kapitel 3

schubkräfte

Vielleicht, dass das Geschick noch seine Zügel wendet,

Und doch noch Gutes bringet trotz des Schicksals Neid,

Mir meine Hoffnung fördert, meinen Wunsch erfüllet,

Und dass noch neue Freude sprießt aus altem Leid.

Aus 1001 Nacht (die 191. Nacht)

Freudig begrüßte der Küchenmeister des Königs den Besucher, der zu früher Morgenstunde äußerst vorsichtig über die fettige Türschwelle des Küchenhauses hinwegschritt.

»Dein Fluch hat gewirkt, Jude! Der Teufel hat Fastrada, die böse Königin, kurz nach deiner Abreise tatsächlich zu sich geholt. Der ganze Hof, ja, das gesamte Land ist erleichtert.«

Hinter ihm ertönte zustimmendes Gemurmel. Verärgert wandte sich der Küchenmeister um. »Holt Feuerholz, ihr Faulenzer!«, bellte er die Schar der Küchenjungen an, »und verschließt die Ohren, wenn sich Herren unterhalten!«

Überrascht musterte er Isaak und setzte hinzu: »Du kommst mit leeren Händen. Hast du uns diesmal so viel mitgebracht, dass du es selbst nicht zu tragen vermagst?«

So könnte man es auch ausdrücken, dachte Isaak. Er sah sich enttäuscht um: Kein Blech mit dampfenden Kuchen, keine gebratenen Hühnerkeulen, keine gefüllten Pasteten, nicht einmal ein winziges Stückchen Fisch in Aspik, das er sich auf die Schnelle in den Mund schieben konnte; auf den Feuern köchelten nur Wasser und dünne grüne Suppe. Ungastliche christliche Fastenzeit, dachte er, griff sich aus einem Korb einen getrockneten Apfelring und ließ sich auf einem Schemel nieder. Er sprach erst, als der letzte Küchenjunge das eingerußte Haus verlassen hatte.

»Was ich diesmal mitgebracht habe, kann kein Ostermahl würzen«, begann er, »auch lässt sich daraus kein Wams schneidern oder zusammenhalten; es glitzert und funkelt nicht, wenn das Licht darauf fällt, es schneidet weder dem Kalb noch dem Feind den Hals ab, dient nicht musikalischer oder philosophischer Erbauung, ist aber dennoch von unschätzbarem Wert für euren ehrwürdigen König Karl.«

Der Küchenmeister liebte Rätsel. Er rief einen der Helfer zur Bewachung der Feuer zurück und bat Isaak in den an das Küchenhaus grenzenden Alkoven, um in Ruhe das Geheimnis entschlüsseln zu können.

»Hier wird uns niemand stören«, sagte er, als er die schwere Holztür zuschlug und sich versichert hatte, dass auch der nach außen führende Feuerfluchtweg verschlossen war. Er schenkte Isaak einen Becher Bier ein, »wo der König den ganzen Hof doch gerade jetzt in helle Aufregung versetzt hat und jeden, der nicht Dringliches zu verrichten hat, aus dem Haus scheucht. Aber ich habe Besseres zu tun, als einen jungen Sarazenen zu jagen, der ihm wahrscheinlich in einem Traum erschienen ist.«

Isaak stockte der Atem. Mit einem Knall setzte er den Bierbecher auf dem Sims neben sich ab.

»Was ist geschehen?«, fragte er. »Berichte mir!«

»Was kümmert uns das«, erklärte der Küchenmeister mit wegwerfender Handbewegung. »Lass mich lieber raten, was du diesmal für uns aufgetrieben hast. Einen dressierten Bären?« Erwartungsvoll sah er Isaak an.

»Erst du«, verlangte der Fernhändler. »Was für ein Sarazene?«

Der Küchenmeister brummte.

»Genaueres weiß ich auch nicht«, sagte er unwillig. »Nur dass dem König nach seiner Morgenandacht in der Kapelle offenbar eine Zeichnung auf der Baustelle daneben aufgefallen ist. Jetzt sucht er den, der sie in den Sand gekritzelt hat. Angeblich ein junger Mann im Sarazenerkleid. Aber wenn du mich fragst «, er beugte sich vor und flüsterte, »… war der König in frommer Müdigkeit noch voller Gedanken bei der Passionsgeschichte und hat sich im Geiste ins Morgenland versetzt. Denn wie, bitte schön, sollte sich hier ein junger Sarazene unbehelligt herumtreiben können?«

»Was für eine Zeichnung?«, fragte Isaak heiser.

»Von seiner neuen Kirche«, erwiderte der Küchenmeister. »Der hohe Herr denkt ja an nichts anderes mehr, daher wohl auch dieses Traumgesicht. Was sollen wir uns damit abgeben! Ich möchte lieber dein Rätsel lösen! Also «, er verzog das Gesicht in nachdenkliche Falten, »… kein dressierter Bär. Hast du uns etwa Sklaven mit besonderen Fertigkeiten mitgebracht? Oder ein ungewöhnliches Fuhrzeug?«

»Nein«, erwiderte Isaak ruhig, »nur einen jungen Sarazenen. Und seinen Vater.«

Ezra spürte Hunderte von Augen auf sich, als sie neben ihrem Vater in die große steinerne Halle geführt wurde. In dem Gedränge um sie herum war ihr sehr unbehaglich zumute. Sie war heilfroh, stumm sein zu dürfen, und hielt während des ganzen Weges den Blick auf den Boden geheftet.

»Der König wird uns jetzt empfangen«, murmelte Iosefos ihr zu. Er fand es unbegreiflich und geradezu empörend, dem mächtigsten Mann der westlichen Christenheit ohne jegliche Waschung, Einkleidung oder Einweisung in die Etikette vorgestellt zu werden. Was war das für ein Land, in dem ein Baumeister seines Ranges wie ein Kriegsgefangener oder ein dreckiger, heimatloser Bettler dem König unvorbereitet zugeführt werden sollte?

Er hatte sich noch nicht einmal den Schmutz der Reise abwaschen können und schämte sich seines ungepflegten Äußeren. Fest entschlossen, sich seinen oströmischen Stolz dennoch nicht rauben zu lassen, schritt er hocherhobenen Hauptes voran, ohne auch nur einem der Menschen um sich herum einen Blick zu schenken. Isaak schüttelte den Kopf. Ein mürrischeres Gesicht würde König Karl in seinem Reich schwerlich finden können.

Dabei hatte es ein einziges Mal hoffnungsvoll aufgeleuchtet, als Isaak mit einigen Männern in den Unterstand gestürmt war und Iosefos zugeraunt hatte, der König wolle ihn und Ezra empfangen. Doch dann war für den Baumeister alles ungebührlich schnell gegangen.

»Wir können unmöglich derart besudelt vor dem edlen Herrscher erscheinen«, hatte er protestiert. »Eine solche Audienz bedarf gründlicher Vorbereitung, geistiger Einstimmung und sorgfältiger Pflege des Körpers!«

»Wir sind hier nicht im Kalifenpalast«, erklärte Isaak kurzerhand und drängte ungerührt zur Eile. Iosefos ließ davon ab, Ezra aus ihrem für ihn unerklärlichen morgendlichen Tiefschlaf zu reißen. Was auch nicht mehr nötig war, da der plötzliche Lärm seine Tochter ohnehin geweckt hatte.

Sie setzte sich langsam auf und rieb sich verschlafen die Augen. Die Hektik im Unterstand ließ sie gänzlich ungerührt. Sie hatte andere Sorgen. Ein vergessener Traum ist wie ein verlorener Brief, dachte sie, und versuchte, sich verzweifelt ins Gedächtnis zu rufen, welche Bilder ihr in der Nacht erschienen waren. Sehr bedeutsame, so viel wusste sie noch, aber sie waren ihrem Geist gänzlich entglitten; sie hatte nur noch eine vage Erinnerung daran, Allahs nächtliche Botschaft im Morgengrauen auf feuchtem Sand festgehalten zu haben und dabei von einem Fremden gestört worden zu sein. Unsicher, ob nicht auch dieses Fragment zu ihrem Traum gehört hatte, sprang sie auf. Sie wollte sofort an die Stätte neben der Holzkirche eilen und sich vergewissern, ob sie dort etwas aufgezeichnet hatte, doch sie kam nicht an Isaak und den Männern des Königs vorbei. Diese drängten sie und Iosefos zu dem großen rot verputzten Steingebäude weiter nördlich.

Niemand kümmerte sich um Dunja, die in aller Ruhe ihr Tuch über den Kopf schlug und sich der seltsamen Prozession anschloss.

Ezra konnte sich nach den vielen schauerlichen Erlebnissen ihrer Reise nicht vorstellen, dass ihnen jetzt noch Schlimmes widerfahren sollte. Außer ihrem Leben hatten sie schließlich nichts mehr zu verlieren. Diesen Gedanken fand sie sehr beruhigend, konnte es jedoch kaum ertragen, wie ihr Vater unablässig über die unziemliche Behandlung zeterte. Als suche sie bei ihm Schutz, fasste sie nach seiner Hand. Da verfiel er sofort in Schweigen. Wenigstens seiner Tochter gegenüber durfte er nicht an Autorität verlieren.

»Du musst den Kopf gesenkt halten, darfst den König erst ansehen, wenn er dich dazu auffordert, und dich ansonsten nicht rühren«, flüsterte er ihr später zu, als sie in die geräumige Königshalle geführt wurden, die außer zwei Teppichbildern kein Ornament schmückte, nicht einmal eine einzige Blume. Nichts schien darauf angelegt zu sein, das Auge zu erfreuen oder den Geist in eine angenehme Stimmung zu versetzen; alles wirkte streng nutzgebunden. Keine kunstvoll zusammengesetzten Mosaike verschönerten Wände und Decke, und nirgendwo standen Duftschalen. Die vereinzelten Möbelstücke waren größtenteils unverziert und aus wuchtigem Holz gefertigt. Leise improvisierte Iosefos weiter: »Ein Fußfall wird nur dann erforderlich sein, wenn man ihn uns anweisen sollte.«

Im Ostrom seinerzeit wurde einem solchen durch einen kräftigen Stoß in den Rücken Nachdruck verliehen, aber damals hatte es in Konstantinopel einen wahrhaften Kaiser gegeben, dem eine Proskynese zustand; hier in Aachen residierte nur ein König, der offenbar weder sich noch seinen Untertanen die elementarsten Grundzüge eines Hofzeremoniells gönnte. Und der wie Iosefos voller Entsetzen bemerkte in seinem Empfangssaal sogar junge Frauen mit unzüchtig ausgeschnittenen Gewändern und unbedecktem offenem Haar um sich geschart hatte.

Ezra hielt den Kopf also weiterhin gesenkt, als der Tross zum Stillstand kam.

»Der Baumeister Iosefos, Sohn des Iacobos, und sein Sohn Ezra aus Konstantinopel. Sie sind gestern in Aachen angekommen«, verkündete eine männliche Stimme in einem Latein, das in Ezras Ohren recht barbarisch klang.

Es blieb still im Saal, bis ein anderer Mann vorwurfsvoll hinzusetzte: »Er hat ja immer noch die Haare in den Augen.«

Ezra erkannte die verblüffend helle Stimme sofort.

Es war kein Traum, jubelte alles in ihr; es gibt diesen Mann, also werde ich die Bilder auch aufgezeichnet haben! Wie nur kann ich mich jetzt unbemerkt entfernen, um nachzusehen, ob sie noch da sind, was sie darstellen und bedeuten?

Beglückt hob sie den Kopf. Und begriff mit einem Mal, dass es der König höchstselbst war, der sie am Morgen aufgeschreckt hatte. Das verstörte sie wenig; sie fand es im Gegenteil erheiternd, dass auf unerwartete Weise ein anderer Traum, einer ihrer ganz frühen Jahre, wahr geworden war. Wie alle Kinder Bagdads hatte sie immer gehofft, der Fremde, der an der Tür ihres Elternhauses anklopfte, würde sich später als Harun al Raschid herausstellen, der wieder einmal unerkannt in seiner Stadt unterwegs war. Sie hatte sich vorgestellt, wie der Kalif sie und ihren Vater in seinen Palast einlud, wo er, in ganzer Pracht herausgeputzt, sein wahres Sein offenbaren und ihnen süße Kuchen reichen würde. Nun wischte sie sich ein paar Strähnen aus der Stirn und sah auf. Der Mann vor ihr trug noch die gleiche schlichte Tracht wie bei ihrer morgendlichen Begegnung, nur den blauen Mantel hatte er abgelegt. Süße Kuchen oder andere Erfrischungen waren nirgendwo zu sehen.

»Schon besser«, bemerkte Karl. Er klopfte auf den Tisch, neben dem er stand. »Er kann ja sogar lächeln, der junge Sarazene aus Konstantinopel. Tritt näher, Jüngling, und sieh dir das genau an. Stimmt alles mit dem überein, was mich heute Morgen im feuchten Sand überrascht hat?«

Um den Tisch herum hatten sich viele alte und junge Männer versammelt, zwischen die sich ein paar vorwitzige junge Frauen geschoben hatten. Die Gesichter verschwammen vor Ezras Augen, als sie auf den Eichentisch zutrat. Sie senkte den Blick auf die beiden aufgeklappten riesigen Wachstafeln und atmete erleichtert aus.

Irgendjemand hatte ihren Traum eingefangen und zu ihr zurückgebracht. Alles war wieder da. Sie erinnerte sich an den großen Vogel, an die hohen Berge, die Felder, das Meer und die Oase. Ihr war, als spürte sie den Flugwind noch im Haar, als umwehte sie die warme Brise der Wüste, als stünde sie im Schatten der drei Palmen und blickte auf das hohe rote Gebäude mit der Kuppel.

Auf dem weiß gestrichenen Grund der Tafeln erkannte sie eine getreue Wiedergabe ihrer Sandskizzen. Auf einem Untergrund in der Farbe des Propheten, denn das Wachs, aus dem die sorgfältig eingeritzten Linien hervortraten, war grün eingefärbt.

Ezra blickte auf. Geradewegs in die Augen eines jungen Mannes, der ihr am Tisch gegenüberstand. Er war nur wenig größer als sie, von schlanker Statur und hatte langes, hell gelocktes Haar. Sie hielt die Luft an. Ohne Rücksicht auf ihre Umgebung, auf den König und seine Frage starrte sie unverwandt auf diesen Mann.

Ja, das ist er, dachte sie. Im Traum habe ich nur seine Umrisse gesehen, aber es gibt keinen Zweifel. Ich spüre seine Gegenwart. Dieser Jüngling ist mir im Wüstenturm begegnet. Eine Fügung Allahs des Allmächtigen. Er heißt es gut, dass ich hier bin. Der Rest ihres Unbehagens verschwand. Sie schenkte dem blonden Mann mit den hellen Augen ein kleines Lächeln.

»Trefflich geraten«, lobte Karl. »Das ist Lucas, der Sohn des Odo von Metz. Er war es, der so geschwind dein flüchtiges Werk auf diese Tafeln gebannt hat. Nun sag mir: Ist er dem Original gerecht geworden?«

»Welches Werk?«, tönte Iosefos empört, aber niemand beachtete ihn. Keiner hielt ihn auf, als er sich zu Ezra nach vorn schob, über ihre Schulter auf den Tisch blickte und geräuschvoll die Luft einsog. Er war entsetzt. Nicht etwa, weil Ezra ohne sein Wissen Zeichnungen in den Sand gemalt hatte, und nicht, weil diese auf irgendeine Weise zum fränkischen König gelangt waren.

Er war entsetzt, weil er diese Skizzen schon einmal gesehen hatte. Vor sehr langer Zeit.

Kurz vor Ezras Geburt hatte Amina ihm einen eigenen Entwurf für den Neubau einer Moschee in Bagdad vorgelegt. Sie, die dem Mann untertänige Frau, hatte gewagt, seinen Grundriss anzuzweifeln, sich über seinen Befehl hinwegzusetzen und eine gänzlich andere Zeichnung als von ihm bestimmt anzufertigen! Noch dazu mit einer ähnlichen Kuppel wie jene, die so viel Leid über ihn gebracht und ihn letztendlich aus seiner Heimat vertrieben hatte! Zu ihrer Entschuldigung hatte ihm Amina nur mitgeteilt, Allah habe sie in einem Traum wissen lassen, dass Iosefos genau diese Moschee erbauen solle. Der Weisheit Allahs habe sie sich mehr zu beugen als den Befehlen ihres Gemahls.

Außer sich über ihre Anmaßung, hatte Iosefos sie geschlagen und verflucht. Nie zuvor war es in ihrer Ehe zu einem derart heftigen Streit gekommen. An dessen Ende hatte Amina ihr Werk selbst verbrannt. Während die Papyrusblätter mit ihren Zeichnungen aufloderten, hatte sie ihm mit gleichgültiger Stimme mitgeteilt, dass sie schwanger sei.

»Dann wirst du künftig Wichtigeres zu tun haben, als mir zu widersprechen«, hatte er bemerkt und sich auf seinen künftigen Sohn gefreut, mit dem er einstmals auf Gerüsten stehen würde. Das Schicksal aber hatte eine andere Wendung genommen.

Ezra konnte nichts von diesen Skizzen gewusst haben; dennoch hatte sie genau die gleichen Linien wie einst ihre Mutter gezeichnet, den gleichen überkuppelten Turm, den gleichen Grundriss, den gleichen Schnitt, die gleichen Bögen. War es der Gruß einer Toten? Hatte Amina auf irgendeine Weise das Wissen um diese Zeichnungen dem Wesen unter ihrem Herzen vermittelt? Hatte sie die Blätter klaglos verbrannt, weil sie im Vertrauen auf Allah die Erinnerung an ihre Schöpfung bei ihrem Kind aufgehoben wusste? War das ihre späte Rache dafür, dass er sie misshandelt hatte, weil sie etwas Besseres als er erdacht hatte? Iosefos hätte nicht sagen können, welcher dieser Gedanken ihn heftiger erschauern ließ.

»Nun?«, fragte der König, jetzt mit leiser Schärfe in der Stimme. »Sprich, Knabe, stimmen die Proportionen, die Lucas, der Sohn Meister Odos, aufgezeichnet hat?«

Ezra nickte, ohne noch einmal hinzusehen. Sie konnte den Blick von Lucas nicht lösen und versuchte, in seinen Augen zu lesen, ob auch er sie wiedererkannte.

»Mach endlich den Mund auf!«, forderte Karl, jetzt sichtlich verärgert.

»Herr, ich bitte um das Wort«, meldete sich Iosefos, »Mein Sohn ist stumm. Ich flehe untertänigst um Verzeihung, edler König.«

»Gebt ihm eine Wachstafel und einen Griffel!«, verlangte Karl, ohne Iosefos weiter zu beachten.

Ezra hob einen Arm und griff mit der anderen Hand nach dem winzigen Wachstäfelchen an ihrem Gürtel, das ihr zur Kommunikation mit dem Vater diente. Sie löste es, klappte es auf, kritzelte mit dem anhängenden Griffel ein einziges Wort und hob die Tafel Lucas entgegen: Chrysotriklinium.

Karl nahm ihr die Tafel ab, runzelte die Stirn und reichte die Schrift an einen älteren rundlichen Mann neben sich weiter. Während dieser das Wort noch studierte, schob sich ein verblüffend klein gewachsener junger Mann heran und sprach es laut aus.

»Chrysotriklinium«, wiederholte der König. »Wie geschwind doch das Auge meines Schreibers ist. Danke, Einhard.«

Er lächelte. Wieder spürte Ezra seine Hand auf ihrer Schulter, aber diesmal schrak sie nicht zusammen.

»Architectulus«, sagte er sanft, »solltest du diesen prächtigen Audienzsaal des Kaisers von Konstantinopel etwa je gesehen haben?« Lachend setzte er hinzu: »Erbaut haben kannst du ihn nicht; es sei denn, du hättest die ewige Jugend gepachtet. Dann müsste ich mich vor dir fürchten, etwas, was ich ohnehin erwäge, denn du hast mich mit deinen Sandzeichnungen im Innersten berührt. Das kann gut oder schlecht für dich sein; ich weiß es noch nicht. Was meinst du, Meister Odo?«, wandte er sich an den alten Mann neben sich, der Ezras Tafel noch immer in den Händen hielt. »Können wir denn ein ähnliches Bauwerk errichten, achteckig wie der Felsendom in Jerusalem, wie San Vitale in Ravenna, wie das Chyrostriklinos oder Chrysotriklinium in Konstantinopel, von dem ich Unglaubliches vernommen habe, also einen eindrucksvollen Rundbau, vergleichbar mit dem Pantheon zu Rom?«

»Der Rundbau ist nicht das Problem«, antwortete Odo. »Das ist die Kuppel auf einem derartig hohen Gebäude, wie es dieses Knabenbild zeigt. Uns fehlt die Pozzolanerde der Römer, um eine Schale aus Caementitium zu gießen «

»Tonröhren?«, unterbrach ihn der König.

»So bauen die Sarazenen«, murmelte Odo mit deutlichem Blick zu Ezra. »Natürlich könnte man versuchen, wie in San Vitale schmale Tonamphoren zu vermörteln und zusammenzustecken wenn wir hier jemanden fänden, der in der Lage dazu wäre, sie herzustellen. Ich fürchte jedoch, das wird uns nicht gelingen.«

»Ziegel?«, fragte Karl scharf.

»Das radiale Verlegen von Ziegeln ist eine viel zu heikle Technik, mein König, das haben die Oströmer erfahren. Wir dürfen nicht riskieren, dass die Kuppel wie zu Justinians Zeiten bei der Hagia Sophia in Konstantinopel einstürzt. Zumal wir nicht die geringste Erfahrung mit dieser Wissenschaft haben und die Zeit nicht zur Verfügung steht, um im kleineren Maß zu üben.«

Odo wischte sich den Schweiß von der hohen Stirn. Er eilte sich, Karls nächstem Einwurf zuvorzukommen: »Stein ist ausgeschlossen. Damit wurde selbst in Konstantinopel seit über zweihundert Jahren keine große Kuppel mehr gewölbt.« Er deutete auf die große Wachstafel mit der Zeichnung. »In einer solchen Höhe und bei dieser Spannweite sind die Schubkräfte unmöglich beherrschbar. Die Kuppel würde in sich zusammenfallen. Eine hübsche Zeichnung, gewiss, aber leider nicht in die Wirklichkeit zu überführen.« Er räusperte sich. »Wir könnten den sechzehneckigen Rundgang übernehmen, aber ansonsten empfehle ich, unseren ursprünglichen Plan beizubehalten, zumal die Zeit drängt.«

Ezra hatte ihren Blick von Lucas gelöst. Interessiert hörte sie den Ausführungen seines Vaters zu. Dann beugte sie sich über die Zeichnung des Gebäudequerschnitts und zog mit dem Fingernagel der rechten Hand rasch einen scharfen Strich unter den Kuppelaufsatz, deutete auf den Eisenbeschlag der Tafel und sah Odo herausfordernd an.

»Pff«, stieß der alte Baumeister empört aus. »Die Schmiede will ich sehen, die einen solchen Gürtel zustande bringen! Denn nichts anderes als eine ungeheure Eisenrüstung könnte eine derartige Kuppel zusammenhalten.«

Ezra nickte vergnügt. Der alte Mann verstand sie. Sie hingegen verstand von fränkischen Schmieden nichts, war aber zuversichtlich, dass diese ihr Handwerk beherrschten und gegen eine Herausforderung nichts einzuwenden hätten, wenn der König sie dazu aufrief. Im Kalifenreich waren einfachste Arbeiter dank ihres Einfallsreichtums und ihrer spielerischen Erfindungen zu großem Ansehen und unerhörtem Wohlstand gelangt. Das würde im Frankenland gewiss nicht anders sein.

Sie blickte zu Odos Sohn. Der hatte seine eigene Wachstafel hervorgezogen und zu kritzeln begonnen.

»Ich möchte in dieser Kirche noch zu meinen Lebzeiten beten«, bemerkte Karl und drückte einen Zeigefinger hart in das Wachs der Tafel mit dem Grundriss. »Aber wie werden wir das bewerkstelligen, Odo von Metz, du mein erster Baumeister, wenn du mir nicht einmal eine solche Kuppel bauen kannst?«

In der Königshalle war es sehr leise geworden. Nur deshalb hörte jedermann das Flüstern des Iosefos: »Ich kann diese Kuppel bauen.«

Das war er Amina schuldig. Zu diesem Schluss war er gekommen, nachdem ihm in den vergangenen Augenblicken eine Vielzahl grausiger Gedanken durch den Kopf geschossen war. Nein, Amina strebte nicht über den Tod hinaus nach Rache. Ihr Allah war ein barmherziger Gott, der es liebte, den Menschen zu vergeben. Schon deshalb würde sie auch ihm vergeben wollen. Und hatte ihm jetzt über ihr gemeinsames Kind eine zweite Chance geschenkt, seine Schuld ihr gegenüber zu begleichen. Nur eine solche Auslegung dieser seltsamen Fügung konnte in ihm das Grauen bannen, das ihn angesichts der Skizzen auf den Wachstafeln erfasst hatte.

Ezra wandte sich um, schob das Haar aus dem Gesicht und suchte mit den Augen die Menschenmenge hinter ihrem Vater ab, bis ihr Blick an Isaak hängen blieb. Der sah zum ersten Mal seit Konstantinopel wieder das Moschuskorn auf der Lilienblüte und wäre nur zu gern auf die Knie gefallen. Dank dieses Knabenmädchens wird sich alles zum Wohlgefallen des Kalifen und des Königs fügen, dachte er; es wird sich künftig trefflich handeln lassen, wenn zwischen Christen und Muselmanen kein Streit stört und kein jüdischer Sündenbock erforderlich ist. Auch um Einfuhrgenehmigungen muss ich mir keine Sorgen mehr machen. Sollte tatsächlich ein höheres Wesen die Geschicke lenken, möge es dieses verwirrende Geschöpf segnen.

Ezra nickte ihm kaum merklich zu. Mein Vater hat begriffen, weshalb wir hier sind, dachte sie. Endlich. Denn nur er kennt sich mit allem aus, mit Schubkräften, Spannweiten, Schmieden und Steinen. Nur er kann meinen Wüstenturm an die Stelle setzen, wo jetzt die kleine Holzkapelle steht. Mein Vater wird es schaffen, den Traum, den Allah mir gesandt hat, Wirklichkeit werden zu lassen.

Erstmals wandte sich Karl jetzt Iosefos zu.

»Weshalb trägt dein Sohn ein Sarazenerkleid?«, fragte er.

Iosefos hielt dem Blick des Königs stand.

»Es gefällt ihm«, antwortete er.

Karl lachte.

»Diese Antwort genügt mir nicht, Iosefos aus Konstantinopel«, sagte er, »aber da ich eine längere Geschichte dahinter vermute und vor alledem wissen möchte, wie du die Skizzen deines Sohnes in Stein verwandeln willst, lade ich euch beide heute Abend an meine Tafel ein.«

Er wandte sich an seinen jungen Schreiber Einhard.

»Beseleel«, sagte er, »diese Gäste aus Konstantinopel sind mir willkommen. Doch Meister Architekt und Filius Architectulus sehen nach ihrer langen Reise sehr mitgenommen aus. Trage Sorge, dass sie beim Abendmahl besser riechen.«

Er wandte sich zum Gehen, blieb aber an der Tür noch einmal stehen.

»Bring sie im Hause von Meister Odo unter«, wies er Einhard an, »auf dass sie gleich ihm des Nachts schnell zu mir eilen können, wenn ich ihrer bedarf. Denn ich werde diese Kapelle bauen. Richte dich darauf ein, Odo von Metz, ich habe mich entschieden.«

Einhard war zu Respekt gegenüber Älteren erzogen worden, aber in den Räumen des Odo von Metz stellte Iosefos seine Geduld auf eine harte Probe. Der Baumeister hielt es nicht einmal für nötig, seine Weigerung zu begründen, wiederholte nur stur: »Mein Sohn wird das Bett nicht mit dem Sohn Meister Odos teilen.«

Einhard wandte sich an Dunja, die er für die Ehefrau des Iosefos hielt, da sie ihnen wie selbstverständlich hinterhergegangen war.

»Sag deinem Gemahl, es ist unumgänglich; euer Sohn müsse sonst wie ein Knecht auf dem harten Boden schlafen«, flehte er sie an. Die Sklavin blickte ihren Herrn unsicher an.

Der deutete mit dem Zeigefinger nach unten und äußerte sich wie immer knapp: »So sei es.«

Ezra bückte sich und kroch unter den langen hohen Zeichentisch an der Wand. Dort standen nur ein paar kleine Holzkästen. Wenn sie diese etwas umgruppierte, könnte sie sich unter dem Tisch ein gemütliches Eckchen einrichten. Sie begann, die Kisten zu verschieben.

Dunja betrachtete es als sehr günstiges Zeichen, dass Iosefos Einhard nicht über die wahren Familienverhältnisse aufklärte. Sie blickte durch die offen stehende Tür auf das ihnen zugewiesene Bett im winzigen fensterlosen Nebenraum und schwor sich, der ihr zugefallenen neuen Rolle als Ehefrau und Mutter sehr gewissenhaft nachzukommen. Auf ihre Frage nach der Gemahlin des Odo von Metz schüttelte Einhard den Kopf.

»Gott hat sie bei der Geburt ihres Sohnes leider zu sich genommen«, sagte er.

Ezra fuhr auf und stieß gegen die Tischplatte. Benommen rieb sie sich den Kopf. Erschien Odos Sohn wohl auch die ungekannte Mutter in seinen Träumen? Als Trösterin, die ihm zusicherte, sie sei an ihrem eigenen, nicht an seinem Leben gestorben? Als Mahnerin, dieses Leben sinnreich auszufüllen?

Sie kroch unter dem Tisch hervor.

»Was ist da unten?«, fragte ihr Vater.

Sie legte beide Hände zum Zeichen des Schlafens an die Wange.

Einhard bückte sich und lugte unter den Tisch.

»Er hat sich offenbar eine Schlafhöhle gebaut«, erklärte er freundlich, ohne Ezra anzusprechen. Daran war sie gewöhnt. Als machte ihr Schweigen sie unsichtbar, neigten Menschen, die von ihrer Stummheit erfuhren, meistens dazu, sie als anwesende Person nicht mehr anzusprechen, ja, manchmal nicht einmal wahrzunehmen.

»Ich werde ihm da einen Strohsack hinlegen lassen«, fuhr Einhard fort und bat Vater und Sohn, ihm zum Badehaus zu folgen. Er drängte ein wenig zur Eile.

»Wir alle müssen uns für den Gottesdienst vorbereiten«, erklärte er. »Durch eure Reise mag euch entgangen sein, dass wir heute Abschied von Jesus nehmen. Ein Tag der Freude, denn die Büßer erhalten Vergebung. Sie werden als das grünende Holz am Stamm der Kirche endlich wieder zur Kommunion zugelassen, wie ihr wohl wisst.«

Ezra unterdrückte ein Kopfschütteln. Bei solchen Bemerkungen bedauerte sie, keine Fragen stellen zu können. Weshalb war der Abend vor dem Tod dieses bedeutenden Propheten, den die Christen für Gottes Sohn hielten, ein Freudentag? Sie hockte sich auf den Boden und versuchte, sich selbst die Antwort zu geben: Man feierte den bevorstehenden Tod eines Märtyrers, dem der Weg über die Brücke mit der scharfen Schneide erspart bleiben und der unmittelbar in Gottes Gärten eintreten würde.

»Die anderen Frauen des Hofs haben leider schon gebadet«, sagte Einhard bedauernd zu Dunja, »aber ich werde die Mägde bitten, Zuber mit Wasser herbeizuschaffen. Der Architectulus möge sich jetzt bitte sputen.«

Ezra blieb auf dem Boden hocken und schüttelte den Kopf.

Ratlos blickte Einhard zu Iosefos. Der gab keine Erklärung ab, sondern marschierte einfach davon. Hastig wandte sich Einhard an Dunja und flehte sie beschwörend an: »Der König wünscht wohlriechende Menschen an seiner Tafel!«

Die Sklavin nickte.

»Ich werde mich um meinen Sohn kümmern«, sagte sie so leise, dass Iosefos sie nicht hören konnte.

Der war angenehm über die Weitläufigkeit und Sauberkeit der Badeanlage überrascht sowie über Einhards Mitteilung, dass sowohl die Becken im Freien als auch das Schwimmbad in der Halle mit warmem Wasser aus einer unterirdischen Quelle gespeist wurden.

»Auch die Fundamente der Holzkirche befinden sich über einer heißen Quelle«, übertönte Einhard das Lärmen der kleinen Gruppe junger Männer, die im Innenbecken herumplanschten. »Erst haben die Kelten dort ihren Badegott Granus verehrt, später die Römer ihren Apoll «

Seine Stimme verlor sich, als sein Blick über das Schmutz starrende Leinenhemd des Iosefos und die ebenso besudelten Beinkleider glitt. Er trat vom Beckenrand, rief einen Bediensteten herbei und forderte diesen auf, aus der Kleiderkammer passende Gewandung für den Gast aus Konstantinopel zusammenzustellen.

»Wo ist dein Sohn?«, wurde Iosefos plötzlich gefragt. Missbilligend starrte er den nackten jungen Mann mit dem langen, nass glänzenden Haar an. Erst auf den zweiten Blick erkannte er Lucas, den Sohn des Odo.

»Ich kann deinem Sohn Kleidung überlassen«, bot sich Lucas an, »zumal wir eine ähnliche Statur haben.«

»Hervorragend«, meldete sich Einhard, »am besten, du gibst sie ihm gleich. Lass das Sarazenerhemd verbrennen. Und treibe eine Kammerfrau auf, die seine Mutter ausstatten kann.«

Iosefos dachte an die Waschszene, die der junge Lucas in seinem Haus vorfinden könnte, schluckte aber seinen Widerspruch hinunter. Dunja und Ezra waren zu geübt in der Kunst der Verstellung, als dass sie sich gleich am ersten Tag in Aachen verraten würden. Jedenfalls hoffte er das.

Tatsächlich war die Tür zur Wohn- und Werkstatt des fränkischen Baumeisters verriegelt.

»Ich bin es, Lucas«, sagte der junge Mann, als er anklopfte. »Nicht hereinkommen!«, erklang eine weibliche Stimme. »Ich nehme ein Bad.«

Lucas legte das Bündel Kleider, das ihm die junge Gerswind, eine Ziehtochter Karls, in der Nähstube des Hofs ausgehändigt hatte, vor die Tür.

»Für deinen Sohn findest du Passendes in der großen Holztruhe«, rief er. »Er soll nehmen, was ihm gefällt. Vor der Tür liegt ein Kleid für dich. Du darfst es behalten.«

Er trat einen Schritt rückwärts. Dabei stieß er gegen seinen Vater, der die Stiege hinaufgeschritten war, um sich für den Gang in die Kirche frisch einzukleiden.

Lucas hielt ihn auf.

»Mit einer Frau im Haus wird sich bei uns einiges ändern müssen«, sagte er zu Odo, der es im Beisein des Königs nicht gewagt hatte, sich über die Einquartierung der Oströmer zu empören.

»Nichts wird sich ändern!«, donnerte der fränkische Baumeister und erklärte, die Fremden würden, wenn überhaupt, ohnehin höchstens diese eine Nacht bleiben.

»Wie kann das sein, wenn der König sie hierbehalten will, um die Kapelle des Architectulus zu bauen?«, fragte Lucas, ohne die Bemerkung seines Vaters allzu ernst zu nehmen. Er wusste, wie sehr sich Odo über Karls soeben verkündete Absicht grämte. Monatelang hatten sie an Zeichnungen für die neue Kapelle gesessen, über Einzelheiten und das große Ganze debattiert, und dann warf der König mit einer Handbewegung die gesamte Planung um!

Lucas konnte die Wut seines Vaters verstehen. In den Bau dieser Kapelle, den krönenden Abschluss seines Lebenswerks, hätten alle seine Fertigkeiten einfließen sollen. Die Sandskizzen des Architectulus gingen jedoch weit darüber hinaus. Lucas achtete und bewunderte seinen Vater, hatte allerdings schon seit geraumer Zeit das Gefühl, nicht mehr viel Neues von ihm lernen zu können. Er befand sich am Anfang seiner Laufbahn als Baumeister, fieberte nach eigenen Erkenntnissen und Entdeckungen und suchte gerade jene Herausforderungen, denen sein Vater aus dem Weg ging. Der hielt sich und seinen Sohn an, Abenteuern mit ungewissem Ausgang fernzubleiben, nicht allzu hoch hinauszustreben, gefährliche Gewölbe zu meiden und lieber Vertrautes und Erprobtes ordentlich umzusetzen.

Die Abbildungen im Sand gehörten nicht dazu. Doch sie hatten Lucas auf den ersten Blick verzaubert. Ihm war, als wiesen sie ihm einen Weg aus einer fernen Vergangenheit in seine eigene Zukunft, in höhere Sphären seiner Zunft. Sie erschienen ihm wirklicher als der stumme Knabe, der sie angefertigt hatte und den Iosefos als seinen Sohn ausgab. Was Lucas kaum glauben mochte, als er Ezras Gesicht einen kurzen Augenblick lang von den schwarzen Zotteln befreit gesehen hatte. Die verblüffend fein geschnittenen Züge zeigten keinerlei Ähnlichkeit zu denen des mürrischen, langnasigen Baumeisters. Dennoch schien ihm, als habe er dieses Antlitz schon einmal geschaut vielleicht auf einer aus Stein gehauenen Engelsfigur?

Ehrfurchtsvoll hatte er die Skizzen in die Wachstafeln eingeritzt. Hier, in den Sand gemalt, war die Herausforderung, auf die er gewartet hatte! Von bestechender Erhabenheit und grandioser Ästhetik, ohne überflüssiges Beiwerk; jede Linie stimmte. Die Proportionen entsprachen nicht nur der Baulehre des Vitruvius, sondern schienen sie sogar weiterzuführen. Der dispositio, also der künstlerischen Gestaltung, und der ordinatio, der allgemeinen Raumordnung, war in diesen Skizzen mehr als nur Genüge getan worden.

Lucas ritzte die Linien zügig in das Wachs, er musste sich nicht ein einziges Mal korrigieren. Die Arbeit ging ihm so leicht von der Hand, als würde diese von einer höheren Macht geführt. Der letzte Zweifel schwand: Diese Kapelle wartete darauf, gebaut zu werden. Mit genau dieser Kuppel. Was allerdings nicht geschehen würde, wenn es nach seinem Vater ginge.

Der war inzwischen hinter ihm die Stufen wieder hinabgestiegen und vor das Haus getreten.

Mit einem zitternden Zeigefinger wies Odo auf das geschlossene Fenster im oberen Geschoss.

»Die Kapelle des Architectulus!«, wiederholte er die Worte seines Sohnes und setzte schnaufend hinzu: »Von diesem Teufelswerk wird der König augenblicklich die Finger lassen, wenn er erfährt, wem er in unserem Haus Obdach geboten hat!«

»Wem denn?«, fragte Lucas überrascht. »Sprich, Vater, was weißt du von diesem Iosefos aus Konstantinopel?«

»Das wirst du mit allen anderen bei der Abendmahlzeit erfahren, mein Sohn«, erwiderte Odo grimmig. »Aber eines sage ich dir: Jesus wusste, dass er an diesem Tag, dem Vorabend seines Todes, das Brot mit einem Verräter brechen würde. Unser König jedoch ist ahnungslos. Deshalb hat mich der allmächtige Herrgott dazu ausersehen, ihn vor einem feigen Mörder zu warnen. Dem ich heute Abend coram publico die Maske herunterreißen werde!«