kapitel 5
mauern und mörtel
Bewahre dein Geheimnis mit Eifer! Tue es niemandem kund!
Denn wer sein Geheimnis verrät, verliert es zur selbigen Stund.
Und wenn die eigene Brust dein Geheimnis nicht fassen kann.
Wie kann dessen Brust es fassen, dem du es kundgetan?
Aus 1001 Nacht (die 9. Nacht)
monate zuvor
Wiewohl er den Baumeister heil an den Hof des Frankenkönigs gebracht hatte, war Isaak nicht der Ansicht, den Auftrag des Kalifen ordnungsgemäß erfüllt zu haben. Ehe er seine Rückreise nach Bagdad würde antreten können, um sich endlich wieder seiner eigentlichen Berufung, dem Fernhandel, zu widmen, mussten die Mörder von Haruns Männern gefunden und ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Nur mit dieser Nachricht würde er dem Kalifen wieder unter die Augen treten können.
Isaak hatte Iosefos entlockt, dass Harun ihn reichlich mit Golddenaren, Perlen und Smaragden ausgestattet hatte. Dieser geraubte Schatz konnte vielleicht auf die Spur der Mörder führen.
Golddenare des Abbasidenreiches waren schließlich die wichtigsten Münzen der Welt und im Frankenland normalerweise nicht in Umlauf. Sollte ein derartiges Goldstück irgendwo auftauchen, würde sich das in gewissen Kreisen herumsprechen. Nicht etwa in denen gemeiner Diebe, Hehler und Betrüger, sondern eher in solchen, die mit einem sehr reichen Haus Handel trieben. Nur in einem derartigen Umfeld konnte etwas von vergleichbarem Wert eingetauscht werden. Und da die kleine Reisegruppe in der Nähe von Aachen überfallen worden war, mutmaßte Isaak, dass Teile der Beute am Königshof angeboten werden würden.
Er blieb also weiterhin vor Ort, hielt Ohren und Augen offen und legte mehrmals in der Woche seinem alten Freund, dem königlichen Küchenmeister, neue Rätsel vor. Der war beim Osterfest zum Seneschall ernannt worden, womit ihm seitdem ein wesentlicher Teil der Hofverwaltung unterstand. Das machte eine enge Zusammenarbeit mit dem Kämmerer erforderlich, der über einen plötzlich aufgetauchten arabischen Golddenar gewiss kein Stillschweigen bewahren würde.
Isaaks Beharrlichkeit wurde ein Vierteljahr später, im Hochsommer, endlich belohnt.
»Diesmal habe ich ein Rätsel für dich«, begrüßte der Seneschall den Fernhändler und lud ihn in sein neues persönliches Gemach in einem der Fachwerkhäuser auf dem Pfalzgelände ein. »Zeilen sind darauf geschrieben, aber die Grundlage besteht weder aus Pergament noch aus Wachs oder Ton.«
Er reichte Isaak einen Becher Bier. Der schickte dankbar einen langen Schluck die ausgedörrte Kehle hinunter. In diesem Sommer herrschte in Aachen eine solche Hitze, wie er sie sonst nur aus der Wüstenstadt Bagdad kannte.
»Sand?«, schlug er vor.
Der Seneschall sah ihn erst ratlos an, lachte dann und bemerkte: »Du denkst an die Zeichnung des Architectulus? Nein, nein, diese Zeilen kann der Wind nicht verwehen, sie sind unauslöschlich und stehen auf Material, dünner als Pastetenteig. Jedoch kann es längst nicht so leicht einreißen wie dieser, auch wenn es weniger zäh ist als Pergament.«
Isaak überlegte einen Augenblick und fragte dann ungläubig: »Sprichst du etwa von Papier?«
Der Seneschall hob die Schultern. »Davon habe ich noch nie etwas gehört«, sagte er, öffnete einen Holzkasten und zog einen kleinen beschrifteten Bogen hervor. Er war an manchen Stellen eingerissen und ziemlich verschmutzt.
»Du bist viel herumgekommen, Jude. Vielleicht kannst du mir sagen, woraus das Material besteht und was diese seltsamen Zeichen bedeuten. Es sind keine Runen, aber sie sehen auch heidnisch aus. Morgenländisch vielleicht?«
»Woher hast du das?«, fragte Isaak heiser. Iosefos hatte in seiner Aufzählung des geraubten Gutes offenbar etwas ausgelassen. Diese Seite war aus einem arabischen Koran herausgerissen worden, aus einem Buch, das erst vor sehr Kurzem beschrieben worden sein konnte und möglicherweise Ezra gehörte. Isaak war nicht entgangen, dass sie sich auf der Reise gelegentlich davongeschlichen hatte, bemerkenswerterweise immer zu den islamischen Gebetszeiten. Dass sie in Aachen regelmäßig die christliche Messe besuchte, wie er erfahren hatte, war kein Widerspruch. Nur dabei konnte das seltsame Geschöpf einen der köstlichen Düfte seiner Heimat einatmen, den Weihrauch, den er selbst aus dem Oman eingeführt hatte und der vor allen anderen Gerüchen die Luft Bagdads bestimmte. In der christlichen Kirche stillte Ezra ihr Heimweh.
»Ich habe es von einer Frau, die im Handwerkerdorf ihren Körper feilgeboten hat«, antwortete der Seneschall. »Jetzt ist sie hochschwanger und kann nicht mehr arbeiten. Ich habe ihr für diesen Fetzen Brot, Speck und Käse gegeben. Sag schon, war das zu viel? Was ist das?«
»Hanfpapier«, sagte Isaak, »für einen Silberdenar nehme ich es dir ab.«
»Drei«, sagte der Seneschall prompt. »Drei Silberdenare.«
»Dann lass es mich erst genauer betrachten«, sagte Isaak ausweichend und griff nach dem Papier.
Er nahm sich zum Studium des Geschriebenen so viel Zeit, wie ein Kessel Wasser zum Kochen brauchte. Kein Golddenar, dachte er, wieder einmal ist es eine Schrift, die den Lauf der Dinge ändern und bessern kann. Harun ist wohlberaten, sein Haus der Weisheit einzurichten! Jetzt, da sich die Räder der Papiermühlen in Bagdad endlich so drehen, wie er es angeordnet hat.
Während eine Region seines Hirns überlegte, wie er mittels dieses Papiers seine Mission würde erfüllen können, prägte sich einer anderen der vorliegende Teil der 38. Sure so gründlich ein, dass er ihn hinterher auswendig hätte hersagen können: Und wir festigten seine Königsherrschaft und gaben ihm die Weisheit und die Fähigkeit, Streitfälle zu entscheiden. Ist dir nicht die Geschichte von denen, die miteinander stritten, zu Ohren gekommen? Damals, als sie über die Mauer in das Gebetsgemach einstiegen! Und bei David eintraten. Da fürchtete er sich vor ihnen. Sie aber sagten: »Hab keine Angst! Wir sind zwei Prozessgegner, von denen der eine dem anderen Gewalt angetan hat. Entscheide nun zwischen uns nach der Wahrheit, lass dir keine Abweichung zuschulden kommen und führe uns auf den rechten Weg!«
»Wenn du noch länger brauchst, verlange ich vier Silberdenare«, unterbrach der Seneschall Isaak in Lektüre und Betrachtung.
Still lächelnd, las der Jude den letzten Satz auf der Seite: Diejenigen, die vom Wege Allahs abirren, haben dereinst eine schwere Strafe zu erwarten. Das geschieht ihnen dafür, dass sie den Tag der Abrechnung vergessen haben.
Sein Tag der Abrechnung schien sich jedenfalls endlich zu nähern. Isaak wusste jetzt, wie er vorgehen würde, und reichte dem Seneschall das Papier zurück.
»Ich gebe dir gar nichts dafür«, erklärte er.
»So wertlos?«
»Im Gegenteil. Dieses Schriftstück ist unbezahlbar. Ich mag mir nicht ausmalen, wie der König denjenigen strafen wird, in dessen Besitz es sich befindet.«
Der Seneschall erbleichte. »Nun sag schon, Isaak, wovon kündet es?«
»Von Golddenaren, Perlen und Smaragden, die der edle Herrscher des Abbasidenreiches, der hochherzige Kalif Harun al Raschid, seinem Freund, dem großen König Karl des Frankenlandes, als Geschenk mit großer Hochachtung zu Füßen legen will. Glaubst du nicht auch, dass König Karl nach dem Verbleib dieser Schätze fragen wird? Und nach dem des Mannes, der die Kostbarkeiten bei ihm hätte abliefern sollen?«
Misstrauisch verengten sich die Augen des Seneschalls. »Bist du selbst nicht erst kürzlich im Morgenland gewesen?«, fragte er.
»Ganz richtig. Das ist ein Schutzbrief, mein Freund. Mein Schutzbrief. Den mir der Kalif höchstselbst ausgehändigt hat, auf dass ich ihn König Karl überreiche. Aber wie du weißt, bin ich auf der Herreise überfallen und ausgeraubt worden. Mithilfe dieses Schriftstücks könnte ich wahrscheinlich die Räuber dingfest machen und dem König das Seine zukommen lassen.«
Hastig drückte der Seneschall Isaak das Papier in die Hand.
»Nimm es, nimm es«, sagte er eilig. »Du brauchst mir dafür nichts zu geben.«
Isaak zog einen Silberdenar aus seinem Geldbeutel und legte ihn auf den Tisch.
»Ich halte mein Wort«, sagte er. »Und nun tu uns beiden einen Gefallen: Schaffe die Frau herbei, von der dieses Schriftstück stammt. Kann sie uns zu den Räubern führen, wird es dir der König gewiss lohnen.«
wieder im oktober 795
»Führ mich augenblicklich zu diesem Beinhaus! Worauf wartest du noch?«, wandte sich Einhard jetzt ungeduldig an Lucas. Dessen Vater hatte es vorgezogen, neben der Mauer einen Handwerker in ein offensichtlich überaus wichtiges Gespräch zu ziehen. Odos Talent für große Reden war ausschließlich der Menge vorbehalten. Es erschöpfte sich im kleinen Kreis, vor allem, wenn sein Sohn ihn mit Unerwartetem bestürzte und ihn damit jeglicher Phantasie beraubte. Über eine solche verfügte Lucas dagegen im Übermaß. Sie würde ihn irgendwann ins Unglück stürzen, hatte der Vater dem Sohne schon öfter prophezeit. Man baue auf Bewährtem auf und füge den Erfahrungen vorangegangener Generationen behutsam ein paar wenige neue Steine hinzu. Die Mauern dessen, der sein Bauwerk hochmütig in den Himmel wachsen lasse, würden einstürzen und den Vermessenen unter sich begraben. Verweise auf den Turmbau zu Babel unterließ Odo; schließlich arbeiteten an ihrem Turm in Aachen Menschen unterschiedlichster Völker, ohne dass es, bisher jedenfalls, zu baubedrohlicher Sprachverwirrung gekommen wäre.
Aber Odo fürchtete um die Zukunft seines Sohnes, der in der Sache mit den menschlichen Überresten wieder einmal tollkühn vorgeprescht war. Er fürchtete sich vor dem Zorn des Königs, sollte diesem die Ameise Einhard zutragen, dass auch christliche Knochen das Fundament seiner Kirche befestigten.
Einhard hob einen Arm, umschrieb mit einem weiten Bogen den Kreis der sechzehn vier- und dreieckigen Umgangsjoche des Fundaments und verkündete: »Wir sollten diesen Christenknochen schnell dorthin bringen, bevor er wieder in eines jener Löcher gerät.«
»Nein«, mischte sich Iosefos ein und stellte sich Einhard in den Weg. »Dieser Knochen wird nirgendwohin gebracht, ehe ich auf meine Frage eine Antwort erhalten habe. Wann werden die Arbeiter entlohnt und wann erhalte ich mein Geld zurück?«
Mit schnellem Griff entriss er Einhard den Knochen und hielt ihn dem kleinen Schreiber wie eine Waffe entgegen.
»Geht!«, schrie er Ezra und Lucas an, die reglos neben ihm standen. »Kümmert euch endlich um den Mörtel! Und schafft den Mann her, der ihn zu früh dem Bad im Wasser entnommen hat! Er sollte ausgepeitscht werden!«
Dankbar für die Geistesgegenwart des Iosefos, eilten die Baumeisterkinder davon.
»Komm«, flüsterte Lucas Ezra zu, als sie außer Hör- und Sichtweite waren. »Ich zeige dir, woher wir Knochen zum Bestatten beschaffen können. Das willst du doch wissen, oder nicht?«
Ezra wiegte den Kopf, nicht sicher, ob sie wirklich wissen wollte, wo er Skelette auszugraben beabsichtigte.
»Keine Sorge«, sagte Lucas. »Es sind uralte Knochen aus vorchristlicher Zeit; da ist überhaupt nichts Menschliches mehr dran. Und das Beste daran ist – nein, das sage ich dir jetzt nicht. Lass dich überraschen.«
Aus seiner Stimme war Erleichterung herauszuhören, so glimpflich davongekommen zu sein. Und die Vorfreude, mit dem gleichaltrigen Knaben ohne störende Ältere allein durch seine Heimatstadt zu streifen, wo er früher mit den Kindern von Arbeitern und Handwerkern auf der Straße, im Wald oder in alten Ruinen gespielt hatte. Wie lange das alles schon zurücklag!
Der Kontakt zu den einstigen Spielkameraden war verloren gegangen, als er zum Unterricht in die Hofschule geschickt wurde. Mit den neuen Mitschülern, zumeist Söhnen von Höflingen, verband ihn herzlich wenig. Die anderen vergnügten sich auf der Jagd, übten sich in Waffenkunst oder bereiteten sich im Skriptorium auf ein künftiges Mönchsdasein vor, während er seinem Vater in der Werkstatt und auf Baustellen zur Hand ging. Dermaßen mit dem ihm vorgezeichneten Weg beschäftigt, war Lucas nie auf den Gedanken gekommen, dass seinem Leben etwas fehlen könnte. In welch großer Einsamkeit er herangewachsen war, ging ihm erst auf, als er mit Ezra zusammenzuarbeiten begann.
Nie hätte er früher zu hoffen gewagt, einem Gleichaltrigen zu begegnen, der sich für die korrekte Rundung eines Torbogens weitaus mehr begeistern konnte als für die eines Jagdbogens. Der eine Vision von Architektur hatte und nicht nur Altbewährtes nachbauen, sondern Neues, bisher Unerprobtes in die Welt hineinstellen wollte. Schon beim ersten Blick auf die wunderlich schönen Sandzeichnungen hatte er sich ihrem Urheber eng verbunden gefühlt, sein freudiges Erstaunen kaum zu verbergen vermocht, als sich herausstellte, dass hier kein alter erfahrener Baumeister am Werk gewesen war, sondern ein gleichaltriger Jüngling. Dem, wenn er Ezras Blick bei ihrer ersten Begegnung richtig deutete, sofort klar gewesen war, wer die Skizzen auf das Wachs übertragen hatte, und der beglückt darüber zu sein schien. Wir sind beide am selben Tag aus dem Schatten unserer Väter herausgetreten, dachte Lucas. So etwas bleibt unvergesslich und verbindet.
Er spürte, dass Ezra auch ihn mochte und schätzte, verstand aber nicht, weshalb der Sohn des Iosefos jenseits von Zeichnungen seine Gesellschaft ablehnte. Sie hatten doch so viel gemeinsam, warum also hielt Ezra das Versprechen des ersten Blicks nicht ein? Er schien Lucas unter dem gemeinsamen Dach sogar auszuweichen!
Zunächst hatte der Sohn des Odo angenommen, dass sich Ezra wegen seiner Stummheit schämte. Er beschloss also, es dem Gleichaltrigen leichter zu machen und ebenfalls nur noch in einer Art Zeichensprache mit ihm zu reden. Ezra hatte sich seine Grimassen und verzogenen Glieder kurz angesehen, still gelacht und dann auf das Wachstäfelchen gekritzelt: »Rede, mein Freund, das kannst du viel besser.«
»Ist mir auch viel lieber«, hatte er geantwortet und sogleich einen Ausflug in die nähere Umgebung vorgeschlagen. Was Ezra, wie schon so oft zuvor, abgelehnt hatte. Aber jetzt gab es endlich einen Grund für einen gemeinsamen Gang durch die Stadt.
Nachdem er die jungen Leute fortgesandt hatte, wandte sich Iosefos wieder Einhard zu. In seinen Augen war echte Verzweiflung zu lesen.
»Entschuldigung, Schreiber, dass ich dich so hart angefahren habe«, sagte er. Seine Stimme klang jetzt zwar leise, dadurch aber nicht minder bedrohlich. »Wir haben einen Tag Arbeit verloren, weil der Mörtel zu steif zum Verarbeiten wurde. Kalkmörtel und Ziegelmehl müssen ununterbrochen gewässert werden. Mit dem nassen Ziegelzuschlag legen wir nämlich Feuchtigkeitsspeicher im Inneren des Mauerwerks an. Verstehst du, Schreiber, nur so kann der Mörtel langsam, aber sicher hart und fest genug werden, dass die Mauern auch noch in späteren Jahrtausenden die Kuppel werden tragen können. Dieses Bauwerk soll schließlich für die Ewigkeit gemacht werden.«
Während seiner Ansprache hatte er den Unterschenkelknochen gesenkt. »Aber wenn die Menschen Hunger haben, vernachlässigen sie ihre Aufgaben. Wann also werden sie entlohnt?«
»Die meisten leisten hier ihren Frondienst ab«, flüsterte Einhard, dem vor Gewalt graute. Wiewohl sich der lange hagere Iosefos inzwischen wieder etwas beruhigt zu haben schien, sah er immer noch furchterregend aus. Einhard bedachte, dass dieser Mann Odo zufolge einst seinen Meister vom Gerüst gestürzt hatte, und trat einen weiteren Schritt zurück.
»Aber deswegen darf man sie doch nicht verhungern lassen!«, trompetete Iosefos.
»Ich werde mich darum kümmern«, versprach Einhard.
»Und ich kümmere mich hierum.« Iosefos hielt den Knochen des Anstoßes wieder hoch. »Was ist nun mit meinem Geld?«
»Es wird dir erstattet werden, Meister Iosefos«, versicherte Einhard.
»Die Schatzkammer ist leer«, bemerkte der Baumeister.
»Nicht mehr lange«, entfuhr es Einhard.
»Ach?«
»Hör zu, Baumeister«, sagte Einhard eindringlich. »Ich verrate dir quasi als Vorschuss auf deine Bezahlung ein Geheimnis …« Er zögerte, »… wenn du es denn zu bewahren vermagst?«
Iosefos hob nur eine Augenbraue.
»Des Königs Sohn, König Pippin von Italien …«
Einhard brach ab. Dem Mann, der ihm soeben noch Furcht eingeflößt hatte, konnte er unmöglich derart Vertrauliches mitteilen. Zumal dieser nicht zu versprechen geneigt schien, das Geheimnis für sich zu behalten.
»… hat den Ring der Awaren gesprengt, die Mauern der Heiden bezwungen und ihren sagenhaften Schatz erobert«, vollendete Iosefos den Satz, ohne an dessen Ende fragend die Stimme zu heben. Er musterte Einhard forschend und unterdrückte ein Lächeln, als er in des Schreibers Gesicht las, dass er richtig geraten hatte. Schneidender setzte er fort: »Wann trifft er denn in Aachen ein, der junge König mit dem Schatz, der das Ende unserer finanziellen Sorgen bedeutet?«
»Morgen«, antwortete Einhard tonlos und wandte sich ab. Es wurde Zeit, dass auch König Karl zurückkehrte und diese ruchlosen Baumeister in die Schranken wies. Zum ersten Mal fühlte sich der junge Einhard von der Aufgabe überfordert, jede Bauphase der Kirche penibel zu überwachen. Offenbar wurde Entscheidendes an ihm vorbei beschlossen. Außerdem wurde am Hof viel zu viel geredet. Das alles musste sich ändern.
Iosefos weigerte sich, über Last und Unlust der Ameise nachzudenken. Er schleuderte den Unterschenkelknochen ins nächste Joch.
»Und wo ist mein eigener Schatz?«, knurrte er vor sich hin, nicht ahnend, dass Isaak diesem dank eines kleinen Papiers schon Monate zuvor auf die Spur gekommen war. Und dass Ezra ihm dabei geholfen hatte.
im hochsommer, monate zuvor
Isaak sprach die schwangere junge Frau, selbst noch fast ein Kind, vor dem Küchenhaus an. Sie weigerte sich, ihren Namen zu verraten. Sie wolle keine Schande über ihre Familie bringen, murmelte sie. Man solle sie so nennen, wie die Männer sie jetzt riefen: Heda.
Ängstlich starrte sie auf das Schriftstück, das ihr Isaak unter die Nase hielt.
»Ist es ein böser Zauber?«, fragte sie. Zwischen das mögliche Übel und das Ungeborene legte sie schützend beide Hände auf den hohen Leib.
»Ein Zauber, ja«, antwortete Isaak, »aber böse nur für den, der ihn entwendet hat.«
»Ich habe ihn nicht gestohlen!«, erwiderte Heda heftig. »Ein Mann hat ihn mir gegeben. Was soll ich damit, habe ich ihn gefragt, das kann man doch nicht essen. Bitte, Herr …« Sie fasste Isaak am Ärmel, »er darf mir nicht noch mehr Leid bringen!«
»Sprich, Mädchen«, sagte Isaak leise, »wer war der Mann, und wo ist er jetzt?«
»Da, wo er Beute machen kann«, erwiderte Heda. »Das ganze Unglück fing mit den Altartüchern an.«
Diese, wie auch andere Stoffe, hatte sie früher für die Goldene Kirche der Abtei zu Prüm gewaschen und damit der armen Bauernfamilie, der sie entstammte, ein Zubrot verschafft. Bis ihr zwei Winter zuvor an der Pforte der Abtei der Mann Fredo begegnet war. Höflich hatte er sie angesprochen, ihr den Stapel Wäsche abgenommen und ihr mit vielen schönen Sprüchen den Kopf so verdreht, dass sie nur noch den Wunsch verspürte, ihr altes Leben hinter sich zu lassen und mit diesem Mann in das gelobte Land aufzubrechen, das er Aachen nannte. Wo er die Mauern des Königspalasts hochziehen und damit reich werden würde. Wie auch die Frau, die das Glück hätte, ihn begleiten zu dürfen. Heda gab die Altartücher im Kloster ab. Ohne sich von ihrer Familie zu verabschieden, zog sie mit Fredo nach Aachen.
»Wo er, statt selbst zu arbeiten, dich an die Maurer verkauft hat«, sagte Isaak, der ähnlich traurige Geschichten auf seinen Reisen schon sehr oft gehört hatte.
»Bis er die anderen Männer kennenlernte«, flüsterte Heda, »da hat er dann über mein Geld gelacht. Weil er mit ihnen zusammen viel mehr verdiente. Aber ich habe nie etwas davon gesehen. Nur das.«
Sie nickte zu dem Papier hin.
»Wo ist er jetzt?«
»Da, wo der König ist. Weil er jetzt ein Pferd hat, soll er Sachsen töten. Das ist ihm egal, hat er gesagt, da ist gut Beute holen, auch wenn es weiter weg ist als sonst. Ich verstehe das alles nicht.«
Isaak setzte sich das, was Heda nicht verstand, selbst zusammen. Das edle Pferd, das einst einem Sohn des Markarios gehört hatte, war in Aachen aufgefallen. Deshalb hatte man diesen Fredo offenbar gezwungen, sich der Truppe des Königs anzuschließen, die einen Sachsenaufstand an der unteren Elbe niederschlagen sollte. Isaak wusste, wie solche Strafexpeditionen aussahen: Ansiedlungen wurden ausgeplündert und niedergebrannt; Überlebende verloren ihren gesamten Besitz, wurden gefangen genommen oder in weit entfernt liegende Gegenden verschleppt und genötigt, sich in der Fremde anzusiedeln. Wer auf Befehl des Königs mordete und brandschatzte, konnte als Lohn die Habe der Überfallenen einstreichen, natürlich nur, solange es nicht um wirklich wertvolle Schätze ging, wie zum Beispiel jene, die hinter den Ringmauern der Awaren lagerten. Die standen dem König selbst zu.
Wenn Fredo noch lebt, wird er sich seiner Beute nicht mehr lange erfreuen, überlegte Isaak grimmig. So schnell wie möglich gedachte der Fernhändler, der Spur des Königs nach Osten zu folgen.
Eine weite Reise. Auf die er unmöglich eine hochschwangere Frau mitnehmen konnte. Aber wie sollte er unter den Hunderten, vielleicht sogar Tausenden fränkischer Kämpfer den Mann erkennen, der ihre Begleiter ermordet und Iosefos den Schatz geraubt hatte? Er sah nur eine Möglichkeit.
Noch am selben Tag passte er Ezra auf der Baustelle ab, wo gerade die Gräben für die Fundamente ausgehoben worden waren. Er deutete auf das Wachstäfelchen, das an ihrem Gürtel baumelte.
»Bitte«, sagte er, »ich muss dringend mit dir sprechen.«
Sie sah ihn erwartungsvoll an, doch seine Frage erschreckte sie zutiefst: »Kannst du auch Menschen zeichnen?«
Ja, das konnte sie, sogar sehr gut. Doch der heilige Mann, der sie in Bagdad seit frühster Kindheit unterrichtet hatte, war sehr zornig geworden, als sie eine Zeichnung von ihm angefertigt und ihm stolz überreicht hatte. »Allah lehnt Bildnisse des Menschen ab«, hatte der Mann gesagt, der die geheimen Botschaften des Korans besser kannte als alle anderen. Verwirrt hatte das Kind Ezra, das damals noch sprach, auf die Abbildungen des Kalifen im Bagdader Palast verwiesen, von denen der Vater erzählt hatte.
»Unser Herrscher ist beklagenswertem Einfluss ausgesetzt. Wenn Allah ihm dies endlich eingibt, wird er alle Bildnisse entfernen sowie diejenigen, die ihm diesen Frevel eingeflüstert haben. Mohammed sagt, Maler von Lebewesen gelten vor Gott am Tage der Auferstehung als die schlechtesten aller Geschöpfe. Der Herr wird von ihnen verlangen, dass sie ihren Bildern Lebensodem einhauchen. Werden sie dazu in der Lage sein, Ezra? Denk darüber nach, mein Kind, und zeichne nie wieder eine lebendige Kreatur. Der Schöpfungsakt ist Allah dem Allmächtigen, gepriesen sei sein Name, ganz allein vorbehalten.«
Der Einfluss des alten Mannes auf das kleine Kind war zu groß, als dass sich Ezra nicht an sein Gebot gehalten hätte, auch wenn sie trotz gründlicher Lektüre nirgendwo im Koran einen Hinweis auf ein Verbot von irgendwelchen Zeichnungen fand. Aber Imame waren schließlich dazu da, die geheimen Botschaften zwischen den Zeilen des Niedergeschriebenen zu entziffern und den Gläubigen weiterzugeben.
Gerade in letzter Zeit juckte es Ezra besonders in den Fingern, ein menschliches Antlitz auf Pergament zu bannen. Schon mehrfach hatte sie beim müßigen Herumkritzeln die entstehenden Gesichtszüge von Lucas in sehr seltsame Ornamente verwandeln müssen.
»Schade«, sagte Isaak, der in Bagdad von dem beginnenden Bilderstreit gehört hatte – der dem in der Christenwelt nicht unähnlich war – und ahnte, was in Ezra vorging. »Jedem Gott sollte es gefällig sein, wenn Mörder ihrer Strafe zugeführt werden.«
Er blickte eine Weile schweigend vor sich hin, zog dann umständlich das Papier hervor und tat, als vertiefte er sich in den Text. Ezra stieß einen heiseren Laut aus und wollte nach dem Schriftstück greifen.
Isaak versteckte es hinter seinem Rücken.
»Ich habe nur eine einzige Seite«, sagte er. »Wenn du das ganze Buch wieder in deinen Besitz bringen willst, musst du das Bild dessen zeichnen, der es gestohlen hat. Wie er aussieht, wird dir eine Frau beschreiben, der er ebenfalls übles Leid zugefügt hat. Nur so kann die Gerechtigkeit obsiegen.«
Sie hob ratlos die Schultern. Was würde ihr der Imam in einer solchen Lage raten?
»Komm mit«, schlug Isaak vor. »Ich werde dir die Frau vorstellen. Dann kannst du dir immer noch überlegen, ob du das Deinige dazu beitragen wirst, den Mord an gläubigen Muslimen zu rächen sowie den Raub des Heiligen Buches und eures anderen Eigentums, das euch der Beherrscher der Gläubigen anvertraut hat.«
Er führte sie in das Viertel der Ärmsten der Armen. Die hatten sich in Ruinen der Römer eingerichtet und sie mit Holz, Lehm und Steinen notdürftig gegen die Witterung geflickt. Diese Menschen würden jedoch alle bald eine neue Bleibe finden müssen; jeden Tag rückte die Schar von Abräumern näher, die im Auftrag des Königs die roten Ziegel aus dem alten Gemäuer herausbrach. Aus den Ziegeln musste jener Mörtel gewonnen werden, der die Steine von Karls Kirche zusammenhielt und der später den roten Putz hergeben würde, hinter dem die vielfarbige, unregelmäßige Gesteinswand verschwinden sollte.
Nachdem die ersten Steine des Fundaments in dicke Lagen der hellroten Masse gedrückt worden waren, hatte Iosefos, der Erfinder dieses Mörtels, befriedigt festgestellt: »Diese Steine sind bestens gebettet.«
Für die Menschen in jenem Viertel galt das weniger denn je zuvor.
Heda teilte sich ihre Ruine mit vier weiteren Huren. Da zwei von ihnen gerade ihrer Arbeit nachgingen, konnte sie Ezra und Isaak nicht ins Haus bitten. Isaak ließ sich auf dem morschen Baumstamm vor der Ruine nieder, und Ezra hockte sich nach Art der Sarazenen daneben. Heda setzte sich mit ausgestreckten Beinen auf die Erde, hielt sich den Bauch und begann zu erzählen.
Da ihnen sonst niemand lauschte und für Heda alles Nichtfränkische gleich fremdartig klang, übersetzte Isaak ihre Worte ins Arabische. Bei den lange vermissten vertrauten Klängen – Iosefos sprach in Aachen nur Griechisch oder Latein mit ihr – ging Ezra das Herz auf. Hedas Geschichte jedoch entsetzte sie. Wie schrecklich es doch sein musste, als Frau erst einem Mann ausgeliefert und später auf sich allein gestellt zu sein, ganz gleich, ob in Bagdad oder in Aachen. Die Bestimmung der Frau schien stets darauf hinauszulaufen, einem Mann oder vielen Männern zu Willen sein zu müssen. Galt denn für das Weib nicht, dass Allah den Menschen mit dem nötigen Werkzeug erschaffen hatte, um Wissen zu erlangen; jenem Werkzeug, das aus Hören, Sehen und Weisheit bestand? So etwas stand doch in der 16. Sure, oder nicht? Ach, wenn sie doch wieder in ihrem Koran lesen könnte – jenem Buch, aus dem dieser Mann, von dem Heda so Entsetzliches erzählte, eine Seite herausgerissen hatte.
»Wirst du den Unhold zeichnen?«, fragte Isaak, als Heda mit ihrer Erzählung zu Ende war.
Ezra nickte. Allah hatte sie mit einem Werkzeug ausgestattet. Es konnte nicht sein Wille sein, dass der mordende Mädchenhändler ungestraft blieb. Es konnte nicht sein Wille sein, dass sein Buch zerfleddert wurde.
Isaak erhob sich und zog einen dünnen, glatten, weißen Stein aus seiner unendlich tiefen Tasche. Er legte ihn vor Ezra hin und drückte ihr ein Stück Kohle in die Hand.
Große oder schmale Augen, fragte er Heda, rundes, langes oder viereckiges Gesicht, dichte oder dünne Augenbrauen, große oder kleine Nase, Bart oder nackte Wangen, ein forsches oder ein fliehendes Kinn? Für Ezra war es eine lange, mühsame und sehr schmutzige Angelegenheit.
Als Heda in Tränen ausbrach und die Hände nach dem Gesicht des Verbrechers ausstreckte, hielt Isaak das Bildnis für gelungen. Er zog ein Stück geweißtes Pergament, eine hölzerne Unterlage, eine Gänsefeder mit angespitztem Kiel und eine kleine silberne Dose aus den unendlichen Tiefen seiner Tasche.
»Tinte aus der Rinde des Schlehendorns«, sagte er, als er die Dose öffnete und Ezra eine dunkle Substanz zeigte. Er bat Heda um einen Becher mit etwas Wasser. »Auf meinen Reisen leistet sie mir gute Dienste. Und wenn ich sie flüssig gerührt habe, überträgst du damit deine Zeichnung aufs Pergament.«
Ezra musste rasch arbeiten, da der Sonnenuntergang nahte.
Unterdessen konnte Heda den Blick nicht von dem entstehenden Porträt lösen.
»Dein Freund ist ein Zauberer«, sagte sie ehrfurchtsvoll zu Isaak. Der übersetzte sehr frei: »Sie sagt, du hast diesem Bild wahrlich Leben eingehaucht. Nun, genau das wird dem Mann das seine kosten.«
Erschrocken ließ Ezra Pergament und Feder fallen. Wie würde Allah sie für ihre erneute Vermessenheit bestrafen? Hatte sie sich selbst zu seinem Werkzeug erkoren oder war sie dem alten Sprichwort gefolgt, wonach man den Arm küssen solle, den man selbst nicht brechen kann, damit Allah es tue? Ohne den beiden anderen einen Blick zu schenken, erhob sie sich und ging davon. Hastig verstaute Isaak das Bildnis in seiner Tasche, zog einen Silberdenar hervor und drückte ihn Heda in die Hand.
»Damit wirst du eine bessere Unterkunft finden«, sagte er. »Und um Essen für dich und dein Kind brauchst du künftig keine Sorge mehr zu tragen. Das königliche Küchenhaus wird dir geben, was du brauchst.«
Diesen Gefallen würde ihm der Seneschall gern erweisen, da war er sich sicher. Er eilte Ezra hinterher.
»Was fällt dir ein, dich einfach davonzumachen?«, schalt er sie. »Siehst du denn nicht, was dies für eine Gegend ist? Wenn die Schatten lang werden, sollte kein anständiger Mensch allein durch diese Gassen gehen!«
wieder im oktober 795
Jetzt, viele Monate später, waren die Schatten auch schon ziemlich lang, und dennoch führte Lucas sie in dasselbe Viertel zurück. Die Ziegelabräumer waren ein gutes Stück weitergekommen, hatten aber Hedas Bleibe bislang noch verschont.
»Als ich ein Kind war, wohnte hier niemand«, erzählte Lucas. »Damals konnte ich mit meinen Freunden unbekümmert in diesen Ruinen spielen. Doch dann zogen die Bauarbeiten an der Pfalz immer mehr Gesindel an. Diebe, Vagabunden, Bettler und Huren nisteten sich hier ein und machen uns seitdem viel Ärger. Heute würde ich hier nicht allein hingehen, aber zwei Männer wird man nicht so schnell überfallen, und von den Frauen wollen wir ja auch nichts …« Er stockte. »Ezra, was machst du da?«
Natürlich gab sie keine Antwort. Er sah entgeistert zu, wie sie sich einer Frau näherte, die vor einer zusammengeflickten Ruine ihre Reize feilbot. Sein Entsetzen steigerte sich, als sich die Frau vor dem Sohn des Iosefos auf den Boden warf und seine Knie umklammerte. Ezra schüttelte den Kopf, half der Dirne wieder auf die Beine, berührte leicht den Bauch der Frau, hob die Schultern und breitete beide Arme mit den Handflächen nach oben aus.
»Architectulus, Architectulus«, murmelte Lucas vor sich hin und trat hinzu.
Wie hatte er sich nur so irren können! Ezra musste es faustdick hinter den Ohren haben. Im väterlichen Umfeld gab er sich als scheues, mönchartiges Geschöpf, aber insgeheim schien er es mit schmutzigen Huren in der verruchtesten Gegend der Stadt zu treiben. Deshalb also lehnte er es ab, mit Lucas das Hofgelände zu verlassen! Deshalb hatte er nicht mit ihm in einem Bett schlafen wollen, sondern auf ein eigenes Lager bestanden! Von dem er sich des Nachts heimlich davonschlich, um seinen Lüsten frönen zu können. Jetzt ergab alles einen Sinn. Auch die leere Schlafhöhle, die Lucas vorgefunden hatte, als er einmal mitten in der Nacht in die Werkstatt gegangen war, in der Hoffnung, Ezra noch wach anzutreffen, um ihm eine Idee zu unterbreiten. Er hatte damals geglaubt, sein Freund wäre nur einem natürlichen Bedürfnis gefolgt, und hatte lange wartend vergeblich ausgeharrt. Ja, Ezra war offensichtlich einem sehr natürlichen männlichen Bedürfnis gefolgt. Einem, dem er, Lucas, einer unbestimmbaren Sehnsucht zum Trotz, noch nie nachgegeben hatte. Weil er auf Gott vertraute, der ihm die rechte Gefährtin zur rechten Zeit zuführen würde; davon war er überzeugt.
»Was willst du von meinem Freund?«, fuhr er Heda an.
»Er ist ein Zauberer«, flüsterte die Frau.
»Mag ja sein, dass ihm besondere Künste zu eigen sind …«, sagte Lucas ungehalten und nicht ohne Neid, »aber jetzt hat er keine Zeit für dich.«
»Ich muss ihn etwas fragen«, drängte Heda. »Bitte übersetze für mich.«
»Er spricht nicht.«
»Ich weiß.« Heda deutete auf das Wachstäfelchen an Ezras Gürtel. »Er soll dir die Antwort aufschreiben. Wie bei dem anderen Mann.«
Lucas traute seinen Ohren nicht. Das wurde ja immer besser! Hatte Ezra in diesem Haus etwa Orgien besucht?
»Welchem anderen Mann?«, fuhr er Heda an.
Die nickte fröhlich, als Ezra jetzt den eigenen Bauch rieb, und rannte ins Haus.
»Du willst hier doch nicht etwa Speisen zu dir nehmen?«, fragte Lucas empört.
Versonnen lächelnd, schüttelte Ezra den Kopf. Mit einer – wie Lucas jetzt fand – verlogenen Schüchternheit berührte sie sanft seine Lippen und deutete dann auf das Haus.
»Ich soll übersetzen?«, fragte er aufgebracht. »Du scheinst dich doch auch ohne Worte mit dieser Dirne und ihren Freiern bestens zu verstehen.«
Er selbst aber verstand gar nichts mehr, als die Frau wieder aus dem Haus stürzte und Ezra mit breitem Lächeln einen Säugling überreichte. Ein fürchterlicher Verdacht stieg in Lucas auf. Wenn dies Ezras Kind war, mussten sich Iosefos und sein Sohn schon erheblich länger in Aachen aufgehalten haben, als sie vorgegeben hatten. Wer waren diese Menschen, die in seinem Haus wohnten und sich Zugang zum König erschlichen hatten? Ein Mörder aus Konstantinopel und sein liederlicher Sohn, der offensichtlich guten Grund hatte, den Mund nie zum Sprechen aufzumachen.
Ezra achtete nicht auf die Heftigkeit, mit der Lucas sprach. Zu sehr war sie von dem kleinen Wesen begeistert, das ihr Heda hinhielt.
Sie wäre entsetzt gewesen, hätte sie geahnt, was in Lucas vorging. Nicht einen Augenblick dachte sie daran, wie ihr Verhalten vor Hedas Haus auf ihn wirken könnte. Lucas hatte bisher alles, was sie tat, zeichnete und dachte, ohne Worte verstanden. Seitdem sie in ihm den Jüngling wiedererkannt hatte, den ihr Allah in den Wüstenturm gesandt hatte, fühlte sie sich mit ihm zutiefst verbunden; daran hatte auch die nur kurz währende Unstimmigkeit gleich nach ihrer Ankunft in Aachen nichts geändert. Sein Gebaren ihr gegenüber verriet, dass auch er um diese Seelenverwandtschaft wusste. Nie war in ihr der Gedanke aufgekommen, dass er sie einmal derart gründlich missverstehen könne.
Die Wucht dieser Erkenntnis sollte sie erst später treffen. Jetzt, da sie zum ersten Mal ein Kind im Arm hielt, achtete sie nicht auf Lucas, sondern war ganz vom Zauber neuen Lebens erfüllt.
So zart, klein und bedürftig, dachte sie betroffen, welch ein Wunder, dass es lebt. Aber wie wird es in solcher Armut, solchem Dreck aufwachsen können? Welch großes Glück ich doch gehabt habe, in Sicherheit, Sauberkeit und Wohlstand groß werden zu können. Was nur soll aus diesem Winzling werden? Wie kann ich dieser Frau helfen?
»Nicht so«, sagte Heda, stellte sich dicht neben sie und zeigte ihr, wie sie den Kopf des Säuglings richtig halten sollte.
Was für ein rührendes Bild, dachte Lucas angewidert und fragte die Hure: »Soll ich jetzt übersetzen, dass du mehr Geld für das Kind verlangst?«
»Nein«, sagte Heda, »der Pfennig war mehr als genug.« Entschuldigend setzte sie hinzu: »Aber ich wollte ihn nicht für ein besseres Haus ausgeben, sondern für mein Kind aufheben. Damit es später etwas hat. Ich habe ja meine Arbeit. Für das Essen aus dem Küchenhaus bin ich auch sehr dankbar.«
Lucas beschloss, sich über nichts mehr zu wundern oder zu empören. Er würde schon noch herausfinden, wie Ezra Lebensmittel aus der königlichen Küche für seine heimliche Familie abzweigte.
»Was soll ich übersetzen?«, fragte er sachlich.
Heda sah ihn beschwörend an. »Frag ihn, ob der Zauber geholfen hat, Fredo zu finden. Er fehlt mir so. Er hat doch seinen Sohn noch nie gesehen!«
Lucas ließ sich mit der Übersetzung Zeit. Nichts ergab mehr einen Sinn. Sein Blick schweifte die Gasse hinab. An deren Ende stand das Haus, dessen Mauern die Überraschung bargen, die er Ezra versprochen hatte. Eine Entdeckung aus seiner Kindheit, die jetzt ihr Skelettproblem lösen würde. Er hatte es geradezu ergötzlich gefunden, Einhard mit der Bestattung von jahrhundertealten fleischlosen Gebeinen heidnischer römischer Besatzer ruhig zu stellen, und auf Ezras Mitwirkung gesetzt. Aber nach allem, was ihm jetzt zur Kenntnis gelangt war, konnte er dem Sohn des Iosefos nicht mehr vertrauen. Wer weiß, was dieser ihm noch alles verschwiegen hatte. Er übersetzte Hedas Frage und fügte verbittert hinzu: »Meinem Vater gegenüber habe ich euch immer verteidigt. Aber jetzt weiß ich, wie recht er hat, euch Oströmer zu verdammen. Nie zuvor hat mich ein Mensch so getäuscht wie du, Ezra. Mein Freund bist du nicht mehr.«
Die Verachtung in seiner Stimme ließ Ezra erzittern.