim Stillen‹, beispielsweise. Aber stillen werden Sie wohl nicht mehr. Oder: ›Analphabetismus an unseren Schülen‹. Wird viel gekauft. Oder etwas über den Urschrei. Oder …«

»Danke«, sagte Judith spitz. »Analphabeten sind sie nicht, auch wenn ich gewisse Verkäuferinnen wohl dazu verleite, es anzunehmen. Und bewussten Urschrei stoße ich gleich aus, weil gewisse Verkäuferinnen mich dazu verleiten.«

Am Abend wanderte sie zum Wäldchen. Claudia und Steffi hatten sich auf ihre Zimmer zurückgezogen, Oliver lag, als sie Schlüssel und Jacke nahm, auf der Couch und las.

›Zum Nonnenhölzl‹ stand auf einer morschen, verwitterten Tafel, und Judith lächelte. Ob es stimmte, dass sich hier vor vielen, vielen Jahren eine kleine unglückliche Nonne, verliebt in den stolzen Fürsten, das Leben nahm, um fürderhin, wenn Herbstwind und Regen durch die Blätter peitschten, lebhaft zu spuken und die Leute zu erschrecken? Nun, heute peitschten weder Wind noch Regen. Heute zirpten die Grillen, und die kleine Nonne konnte beruhigt schlafen.

Judith setzte sich auf eine Bank. Wie vertraut ihr alles war! Hier hatte sie bereits als Kind gespielt, hier hatte Benedikt, ein Junge aus der Nachbarschaft, sie zum ersten Mal geküsst, hierher war sie gelaufen, als Thomas nach Australien ging und sie nicht aufforderte mitzukommen. Und hierher kam sie noch heute, wenn sie unglücklich war und nachdenken wollte. Und sie wollte nachdenken und war unglücklich. Das Eisessen in der Innenstadt hatten sie ziemlich lustlos hinter sich gebracht, das Abendessen auf der Terrasse schweigsam, und, zur Krönung dieses verkorksten Tages, war auch noch Margareths wertvolles Armband verschwunden.

»Ich weiß, ich habe es im Bad abgelegt«, jammerte Judith. »Und jetzt ist es weg.«

Claudia hatte sie eindringlich gemustert und die Schultern gezuckt. »Frag Steffi«, meinte sie.

»Steffi?«

»Wusstest du nicht, dass sie klaut?«

»Was macht sie?«

»Sie klaut. Ein Bilderbuchfall für einen Psycho-Fritzen, wenn du mich fragst. Ein armes Waisenkind, das zur diebischen Elster wird.«

»Aha. Hast du sonst noch irgendwelche auf bauenden Neuigkeiten für mich?«

»Aber ja. Oliver hat eine Katze mitgebracht. Meines Erachtens ist sie trächtig. Sie wurde wohl ausgesetzt.«

»Eine Katze? Aber wir haben doch schon all die Hamster. Und Lillis Cäsar trifft der Schlag, wenn ihn plötzlich eine Katze beschleicht und zum Sprung ansetzt.«

»Würde diesem grässlichen Vieh gar nicht schaden.«

»Deine Großmutter aber liebt Papageien. Sie hängt an Cäsar.«

»Tja. Wie das Leben so spielt. Was machen wir nun mit all den Jungen, die die Katze wirft? Wir könnten sie ertränken. Soll aber eine scheußliche Sache sein.«

»Wir geben die Katze weg, bevor die Jungen kommen.«

»Das ist aber schlecht für Oliver. Er ist so zart besaitet. Vielleicht fängt er dann auch noch an zu klauen. Oder wird mondsüchtig. Ein kleiner Junge im Schlafanzug, der über Münchens Dächer wandelt.«

Und sie hatte maliziös gelächelt, die liebe Claudia, und – als Judith hilflos murmelte: »Ich gehe noch etwas spazieren« - ihre blonden Locken geschüttelt und ihr mit übertriebener Höflichkeit die Küchentür aufgehalten.

Ein Liebespärchen kam an.

»Na, Mutter?«, fragte der junge Mann frech und stellte einen Fuß auf die Bank.

Judith schwieg.

»Wie wär’s mit Fernsehen zu Hause oder einem guten Buch?«

»War prima«, meinte Judith anzüglich. »Heute beißt sowieso keiner mehr an.«

Nichtsdestotrotz blieb sie störrisch sitzen, wo sie saß und schenkte dem Typ ein schreckliches Lächeln, so schrecklich, dass er den Fuß von der Bank nahm und sich mit seiner Freundin verzog.

Wie es weitergeht, erfahren Sie in:

Annemarie Schoenle

Frühstück zu viert

Roman

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