kapitel 6
der wolf
Kehrt der Bedrücker ein in eines Volkes Land,
So bleibt den Bewohnern nichts als fortzuziehn.
Aus 1001 Nacht (die 147. Nacht)
paderborn, herbst 795
Welch ein misstrauisches Völkchen, dachte Isaak ungehalten, als er die feindliche Aufstellung der kleinen Männergruppe sah, der er sich nahe der Ansiedlung Büren am Ufer der Alme näherte. Ich bin ganz allein und wirke doch nicht im Mindesten bedrohlich. Wie kann ich da einem halben Dutzend Männern gefährlich erscheinen?
Erschöpft von den beschwerlichen Steigungen der vergangenen Tage, hatte er sich eigentlich nur am Wasser ausruhen und die nächste Etappe seines Ritts vorbereiten wollen. Er hasste es, sich seiner Haut erwehren zu müssen, und fand normalerweise Wege, dies zu vermeiden. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, sich der Abordnung des Aachener Hofes anzuschließen, die auf Siegeskunde aus Ostfalen wartete, um dem König entgegenzureiten und ihn nach einem abermals niedergeschlagenen Sachsenaufstand im Triumph nach Hause zu geleiten. Doch es hatte dem Juden widerstrebt, die Reise unter dem Schutz von Franken anzutreten, die über die Vernichtung und Verschleppung von Heiden jubilierten, die es für gottgefällig hielten, Dörfer, Kultstätten und Traditionen zu zerstören. Zudem war ihm daran gelegen, König Karl in einem ruhigen Moment höchstselbst sprechen zu können, was sich in Begleitung einer Heerschar höfischer Würdenträger weitaus schwieriger gestalten könnte.
Ezra hatte Isaak auf ihrem Wachstäfelchen den Rat gegeben, zumindest einen gut bewaffneten Mann mitzunehmen, was er aber abgelehnt hatte. Waffen seien dazu geschaffen, benutzt zu werden, sagte er, und zudem fordere allein ihr Anblick Angriffe heraus. Er wolle lieber für sich seiner Wege ziehen. Als Rüstung genügten ihm die Feinheiten der Sprache sowie der in seinem Gewand versteckte Dolch. Wobei ihm durchaus bewusst sei, dass weder Zunge noch Schneide vor Hinterhalten oder Verbrechern Sicherheit garantierten. Die Welt sei grundsätzlich schlecht und dem Reisenden meist feindlich gesinnt. Im Laufe seines recht langen Lebens habe er gelernt, sich nicht auf andere verlassen zu müssen, sondern lieber auf eigene Faust schnell lebensrettende Entscheidungen zu treffen. Was Ezra in Konstantinopel und im Wald vor Aachen ja selbst erfahren habe.
»Ich bin ein friedlicher Fernhändler«, rief er der Gruppe von Männern zu, die mit grimmigen Mienen und erhobenen Äxten, Hämmern sowie anderen schlagkräftigen Gegenständen seiner harrten.
»Wo ist dann deine Ware, wenn du ein Händler bist?«, rief ihm ein hochgewachsener rothaariger Mann zu. »Und wo ist deine Begleitung?«
Der sprachgeschulte Isaak überlegte kurz, ob der Tonfall dieser fränkischen Laute dem Friesischen oder eher dem Sächsischen zuzuordnen war, entschied sich rasch für Letzteres, schon weil er das Friesische nur unvollendet beherrschte, und antwortete in der mutmaßlichen Muttersprache des Fragenden: »Ware und Begleitung habe ich in Aachen gelassen, liebe Freunde, aber ein langer Ritt liegt hinter mir. Mich dürstet, und mein Pferd und ich verspüren ein Verlangen nach Erholung. Aber wenn euch meine Anwesenheit belästigt, lagere ich gern ein bisschen weiter unten am Fluss.«
Äxte, Hämmer und Riesenzangen sanken. Die Männer sahen einander ratlos an. Auf der Stute, die er in Aachen gegen seine beiden Maulesel und eine Fibel aus Jade eingetauscht hatte, wagte sich Isaak näher an die Gruppe heran.
»Du bist keiner von uns«, antwortete der Rothaarige. Er hob das Kinn und blickte mit verengten Augen an dem Fernhändler vorbei. »Aber du scheinst in der Tat allein unterwegs zu sein. Wohlan dann, geselle dich zu uns; wir teilen unser Mahl gern mit einem, der unsere Sprache kennt.«
Womit der Beweis wieder einmal erbracht ist, liebe Ezra, dachte Isaak, wenn man mit den Leuten reden kann, machen sie meist weniger Schwierigkeiten.
Dankbar glitt er aus dem Sattel, vergaß jedoch die Mattigkeit, die seine Beine hatte taub werden lassen, und stürzte vor dem Rothaarigen in den Staub.
»Ich mag das Pferd, aber ich verabscheue es als Transportmittel«, sagte er, als ihm der Mann auf die Füße half.
»Weshalb nutzt du es dann?«
Vor Isaaks innerem Auge erschien Iosefos, der Mann der kurzen Antworten.
»Weil es mir gehört«, brummte er.
»Dann achte darauf, dass es so bleibt«, erwiderte der Rothaarige lachend und führte ihn zu einem Lager am Ufer. »Lang zu. Was unser ist, ist auch dein.«
»Danke«, sagte Isaak und starrte auf das Ende des Spießbratens. Wäre der Kopf des Wildschweins nicht so deutlich erkennbar gewesen, hätte er sich vormachen dürfen, dass es sich um ein für Juden genießbares Tier handelte. Das ging nun leider nicht. »Ich möchte nur etwas trinken.«
»Du musst doch auch Hunger haben?«
Er schüttelte den Kopf und hoffte, die Sachsen würden seinen Magen nicht knurren hören.
»Ich heiße Isaak«, stellte er sich vor, »und bin auf dem Weg nach Osten. Wer bist du?«
»Alboin«, antwortete der Rothaarige, ohne seine Bestimmung zu nennen.
»Hieß so nicht einstmals ein bedeutender König der Langobarden?«, fragte Isaak.
»Nach dem bin ich benannt worden, wie mein Großvater, mein Vater und …«
Er brach ab.
»… dein Sohn?«, fragte Isaak leise, nachdem er mit einem großen Schluck sein Magengrimmen zu beruhigen gesucht hatte.
Alboin nickte. Seine Miene sprach Bände, weshalb Isaak das Thema wechselte und fragte, ob die Männer ihm etwas Brot geben könnten.
Alboin schüttelte den Kopf.
»Das haben immer unsere Frauen gemacht«, sagte ein älterer Mann. »Und die sind tot oder verschleppt worden. Mit unseren Kindern.«
Isaak erfuhr, dass die Männer eine Schmiede nahe Bardowick betrieben hatten, als des Königs Heer in ihr Dorf eingefallen war. Schmieden befanden sich aus gutem Grund außerhalb von Ansiedlungen, und so war es den Männern gelungen, vor der Übermacht des fränkischen Heers rechtzeitig in einen nahe gelegenen Wald zu flüchten. Nachdem sie in ihr ausgebranntes Dorf zurückgekehrt waren, konnte ihnen eine tödlich verletzte alte Frau mit letzter Kraft berichten, dass zwar einige Überlebende nach Osten und Süden weggeschafft, die meisten aber als Geiseln dem Tross des Königs einverleibt worden seien.
»Nicht meine Frau und mein Sohn«, sagte Alboin bitter. »Sie sind in den Flammen umgekommen.«
»Aber warum seid ihr jetzt hier, so fern eurer Heimat?«, fragte Isaak verblüfft.
»Weil wir dem Tross des Königs auflauern wollen, um unsere Leute zu befreien, natürlich!«, rief der andere Mann ungeduldig. »Dieser fränkische Bedrücker, den sie König nennen, kann sich ja nicht ewig in Paderborn aufhalten.«
Isaak unterdrückte einen Seufzer der Erleichterung. Er würde also nicht bis ins ferne Bardengau an der unteren Elbe weiterreisen müssen, um Karl anzutreffen. Vermutlich hatte der König sein Heer nach der erfolgreichen Strafexpedition schon aufgelöst. Isaak aber vertraute darauf, dass sich der mörderische Fredo und vielleicht auch noch dessen Spießgesellen bei den Mannen aufhielten, die mit dem König nach Aachen zurückkehren würden. Denn das, was vom Schatz des Iosefos noch übrig geblieben war, hatten die Räuber gewiss nicht mit in den Krieg genommen.
Die Nachricht von des Königs Nähe verlieh dem Fernhändler neue Kraft. Eine Nacht guten Schlafes, und dann würde er am nächsten Tag Paderborn erreichen können, eine alte sächsische Siedlung, die König Karl nach der vorjährigen blutigen Schlacht auf dem Sintfeld endgültig ins Frankenreich eingegliedert und die er inzwischen zum zweiten Bistum in Sachsen erhoben hatte.
»Alle Sachsen sind hier Franken geworden und werfen dem Despoten jetzt ihren Zehnten in den Rachen, damit er noch mehr Kriege gegen uns führen kann«, bemerkte Alboin grimmig, »wir dachten, gerade in dieser Gegend noch alte Stammesfreunde zu finden. Aber die beten heute vor lauter Angst das Kreuz an, als gäbe es unsere Götter nicht. So schnell geht das.«
Er spuckte aus.
»Du bist Sachse, aber deine Familie trägt über Generationen hinweg einen langobardischen Namen«, bemerkte Isaak. »Was hat es damit auf sich? Zumal gerade die Langobarden schon seit Langem dem Christentum anhängen.«
»Bardowick«, erwiderte Alboin mit eindringlicher Betonung der ersten Silbe. »Unser Dorf ist einst von Langobarden des alten Glaubens gegründet worden, ehe der große Teil unseres Stammes in den fernen Süden zog und unsere Götter verleugnete. Wir halten übrigens nicht nur die Namen unserer Ahnen in Ehren, sondern auch ihre Kunst, die sie einst von den Kelten erlernt haben. Sie wird von Vater zu Sohn weitergegeben. Im ganzen Frankenreich wirst du niemanden finden, der im Schmieden und Gießen von Erz so bewandert ist wie wir. Du selbst hältst dich doch auch an alte Gebräuche deines Volkes.« Er nickte zum Feuer hin. »Gewiss bist du Jude und verhungerst lieber, als ein Stück Schwein zu verzehren. Hier ist ein Apfel.«
Er warf ihn Isaak zu. Während dieser seine Zähne im köstlichen weißen Fleisch der Frucht versenkte, dachte er nach. Er kaute genüsslich und bemerkte dann: »Ich weiß, wo hervorragende Schmiede gebraucht werden. Wo sie für sich und ihre Familien ein Vermögen verdienen können, wenn sie denn in der Lage wären, etwas herzustellen, was fränkische Schmiede nicht vermögen.«
»Wovon redest du?«
»Von einem wundersamen Gebäude mit einer riesigen Steinkuppel, die eines Korsetts aus starkem Erz bedarf, von Gittern und Türen, wie sie die fränkische Welt noch nicht gesehen hat, von einem Baumeister aus Konstantinopel, der überragende Meister der Schmiedekunst sucht und dem die Zeit fehlt, sie aus Bagdad oder Konstantinopel in den Norden zu schaffen. Ich rede von der größten Gießerei der Welt, von Werkstätten, neben denen sich die berühmten Waffenschmieden der Merowinger wie häusliche Herdfeuer ausnehmen. Ich rede, Alboin, von deiner, von eurer Zukunft, die glänzend sein wird. Ihr solltet nur darauf verzichten, den Tross des Königs zu überfallen; eine Verrichtung, die euch und wahrscheinlich auch den euren ohnehin nur den Tod und die Welt um große Meisterwerke bringen würde. Wer hätte davon schon etwas?« Er steckte den Rest des Apfels in den Mund und spuckte das Gehäuse aus.
Alboins Männer begannen zu murren.
»Er ist ein Verräter«, rief einer.
»Kommt im Schafsfell daher«, sagte ein anderer, »und ist doch ein Wolf. Ich habe es gewusst; die Juden machen immer nur Ärger. Er ist gewiss ein Kundschafter der Franken und wird uns verraten. Wenn wir ihn weiterziehen lassen, sind unsere Frauen und Kinder genauso verloren wie unsere Heimatdörfer. Packt ihn!«
Hunger und Müdigkeit hatten Isaak unvorsichtig gemacht und ihn seiner Stärke, der Geduld, beraubt. Es wäre klüger gewesen, den Männern nahezulegen, wie sie dank ihrer Kunst auf friedliche Art ihre Angehörigen zurückerhalten könnten. Dann erst hätte er sie behutsam selbst auf den Gedanken kommen lassen sollen, dass sie mit ihrem Können an einem bestimmten Ort der Welt in Sicherheit ihr Brot verdienen könnten. Im Geiste versetzte er sich für seine Voreiligkeit eine Ohrfeige. Innerhalb weniger Augenblicke hatten ihn die Schmiede überwältigt und mit Hanfseilen gefesselt.
Ruhig bleiben, sagte er sich und ließ ohne Gegenwehr alles mit sich geschehen; die Leute sind rasend vor Wut über die Zerstörung ihres Zuhauses und die Ermordung und Verschleppung ihrer Familien. Sie haben sich so weit in Feindesland vorgewagt und müssen eben so denken, wie sie denken. Ohne gesundes Misstrauen wären sie wohl nie bis hierher gekommen.
»Wohin wollt ihr mit euren Frauen und Kindern ziehen, wenn ihr sie denn tatsächlich befreien könnt?«, fragte er, als er, zu einem Bündel verschnürt, neben dem Feuer lag. »Und wovon werdet ihr leben?«
»Was schert dich das?«, fragte Alboin zurück und setzte hinzu: »Wir fangen irgendwoanders neu an. Die Welt ist groß.«
»Aber gefährlich. Vor allem für Sachsen, die ihren Göttern nicht abschwören«, erwiderte Isaak. »Wenn ihr euch aber als Schmiede in Aachen niederlasst, kann ich für eure Sicherheit bürgen, und ihr hättet obendrein mehr als nur ein Auskommen.«
Alboin lachte.
»Als Sachsen im Herzen des Frankenreiches! Was erzählst du uns da, Jude? Wir wissen genau, was uns blüht, wenn man entdeckt, wer wir sind.«
»Wenn ihr die Kunst des Schmiedens tatsächlich so vortrefflich beherrscht, wie man es den Langobarden nachsagt, wird euch in Aachen niemand fragen, wes Glaubens ihr seid. Und euch schon gar nicht deswegen verfolgen. Tausende aus aller Welt werken dort, alle Sprachen sind zu hören, alle Glaubensrichtungen zu finden. Sogar Sarazenen arbeiten ungestört an diesem riesigen Gebäude, das ihnen und tausend anderen Brot und Obdach verschafft. Ich gebe euch mein Wort, dass ihr als Meisterschmiede dort mit euren Familien friedlich vereinigt werden könnt, wenn ihr nur wollt.«
»Was hast du mit dem König zu schaffen?«, fuhr ihn Alboin an.
»Ich handele mit ihm. Ihr habt nach meinen Waren gefragt. Ich habe keine, wie ihr seht. Weil ich mit Menschen handele.«
»Er gibt es zu. Für unsere Ergreifung wird er eine Belohnung einstreichen. Der Jude ist ein Verräter!«, rief einer der Männer.
»Still!«, herrschte ihn Alboin an. »Sag, Isaak, was ist das für ein Gebäude?«
»Eine Kirche«, sagte Isaak ruhig. »Eine Basilika, wie sie das Frankenland noch nicht gesehen hat.«
»Wie die Basilika von Brescia?«
Die kannte Isaak nicht.
»Noch eindrucksvoller als die von Zeno«, sagte er ausweichend.
»Wir sollen also ein christliches Bauwerk bestücken? Erhalten Lohn und Obdach und können den Bräuchen unseres Glaubens nachgehen?«
»Wenn ihr das nicht gerade lautstark in alle Öffentlichkeit hinausposaunt«, sagte Isaak. »Ihr könnt aber die geheimen Zusammenkünfte eurer dortigen Glaubensgenossen besuchen.«
»So etwas gibt es dort?«
Gehört hatte Isaak davon zwar noch nie etwas, aber das lag schließlich in der Natur von geheimen Zusammenkünften. Er zweifelte nicht daran, dass die alten Götter unter den Hunderten oder Tausenden auf der Aachener Baustelle noch eine Anhängerschaft hatten. Also nickte er.
»Wenn das so ist …«, überlegte Alboin.
Isaak schloss erleichtert die Augen. Er hatte gewonnen. Jetzt sollten sie ihm nur möglichst schnell die Fesseln abnehmen, denn in dieser unbequemen Lage würde er nicht gut schlafen können.
»Ihr könnt dort zeigen, wozu Menschen langobardischer Herkunft fähig sind«, sagte er müde. »Zieht diese wunderbare Straße südwestwärts weiter bis nach Aachen. Ihr könnt die große Baustelle nicht verpassen. Melde dich dort bei dem Baumeister Iosefos aus Konstantinopel, Alboin, und sag ihm, mit eurer Ankunft ist er seiner Sorge um tüchtige Schmiede enthoben. Und jetzt löse mir bitte die Stricke. Ich muss schlafen. Ach ja, und sage Iosefos auch noch, sein alter Reisegefährte Isaak jage dem Wolf, der sie im Wald überfallen hat, die Beute gerade wieder ab.«
»Und unsere Frauen und Kinder?«, hörte Isaak.
»… wird euch der König wiedergeben, wenn er mit ihnen eingetroffen ist«, murmelte er, während Hände seinen Körper von störenden Strängen befreiten. »Versprochen.«
Gegen Geiseln, die nicht vom Hof ernährt werden mussten, sondern vor Ort Meisterschmiede zu Höchstleistungen anspornten, würde Karl gewiss nichts einzuwenden haben.
mitte dezember 795
Der Läufer im Tretrad stolperte, das Seil schwankte, und ein mächtiger Eckstein, der mit dem Hebezeug in zwölf Fuß Höhe auf dem Rand der Mauer abgesetzt werden sollte, begann, bedrohlich zu taumeln.
»Fort! Fort!«, brüllte Iosefos.
Sein Schrei übertönte die Zurufe der Arbeiter und die dumpfen Schläge der Vorschlaghämmer, mit denen Steinbrecher nahebei riesige Brocken zertrümmerten. Er war lauter als der helle Klang unzähliger Meißel, als das Surren, Sägen, Schaben, Hämmern, Klopfen und Knarzen auf der Baustelle, doch Ezra hörte die Warnung des Vaters nicht. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf Lucas gerichtet, der auf einem Außengerüst an einer ferneren Ecke des Sechzehnecks mit Odo in einen offenbar heftigen Streit geraten war. Sie flehte Allah an, den beiden eine Einigung zu versagen. Vielleicht würde Lucas dann wie früher endlich wieder zu ihr kommen und sich Luft machen über die ungerechte Behandlung durch seinen Vater oder über dessen Weigerung, die Vorschläge des Sohnes zu berücksichtigen. Wenn Lucas sie nur wieder zur Kenntnis nahm, würde sie schon den Weg zur alten Vertrautheit zurückfinden. Seit dem Vorfall mit Heda und dem Kind hatte sich der Sohn des Baumeisters gänzlich von ihr abgewandt und nur dann ein Wort an sie gerichtet, wenn es unumgänglich war. Angesehen hatte er sie dabei jedoch niemals mehr.
Vor Trauer, ihren einzigen Freund an ein so dummes Missverständnis verloren zu haben, hatte sich Ezra immer weiter in sich selbst zurückgezogen. An dem, was um sie herum geschah, zeigte sie nicht das geringste Interesse. Ja, sie nahm kaum den Jubel wahr, der an der Baustelle aufbrandete, als aus dem eingetroffenen Beuteschatz der Awaren längst fällige Zahlungen beglichen wurden. Während alle anderen daraufhin emsiger arbeiteten, vernachlässigte sie ihre Pflichten, und in ihre Zeichnungen schlichen sich Fehler ein.
Dunja erkannte die ersten Liebesqualen der heranwachsenden jungen Frau. Ihre Bemühungen, das Mädchen zu trösten und zu beraten, scheiterten an Ezras Weigerung, ihren Kummer in Worte zu fassen, nicht einmal in schriftliche. Daraufhin versuchte Dunja, Iosefos auf Ezras Verfassung aufmerksam zu machen, doch der Baumeister hatte anderes zu tun, als sich um die Launen einer Tochter zu kümmern, die sich gefälligst wie ein Sohn zu benehmen und auf weibliche Gefühlsregungen zu verzichten hatte.
Bis eben zu jenem Augenblick, als sein Schrei nicht zu Ezra durchdrang. Sie blieb einfach stehen, als der mächtige Quader aus der Höhe am Tretrad vorbei hinabsauste und zu Boden donnerte. Staub und Sand wirbelten auf.
»Ezra!«, brüllte Iosefos, sprang vom Gerüst und stürzte auf die Unglücksstelle zu. Seine Knie begannen erst zu zittern, als er sah, dass der Stein seine Tochter knapp verfehlt hatte. Zusammengesunken vor Schreck, lag Ezra staubbedeckt neben dem großen Blaustein. Iosefos hockte sich neben sie hin und wischte ihr den Dreck aus dem Gesicht.
»Ezra«, wiederholte er heiser. Jetzt bebte er am ganzen Körper.
»Niemand verletzt. Weitermachen!«, rief der Vorarbeiter seinen Maurern zu. Einige hielten seit dem dumpfen Aufprall, starr vor Entsetzen, ihre Kellen reglos in den Händen, andere waren hinabgesprungen und näherten sich neugierig der Szene neben dem Stein.
Ezras Lider flatterten. Iosefos schlug ihr ins Gesicht.
»Du dummes Kind!«, schalt er. »Du hättest tot sein können! Steh auf!«
Aus leeren Augen blickte Ezra ihren Vater an, dann an ihm vorbei hinauf zu der Stelle, wo soeben noch Lucas gestanden hatte. Er war nicht mehr dort.
Hustend setzte sie sich auf und sah sich suchend um.
»Fort!«, bellte Iosefos sie an. »Ich will dich hier nicht mehr sehen. Lass dich von Dunja säubern. Und zeichne neue Schablonen für die Fensterlaibungen, deine letzten sind unbrauchbar.«
Beschämt senkte Ezra die Lider. Ihr Blick fiel auf ein kleines Stück Eisen im Staub. Sie hob es auf und reichte es ihrem Vater.
Er nahm es und musterte es fassungslos.
»Der Splint ist gebrochen!«, brüllte er in die Höhe. »Bringt mir die Schmiede, die diesen Wolf gefertigt haben!«
So hat mich denn fast ein unzulänglicher Wolf umgebracht, dachte Ezra benommen. Nicht das gleichnamige Tier, sondern das Gerät, mit dem Steine am Kranseil befestigt, in die Höhe gehoben und auf der Mauer abgesetzt wurden. Der Wolf bestand aus fünf einzelnen Metallteilen, die miteinander verbunden waren. Eines davon, der Splint, der den Bügel des Wolfs an jener Stelle hielt, wo der Haken befestigt war, hatte der Last des Quaders nicht standgehalten und war durchgebrochen.
Zum Glück war es gut ausgegangen. Der Blaustein hatte niemanden erschlagen, weder Gerüst noch Tretrad beschädigt und war selbst nicht einmal zerborsten. Langsam zog sich Ezra an dem herabgestürzten Quader hoch. Iosefos schob sie ungeduldig zur Seite und inspizierte das in den Stein eingeschlagene Wolfsloch. Die drei dort eingeführten zusammengedrückten Metallteile, die in der schwalbenschwanzförmigen Lücke auseinandergehen sollten, um den Wolf zu halten, waren ebenfalls herausgefallen.
»An die Arbeit!«, rief Iosefos. »Schafft sofort einen neuen Splint herbei! Nein, macht gleich einen neuen Wolf. Das Feuer war dem Erz nicht heiß genug. Wir können nicht warten. Der Quader muss hinauf.«
Ja, dachte Ezra, einen Stein, der für die Mauer passt, lässt man nicht auf der Straße liegen, eine nutzlose Tochter schon eher.
»Neue Meisterschmiede sind eingetroffen«, hörte sie, als sie mit gesenktem Haupt davonschlich. »Einer hat eine Empfehlung für dich dabei, Iosefos. Er soll Langobarde sein.«
»Langobarde?«
Die Stimme ihres Vaters überschlug sich. »Das wäre ja endlich mal eine gute Nachricht an diesem bösen Tag. Bringt ihn mir. Er soll sogleich einen neuen Wolf anfertigen. In wahrlich rotgelbem Feuer. Die Hauptschmiede soll augenblicklich aufheizen!«
Ezra wandte sich um und beobachtete, wie ihr Vater einen rothaarigen Mann begrüßte.
»Wie heißt du, Langobarde?«
»Alboin.«
Ein Leuchten flog über Iosefos’ Gesicht.
»Großartig. Ein langobardischer Name. Und eine Empfehlung hast du auch noch?«
Wahrscheinlich von einem wichtigtuerischen Höfling, dachte Ezra angewidert und schritt schneller aus. Aber sie lenkte ihre Schritte nicht in Richtung der Wohngebäude. Dunjas Blicke voller Mitgefühl würde sie jetzt ebenso wenig ertragen können wie aufmunternde Worte. Die Enge der Werkstatt würde sie nur noch mehr bedrücken und ihr die Hoffnungslosigkeit ihrer Sehnsucht deutlich vor Augen führen.
Freu dich doch, dass du lebst, sagte sie sich, vergiss den Menschen, dem so wenig an dir gelegen ist, dass er sich nach dem Unfall nicht einmal selbst deiner Unversehrtheit vergewissern wollte. Seinetwegen könntest du tot sein; für ihn würde sich dadurch nichts ändern. Also verbanne ihn aus deinen Gedanken und höre auf, dich selbst zu bemitleiden.
Ezra entsann sich eines alten arabischen Spruches: Der größte Reichtum ist die Vernunft, und die größte Armut ist die Dummheit.
Höchste Zeit, dass sie dieser Armut endlich entrann!
Sie schüttelte den Kopf, als ein Zimmermann auf sie zutrat, seine Zwölfknotenschnur vor ihr in die Höhe hielt und ihr etwas zu den künftigen Fenstern sagen wollte. Aber dafür war später auch noch Zeit; die ersten Steine für die Fensterlaibungen sollten frühestens nach dem Winter in das Mauerwerk eingelassen werden.
Gar nichts wollte sie jetzt tun, nur allein sein und in Muße zum Reichtum der Vernunft zurückfinden.
Stille und Einsamkeit gab es allerdings nur in dem nahe gelegenen weitläufigen Wald, dort, wo angeblich der echte Wolf lebte. Der, vor dem die Handwerker ihren kleinen Kindern Angst machten, damit sich diese beim Spielen nicht zwischen den Bäumen verloren. Doch dieser Wolf war Ezras geringste Sorge. Keine wilde Bestie würde sich jetzt dem Forst bei Aachen nähern, wo Horden von Waldarbeitern laut lärmend unablässig Bäume fällten, um dem großen Bedarf an Holz für Gerüste, Leitern, Werkzeuge und zur Befeuerung von Schmieden, Öfen und Kochherden nachzukommen. Auf der Suche nach Stille würde sie also erheblich tiefer in den Wald eindringen müssen – eine Vorstellung, die sie keineswegs ängstigte.
Das war vor einem Jahr noch ganz anders gewesen. Als sie auf der Reise mit Isaak und ihrem Vater erstmals die dunkle Linie eines Waldes gesehen hatte, war sie zurückgeschreckt. Das Mädchen aus der weiten Ebene fand es damals unvorstellbar, heil aus einem solchen Labyrinth voller Holz und Grün herauskommen zu können. Grün ist die Farbe des Propheten, hatte sie sich vorgebetet, aber nicht einmal dieser Gedanke hatte ihr die Angst nehmen können, die sich bei jedem Knacken im Unterholz steigerte und ins Unermessliche wuchs, als sie des Nachts unter Nadeldächern lagerten und fremdartige Geräusche die Stille durchschnitten.
Isaak, der die Not des Mädchens erkannt hatte, begann, ihr den Wald zu erklären. Er zeigte ihr, welche Nahrungsmittel er hervorbrachte, auf welche Spuren sie zu achten habe und wie man bestimmte Gefahren erkennen und ihnen ausweichen konnte. Er berichtete von sächsischen Volksstämmen, für die der Wald Heimat und Sicherheit bedeutete, die Bäume verehrten und die das Herannahen gefährlicher Tiere oder Menschen dank der gleichen Achtsamkeit erahnten wie sie selbst in ihrer alten Heimat das Herannahen eines Sandsturms oder feindlicher Reiterbanden.
»Aufmerksamkeit, Zielstrebigkeit und Gottvertrauen«, hatte er ihr als das beste Rezept gegen Furchtsamkeit empfohlen. Ganz allmählich war ihre Angst geschwunden und seltsamerweise auch nicht zurückgekehrt, nachdem sie im Wald überfallen worden waren. Vielleicht lag es daran, dass das Schlimmste, was geschehen konnte, tatsächlich geschehen war, und sie es dennoch überlebt hatte.
Mutig schritt sie jetzt also immer tiefer in den Aachener Forst hinein, markierte ihren Weg, wie Isaak es ihr gezeigt hatte, und betete still zu Allah. Als Ziel setzte sie sich eine Quelle oder einen Weiher, wo sie den Staub des Unfalls loswerden und sich für das Nachmittagsgebet reinigen konnte. Sie war dankbar für das ungewöhnlich milde Wetter dieser Jahreszeit; aus dem Vorjahr wusste sie noch, wie bitterkalt es im Norden werden konnte, und sie fürchtete sich vor dem ersten Schnee.
Sie entdeckte einen kleinen Wasserlauf zwischen moosüberwucherten Steinen und glatten Felsen. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, kam aber nicht nah genug an den Bach heran. Sie zog sich die Schuhe aus, um besseren Halt zu finden, kletterte über einen Felsen und hockte sich auf einen kleinen Vorsprung. Leider war er nicht breit genug, um sich hinlegen und mit den Händen Wasser aus dem Bach schöpfen zu können. Also beugte sie sich mit ausgestreckten Armen weit vor und versuchte so, das Wasser zu erreichen.
Ein Schrei löste sich aus ihrer Kehle, als sie das Gleichgewicht verlor und in den Bach stürzte. Dann hätte sie keinen Laut mehr ausstoßen können, denn die Kälte schnürte ihr die Luft ab. Das Wasser ging ihr nur bis zur Hüfte, aber ihre Füße fanden keinen Halt im Schlamm des Untergrunds. Sie rutschte, stieß mit einem Knie gegen einen scharfkantigen Stein, fiel hin und tauchte unter. Ihre Zähne klapperten, als sie sich wieder aufrichtete. Hastig schob sie sich das nasse Haar aus der Stirn, um besser sehen zu können. Doch es wollte ihr nicht gelingen, über die glitschigen Steine auf die Böschung hinaufzukommen.
»Greif zu!«, hörte sie plötzlich eine weibliche Stimme.
Erschrocken blickte Ezra zu dem Felsen über sich empor.
Unter einem Wasserfall weißblonden Haars konnte sie kein Gesicht erkennen, aber sie griff dankbar nach dem langen Stecken, der ihr hingehalten wurde. Mit dessen Hilfe schaffte sie es, über die Steine seitlich des Felsens die Böschung zu erklettern.
»Du siehst nicht so aus, als ob du ein Bad nehmen wolltest«, sagte die Stimme und setzte dann verwundert hinzu: »Weshalb trägst du Männerkleidung?«
Ezra verstand nur einen Bruchteil der fränkischen Worte, aber sie erkannte die Sprecherin. Eigentlich hätte sie erschreckt davonlaufen müssen, denn das junge Geschöpf mit dem weißblonden Haar gehörte zum Hof des Königs. Aber Ezra war zu erschöpft und durchgefroren, um sich zu rühren.
»Zieh sofort alles aus, sonst holst du dir den Tod«, sagte Gerswind, das junge Mädchen, das Ezra als Ziehkind des Königs kannte und das über die Nähstube des Palatiums herrschte. Sie zerrte Ezras Wams herunter. »Du kannst mir später erzählen, wer du bist, wo du herkommst und weshalb du dich als Mann verkleidest. Verstehst du, was ich sage?«
Weil sie nur den letzten Satz verstanden hatte, schüttelte Ezra den Kopf.
Gerswind lachte und wechselte ins Lateinische über, während sie Ezra half, sich aus der klatschnassen Kleidung zu schälen: »Du machst dich zum Mann, damit du auf der Baustelle Arbeit findest?«
Ezra nickte.
»Aber warum bist du dann hier im Wald?«
Ezra räusperte sich.
»Weil ich mich waschen wollte«, brachte sie heiser die ersten Worte seit undenklichen Zeiten hervor. Sie schloss die Augen. Es war eine Wohltat, wieder einmal Laute zu formen, eine Befreiung aus dem selbst gewählten Gefängnis der Sprachlosigkeit.
»Leg dich hin!«, sagte Gerswind, »dein Blut muss wieder richtig fließen.« Sie zog ihren wollenen Umhang aus, wickelte Ezra darin ein und rieb das zitternde Bündel geschwind und kräftig ab.
»Und jetzt frierst du«, sagte Ezra und wunderte sich über die Freude, die diese völlig überflüssige Äußerung in ihr auslöste.
»Die Bewegung wärmt mich«, gab Gerswind zurück, »ich muss dir das Haar trocknen, setze dich auf und senke den Kopf.«
Sie hob den Saum ihres Kleides an, kniete sich vor Ezra hin, sammelte den Stoff in beide Hände und bearbeitete damit Ezras dichten dunklen und sehr nassen Haarschopf.
Als keine Feuchtigkeit mehr durch den Leinenstoff drang, ließ sie den Saum wieder fallen.
Ezra hob den Kopf, ohne sich das wirre Haar aus dem Gesicht zu streichen. Entgeistert wich Gerswind zurück.
»Ich … ich kenne dich«, stotterte sie. »Du bist der Sohn des Baumeisters!«
Die sehr weiblichen Brüste, die aus dem offen klaffenden Umhang hervorlugten, straften ihre Worte und Ezras Nicken Lügen.
»Du bist ein Mädchen!«, rief Gerswind.
»Ich bin ein Mädchen«, wiederholte Ezra.
»Und du kannst sprechen! Wie das?«
»Weil ich jetzt die bin, die ich bin«, erwiderte Ezra und staunte über die Worte, die wie frisches Wasser aus einem Quell ohne jegliches Nachdenken aus ihrem Mund herausgeplätschert waren. Jahrelang hatte sie sich ausschließlich mittels ihres Wachstäfelchens verständigt, stets darauf bedacht, die Mitteilungen kurz und auf das Notwendigste beschränkt zu halten. Nie hatte sie es sich erlauben können, ein unüberlegtes Wort in die Welt hinaus zu entlassen. Bis jetzt.
»Wer bist du?«, fragte Gerswind.
Ezra erhob sich mühsam, ließ den Umhang von den Schultern gleiten, breitete die Arme aus und erwiderte, nackt vor Gerswind stehend: »Sag du es mir.«
»Kein Sohn«, stellte Gerswind fest, griff nach dem langen wollenen Tuch und legte es Ezra wieder um. Während sie die nasse Männerkleidung einsammelte, auswrang und in ihrem Weidenkorb verstaute, sagte sie: »Du musst schnell heim und dir etwas Warmes anziehen. Schau, da sind deine Schuhe. Wenigstens die sind trocken. Zieh sie an, wir gehen.«
»Das ist unmöglich«, flüsterte Ezra, »so kann ich mich nirgendwo sehen lassen.«
Gerswind trat einen Schritt vor, strich Ezra mit den Fingern das Haar aus der Stirn und kämmte es glatt nach hinten.
»Mit nacktem Gesicht wird dich keiner erkennen«, sagte sie.
Ezra rührte sich immer noch nicht vom Fleck.
»Stell dir doch einfach vor, mein Umhang wäre eine Tarnkappe«, sagte Gerswind. »Dann wird dich auch keiner wahrnehmen.«
»So etwas glauben doch nur Kinder«, erwiderte Ezra unwillig.
»Und genau deshalb werden sie oft genug übersehen«, sagte Gerswind fröhlich. »Vor allem, wenn die Aufmerksamkeit der Menschen auf etwas anderes gerichtet ist. Dann kannst du dich im Wald zu einem Baum unter Bäumen machen. Und dann könnte sogar ein Wolf unbemerkt durch den Schafstall laufen, das heißt, wenn er darauf verzichtet, Unheil anzurichten. Aber weil das gegen seine Natur ist und er natürlich ein Schaf reißen wird, nimmt man ihn eben wahr. Bliebe er friedlich, wäre er unsichtbar.«
»Gerade wegen eines Wolfs bin ich hier«, murmelte Ezra. Und weil sie den dringenden Wunsch verspürte, mit diesem seltsamen Mädchen zu reden, folgte sie Gerswind durch den Wald und erzählte ihr von dem Unfall auf der Baustelle.
»Dein Sarazenengott hat dich beschützt«, sagte Gerswind, als sie behutsam ein paar Zweige zur Seite bog. »Du hast ihm gewiss schon auf deine Weise gedankt.«
Ezra blieb abrupt vor einem großen Felsstein mit gerundeter Kuppe stehen.
»Was weißt du von meinem Gott?«, fragte sie verwirrt, sich nackter fühlend als soeben am Bach, denn hier sah sie ein bedeutenderes Geheimnis gelüftet als das um ihr Geschlecht.
»Dass er dir geholfen hat«, erwiderte Gerswind und strich sanft über eine Furche im Gestein des hohen Felsens. »Mehr nicht, weil er, soweit ich weiß, nicht zu den Göttern meiner Ahnen gehört.«
Ezra zweifelte an ihrem Latein. Hatte sie das Mädchen richtig verstanden?
»Götter?«, hakte sie nach. »Deine Ahnen hatten Götter?«
»Ich bin Sächsin«, sagte Gerswind leise.
»Das kann doch nicht sein!«, versetzte Ezra heftig. »Du gehörst zum Hof, bist dem König wie eine Tochter. Der ist Christ, und die Sachsen sind seine Feinde!«
Gegen die der König gerade wieder erfolgreich zu Felde gezogen war, wie sie vor wenigen Tagen auf der Baustelle gehört hatte. Binnen einer Woche sollte Karl wieder in Aachen eintreffen. Ezra hätte zu gern gewusst, ob auch Isaak sein Ziel erreicht hatte; ob er dem mörderischen Fredo und dem verlorenen Schatz des Kalifen auf die Spur gekommen war; ob er die weite Reise überhaupt unbeschadet überstanden hatte. Daher hielt sie während der Mahlzeiten stets die Ohren offen. Doch jeder neu eintreffende Kundschafter aus Karls Heerlager berichtete nur von allerlei Heldentaten der fränkischen Kämpfer und von Karls Begeisterung, den Sachsen so schnell das Handwerk gelegt und so viele Geiseln genommen zu haben. Isaaks Name fiel nie. Ezras Unvertrautheit mit den Höflingen und ihre eigene Sprachlosigkeit hinderten sie daran, Erkundigungen einzuziehen. Einmal hatte sie Einhard ihr Wachstäfelchen vorgehalten, auf dem sie hinter den Namen des Fernhändlers das am Karlshof vor Kurzem eingeführte Fragezeichen gestichelt hatte.
Einhard hatte mit den Schultern gezuckt und freundlich bemerkt: »Euer jüdischer Freund wird gewiss irgendwann wiederkommen, sorge dich nicht um ihn.«
Das war nicht die Auskunft gewesen, die sie erhofft hatte. Und die ihr Gerswind wohl auch nicht würde geben können.
Diese antwortete jetzt auf Ezras Frage: »Ja, die Sachsen sind seine Feinde, und mein Vater war des Königs allergrößter Feind. Er hieß Widukind und führte mein Volk gegen König Karl in den Krieg. Der König hat ihn besiegt, wurde sein Taufpate und hat mich daraufhin bei sich behalten.«
Ezra holte tief Luft, ließ sich neben dem Felsen ins Moos fallen und wiederholte still für sich Gerswinds letzten Satz. Welch tragisches Schicksal war hier in harmlos klingende Worte verpackt.
»Du bist also eine Geisel«, flüsterte sie.
Gerswinds Antwort klang fröhlich: »Der König nennt mich seine Beutefrau.«
»Frau?«, rief Ezra empört. »Bist du dafür nicht zu jung?«
Gerswind sagte zunächst nichts. Sie ließ sich neben Ezra auf den Waldboden gleiten und starrte den Felsen mit der runden Kuppe an, als könnte dieser Ezras Frage beantworten.
»Ja«, stellte sie schließlich fest. »Ich bin zu jung, das weiß jeder, du bist ein Mädchen, und das weiß nur ich.« Sie lächelte. »Sag mir, Ezra, warum hast du gerade hier angehalten und dich niedergelassen?«
Weil ich so erschrocken über deine Offenbarung war und nicht weitergehen konnte, wollte Ezra sagen, aber erneut sprudelten ungeplante Worte aus ihr heraus: »Es schien der richtige Ort zu sein.«
Gerswind strahlte. »Du spürst es also auch? Dass dies eine Stätte der Macht ist?« Sie wartete nicht auf Ezras Antwort, sondern fuhr fort: »Hierhin zieht es mich, wenn ich Fragen habe, die mir die Welt nicht beantworten kann. Hier bitte ich alle Götter, die ich kenne, um Rat und Führung. Das ist mein Geheimnis, Ezra. Und jetzt habe ich eine Bitte an dich.«
Ezra hob fragend die Augenbrauen.
»Sag mir, wie du deinen Gott nennst. Damit auch ich ihn ehren kann. Denn er hat dir das Leben erhalten.«
Angestrengt blickte Ezra auf den Fels, als wären in das Gestein die Namen sämtlicher Götter der Welt gemeißelt. Allah würde es nicht gutheißen, einer unter diesen vielen zu sein. Andererseits hatte er die Sächsin Gerswind als Werkzeug erwählt, um sie, Ezra, vor dem möglichen Tod durch Erfrieren zu erretten. Zudem war Ezra als Muslima verpflichtet, seinen Namen zu verbreiten.
»Allah«, flüsterte sie.
»Wie betest du zu ihm?«
Da es bereits zu dämmern begann, hatte Ezra die Orientierung verloren.
»Wo ist Osten?«, fragte sie.
Gerswind deutete auf den Stein.
Ezra stellte sich davor. Erst bewegte sie wie sonst auch nur stumm die Lippen, aber dann löste sich plötzlich der arabische Singsang aus ihrer Kehle, und das tat unendlich gut. Voller Hingabe warf sich Ezra auf die Knie, breitete die Arme aus und beugte sich tief, bis Stirn und Hände den Waldboden berührten. Im Freien bedurfte sie keiner Gebetsmatte, da die Erde rein war und es Allah wohlgefällig, wenn man sich ihm im Staub unterwarf. Gerswind hatte recht. Sie musste Allah für ihre zweimalige Rettung danken. Und so sprach sie singend hintereinander das Nachmittags- und das Abendgebet.
Erst als Ezra sich wieder erhob, sah sie, dass Gerswind immer noch in der islamischen Gebetshaltung am Boden verharrte.
»Ich bin fertig«, sagte Ezra leise.
Gerswind sprang auf.
»Dein Gebet klingt gut«, sagte sie, »sehr feierlich und etwas traurig. Weil ich deine Sprache nicht kenne, habe ich in meiner nur gesagt: ›Allah danke, dass du deine Tochter gerettet hast.‹ Meinst du, das reicht?«
Ezra trat vor und umarmte Gerswind.
»Gewiss«, versicherte sie. »Allah kennt alle Sprachen und kann in jedes Herz blicken.«
Gerswind sah zum Himmel.
»Wir müssen uns eilen«, sagte sie, »es wird bald dunkel.« Sie lachte. »Das ist gut, denn dann wirst du noch unsichtbarer sein.«
Während des raschen Marschs durch den Wald hing jede ihren Gedanken nach. Schließlich brach Gerswind das Schweigen: »Darf ich dich noch etwas fragen?«
»Alles.«
»Weshalb hast du nicht gemerkt, dass sich der Stein gelöst hat? Wenn alle anderen doch rechtzeitig weggesprungen sind?«
»Lucas«, murmelte Ezra. Und dann sprudelte es aus ihr heraus. Zum ersten Mal in ihrem Leben erzählte sie einem Menschen von sich selbst, eine Geschichte von Wundern und Einsamkeit, von Verstellung und Wahrhaftigkeit, von Ehrgeiz und Versagen, von Freundschaft und Fehlschlüssen.
Gerswind unterbrach sie nur einmal.
»Prüm?«, fragte sie stirnrunzelnd, als Ezra von Heda berichtete. »Da kenne ich mich aus. Weißt du, wie die Familie der Frau heißt?«
»Nein«, sagte Ezra, »sie schämt sich für das, was aus ihr geworden ist.«
»Für das, was ihr dieser Fredo angetan hat«, versetzte Gerswind mit ungewöhnlicher Heftigkeit.
»Ja«, sagte Ezra, »aber seitdem Lucas denkt, dass auch ich ihr so etwas angetan habe, kennt er mich nicht mehr.«
»Du liebst ihn«, stellte Gerswind fest.
»Ich bin ein Mann.«
»Du bist eine Frau. Wie ich.« Gerswind blieb stehen. »Entschuldigung«, sagte sie, riss Ezra den wollenen Umhang vom Leib und musterte im letzten Licht des Tages den weiblichen Körper.
»Was tust du da?«
»Ich habe deine Maße genommen«, antwortete Gerswind und reichte Ezra das Tuch zurück. »Heute geht es darum, dass dich niemand sieht, wenn wir zum Palatium zurückkehren, aber nächste Woche geht es darum, dass Lucas niemand anderen als dich sieht.«
»Wovon sprichst du?«
»Von dem großen Fest, das nach der Rückkehr des Königs gegeben wird. Von der Freundin, die mich dahin begleiten wird.«
»Welche Freundin?«
»Eine geheimnisvolle, wunderschöne junge Frau mit unverhülltem Gesicht, einem seltsamen dunklen Mal auf der Stirn und glänzendem, schwarzem Haar. Sie trägt ein Gewand …«, Gerswind überlegte kurz, ehe sie nachsetzte: »… in grüner Farbe, ja, es muss grün sein. Das alle ihre weiblichen Vorzüge zur Geltung bringt. Ihr einziger Schmuck wird das Leuchten in ihren graugrünen Augen sein. Und die Augen des jungen Lucas werden nur auf ihr ruhen.«