Puzzlespielen

Als ich wach wurde und die Augen öffnete, blitzte bereits Tageslicht durch den Spalt zwischen den Vorhängen, und mir wurde sofort klar, dass mein Plan nicht aufgegangen war.

Nach meinem ersten Fluchtversuch, in dessen Verlauf ich Ryan, der gerade aus dem Bad kam, buchstäblich in die Arme gelaufen war, hatte ich mich wieder in mein Zimmer begeben, mich aufs Bett gesetzt und fest vorgehabt, so lange zu warten, bis aus dem Nebenzimmer nichts mehr zu hören war.

Nun ja, zumindest war es gut geplant, auch wenn es an der Ausführung haperte.

Morgendliche Geräusche drangen durch meine Tür und bewiesen mir endgültig, dass ich nicht nur meinen nächtlichen Streifzug in die Galerie, sondern offensichtlich auch alle nur erdenklichen Spukgeschichten einfach verschlafen hatte.

Ich erkannte Finns Stimme, die merklich unter den Einwirkungen von Whisky und Zigarren gelitten hatte, und Ryans leises Gelächter, der sich vermutlich über Finns Zustand amüsierte. Alles beim Alten, dachte ich.

Nur die Kälte an diesem Morgen – die war neu. Es wunderte mich fast, dass mein Atem nicht in kleinen Wolken aufstieg. Ich schlug das Federbett beiseite, unter das ich irgendwann in der Nacht gekrochen sein musste, und schob die Beine aus dem Bett. Der Dielenboden war so ausgekühlt, dass sich meine Zehen vor Schreck krümmten. So schnell ich konnte, huschte ich hinüber zum Kamin und entfachte ein Feuer. Als es endlich brannte, schaute ich mich um und entdeckte unter dem Fenster einen alten Röhrenheizkörper. Ich lief hinüber und legte meine Hände darauf. Nichts. Obwohl – wenn ich die Augen schloss und mich völlig auf das Metall unter meinen Händen konzentrierte … Ja, doch, sie war an.

„Schottland“, murmelte ich und nahm mir fest vor, zwar nicht wieder in meinen Sachen zu schlafen, aber auf jeden Fall mit Strickjacke und Socken ins Bett zu gehen.

Mit Schwung zog ich die Übergardinen beiseite, blickte hinaus in den strömenden Regen und erinnerte mich spontan an den Mann am Flughafen in Edinburgh, der beim Anblick des Regens dort etwas von „Pissin Dunn“ gemurmelt hatte – was auch ohne große Sprachkenntnis leicht zu übersetzen war.

Was soll’s, dachte ich. Wahrscheinlich würde ich sowieso kaum Zeit für einen Streifzug durch den Park finden. Ich schlang die Arme um mich, überlegte kurz, ob man hier noch vor der Dusche einen Kaffee bekommen könnte, hielt dies jedoch für ebenso aussichtslos wie die Chance auf Sonne und Wärme und schnappte mir schließlich meine Waschtasche, den Bademantel und meine wärmsten Socken.

Auf dem Gang vor meinem Zimmer wühlte eine junge, rothaarige Frau, die mit dem Rücken zu mir stand, in einem Schrank voller Handtücher und Bettwäsche.

„Guten Morgen!“, sagte ich, und sie erschrak so sehr, dass sie sich den Kopf an einem Regalboden stieß.

„Ach, herrje!“ Ich lief zu ihr und nahm ihr den Stapel Handtücher ab, da er sich bedenklich zur Seite bog. „Tut mir leid! Ich wollte mich nicht anschleichen.“

„Das können Sie aber ganz gut“, erwiderte sie und rieb sich schmunzelnd den Kopf.

„Wirklich? Vielen Dank!“ Ich lächelte und reichte ihr die Hand. „Hi, ich bin Jo.“

„Guten Morgen! Ailsa. Ich meine, so heiße ich.“

„Schöner Name. Hat er eine Bedeutung?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ja, die, dass meine Mum eine unverbesserliche Romantikerin ist. Willst du ins Bad? Ich bin gleich fertig.“

„Keine Eile. Sag mal, bin ich eigentlich die Letzte?“

Ailsa lächelte und nahm mir die Handtücher ab. „Sieht so aus“, sagte sie und verschwand im Bad.

Ich folgte ihr bis zur Tür und lehnte mich gegen den Rahmen.

„Bist du hier …“ Ich suchte nach einem etwas moderner klingenden Begriff, doch sie kam mir mit dem banalsten Ausdruck zuvor.

„Das Dienstmädchen?“, fragte sie. „Ja, so in etwa. Milly ist meine Tante, und ich verdiene mir hier ein bisschen was dazu. Ich studiere Kunst in Glasgow, habe gerade Semesterferien. Und du? Bist du auch eine Geisterjägerin?“

Ich lachte. „Als solche würde ich mich nicht unbedingt bezeichnen. Ich bin da eher die Kritikerin.“

Sie drehte sich zu mir und blickte mich an. „Du glaubst nicht an Geister?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Da bist du hier am richtigen Ort.“

„Warum?“

„Weil man seine Überzeugungen jederzeit ändern kann“, sagte sie und trat aus der Tür. „So, jetzt bin ich weg. Wenn du Frühstück möchtest, meine Tante hat es im Speisesaal vorbereitet. Ich glaube, der Tee ist noch warm. Oder möchtest du lieber Kaffee?“

„Kaffee wäre großartig!“, erwiderte ich, und Ailsa lächelte.

„Na, mal sehen, was ich machen kann.“ Sie nahm den Wäschekorb auf ihre Hüfte und lief den Gang hinunter zum Westturm.

Als ich später den Speisesaal betrat, war nur noch Milly MacDonald anwesend, die bereits die Teller und Tassen wieder abräumte.

„Guten Morgen, Miss Bergman! Der junge Lord und seine Freunde sind schon unten“, sagte sie, und es klang wie ein Tadel in meinen Ohren.

„Guten Morgen“, murmelte ich. „Tut mir leid, dass ich so spät bin. Ich habe einfach viel zu gut geschlafen.“

Sie stellte den Tellerstapel auf einen Servierwagen, richtete sich auf und sah mich an. Dann winkte sie ab. „Ach, das macht nichts. Was möchten Sie essen? Viel ist zwar nicht mehr übrig, aber …“

„Bitte machen Sie sich keine Umstände!“ Ich hatte aus dem Augenwinkel schon die Kaffeekanne entdeckt, aus deren Tülle verlockender Dampf aufstieg. „Ich habe alles.“

Ihr Blick folgte meinem. „Ja, die Kanne hat meine Nichte hergebracht“, sagte sie und hielt kurz inne. Dann lächelte sie gutmütig. „Na, setzen Sie sich erst mal! Ich bringe Ihnen noch frischen Toast. Butter und Marmelade sind hier.“

„Wirklich, Mrs. MacDonald. Das ist nicht nötig.“

„Doch, doch, a laoigh. Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages.“ Damit öffnete sie die Tür und schob den Servierwagen hinaus.

Ich schenkte mir Kaffee ein, setzte mich an den Tisch und betrachtete die reich verzierte Stuckdecke.

„Morgen, Schlafmütze!“ Ryan steckte den Kopf zur Tür herein und sah aus, als ob er schon seit Stunden auf den Beinen war.

„Ich wollte dich gerade aus dem Bett jagen.“

„Nein, danke!“, entgegnete ich und musste meinen Ärger darüber, dass er mir den Ausflug in die Galerie vermasselt hatte, unterdrücken. „Ich bin schon eine Weile auf.“

„Habe ich was angestellt?“, fragte er.

„Warum?“

„Du hörst dich an, als ob ich dir den Kaffee versalzen hätte.“

„So, Miss Bergman!“, rief Milly, trat hinter Ryan durch die Tür und stellte einen kleinen Toasthalter auf den Tisch. „Guten Appetit! Ich räume das später ab. Lassen Sie es einfach hier stehen.“

„Danke, Mrs. MacDonald!“, sagte ich und lächelte sie an.

Sie nickte und verschwand wieder durch die Tür.

Ryan hatte die Brauen zusammengezogen und betrachtete mich.

„Was ist?“, fragte ich und griff nach dem Toast.

„Hm …“, meinte er. „Also, wenn du mir das, was ich getan habe, verziehen hast, komm bitte runter. Malcolm hat schon angefangen.“ Er drehte sich um, schüttelte den Kopf, knurrte was von Frauen und ging hinaus.

„Sei nicht so nachtragend, Jo!“, murmelte ich. „Eigentlich kann er ja nichts dafür.“

Von wegen!, sagte meine innere Stimme.

In den Kellergewölben sah es aus wie auf einem Set für einen Horrorfilm. Der Hohlraum, der durch den Einsturz des Rundbogens nun freigelegt war, maß etwa zwei mal drei Meter und wurde rundherum von großen Strahlern erhellt. Der Begriff Krypta kam mir in den Sinn, als ich ihn in diesem Licht betrachtete. Die Seitenwände bestanden aus demselben grauen Bruchstein, mit dem auch die Gänge hier unten gemauert waren, wodurch es den Anschein erweckte, dass der Gang einstmals viel weiter verlief und irgendwann einfach mittendrin zugemauert wurde. Dicke Spinnweben überzogen die Steine, und an einigen Stellen sah es aus, als ob sich das Erdreich einen Weg durch die Spalten und Risse gesucht hätte. Kleine Wurzelenden hingen herab wie die Kabel einer Wandlampe. Am Ende dieser Krypta stand eine aus Lehmziegeln gemauerte Wand, die bis auf ein paar Risse ansonsten intakt aussah. Finn schien das Mauerwerk einer gründlichen Untersuchung zu unterziehen.

Wie ich sehen konnte, hatten sie die Steine, die zum Rundbogen gehörten, bereits zu einem Großteil aussortiert. „Morgen, Jo!“, sagte Lucas grinsend und lief mit einer Kiste voller Steine an mir vorbei den Gang zurück in Richtung Treppe, während er lauthals den Refrain von James Browns I Feel Good schmetterte.

„Wo will er damit hin?“, fragte ich und blickte ihm nach.

Finn drehte sich um. „In die Haupthalle“, antwortete er und kam zu mir. Er sah aus, als hätte er den Whisky mittlerweile verdaut, nur seine Augen waren noch ein bisschen rot unterlaufen. „Wir haben beschlossen, ihn dort zusammenzusetzen. Hier unten ist nirgendwo genügend Platz, und kalt ist es auch. Spürst es ja selbst.“

Erleichterung kam in mir auf. Ich hatte zwar nichts gesagt, aber der Gedanke, den ganzen Tag in dieser Kälte und in Gesellschaft dieser Spinnweben zu verbringen, hatte mir nicht gerade ein „I Feel Good“ auf die Lippen gezaubert.

„Wo ist Ryan eigentlich?“, fragte ich.

„Der ist oben und justiert mit Malcolm die Anlage. Jo, wir haben leider keine Vorlage für den Rundbogen. Denkst du, du schaffst das trotzdem?“

„Ich werde es versuchen. Soll ich auch eine Kiste mitnehmen, wenn ich hochgehe?“

Finn lachte auf, als hätte ich einen Scherz gemacht. „Nein, Jo! Die sind nicht aus Styropor. Geh ruhig! Du kannst sie oben entgegennehmen. Und viel Spaß beim Puzzeln!“

„Danke!“, sagte ich schulterzuckend und machte mich auf den Weg in die Haupthalle, wo Rupert gerade dabei war, alte Jutesäcke auf dem Boden zu verteilen.

Zwei abgebrochene Fingernägel und drei kleine Schrammen später saß ich noch immer umringt von Steinen auf dem Fußboden der Haupthalle und fragte mich, welcher Teufel mich geritten hatte, diese Aufgabe zu übernehmen.

Es war wahrhaftig ein Puzzle, und die hatte ich noch nie gemocht. „Blauer Himmel auf blauem Hintergrund“, murmelte ich, hielt einen der Steine in der Hand, drehte ihn nach allen Seiten und hatte keinen blassen Schimmer, an welche Stelle er gehörte.

Mittlerweile ging es auf Mittag zu, und ich konnte gerade mal einen halben Meter vom rechten Rand vorweisen, drei, nein vier Steine vom linken, gut die Hälfte des Spruches und meine Hautabschürfungen.

„Alles in Ordnung?“, fragte Lucas, der endlich die letzte Kiste neben mir abstellte und sich prustend aufrichtete.

„Nein.“ Ich hob die Arme und streckte mich. „Wie sieht es unten aus?“

„Wir sind fertig“, sagte er und betrachtete den Stein in meiner Hand. Dann nahm er ihn mir ab und plazierte ihn an der rechten Seite des Bogens. „Du hast noch nicht oft gepuzzelt, oder?“

„Nicht oft ist untertrieben“, antwortete ich und staunte. Der Stein passte genau.

„Ach, das wird schon.“ Lucas lächelte und hielt mir seine Hand hin. „Was ist? Kommst du mit zum Lunch?“

„Ja!“, sagte ich, froh über die Ausrede, für einen Moment desertieren zu können, und griff zu.

Als Ryan beim Essen erfuhr, dass ich im Puzzeln keine große Leuchte war, amüsierte er sich kurzzeitig auf meine Kosten und stellte mir dann Malcolm und Lucas für den Nachmittag zur Seite. Innerhalb von nur vier Stunden hatten wir den kompletten Rundbogen in all seiner Pracht auf den Jutesäcken ausgelegt, und ich saugte zufrieden an einer neuen Schramme.

„Keltischer Knoten oder auch der Faden des Lebens“, sagte Ryan. „Bei den alten Druiden bedeutete er die Verbindung zwischen Geburt, Tod und Wiedergeburt. Das Spiralmuster drückt die verschlungenen Pfade aus, die ein Mensch betritt, und dort, wo sich der Faden mit sich selbst kreuzt, findet der Mensch zu sich selbst.“

„Das ist ein Faden?“, fragte ich und betrachtete das Knotenornament. „Ein einzelner, meine ich?“

„Aye.“ Ryan nickte und zeigte auf den rechten unteren Stein. „Wenn du da anfängst und mit deinem Finger der Linie folgst, landest du irgendwann genau wieder dort an diesem Punkt.“

Finn hockte oberhalb des Bogens und fuhr mit seiner Hand nachdenklich über den Spruch. „Wenn, wie Jo sagte, Mutus permaneo eine Aussage ist, verstehe ich nicht ganz, warum er sie zusätzlich mit Schutzsymbolen überladen hat. Schau mal, Ryan! Hagalaz-Runen zu beiden Seiten, Triskill in den Ecken. Und der Spruch selbst ist auch noch flankiert von Pentagrammen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dieser Bogen fungiert als Wall. Als eine Art Schutzwall, um das, was sich dahinter verbirgt, dort für immer festzuhalten.“

„Ist das Pentagramm nicht das Zeichen für Satan – oder Satanismus?“, fragte ich.

„Nein, ganz und gar nicht“, erwiderte Finn. „Aber das denken viele. Das Pentagramm – der Drudenfuß – ist ein heidnisches Schutzsymbol. In der griechischen Antike war es das Zeichen für die Göttin Venus. Es war ein Symbol für die Templer, die Rosenkreuzer, die Freimaurer, die Kirche und so weiter. Ein Amerikaner namens Levey beziehungweise LaVey hat es vor etwa fünfzig Jahren erst zu einem Symbol Satans und seiner Church of Satan gemacht, und der hat es übernommen von einem Mann namens Éliphas Lévi, der einen Dämon namens Baphomet kreiert und mit dem Drudenfuß verziert hat. Allesamt haben sie dem Pentagramm nach und nach eine andere Bedeutung gegeben, als wenn man ein Stück Knete durch hundert Hände wandern ließe.“ Finn erhob sich und kratzte sich am Kinn. „Irgendwas befindet sich hinter der Mauer. Das spüre ich.“

„Möglich“, meinte Ryan. „Aber bevor ich nicht weiß, was es ist, wird die Mauer nicht angerührt.“

„Okay.“ Finn nickte. „Du hast recht.“

„Wir sollten nach alten Aufzeichnungen suchen“, sagte Ryan und blickte von einem zum anderen. „Alles, was ihr finden könnt. Briefe, Tagebücher, Chroniken. Lucas, was glaubst du, wie alt ist das Mauerwerk?“

Lucas schob mit dem Fuß einen der Steine zurecht und zuckte mit den Schultern. „Schwer zu sagen“, meinte er. „Einige Ziegel sind knapp zweihundertfünfzig Jahre alt, andere sind fast dreimal so alt. Aber ich habe ein paar Tests mit dem Mauermörtel durchgeführt, und ich schätze, man hat beides vor etwa hundertfünfzig bis zweihundert Jahren hochgezogen. Genauer geht es leider nicht. Er ist ziemlich verdreckt, und die Umgebung da unten gab ihm den Rest.“

„Neunzehntes Jahrhundert also“, verkündete Ryan.

„Ich habe gedacht, wir legen uns nachts mit Kameras auf die Lauer. Und nun sollen wir in der Geschichte herumstochern? Ich dachte, ein Geisterjäger jagt Geister“, schaltete ich mich ein.

Ryan lächelte mich an. „Meinst du nicht, dass, wenn man jemanden jagen will, man erst wissen sollte, wer es ist?“

„Ja, schon, aber es hört sich an, als ob du von einem Menschen redest.“

„Das ist er doch auch, oder glaubst du etwa an Gespenster?“

Finn und Lucas lachten.

„Klugscheißer“, sagte ich und musste nichtsdestotrotz schmunzeln.

Ryan lächelte mich gutmütig an. „Du bekommst schon noch dein Halali, meine kleine Jägerin. Erst mal heißt es aber Bücher wälzen. Malcolm, dein Vater hat mir gestern von alten Handschriften erzählt, die vor Jahren im Bedienstetentrakt hinter einem Wandpaneel gefunden wurden. Weißt du was davon?“

„N-nein.“ Malcolm zuckte mit den Schultern.

„Hm, na gut. Ich rufe ihn nachher an. Jo, du gehst mit Finn und Malcolm in die Bibliothek. Schaut euch da bis zum Abendessen mal etwas um. Vielleicht finden wir ja einen Anhaltspunkt.“

Der blutrünstigen Vergangenheit nach, die in diesen Mauern stattgefunden hatte, war Caitlin Castle selbst ein einziger Anhaltspunkt. Das wurde mir klar, als ich nach dem Abendessen damit begonnen hatte, die Chronik des Clan McDonnell of Glen Monadail zu lesen, der bis Mitte des achtzehnten Jahrhunderts hier seinen Hauptsitz hatte. Dies war zwar nicht die von Ryan vorgeschriebene Zeitspanne, aber die Geschichte fesselte mich wie ein Bestseller – und kam mir auch genauso irreal vor. An einem Tag brachte der eine den anderen um, und am nächsten Tag gebar eine Stute ihr Fohlen, wobei Letzteres durchaus mehr Papier und Tinte beanspruchte. Überhaupt … Viehdiebstahl und kleinere Scharmützel unter den Clans waren quasi an der Tagesordnung und schienen eher ein Hobby als ein Verbrechen gewesen zu sein. Ebenso Brautklau. Ich fragte mich, ob der legendäre Raub der Sabinerinnen nicht vielmehr auf das Konto von Schotten ging, und schüttelte entrüstet den Kopf. „Dass die damals noch Zeit hatten, ihre Felder zu bestellen, ihre Tiere zu füttern und Kinder in die Welt zu setzen, wird mir auf ewig ein Rätsel bleiben“, sagte ich und unterdrückte ein Gähnen.

„Tja, die guten alten Zeiten“, meinte Lucas fast träumerisch.

Mittlerweile zeigte die Uhr halb eins.

„Jungs! Ich kann nicht mehr!“, stöhnte ich und rieb mir die Augen. „Ich sehe die Buchstaben schon doppelt.“

Lucas gähnte und streckte sich. „Mir geht’s genauso. Ich glaube, ich muss ins Bett.“

Ryan schlug sein Buch zu und nickte. „Aye, es ist spät. Ich glaube auch nicht, dass wir heute noch was finden. Wir müssen warten, bis der Duke uns die Handschriften besorgt. Vielleicht findet sich dort was. Finn?“

Leises Atmen war die Antwort. Finns Kinn war auf die Brust gesunken, die sich in tiefen Zügen hob und senkte. Seine Beine ruhten auf einem Hocker, und das Buch, in dem er gelesen hatte, lag aufgeschlagen auf seinem Schoß. 

„Feuer!“, brüllte Lucas und krümmte sich vor Lachen, als Finn erschrocken vom Stuhl kippte. Wütend rappelte dieser sich auf und bedachte Lucas mit diversen derben Flüchen. Eine Minute später jedoch wanderten sie bereits wieder Schulter an Schulter aus der Bibliothek.

Ich lächelte, schlug den dicken Folianten zu und hievte ihn auf den Tisch. Dort lagen auch die Jahrbücher der Burg, die nach dem Krieg, der 1746 das Land verwüstet hatte, begonnen wurden. Der Clan McDonnell of Glen Monadail wurde, wie so viele andere auch, per königlichem Dekret entmachtet und aufgelöst – einfach so, und alles, was mit dem Clan und seinen Traditionen verbunden war, wurde verboten. Familien wurden auseinandergerissen und stückweise nach Amerika verschifft. Caitlin Castle fiel wie eine Kriegstrophäe in die Hände eines englischen Lords, und diese Aufzeichnungen wurden von seinen Verwaltern geschrieben, die verbissen gegen Hungersnöte und den langsamen Verfall der Burg ankämpften. Erst im Jahre 1895 wurde die Burg vom damaligen designierten Clanchief Alistair McDonnell, Lord of Monadail, zurückgekauft und in dem Glanz umgebaut, in dem es heute noch erstrahlt. Ich wusste nicht, was mich dazu brachte, noch einmal nach diesen Aufzeichnungen zu greifen, eigentlich konnte ich kaum noch die Augen offen halten, und doch tat ich es. Als ich die lose zusammengerafften Blätter zu mir auf den Schoß zog, fiel ein Blatt zu Boden. Es war der letzte Absatz eines Briefes, den ich laut vorlas.

„Vor zwei Tagen habe ich dem Verwalter aufgetragen, dieses Ding und alle Aufzeichnungen darüber dem Feuer zu übergeben. Alles umsonst. Ich weiß mir keinen Rat mehr, mein Freund. Henderson schwört, dass er meinem Befehl Folge geleistet hat. Mir bleibt keine andere Wahl.“

„Was hast du da?“, fragte Ryan und beugte sich über meine Schulter. „Was zum Teufel ist das?“ Er nahm es mir aus der Hand und las es noch einmal.

„Ich weiß nicht“, sagte ich und blickte zu ihm auf. „Hört sich an wie ein Geständnis, findest du nicht?“

„Alistair McDonnell“, murmelte Ryan, ging zu seinen Unterlagen und zog einen Stammbaum aus dem Stapel. „Das war der Urgroßvater mütterlicherseits.“

„Von wem? Von unserem Duke?“, fragte ich, und Ryan nickte in Gedanken versunken. „Ja“, sagte er und hob den Kopf. „Gute Arbeit, Jo!“

„Hast du Tomaten auf den Augen? Da steht, er hat alles verbrannt.“

„Aye, und was sagt uns das?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Dass wir nichts finden werden?“

„Exakt!“, rief er, setzte sich zu mir und legte eine Hand auf meinen Aktenstapel. „Hast du beim Durchsehen der Unterlagen auf die Datierungen geachtet?“

„Mehr oder weniger“, erwiderte ich, und schließlich fiel der Groschen. „Du meinst …“ Ich starrte den Papierberg an. „Wenn wir wissen, welcher Zeitpunkt hier fehlt, wissen wir auch, wann, hm …wann was?“ Ich hob den Kopf.

„Das weiß ich noch nicht“, antwortete er und lehnte sich im Stuhl zurück. „Aber ich verwette meinen Hintern, dass da der Durchgang zugemauert wurde.“

„Du gehst recht leichtfertig mit deiner Anatomie um.“

Er lächelte mich an. „Keine Sorge, Jo. Meine Anatomie bleibt dir erhalten.“ Ryans Augen verweilten lange auf meinem Gesicht. So lange, bis ich verlegen den Blick abwandte. Ich hörte, wie er tief Luft holte und sich bewegte. „Lass uns morgen weitermachen“, sagte er, legte seine Hand auf meine und lächelte. „Du siehst nämlich so aus, als ob du auch gleich vom Stuhl kippst.“

Nickend erwiderte ich sein Lächeln. „Ja, das könnte gut passieren.“

„Na komm!“ Er zog mich hoch und führte mich in aller Ruhe hinaus.

Weiß Gott, der Tag steckte mir bleischwer in den Knochen. Wie ferngesteuert setzte ich einen Fuß nach dem anderen auf die Stufen des Turms – mit dem tröstlichen Wissen, dass ich, wenn die Stufen aufhörten, im richtigen Stockwerk angelangt war. Als mein Fuß dann tatsächlich ins Leere trat, hob ich den Kopf und blinzelte. Angekommen.

„Übrigens“, sagte ich, als wir vor meiner Tür zum Stehen kamen, unterdrückte ein Gähnen und drehte mich zu ihm. „Entschuldige, dass ich heute früh so unleidlich zu dir war.“

„Sagst du mir auch, warum?“

„Ja, sicher. Morgen.“

Ryan lachte leise, hauchte: „Gute Nacht, Jo!“, und gab mir wieder einen Kuss auf die Wange. Doch diesmal verweilte er einen Moment, so dass ich seinen Atem auf meiner Haut spürte.