Lady Ellen
Ich hatte keine Ahnung, wie Ryan auf die Neuigkeit reagieren würde, dass ich mit Marlin ein Date hatte. Dass es lediglich ein Essen unter zwei Freunden werden sollte, würde ihn nicht unbedingt milder stimmen. Also weihte ich nur Ailsa ein und schlich mich zur verabredeten Zeit aus der Burg.
Marlin wartete ein Stück entfernt auf mich in seinem großen schwarzen Jeep. Als er mich sah, stieg er sofort aus, lief mir entgegen und riss mich in seine Arme. „Ich hatte Zweifel, dass du tatsächlich kommst“, sagte er und wirkte ehrlich erleichtert.
„Das war unnötig“, erwiderte ich und betrachtete ihn von oben bis unten. Er hatte sich in Schale geworfen mit einer schwarzen Hose, einem schneeweißen Leinenhemd und einem modern geschnittenen Gehrock, der seine hochgewachsene Statur bestens zur Geltung brachte. „Du siehst so schick aus. Hätte ich vielleicht …“ Ich blickte an mir herab. Ich hatte lange überlegt, was man zu einem freundschaftlichen Date anziehen sollte, und zu guter Letzt Ailsa um Rat gefragt.
„Es gibt keine Dates, die rein freundschaftlicher Natur sind“, hatte sie betont und mir das kleine Schwarze vor die Nase gehalten.
„Ja, vielleicht“, hatte ich erwidert und das Kleid zurück in den Schrank gehängt. „Aber ich will nicht übertrieben schick aussehen, wenn er mir in Jeans und Pullover gegenübersitzt.“
Der Kompromiss war ein knielanger, schwingender, dunkelblauer Rock und eine ziemlich weit ausgeschnittene, cremefarbene Seidenbluse, deren Auswirkungen ich mit einer Strickjacke abschwächen konnte.
„Du bist wunderschön!“, sagte Marlin, hielt mich auf Abstand, betrachtete mich, und seine Augen funkelten im Licht der Abendsonne.
„Danke!“, erwiderte ich lächelnd. „Wohin fahren wir?“
„Das ist eine Überraschung.“
„Ich liebe Überraschungen.“
„Das habe ich gehofft. Na komm, steig ein!“ Er
hielt mir höflich die Wagentür auf und half mir hinein.
Die Fahrt dauerte mehr als eine Stunde. Als wir endlich vor einem großen, herrschaftlichen Haus anhielten, war alles in das goldene Licht der Abendsonne getaucht. „Das sieht nicht wie ein Gasthaus aus“, stellte ich fest und betrachtete die elegante Fassade des Gebäudes.
„Das ist Linden Hall. Hier wohnt meine Großmutter“, sagte Marlin und stieg aus dem Wagen, bevor ich den Satzinhalt richtig begreifen konnte.
Er ging um den Wagen herum und öffnete meine Tür.
„Deine Großmutter?“, fragte ich, starrte ihn an und rührte mich nicht vom Fleck. „Hast du wirklich vor, mich deiner Familie zu präsentieren? Als was?“
Marlin lachte. „Nun mach nicht so ein Gesicht, mo fiadhaich! Ich habe nicht die Absicht, dich in die Höhle des Bären zu treiben.“
„Ist das auch Ryans Großmutter?“
Marlin antwortete nicht, was Antwort genug war. „Ich kann das nicht!“, flehte ich, als sich die Haustür öffnete und eine junge Frau heraustrat. Sie war klein und hübsch und hatte lange, dunkelblonde Locken. „Verhandelt ihr noch lange?“, rief sie lächelnd.
„Maggie, komm her und sag diesem Hasenfuß, dass wir nicht die Kennedys von Schottland sind!“ Marlin winkte sie heran, und als sie näher kam, sah ich sofort die Ähnlichkeit. Ihr Mund war zwar nicht so breit, aber genauso geschwungen. Und wenn mich meine Augen nicht trogen, waren ihre so grün wie das Gras im Vorgarten.
„Hi!“, sagte sie und reichte mir die Hand. „Ich bin Maggie. Die Schwester dieses treulosen Kleiderschranks, und wenn du nach dreißig Minuten immer noch fliehen möchtest, zeige ich dir den Fluchttunnel, der von Großmutters Schlafzimmer abgeht.“
Ich blickte Marlin an, der lächelnd den Kopf neigte und mit den Schultern zuckte, dann ergriff ich Maggies Hand. „Hallo, ich bin Jo. Schön, dich kennenzulernen.“
„Du hörst dich an, als ob du ein Gedicht aufsagst.“
„So komme ich mir auch vor“, erwiderte ich und lächelte endlich.
„Gut! Und jetzt steig aus!“, sagte Marlin. „Ich
verspreche dir auch, dass der Rest ein Kinderspiel wird.“
An der Tür stand ein eleganter älterer Herr mit freundlichen braunen Augen und hieß uns mit einem Lächeln willkommen.
„Guten Abend, Alfred!“, sagte Marlin.
„Ihnen auch einen guten Abend, Sir!“, erwiderte der Mann und nickte mir höflich zu. „Miss?“
„Guten Abend!“, antwortete ich.
„Jo, das ist Alfred, der Majordomus dieses Hauses.“ Marlin lächelte und reichte Alfred meine Jacke, woraufhin dieser sich mit einem Kopfnicken zurückzog.
„Und nachts ist er der Majordomus meiner Großmutter“, raunte Marlin mir leise ins Ohr und schob mich, ohne auf meine Schnappatmung zu reagieren, in Richtung eines hell erleuchteten Salons, aus dem wütendes Gekläff zu hören war. Es waren zwei kleine weiße Terrier, die sofort angelaufen kamen und sich schwanzwedelnd um Marlins Beine drängten.
„Hamish! Lilly! Sheas!“, rief eine hohe Stimme, und die beiden Vierbeiner rannten sofort zurück zu ihrem Frauchen – einer weißhaarigen, aber wunderschönen Dame. Sie saß aufrecht in einem Sessel und lächelte uns milde entgegen. Je näher wir kamen, umso mehr veränderte sich ihr Gesicht, bis es einen so amüsierten Ausdruck annahm, dass ich mich fragte, ob ich ein Vogelnest auf dem Kopf hatte.
„Maggie, meine Liebe!“, sagte sie. „Ruf doch bitte Lord Munro an und sage ihm, ich nehme den Kabardiner-Hengst. Ich bin gerade zu Geld gekommen.“
Marlin blieb stehen, blickte seine Großmutter an und hob eine Augenbraue. „Das war niemals ernst gemeint, Grandma!“
„Oh, doch!“, rief sie, erhob sich aus dem Sessel, kam mit ausgestrecktem Zeigefinger auf uns zu und bohrte ihn Marlin in die Brust. „Du sagtest, und ich wiederhole nur deine Worte: Wenn ich noch mal mit diesen Haaren hier auftauche, kannst du mich enterben.“
„Ich mag seine Haare“, sagte Maggie.
„Ja, ich auch“, fügte ich hinzu und wurde sofort von klugen grauen Augen gemustert.
„Ach!“, meinte Marlins Großmutter. „Tatsächlich?“
Ich zuckte mit den Schultern, und da mir nichts Besseres einfiel, versuchte ich mich an einem Knicks und sagte: „Guten Abend, Ma’am! Ich bin Johanna.“
„Hast du was mit der Hüfte, mein Kind?“, fragte sie und neigte den Kopf.
„Ähm, nein, ich …“
„Lass dich nicht von ihr auf den Arm nehmen, Jo“, sagte Marlin. „Meine Großmutter ist ein kleines, raffgieriges Ungeheuer und hält von Etikette genauso viel wie von Krankheiten.“ Er küsste sie auf die Wange und lächelte. „Guten Abend, Grandma!“
„Ich bin zweiundsiebzig und kerngesund!“, rief sie.
„Eben.“
„Wahnsinn!“, sagte ich aus einem Impuls heraus und starrte sie an. Ich hatte sie zwanzig Jahre jünger geschätzt.
Sie wandte den Blick von Marlin ab und musterte
mich. Plötzlich hoben sich ihre Mundwinkel, und ihre Augen
leuchteten auf. „Du kannst deine Haare behalten, Junge“, sagte sie
in Marlins Richtung und hakte sich bei mir ein. „Ich bin Lady
Ellen, meine Liebe. Und bitte, mach nie wieder so einen
Knicks.“
„Deinem Akzent nach zu urteilen, kommst du vom Festland? Deutschland?“, fragte Lady Ellen und nickte nebenbei den livrierten Mädchen zu, die sofort mit dem Auftragen der Speisen begannen.
„Ja“, erwiderte ich. „Das ist richtig. Ich bin in Köln geboren. Meine Eltern wohnen noch immer dort.“
„Und wie alt bist du?“
„Ich bin siebenundzwanzig, Ma’am.“
„In deinem Alter war ich schon verheiratet“, sagte sie und hob ihr Glas an die Lippen.
„Nun ja, ich …“
„Nein, nein!“, rief sie und winkte ab. „Das war kein Vorwurf. Ich weiß, dass diese Dinge heute etwas anders sind als zu meiner Zeit. Aber Kinder hast du noch nicht, oder?“
„Grandma!“, warf Marlin tadelnd ein.
„Was denn? Sieh mich nicht so an, Junge! So was kann heutzutage durchaus vorkommen.“
„Das stimmt“, sagte ich, denn ich fühlte mich, trotz ihrer Fragen, kein bisschen angegriffen. „Aber, nein. Ich habe noch keine Kinder.“
„Aber du möchtest welche – irgendwann.“
„Ja, natürlich“, entgegnete ich und schmunzelte.
„Hm-mh“, erwiderte sie und schmunzelte ebenfalls. „Was machen deine Eltern, mein Kind?“
„Grandma! Jetzt reicht es!“, sagte Marlin. „Ich hatte Jo versprochen, dass es nicht wie auf einem Basar wird.“
„Nein, ist schon gut!“, erwiderte ich und lächelte. „Mein Vater ist Zahnarzt, Lady Ellen. Meine Mutter ist Lehrerin an einer Privatschule.“
„Und du selbst?“, fragte sie, ohne auf Marlins Zähneknirschen zu achten. „Was machst du?“
„Momentan jage ich Gespenster auf Caitlin Castle“, sagte ich, doch der empörte Blick, den ich erwartet hatte, blieb aus. Stattdessen nickte sie, schnitt ihr Lammfilet in Stücke und meinte: „Wir haben hier auch so einen Quälgeist. Er versteckt laufend meine Pillen.“
„Du versteckst deine Pillen selbst, Grandma“, sagte Maggie. „Wenn Alfred sie nicht immer wiederfinden würde, wärst du schon lange tot.“
„Alfred und dieser Quacksalber, der sich Doktor nennt, stecken ja auch unter einer Decke.“
„Aber du nimmst deine Medikamente doch, oder?“, fragte Marlin und warf seiner Großmutter einen kritischen Blick zu.
„Ja, natürlich!“, rief sie. „Alfred würde sonst kündigen.“
„Guter Mann!“, meinte Marlin und grinste verschlagen.
„Hattest du nicht gesagt, Rabby wäre zurzeit auch auf Caitlin Castle?“ Lady Ellen blickte Marlin neugierig an.
„Aye, das sagte ich.“
„Nun!“, erwiderte sie und lächelte mich an. „Dann kennst du meinen anderen Enkel auch.“
„Ähm, ja – Ma’am.“ Ich hoffte sehr, dass mein Gesicht ausdruckslos blieb, doch ein Blick in Lady Ellens Augen ließ mich vermuten, dass dem nicht so war. Zu meiner immensen Erleichterung hakte sie jedoch nicht nach, sondern ließ ihren Blick nur eine Weile zwischen mir und Marlin hin und her wandern.
„Und?“, fragte Maggie als rettender Engel. „Wie sieht so eine Geisterjagd aus?“
„Ziemlich verstaubt. Im Augenblick wühle ich mich nur durch alte Handschriften.“
„Was für Handschriften sind das?“, wollte sie wissen.
„Oh, ähm, Briefe und Notizen einer Annie.“
„Annella’bán?“
„Wie bitte?“
Lady Ellen lächelte. „Hat dir dieser Tunichtgut von Verwalter etwa noch nicht die Legende der weißen Annie erzählt? Rupert MacDonald ist doch sonst so versessen auf seine Ammenmärchen.“
„Nun, nein, ich glaube … Moment mal, wie nannten Sie sie?“
„Annella’bán.“
„Die Seehundfrau!“, rief ich. „Doch, er hatte sie erwähnt. Sie soll auf Caitlin Castle gelebt haben, nicht wahr?“
„Kennst du die Geschichte, Grandma?“, fragte Maggie.
„Natürlich kenne ich sie.“
„Dann erzähl sie uns doch bitte!“
Marlin lächelte, nahm die Weinkaraffe und Lady Ellens Glas und schenkte ihr von dem duftenden Burgunder nach. „Hier!“, sagte er. „Als Honorar!“
Lady Ellen lächelte und lehnte sich zurück.
„Nun, wie ihr wollt. Also, einstmals lebte ein junger Mann auf
Caitlin Castle. Ein englischer Magier, hieß es, sei er gewesen. Er
war auf einem nächtlichen Spaziergang durch den Garten, als er am
Ufer des Loch Monadail eine junge schlafende Frau fand, die nichts
am Leib trug als ihr langes, schwarzes Haar. Und neben ihr lag das
Fell eines Seehunds. Es heißt, dass das Mondlicht ihren Leib in
weißes Licht hüllte, wonach man ihr den Namen Annella’bán gab, weiße Annie. Nun, der junge
Magier verliebte sich natürlich unsterblich in sie, nahm sie auf
seine Arme und trug sie zurück in die Burg. Das Seehundfell jedoch
vergrub er tief in den Kerkern, wo er hoffte, dass sie es nie
finden würde. Die weiße Annie erwachte am Morgen und blieb von da
an bei dem jungen Magier, der ihr jeden Wunsch von den Augen ablas.
Dies erzürnte eine junge Dienerin des Magiers, die diesen heimlich
liebte, und aus Eifersucht lockte sie Annie in die Kerker der Burg,
wo sie sie einsperrte. Nicht ahnend, dass Annie genau dort das
Seehundfell wiederfinden würde. Als die Dienerin am Abend mit einem
Messer bewaffnet in die Kerker ging, um Annie zu töten, fand sie
dort nur noch den Seehund vor. Aus Angst vor den Flüchen der
Geisterwelt nahm sich die Dienerin an Ort und Stelle das Leben, und
der Seehund floh.“ Lady Ellen neigte lächelnd den Kopf. „Die weiße
Annie wurde nie wieder gesehen, aber es heißt, dass der Geist des
Magiers noch heute am Ufer des Loch Monadail entlanggeht, auf der
Suche nach ihr.“
Niemand am Tisch sagte ein Wort. Lady Ellen nahm ihr Glas Wein und trank einen kräftigen Schluck. Dann stellte sie es wieder ab, blickte in die Runde und lächelte. „So weit die Legende“, sagte sie. „Aber es gab auf Caitlin Castle tatsächlich mal eine Annie – Annie Guthrie. Und das Gerücht, dass diese Annie und die Silkie namens Annella’bán ein und dieselbe Person sind, hält sich bis heute.“
Ich hob den Kopf und blickte Lady Ellen an. „Annie Guthrie?“
„Aye, als ich siebzehn war, hat meine Großmutter immer gesagt, ich würde noch so enden wie Annie Guthrie, wenn ich nicht so schnell wie möglich einen anständigen Mann heiraten würde.“
„Wie ist diese Annie Guthrie denn geendet?“, fragte ich.
„Schwanger und unverheiratet natürlich.“
„Und wann hat sie gelebt?“
„Oh, das muss so etwa Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gewesen sein. Alles, was meine Großmutter über sie wusste, war auch nur weitergetragen worden, um alle jungen Mädchen vor dem Verderben und der Schande einer unerwünschten Schwangerschaft zu warnen. Soweit ich weiß, war sie von einem Tag auf den anderen verschwunden, und dieser Lord Samuel, der auf Caitlin Castle wohnte, auch. Daraus entstand die Legende der weißen Annie. Alle Legenden haben einen wahren Kern, meine Liebe.“
„Annie Guthrie“, murmelte ich.
„Sie soll das zweite Gesicht gehabt haben“, fuhr Lady Ellen fort. „Aber wenn es so war, hätte sie ihr Ende doch kommen sehen müssen, oder etwa nicht.“
Sie sagte das so überzeugt, dass ich nur mit den Schultern zucken konnte. Waren diese Aufzeichnungen, von denen ich dachte, es wären Annies Träume, niedergeschriebene Bilder einer sogenannten Seherin?
Und hing das irgendwie mit dem zusammen, woran
Milly MacDonald litt? Hatten beide eine psychosomatische Störung –
oder was steckte da wirklich dahinter?
Nach dem Essen fuhr Maggie zu einer Freundin, und Lady Ellen setzte sich mit ihren Hunden und einer Stickerei vor den Fernseher, während Marlin und ich einen Spaziergang durch das Haus unternahmen. Es war längst nicht so groß wie Caitlin Castle, doch umso mehr gab es für mich zu entdecken, denn überall an den Wänden und auf den Wandborden befanden sich Bilder von Marlin, Ryan und den anderen Familienmitgliedern. Vor einem kleinen Foto, auf dem Ryan in das Ornat der Oxford-Absolventen gekleidet war, blieb ich stehen. „Warum nennst du ihn eigentlich Ray?“, fragte ich und drehte mich zu Marlin um.
„Einerseits um ihn zu ärgern“, sagte er und grinste. „Er hasst diesen Namen. Andererseits bin ich es so gewohnt. Da schau! Mein Großvater.“
Er wies auf ein gigantisches Ölgemälde, auf dem ein streng aussehender Mann in schottischer Tracht in einem alten Lehnstuhl saß. „Ich vermute, Charles Dickens hat ihn als Vorbild für Ebenezer Scrooge genommen.“ Marlin neigte den Kopf.
„Das kommt zeitlich nicht ganz hin“, meinte ich lächelnd. „Es sei denn, Dickens hatte Besuch vom Geist der zukünftigen Weihnacht. Und der hier? Ist das Tiny Tim?“
„Nein. Scrooges Sohn. Mein Vater.“
Ich lachte. Auf dem Bild war ein Knabe in karierten Hosen zu sehen, der die linke Hand im drahtig aussehenden Fell eines kalbgroßen, hässlichen grauen Hundes vergraben hatte.
„Du und Ryan – ihr habt also den gleichen Vater.“
Marlin nickte. „Aye“, sagte er. „Wir haben beide innerhalb von nur vier Monaten unsere Mütter verloren. Ray war erst zwei. Ich war sieben. Bis er vierzehn war, dachte Ray stets, wir hätten auch dieselbe Mutter gehabt, und ich habe ihn all die Jahre in dem Glauben gelassen. Unser Vater ebenfalls. In einem blöden Streit habe ich seine Mutter als irische Schlampe bezeichnet, die ihren Sohn nicht wollte. Von da an war alles anders.“
„Das ist eine traurige Geschichte.“
„Aye, das ist sie, und glaube mir, ich habe mich schon mehr als hundert Mal dafür verflucht, dass ich es ihm im Streit und mit solchen Worten gesagt habe. Sieh mal! Da war die Welt noch in Ordnung.“
Ich drehte mich um. Auch dieses war ein Ölgemälde. Es zeigte zwei Jungen im Kilt vor einem dunkelroten Vorhang, und zwischen ihnen saß ein weiterer Hund, diesmal ein schöner schwarzer Neufundländer.
„Wie alt wart ihr da?“, fragte ich.
„Dreizehn und neun. Und wir konnten einfach nicht stillstehen. Der Maler, den Großmutter engagiert hatte, war fast an uns verzweifelt.“
„Er himmelte dich an“, sagte ich.
„Wer?“
„Ryan. Er vergötterte dich.“
„Aye, vielleicht ein bisschen.“
„Ein bisschen? Sieh dir seinen Blick an!“
„Lass uns gehen!“, sagte Marlin und wandte die Augen von dem Gemälde ab.
„Tut mir leid!“ Ich hielt ihn am Arm zurück. „Es ist mir nur aufgefallen. Ich wollte dich nicht verletzen. Ryan ist …“
„Ein Hornochse!“, knurrte er. „Er ist unausstehlich, schonungslos direkt und gehässig, besonders wenn ihm etwas an einem Menschen liegt.“
„Er muss dich wirklich sehr gernhaben.“
Marlin Kopf schoss zu mir herum, doch dann lächelte er schief. „Ja, wahrscheinlich“, sagte er und lachte leise. Er schaute noch einmal das Gemälde an und zuckte mit den Schultern. „Ich Trottel habe immer versucht, ihn zu schützen.“
„Wovor?“
„Vor sich selbst. Er wollte permanent mit dem Kopf durch die Wand. Ich hatte Angst, dass er sich irgendwann weh tut.“
„Ihr wart beide bei der Rettungswacht?“
„Aye“, sagte er, nahm meine Hand und zog mich fort von dem Bild. „Wir waren schon als Kinder gute Schwimmer“, erzählte er weiter. „Ryan hasste es, dass er mich nie schlagen konnte. Ich war leider immer etwas schneller als er. Eines Tages hatte er sich bei der RNLI eingeschrieben. Ich hielt es für eine ganz gute Idee, doch dann hörte ich, dass er am laufenden Band in irgendwelche Raufereien verwickelt war. Die Jungs dort sahen in ihm wohl immer nur den Sohn eines Earls, und als sie erfuhren, dass er – nun ja – ein unehelicher Sohn war … also, du kannst dir vorstellen, wie sie ihm zugesetzt hatten.“
„Dann bist du auch zur RNLI, hast dort aufgeräumt, und Ryan hatte das Gefühl, ein Versager zu sein, dem der große Bruder aus der Patsche helfen musste.“
Marlin sah mich an, atmete lächelnd aus und nickte. „Ich habe viele Fehler gemacht.“
„Das war doch kein Fehler, Marlin. Nur nicht ganz zu Ende gedacht.“
Er lächelte mich an, legte den Arm um mich und küsste mir sanft die Stirn. „Komm! Wir sollten uns von Grandma verabschieden. Du hast Eindruck auf sie gemacht, weißt du das?“
„Sie ist eine beeindruckende Frau.“
„Aye, das ist sie. Deswegen wollte ich auch, dass du sie kennenlernst.“
„Sollte ich nicht eigentlich dich kennenlernen?“
„Doch. Und?“, fragte er, blieb stehen und sah mich an.
Ich lächelte und strich ihm sanft eine Strähne aus dem Gesicht. „Du versuchst immer das Richtige zu tun, Lord Marlin. Du hast sogar versucht, für Ryan nicht nur Bruder, sondern auch ein Stück weit Mutter zu sein, was dir nicht gelang. Ist ja auch kein Wunder. Du warst selbst ein Kind ohne Mutter.“
Marlins Augen bekamen einen warmen Glanz. „Sieh an!“, sagte er leise. „Du kennst mich schon besser, als ich mich selbst kenne.“