Ängste überwinden

»Wer Krankheit und Angst nicht kennt, spricht über das Leben wie einer, der über die Welt spricht und nie gereist ist«: Ich weiß nicht mehr, woher diese Weisheit stammt, aber sie hat mir sehr eingeleuchtet. Tiefe des Lebens jedenfalls erfahren wir immer durch Brüche und Krisen, denke ich. Und die kommen früher oder später – in der Mitte des Lebens sind wir in der Regel schon einmal damit konfrontiert worden …

Krankheit kennen

Als ich die Diagnose »Brustkrebs« erhielt, habe ich von Anfang an Notizen gemacht, weil ich dachte: Es ist wichtig, diese Tage bewusst zu erleben. Es folgen in Auszügen die Notizen der ersten drei Tage …

25. August 2006. Houston, wir haben ein Problem! Diagnose Brustkrebs. Merkwürdig, ich realisiere das bisher kaum. Es ist jetzt 15:45. Um 11 Uhr war ich bei der Gynäkologin, Routineuntersuchung. Sie tastet meine Brust ab und sagt, sie würde gern einen Ultraschall machen. Danach meint sie, es wäre gut, eine Mammografie durchzuführen, da sei Gewebe, das nicht normal sei. »Okay«, sage ich, »nächste Woche ist voll, aber Anfang September …« Sie erwidert: »Frau Käßmann, ich möchte, dass Sie da jetzt, heute noch, hingehen.« Ich kenne die Ärztin seit sieben Jahren, sie neigt nicht dazu, mich zu irgendetwas zu drängen. Sie bittet die Sprechstundenhilfe zu schauen, bis wann die Radiologie geöffnet hat. Sie schließen um 13 Uhr am Freitag, wenn ich also bis 12:30 Uhr da wäre …

Was soll’s, ich setze mich aufs Fahrrad, kaufe noch etwas ein, bringe die Tüte nach Hause, sage in der Kanzlei Bescheid und radle zur Radiologie. Tolle hochmoderne Praxis! Die Bilder werden entwickelt auf einen Schirm gehängt. Ein Arzt kommt: »Mein Name ist Dr. P. Ihr Gesicht kommt mir ja gleich bekannt vor!« Er zeigt mir am Bildschirm, wo das Gewebe nicht normal ist. Ein merkwürdiger Kreis, so ein bisschen wie ein Tornadowirbel, finde ich. Auch er will noch einmal Ultraschall machen. Danach gehen wir in den ersten Raum zurück zu den Bildern. »Das ist also ein Tumor«, sagt er, »und der muss entfernt werden.« »Meinen Sie Krebs?«, frage ich. »Ja, sagt er, nach meinen Erfahrungen ist das bösartig, aber ich bin nur der Radiologe.« »Und was heißt das?«, frage ich. Er sagt: »Vielleicht nehmen sie noch eine Gewebeprobe, aber auf jeden Fall muss das operiert werden. Wo und bei wem, das klären Sie besser mit Ihrer Gynäkologin.« »Und danach?«, frage ich, »Chemo oder sowas?« – »Das werden Sie dann entscheiden müssen«, meint er.

Dieses Gespräch läuft in vollkommener Sachlichkeit und Ruhe ab. Dr. P. bittet mich, noch Platz zu behalten, er wolle das kurz diktieren, ich könne die Unterlagen dann mitnehmen. Nach zehn Minuten kommt er heraus und sagt: »Ich habe Ihre Gynäkologin angerufen, sie wartet darauf, dass Sie gleich jetzt noch einmal vorbeikommen.«

Ich verabschiede mich, nehme meinen Umschlag und rufe die Praxis an. Ich wusste doch, meine Ärztin wollte um 13 Uhr nach Hause gehen. Aber nein, mir wird ausgerichtet, sie warte auf mich. Also radle ich mit Tempo zur Praxis. Sie schaut sich die Unterlagen ernst an und erklärt mir, der Tumor sei etwas mehr als einen Zentimeter im Durchmesser groß, daher könne brusterhaltend operiert werden, aber es sollte so schnell wie möglich sein. Sie schlägt ein Krankenhaus vor. »Eigentlich habe ich echt keine Zeit«, sage ich. »Wie lange dauert das?« Sie erklärt: »In einer Woche sind Sie draußen und dann kommen Chemotherapie und Strahlentherapie – Sie müssen mit zwei Monaten rechnen.«

In diesem Moment geht mir dieser Satz aus dem Kinofilm durch den Kopf: »Houston, wir haben ein Problem!« Ich denke an meinen Terminkalender für September, den wir gerade gestern erst durchgesprochen haben. Wie soll das bloß gehen? Bei Pilawa habe ich fest zugesagt. Und die Generalkonvente. Und der Kirchenkreisbesuch, der Vortrag. Und, und, und … Derweil sagt Frau Dr. W., sie werde versuchen, so schnell wie möglich einen Termin für mich zu bekommen, sie werde mich auf dem Handy anrufen.

Ich radle nach Hause. Vor der Haustür klingelt das Handy – meine Gynäkologin ruft an, sie hat um 10 Uhr am Montag einen Termin in der Klinik gemacht, um den Befund zu sichten, den OP-Termin abzusprechen und die Termine für Chemo- und Strahlentherapie. Ich denke kurz nach, weil in Berlin am Montag eine Aufnahme beim Deutschlandradio ist, ein Gespräch beim rbb, ein Treffen des Rates der EKD mit dem Präsidium der SPD und ein Gespräch mit Kurt Beck über Kriegsdienstverweigerer, weil ich die Präsidentin der KDV bin … Frau W. drängt: »Frau Käßmann, ich würde den Termin echt wahrnehmen!« Gut, denke ich, die Welt wird sich weiterdrehen, auch wenn ich Montag nicht in Berlin bin.

In der Kanzlei rufe ich meine Referentin und die noch anwesende Sekretärin zusammen. Nachdem ich ihnen die Lage erklärt habe, bereden wir, was als Nächstes dran ist. Beide bleiben ruhig, aber ich sehe, wie sie innerlich beben. S. meint: »Wir schaffen das schon.« Wir verabreden: Meine Referentin sagt erstmal nur alle Termine am Montag ab und dann sehen wir weiter. Und jetzt brauchen die beiden Zeit, ohne mich miteinander darüber zu reden.

Gut, denke ich, als Nächstes also an die Predigt für Sonntag. Ich mag das jetzt keinem erklären. Das Telefon klingelt, meine Tochter Sarah aus Argentinien. Strahlend berichtet sie, vielleicht könnten ihr Freund Peter und sie einen früheren Flug am 15. September bekommen. Sie haben ein Ticket, bei dem der Rückflug erst vor Ort geklärt werden kann, und warten schon lange auf einen Platz … Dann merkt sie, dass etwas los ist und fragt. Ich zögere: Soll ich ihr die Freude verderben, sie klingt so glücklich! Aber wenn ich nächste Woche schon ins Krankenhaus muss, erfährt sie es ohnehin. Also sage ich ganz vorsichtig, da sei ein kleiner Knoten und der müsse entfernt werden. Sie bohrt und fragt nach. So ist sie – und mit ihren 24 weiß sie, was das bedeutet. Brustkrebs also.

Am liebsten möchte sie sofort nach Hause kommen. Sie weint. Ich tröste sie und sage, dass alles halb so schlimm sei. Sie müssen die Brust nicht entfernen, die Heilungsaussichten sind gut, ich möchte nicht, dass sie meinetwegen heimkommt. Im Krankenhaus kann sie doch nichts für mich tun, aber nach der Chemo, wenn ich mich schlecht fühle, dann wäre ich sicher froh, wenn sie da wäre. Sie weint. Ich sage: »Schau mal, meine Kinder sind groß, das ist viel schlimmer, wenn die Kinder klein sind.« Wir erinnern uns an eine Bekannte in Fulda, die nach der Chemo immer Schlafmittel nahm und schließlich alles überstanden hat, selbst als die Haare ausfielen. »Wenn mir die Haare ausfallen, nehme ich keine Perücke«, sage ich. Am Ende verabreden wir, wenn alles überstanden ist, dann fahren wir irgendwo hin. Auf die Malediven wollte ich schon immer. Hoffentlich, denke ich, lässt sich das alles überstehen und ist nicht der Anfang vom Ende, das könnte ja auch sein. Dann müsste ich wesentlich mehr regeln! Aber das sage ich Sarah jetzt nicht, sie ist beunruhigt genug. Ihr Freund wird sie in die Arme nehmen und trösten, gut, dass Peter da ist.

Jetzt sitze ich am Schreibtisch. Ich bin ganz ruhig. Aber ich ahne, die nächsten Wochen werden sehr anders als geplant. Wem sage ich wann was? Jetzt scheint es mir irgendwie zu früh. Wahrscheinlich warte ich bis Montag. Meine Mutter wird tief beunruhigt sein. Die anderen Töchter auch. Meine beste Freundin hat erst vor zwei Jahren ihren Mann durch Krebs verloren, sie wird sich furchtbar erschrecken. Bei U. sollte ich nächsten Samstag die Wohnung einweihen. Mit G. wollte ich im Oktober nach Lanzarote fliegen … Also schreibe ich jetzt erst einmal die Predigt für Sonntag. Festgottesdienst, Groß- und Klein-Liedern feiern »1000 Jahre erste urkundliche Erwähnung«. Als Predigttext nehme ich Psalm 90, darin heißt es, 1000 Jahre seien vor Gott wie ein Tag. Und auch: »Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.« Passt ja irgendwie zusammen.

Wie sagt Jesus in der Bergpredigt? Es genügt, dass jeder Tag seine eigene Plage hat … (Mt 6, 34) Aber erst will ich das aufschreiben. Ich vergesse immer alles so schnell. Ist das zwanghaft, das zu Papier zu bringen, nein, ins Laptop zu hacken?

18 Uhr. Predigt fertig, Postmappe gelesen, Mails abgeholt. Meine Referentin hat inzwischen für Montag alles abgesagt, damit ich zur Ärztin kann. Was ich heute Nachmittag erlebt habe, kommt mir im Moment so unwirklich vor. Als sei das ein Irrtum. Eigentlich ist doch alles völlig normal, wie immer. Soll ich U. anrufen oder K. oder A. oder meine Mutter oder meine Schwestern? Doch warum andere beunruhigen, wenn nachher womöglich alles gar nicht so schlimm ist? Aber die OP wird kommen, daran haben beide Ärzte keinen Zweifel gelassen. Also doch anrufen? Bald werden Hanna und Lea von der Ostsee zurückkommen. Sie waren mit ihren beiden Freunden eine Woche dort. Soll ich es ihnen erzählen? Oder ist nicht besser, zu warten bis Montag, dann ist die Lage viel konkreter … Und wenn alles klar ist, wen muss ich überhaupt informieren? Den Präsidenten des Landeskirchenamtes, das Kolleg, den Bischofsrat, den Ratsvorsitzenden, den leitenden Bischof der VELKD? Du liebe Zeit, das ist ja dann eine Meldung, die voll die Runde macht! Da kann ich auch gleich eine Anzeige aufgeben: Habe Brustkrebs, bin bis auf Weiteres außer Dienst!

Ich bin jetzt seit 1983 »erwerbstätig«, aber krankgeschrieben war ich noch nie, habe höchstens mal einen Tag wegen Erkältung oder so gefehlt. Hm. Im Krankenhaus war ich als Kind mit dem Blinddarm, dann zu den Geburten, als ich ein Kind verloren habe und als mir eine Krampfader entfernt werden musste. Sonst nie. Vor viereinhalb Jahren, als Hanna nur mit kräftiger Zuzahlung ihre Woche bei der Mandelentfernung in ein Zweibettzimmer kam, habe ich eine Einbettzimmerversicherung abgeschlossen. Das hat mich jeden Monat viel Geld gekostet, manchmal habe ich überlegt, das rückgängig zu machen. Jetzt bin ich heilfroh. Wenn schon, dann will ich allein sein in einem Krankenhauszimmer. Luxus, ich weiß.

26. August. Heute Morgen um den Maschsee gelaufen, ganz locker, 40 Minuten. Fit bin ich jedenfalls, wenn die gestern diesen Knoten nicht diagnostiziert hätten, würde ich es kaum glauben.

Hanna und Lea habe ich es dann gestern in aller Ruhe gesagt. Sie haben besorgt und betroffen reagiert, konnten aber gut damit umgehen. Wir haben richtig intensiv miteinander sprechen können. Ob Christian dann noch die sechs Wochen während seines NP-Praktikums hier wohnen kann, hat Lea gefragt. Ich habe ihr gesagt klar, das ist völlig okay. Mich würde eher annerven, wenn jetzt alle mit Grabesmiene um mich herumschleichen. Nico meint, ich sei tough, ich würde das schon schaffen. So sehe ich das ehrlich gesagt auch. Abends rief Sarah noch mal an und hat auch lange mit Hanna und Lea gesprochen. Seit ich mit Peter geredet habe, weil sie nicht da war, als ich anrief, verstehe ich auch besser, dass sie unbedingt kommen will. Es geht ja auch um sie, die gerne in so einer Situation bei ihrer Familie wäre, sagt Peter. Ich habe zwar vehement gesagt, sie brauche nicht kommen, aber heute beim Laufen dachte ich, da wäre ich ja genauso, ich würde da sein wollen. Aber bei mir sickert erst langsam durch, was das alles in der Konsequenz bedeutet. Mir ist klar, dass wir alle sterben müssen, aber diese theoretische Weisheit ist halt nicht gleich praktische Klugheit …

Dann habe ich U. angerufen. Sie war richtig schockiert. Aber praktisch wie sie ist, hat sie gesagt: Treffen wir uns auf einen Kaffee um 12 Uhr in der Stadt! Gut, habe ich gedacht, dann bringst du das Telefonat mit deiner Mutter vorher noch hinter dich. Erst habe ich meine Schwester angewählt. Meine Mutter wohnt in derselben Kleinstadt, es ist besser, sie weiß es, dann kann unsere Mutter darüber reden. Ursula hat bedrückt, aber pragmatisch reagiert. Und sagt, dass sie jetzt auch alle sechs Monate zur Krebsvorsorge gehen wird. Meiner Mutter fiel es schwer, das Ganze zu verkraften. Sie war ganz still am Telefon. Immer hatte sie Angst, zu früh zu sterben, bevor ihre Kinder selbstständig sind. Auch bei einer 83-Jährigen gibt es also noch diesen Schock, dass die Kinder vor den Eltern sterben könnten. Aber, sage ich, es geht im Moment gar nicht um Sterben. Es geht um einen begrenzten Tumor, der wird operiert, Metastasen sind zurzeit gar nicht das Thema. Sie erzählt dennoch Geschichten von einer Cousine, die Brustkrebs hatte, von einem alten Onkel, der Blasenkrebs hatte, von einer über 80-jährigen Nachbarin, die keine Chemo mehr machen wollte, weil die Metastasen schon überall waren. Gut, das sind wohl Assoziationsketten, die einfach auftauchen …

Hanna, Lea, Nico und Christian sind inzwischen relativ entspannt, fragen, ob ich schlafen konnte, und können darüber reden. Ich fahre in die Stadt, treffe mich mit U. Sie sagt: »Unsere Betroffenheitsbekundungen willst du jetzt bestimmt nicht hören!« Recht hat sie, ich will sie nicht hören … Lauter Leute voller Betroffenheit kann ich nicht um mich haben. Ich werde das schon packen, so gern ich OP und Chemo und all das vermeiden würde.

Nach dem Kaffee gehe ich shoppen. Beim Schneider muss ich einiges abholen und nebenbei kaufe ich mir allen Ernstes im August eine Winterjacke. Eine Winterjacke im August ist bescheuert! Aber sie ist wunderschön und wer weiß, wann ich wieder shoppen kann. Irgendwie lässt sich das doch wunderbar rechtfertigen. Zurück zu Hause befinden die Mädels den Einkauf für gut, ich schmiere mir ein Brot und gehe an den Schreibtisch. Mein neues Buch soll noch so weit wie möglich fertig werden.

Als Nächstes telefoniere ich mit meiner Pressesprecherin. »Sitzt du«, frage ich. »Nein, ich stehe.« – »Dann setz’ dich besser.« Ich sage ihr, was los ist, und sie atmet tief durch: »Gut, dass ich sitze!« Wir lachen. Und dann reden wir darüber und es ist okay. Sie ist getroffen, aber wir können damit umgehen. Und wenn die Presse fragt? Ich bin dafür, zu sagen, was los ist, sonst denken sie werweißwas. Suizidgefährdung überforderter berufstätiger Mütter – das würde Eva Hermanns Frauentheorien stützen. Aber warum soll ich denn lügen? Es ist ja kein Vergehen, Brustkrebs zu haben.

Schritt für Schritt. Anruf bei K. Sie lacht erst, scherzt und wird dann ganz ernst, als sie realisiert, worum es geht. Wenn sie schon mal still ist! Aber dann wird sie ganz pragmatisch. Die Klinik ist nur eine Haltestelle weg von ihrem Haus, da kann sie kommen und wenn ich sie brauche ist sie da. Aber ob ich das wirklich öffentlich sagen soll, was es ist … Und nach ihrer Erfahrung mit Bekannten geht es eher um drei als um zwei Monate. Wir werden sehen …

Noch ein Kapitel im Buch geschrieben. Ich möchte das noch fertig bringen. Verabredet war Abgabe am 1. September. Das Kapitel geht über Heilige. Ach, damit habe ich Probleme, ich bin bestimmt keine Heilige und finde gut, dass Luther gegen das Konzept rebelliert hat. Aber dass andere für uns Vorbild sein können, das verstehe ich. In letzter Zeit habe ich so viel über Paul Gerhardt gelesen und geschrieben. Kommendes Jahr feiern wir seinen 400. Geburtstag. Ihm ist es wahrhaftig gelungen, im Leiden seinen Glauben zu leben. So ein kleiner Krebsknoten ist gegen seine Erfahrung »Peanuts«.

Jetzt fehlt nur noch A. Ihr Mann, mein Freund, der Patenonkel unserer Tochter, ist vor zwei Jahren an Krebs gestorben. Ich habe beide begleitet und Thomas auch beerdigt. Gestern war sie nicht da. Vorhin sagte ihre Tochter, es sei Besuch im Anmarsch und ich habe gesagt, ich rufe später zurück. Sarah hat aber schon mit der älteren Tochter, mit der sie befreundet ist, gesprochen. Es wird Zeit, dass A. im Bilde ist … Wie erwartet ist sie am meisten schockiert. Sie ringt nach Luft und ist fix und fertig. Aber was soll ich machen, sagen muss ich es ihr. Wir beenden das Gespräch. Später ruft sie noch einmal an, hat sich etwas gefasst. Ja, wir können sogar zusammen darüber lachen, dass der erste Gedanke in meinem Kopf war »Houston, wir haben ein Problem« und nicht »der Herr ist mein Hirte.« Aber wie gut wir wissen, dass wir lachen können, weil wir die Erfahrung von Psalm 23 eben haben … A. ist für mich da, wenn ich sie brauche. Das haben die anderen Freundinnen auch gesagt und das tut gut. Aber jetzt habe ich die Nase voll vom Telefonieren. Ich spreche noch einmal mit Sarah, die sich auch gefasst hat und jetzt rational nachdenkt, was das Beste ist. Wir verabreden, dass ich ihr Montagmittag sage, was die Ärztin im Krankenhaus meint, dann ist es bei ihr in Argentinien frühmorgens und sie kann überlegen, wie es für sie das Beste ist. Jetzt gehe ich einen alten Tatort gucken und mache eine Flasche Wein auf.

27. August. »Bewahre uns Gott, behüte uns Gott …«, dieses schöne ernste Lied. 8 Uhr 15 Abfahrt nach Groß-Liedern. Festgottesdienst zur 1000-Jahr-Feier. Auf dem Weg ruft meine Mutter an. Wie es mir ginge, in der Morgenandacht im Radio habe sie so tröstliche Verse von Jesaja gehört, aber die kenne ich wahrscheinlich. Ja, ich kenne sie … Aber ich freue mich, wie gefasst sie jetzt ist, sie kann darüber reden. Heute Abend kommt meine mittlere Schwester zu ihr, ob ich wohl um halb acht anrufen kann, damit ich es ihr selbst erzähle. Na klar. So doll reden kann ich aber nicht, mein Fahrer ist zwar sehr diskret, aber diese Geschichte will ich ihm irgendwie doch nicht zumuten. Also bin ich eher etwas verschlüsselt …

Das Festzelt ist brechend voll. Ein schöner Gottesdienst, alles ist ganz liebevoll vorbereitet. Das erste Mal seit der Diagnose werde ich etwas emotional. Wir singen »Nun danket alle Gott« – den Vers mit dem »immer fröhlich’ Herz« mag ich am meisten, er bedeutet jetzt mehr als früher. »Ich sing dir mein Lied« – eine lateinamerikanische Melodie, ein so schöner Text. In der Predigt gehe ich auch auf unsere Zuversicht im Leiden ein. Wenn ich das predige, werde ich das jetzt schlicht auch leben müssen, denke ich. Und es ist ja auch so. Ich bin eher traurig darüber, dass alle, die mich lieben, das jetzt verkraften müssen. Ich selber, denke ich, werde schon damit fertig. Ich bin 48, habe alles, was sich Frauen nur wünschen können auf der Welt, Kinder, Beruf, eine schöne Wohnung. Andere Frauen in Afrika sterben mit Anfang zwanzig an Hunger und Elend und Mangel an medizinischer Versorgung. Mich bedrückt auch die Erkrankung gar nicht so, das trifft doch Zehntausende, warum nicht auch mich. Ein bisschen Angst habe ich nur mit Blick auf die Auswirkungen der Chemotherapie. Und jetzt habe ich auch das Gefühl, ich kann diesen Knoten geradezu spüren, wie er da sitzt, und hoffe, er streut nichts durch die Gegend.

Im Gebet nimmt der Probst auch die Bischöfin in die Fürbitte auf – wenn er wüsste, wie nötig ich das gerade heute habe. Aber ich kann mich ja auch nicht hinstellen und sagen: »Vielen Dank, ich habe nämlich Brustkrebs.« Das wäre bizarr, aber ich weiß auch, den Menschen hier täte es einfach nur leid, sie mögen »ihre Landesbischöfin«, jedenfalls die meisten. Wir singen »Bewahre uns Gott, behüte uns Gott, sei mit uns in allem Leiden« … Und ich bekomme einen wunderschönen Blumenstrauß. Anschließend besichtigen wir die Kapelle mit dem beeindruckenden Georgsaltar. Viele sagen, sie freuen sich schon auf meinen Kirchenkreisbesuch im September. Ich versuche, so zu reagieren, dass ich bei der Wahrheit bleibe, aber auch keine Beunruhigung auslöse. Ich muss einfach morgen erst einmal hören, wie der Zeitplan ist. Eine Frau sagt: »Woher nehmen Sie nur immer die Worte und auch die Kraft!« Ach, denke ich, ich hoffe, die Kraft bleibt mir erhalten! Und dann singen sie mir tatsächlich ein Ständchen zur Abfahrt.

Das Mittagessen ist nett. Danach habe ich mit Hanna und Lea eine Stunde zusammengesessen und von meinem Vater erzählt. Auf einmal war so eine Atmosphäre da, das lässt sich ja nicht herstellen, die entsteht plötzlich. Merkwürdig, wie wenig ich ihnen erzählt habe bisher. Hanna fragt dann, ob ich ihnen nicht ein paar Fotos zeigen kann, und über den Fotos haben wir so richtig nett geklönt. Danach habe ich eine Stunde wunderbar geschlafen. A. hat angerufen. Sie sagt, ich sei »statistisch falsch«, habe eine Ärztin gesagt, mit der sie heute Morgen gesprochen hat – ist ja klar, allen geht das durch den Sinn. Statistisch kriegen Frauen, bei denen keine Verwandte Brustkrebs hatte und die gestillt haben, eher nicht Brustkrebs. Und ich habe vier Kinder gestillt! Statistik, das sind eben auch nur Zahlen …

Wenn ich das alles jetzt aufschreibe, ist das vielleicht auch merkwürdig. Aber ich kenne mich ja, mir hilft es schon immer, zu schreiben. Seit 1968, dem Einmarsch der Sowjets in der Tschechoslowakei, schreibe ich Tagebuch. Mit Schreiben habe ich auch schon oft Konflikte bewältigt. Ich schreibe gern. Ja, Journalistin wäre auch eine gute Berufswahl gewesen. Aber als Bischöfin habe ich ja durchaus viele Möglichkeiten zum Schreiben. Also, jetzt gehe ich an das Ikonen-Kapitel in meinem Spiritualitätsbuch.

Habe um halb acht meine Schwester Gisela erreicht. Sie ist aus Stockholm von ihrem Sohn gekommen und jetzt eine Nacht bei unserer Mutter. Die hatte das Telefonat wohl angekündigt und Gisela war ganz aufgekratzt. Als sie den Anlass realisiert hat, war sie ernst, aber ganz ruhig. Sie ist Krankenhausseelsorgerin, für sie ist das auch nichts, was total überrascht. So ist das Leben. Doch, das war ein gutes Gespräch.

Inzwischen ist Christian wieder da. Lea fragt, ob wir zusammen Tatort gucken. Und das ist dann richtig nett zu dritt: Tatort und Essen. Hanna und Lea werden morgen zuerst das Auto zur Reparatur bringen und Hanna mich dann um 10 Uhr ins Krankenhaus. Ab dann werden die Uhren anders ticken, aber es gibt wenigstens einen Zeitplan, auf den sich Kanzlei, Familie und Landeskirche insgesamt einstellen könnten. Um 13 Uhr wird Esther aus Frenswegen zurückkommen. Sie wird das Ganze dann erst auch noch einmal verkraften müssen …

28. August. Ein Knoten halt und der muss raus …
Was für ein Tag!!! Früh bin ich mit unserem Hund Ole Gassi gegangen, habe Wäsche gewaschen, die Blumen gegossen, eingekauft, Geld von der Bank geholt – wer weiß, was kommt. Um 10 Uhr bin ich mit Hanna im Sprechzimmer von Prof. H. Frau Dr. S. nimmt uns in Empfang. Sie erklärt noch einmal den Befund, und dass sie mich heute gerne »stanzen« würden. Das sei notwendig, um Gewebeproben zu entnehmen und zu prüfen, ob der diagnostizierte Knoten definitiv bösartig sei. Sie wundere sich, dass Frau W. ihn ertastet habe, der sei noch klein und tief im Gewebe … (1:0 für meine Frauenärztin, ich werde mich heute Abend bei ihr bedanken!). Frau S. meint jedenfalls, es könne sogar sein, dass ich an einer Chemo vorbeikomme. Werden keine Metastasen gefunden, könnte eine Strahlentherapie reichen, es sei denn, ich wollte unbedingt eine Chemotherapie zur Sicherheit. Hanna fragt nach dem Unterschied: Strahlentherapie bedeutet eben nur die Brust, Chemo geht auf den ganzen Körper, Ersteres hat kaum Nebenwirkungen, Letzteres zwar weniger als früher, aber doch immer noch.

Ich frage nach den zeitlichen Perspektiven. Mit der OP eine Woche im Krankenhaus, dann eine Woche Erholung und sechs Wochen fünfmal Strahlentherapie, also im Prinzip sei ich acht Wochen krankgeschrieben. Manche wollten aber früher wieder arbeiten, fühlten sich fit. Ich habe mir am Wochenende überlegt, dass das auch niemandem hilft, so ein Vielleicht oder Vielleichtnicht. Aber vielleicht :-) kann ich ja doch mit nach Lanzarote …

Dann geht es zum Stanzen. Frau Dr. B. (ich bin baff, wie viele Frauenärztinnen es inzwischen gibt!) und eine freundliche Schwester bitten mich hinein. Hanna hat eben noch gesagt, es höre sich ja alles gar nicht so schlimm an, zögert aber jetzt, ob sie sich das ansehen will. Ich ermutige sie, aber zwingen will ich sie auch nicht. Sie ist also dabei und ich muss sagen, das ist auch ganz schön so. Erst wird die Brust betäubt, dann wird ein kleiner Ritz gemacht und fünfmal eine wie ich finde ziemlich eklig lange Metallnadel in den Tumor geschossen. Die Gewebeproben werden in ein kleines Kästchen gekratzt. Leider ist der dritte Schuss nicht so optimal, wir brauchen sechs Versuche. Also: Das ist nicht wahnsinnig schmerzhaft, aber ich kann mir Angenehmeres vorstellen! Die beiden Frauen sind aber sehr freundlich, erklären, fragen, ob ich okay bin. Angeschaut habe ich mir das auf dem Monitor nur einmal. Es sieht scheußlich aus, wenn diese Nadel in den Tumor schießt. Hanna guckt bei jedem Schuss nach unten, aber sie ist tapfer und kollabiert nicht. Schließlich wird ein fester Druckverband angelegt und wir können gehen. Uns beiden schlottern jetzt doch ein bisschen die Beine.

»Du kannst nie tiefer fallen als in Gottes Hand«, denke ich … Daran halte ich mich fest. Diesen Satz werde ich mir und anderen in den kommenden Wochen immer wieder sagen.



Das war der Anfang des Tagebuches, das ich geführt habe, bis ich am 1. Januar 2007 mit meiner Freundin Almut wieder in 40 Minuten um den Maschsee laufen konnte. Anfügen will ich einen kleinen nachträglichen theologischen Exkurs, der anknüpft an Gedanken, die ich als Hauptvortrag auf der Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes 2003 in Winnipeg vorgetragen habe. Denn nach meiner Krankheit habe ich immer wieder Briefe von Menschen erhalten, die damit ringen, dass sie oder Menschen, die sie lieben, erkranken. Was bedeutet Krankheit, wie gehen wir im Glauben damit um?

Schon im Buch Hiob im Alten Testament der Bibel erfahren wir die Grenzen eines Erklärungsmusters, das Leiden als Strafe deutet. Hiob, der Gerechte, muss leiden. Und die traditionellen Antworten Hiobs tragen nicht, angesichts der Tatsache, dass Hiob nicht gesündigt hat und sich von daher sein Unglück nicht erklären lässt. Hiob versucht, sich in Gott hineinzudenken, auch wenn es allen bisherigen Interpretationsversuchen widerspricht. Die Antwort Gottes an Hiob ist der Verweis auf die Schöpfermacht, ohne dass so das Leiden erklärt wird. Die Botschaft an Hiob ist, dass auch das Leiden in den Glauben an Gott hineingenommen wird.

Im Jona-Buch kommt es dann zur klaren Abkehr vom sogenannten Tun-Ergehens-Zusammenhang: Ninive wird nicht zerstört, obwohl die Stadt es aufgrund ihrer Boshaftigkeit verdient hätte. Vielmehr erhält Ninive eine Chance zur Umkehr. Gottes Zorn über Ninive wird von seiner Reue überwunden. Gott straft nicht, sondern erweist sich als barmherzig, gütig. So zeigt sich, dass Gott nicht starr und unveränderlich ist: Es gibt eine Beziehungsgeschichte zwischen Gott und den Menschen, denen er sich immer wieder neu zuwendet, die er nicht loslässt. In ihr wird die Barmherzigkeit und Geduld Gottes sichtbar. Das Motiv der Strafe tritt auch im Gesamtzeugnis des hebräischen Teils der Bibel in den Hintergrund.

Das Zeugnis des Neuen Testamentes weist eine Deutung von Leid und Bösem als Strafe eindeutig zurück (zum Beispiel: Lukas 13,1-5). In Jesus Christus offenbart sich Gott ein für alle Mal als ein liebender Gott, der unter Verzicht auf menschliche Macht und Gewalt den Menschen Gemeinschaft eröffnet. Das können wir immer wieder schwer verstehen. Was für eine Provokation: Gott, der als Kind zur Welt kommt. Jeder und jede, die das Zusammenspiel von Schmerz und Hoffnung während einer Geburt erlebt hat, ahnt die Dimension dieser Provokation. Gott, der qualvoll am Kreuz stirbt! Muss Gott nicht ein starker Held sein, der alle besiegt? Oder einer, der über allem steht? Können wir an einen ohnmächtigen Gott glauben – oder ist das nicht geradezu lächerlich?

Die Geschichte von Jesus Christus fordert uns dazu heraus, die Allmacht und die Ohnmacht Gottes zusammen zu denken. Dietrich Bonhoeffer schreibt in seinen Briefen aus dem Gefängnis: »Gott lässt sich aus der Welt hinaus drängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und nur so ist er bei uns und hilft uns.« Und die Auferstehung sagt: Gott will das Leiden schon in dieser Welt überwinden mit der Macht der Liebe allein – nicht mit Krieg oder durch Gewalt. Wer immer den Namen Gottes im Munde führt, sollte das bedenken! – Und das gilt besonders für diejenigen, die politische Leitfiguren sein wollen. Die Liebe ist verletzlich, verwundbar, aber sie ist auch stärker als der Tod! Von dieser Verheißung auf Gottes neue Welt leben wir. Diesem so offenbar gewordenen Gott dürfen wir vertrauen, an ihn glauben und uns ihm mit all unseren Verwundungen und Verletzungen anvertrauen. Das hat Jesus Christus verkündigt, dafür hat er gelebt und ist er gestorben und darin ist er in der Auferstehung bestätigt worden. An diesen Gott halten wir uns, das ist unser Heiland. Luther übrigens hat an der Rede vom Verborgensein Gottes immer festgehalten, um diese Erfahrung des Fremdwerdens Gottes zur Sprache zu bringen und dennoch den Glauben zu bezeugen, dass alles in Gottes Hand ist. Luther warnt gerade davor, diesen verborgenen Gott, den Deus absconditus ergründen und deuten und sich so Gottes bemächtigen zu wollen.

Es bleibt also beim Nachdenken, bei Auseinandersetzungen um die Frage der Allmacht Gottes und nach dem Zulassen des Leidens. Nein, bessere Antworten als Generationen vor uns haben wir nicht. Mir liegt daran, dass wir nicht versuchen, exakte oder logische Antworten zu finden, sondern den Mut haben, uns Gott anzuvertrauen, im Wissen darum, dass Gott Leben will und nicht Tod. Es geht um das Vertrauen Jesu, das Lukas bezeugt: »Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände« (Lukas 23,46). Jesus hat aus dem Schrei der Gottverlassenheit zurückgefunden zum Gottvertrauen. Das ist kein schneller Weg. Das ist ein Weg über Kreuz und Tod. Jesus geht offensichtlich mit Wunden in Gottes Reich ein. Er wird Thomas nach der Auferstehung keinen makellosen, unverwundeten Körper zeigen. Gerade an den Wunden erkennen die Jüngerinnen und Jünger den Auferstandenen.

Darum geht es wohl auch bei uns. Selbst wenn unsere Wunden, unsere Verletzungen, unsere Brüche im Leben heilen, bleiben sie Teil unserer Geschichte. Sie können vernarben, aber nicht aus unserem Gedächtnis getilgt werden. Es gibt kein Leben ohne Brüche, ohne Narben.

Die Jüngerinnen und Jünger gewinnen ihr Gottvertrauen zurück, als Jesus die verschlossenen Türen durchbricht. Dieses Vertrauen ermöglicht Gottes Geist, den er ihnen zusagt, den wir spüren können, wenn wir uns öffnen. In diesem Vertrauen können Wunden heilen, auch wenn Narben bleiben. In diesem Vertrauen gehen wir mitten in einer verwirrten Welt unbeirrt unseren Weg als eine Gemeinschaft der Hoffnung, die glaubt, dass die Liebe Gottes stärker ist als Hass, Gewalt, Grauen und Tod.

Als Christinnen und Christen haben wir den Mut, die Wunden anzusehen, können wir Gottes Ohnmacht und Gottes Allmacht zusammen denken. Ja, wir müssen die Gebrochenheit des Lebens aushalten, die Kreuzeserfahrung als Teil des Lebens annehmen.

In der Mitte des Lebens ist mir wichtig geworden, Krankheit und Leid und Krisen als Vertiefung anzusehen. Menschen, die nichts davon erfahren haben, bleiben meist oberflächlich, denke ich manchmal. Interessanter jedenfalls sind diejenigen, die solche Tiefen kennen, denn sie leben anders.

Es ist mir wichtig, mich an die Gefühle aus der Zeit der Erkrankung zu erinnern, sie nicht einfach abzuheften und zu vergessen. Und viele Frauen haben mir inzwischen auch ihre Erfahrungen mit einer Erkrankung geschildert, ihre Gefühle, die sehr ähnlich waren. Höhen und Tiefen, Hin- und Hergerissensein. Ich habe die OP gut überstanden, die Strahlentherapie auch. Nach acht Wochen habe ich wieder angefangen zu arbeiten.

Und es war da eben doch auch ein tiefer Einschnitt, weil ich in dieser Zeit begriffen habe, dass ich der Tatsache ins Auge schauen muss, dass meine Ehe als gelebte Beziehung nicht mehr existiert. In einer existenziell bewegenden Situation ist es nicht möglich, vor der Realität wegzulaufen. Ich hatte es verdrängt, hatte versucht, diese Erkenntnis zu ignorieren. Die Erkrankung hat mir letzten Endes den Mut gegeben, mich dieser Wirklichkeit zu stellen. Insofern kann ich im Rückblick sagen, dass ich auch dankbar bin für die Krankheit. Ich habe Grenzen gesehen, eigene Schwäche eingestehen müssen, und ich habe viel Liebe erfahren. Und als ich wieder um den Maschsee laufen konnte, habe ich auch ein großes Glück gespürt über geschenkte Zeit im Leben.

Glück genießen

Lasst uns jubeln und fröhlich sein und ihm die Ehre geben.52

Während meines Urlaubs im Februar mit einer Freundin auf Gran Canaria sprach mich nach einer Sportstunde eine Frau an. Eigentlich mag ich das nicht, es tut im Urlaub auch einfach gut, nicht »im Dienst« zu sein. Aber sie war so voller innerer Freude, das hat mich richtig gerührt. Sie erzählte, dass sie gerade die Augen geschlossen hatte, in den blauen Himmel schaute und dachte: Lieber Gott, danke, dass ich das erleben darf! Da habe sie ihr Mann angeschubst und gesagt: Guck mal, ein Gruß für dich. Über die Hotelanlage flog ein Hubschrauber mit dem Banner: »Jesus war da«. Irgendwie kitschig, ich weiß. Aber mich hat angerührt, wie sehr sich diese Frau über einen schönen Tag im Hotel freuen konnte. Sie konnte ihr Glück wahrnehmen, sie konnte es spüren.

Allzu oft treffe ich Menschen, die gar nicht wahrzunehmen scheinen, in welch einer privilegierten Situation sie leben. Eine Reporterin fragte mich einmal in einem Interview: »Auf einer Skala von eins bis zehn, wo sehen Sie sich mit Blick auf Glück?« Ich habe gesagt: »Zehn!«, und sie war erstaunt. Wenn ich bedenke, wie Frauen in anderen Ländern heute leben müssen, wie Frauen in Europa in den Jahrhunderten und Jahrzehnten vor mir gelebt haben, dann kann ich unsere Lebenssituation nur als glücklich bezeichnen! Noch bis Ende des letzten Jahrhunderts konnten Ehemänner den Arbeitsplatz der eigenen Frau kündigen, wenn sie meinten, diese käme den ehelichen Pflichten nicht nach. Heute können Frauen einen Schulabschluss machen, eine Ausbildung, studieren, leitende Positionen übernehmen – aus eigener Kraft, in eigener Verantwortung. Zum Glück!

Es ist einfach noch gar nicht so lange her, dass es auch hierzulande ganz anders war! Natürlich war auch in der evangelischen Kirche Gleichberechtigung nicht von vornherein angesagt. »Heiratet das Zeug doch weg!«, diesen schrecklichen frauenverachtenden Satz rief Anfang der 60er-Jahre noch ein entsetzter Pastor seinen Glaubensbrüdern zu, wird erzählt – sein Vorschlag, um die Frauenordination zu verhindern. Doch was 1927 in der hannoverschen Landeskirche ganz vorsichtig mit dem »Pfarramtshelferinnen«-Gesetz begonnen hat, ließ sich nicht mehr »wegheiraten«. Vom 1. März 1964 an gab es trotz vieler Proteste aus der Pfarrerschaft die Pastorin nach hannoverschem Zuschnitt. Noch einmal 35 Jahre später wurde eine Frau zur Bischöfin gewählt …

Eine solche Entwicklung erscheint vielen Frauen in den Ländern des Südens dieser Welt oder auch in muslimisch geprägten Ländern unvorstellbar. Der evangelische Gedanke der Freiheit hat sich gerade auch für Frauen als wegweisend erwiesen. Als im Jahr 2004 Zara K., eine junge Iranerin, die zum Christentum konvertiert war, in den Iran abgeschoben werden sollte, haben sich viele Flüchtlingsorganisationen und Hilfsgruppen dagegen gestellt. Sie war nach Deutschland zwangsverheiratet worden, hatte ihren sie schlagenden Ehemann verlassen, der flog mit dem gemeinsamen Kind in den Iran. Es gab Befürchtungen, dass Zara K. bei einer Rückkehr in den Iran etwas zustoßen würde. Vom niedersächsischen Innenministerium wurde angezweifelt, dass sie ernsthaft zum Christentum konvertiert sei. Am Ende rettete sie der Pilot der Lufthansamaschine, der sich von den ihm eilig zugefaxten Unterlagen überzeugen ließ und sich weigerte, sie mitzunehmen. Daraufhin musste der niedersächsische Innenminister unter dem öffentlichen Druck die Vertreterinnen und Vertreter von Parteien, Kirchen und Flüchtlingsorganisationen zusammenrufen, um eine Lösung zu finden. Zara K. lebt heute in Göttingen. Ihr und ihrem »Fall« ist es zu verdanken, dass es überhaupt eine Härtefallkommission in Niedersachsen gibt, die allerdings immer noch unter äußerst restriktiven Bedingungen arbeitet.

Ich erzähle dies, denn als klar war: Zara K. darf bleiben, habe ich großes Glück empfunden. Anderes Glück als bei der Geburt meiner Töchter oder deren Abiturfeiern. Ein Glück, das gespeist war von der Wahrnehmung: Du kannst etwas bewirken! Wir können die Welt verbessern. Das wird viel belächelt, auch das habe ich oft erlebt. Aber ich habe begriffen, dass Glück zweierlei bedeutet: tiefen inneren Frieden, wenn ich die Schönheit der Natur sehe, die wunderbaren Rosen, die unglaublich schönen Lilien. Und dann das Gefühl, die Erfahrung, etwas bewirken zu können durch den Besuch bei dem alten Mann in der Nachbarschaft, das Engagement für die Frau ohne Aufenthaltspapiere, das Lächeln, das ich bei der Verkäuferin auslöse. Glück ist eine Beziehungsfrage. Von mir zur Schöpfung, zu den Dingen, zum Leben, vor allem aber auch zu anderen Menschen.

In ihrem wunderbaren Roman »Ach Glück«, beschreibt Monika Maron eine Frau in der Mitte des Lebens, die am Ende einfach aufbricht. Eine Freundin hatte mir das Buch mitgegeben, als ich bei ihr in Berlin übernachtete, ich gab es wieder einer Freundin, die es meiner Tochter gab. Wir alle mochten dieses Buch, weil es nicht überheblich daherkommt, sondern Glück mit einem Augenzwinkern sieht und mit dem Mut, etwas Neues zu wagen mitten im Leben. Und weil mir das so gefiel, habe ich bei einer Sendung des ZDF-Morgenmagazins das Buch empfohlen, als ich um einen »Kulturtipp« gebeten wurde. Einige Zeit später meldete sich Monika Maron bei mir, und wir verabredeten uns zum Kaffee in den Hackeschen Höfen in Berlin – samt ihrem alten Hund, der mir sehr sympathisch war, der in dem Buch auch vorkommt und mich an meinen erinnert, Ole, der inzwischen sehr alt ist, aber eben auch ein treuer Begleiter durch die Jahre.

Das war ein wunderbares Gespräch über Gott und die Welt. Ich habe Glück dabei empfunden. Und ein Augenzwinkern, weil ich diese schriftstellerische Idee der Landung in Chile mit dem Erkennungszeichen: großer roter Hut (auf dem Kopf einer älteren Dame) wunderbar finde. Und einstimmen kann in diesen Seufzer: »Ach, Glück«. Das heißt vielleicht sogar ein bisschen sarkastisch: »Ach Glück, du überschätztes Gefühl.« Oder ganz hoffnungs- und sehnsuchtsvoll: »Ach, Glück, könnte ich dich noch mal so empfinden wie damals …« Oder traurig über einen Verlust, in wehmütiger Erinnerung: »Ach, Glück …«. Glück bleibt ja ein Ort der Sehnsucht. Ach, Glück vielleicht eben auch, weil ich mir sehr bewusst bin, dass nur fünfzehn Prozent der Weltbevölkerung in einer solch privilegierten Situation leben können wie ich, in der Nahrung, Obdach, Gesundheitsversorgung, Bildung Normalität sind. Unverdientes Glück, Gnade der Geburt zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Solches Glück bringt auch Verantwortung mit sich, denke ich.

Wenn Jesus in der Bergpredigt auf die Lilien auf dem Feld hinweist, an denen sich der Mensch ein Beispiel nehmen sollte, dann ja wohl, um die ewige Sorge des Menschen um den morgigen Tag infrage zu stellen. »Es genügt, dass jeder Tag seine eigene Plage hat«, sagt er. Und das gefällt mir! Wie viele Sorgen machen sich Menschen, um dies und um das, um Großes, aber wirklich auch um Kleinigkeiten. Glück wahrnehmen heißt auch, sich am Kleinen freuen können, jetzt diese Muschel mitnehmen, die kleinen Narzissen im Garten kräftig gelb gegen das eklige Märzwetter anleuchten sehen, dem Eichhörnchen zuschauen, das durch den Garten hüpft. Ja, ich weiß, Kleinigkeiten. Vielleicht dann Größeres: unter der Dusche wissen, dass nahezu alle Frauen in Afrika mich um diesen Luxus beneiden – was für ein Glück, unter solchen Verhältnissen zu leben! Glück, dass ein Kind gesund aufwachsen kann. Glücklichsein ist vielleicht schlicht eine Haltung der Dankbarkeit, die nicht alles Gute selbstverständlich nimmt, sondern als Gottes Geschenk ansieht. In der Mitte des Lebens wird uns das immer bewusster. Und manchmal heißt Glück auch, etwas Verrücktes wagen, einmal aus der Reihe zu tanzen. Wie singt Katie Melua: »This is the closest thing to crazy I have ever been, feeling 22, acting 17« – das ist das Verrückteste, was ich je getan habe, fühlen wie 22, handeln wie 17. Auch das gibt es ja in der Mitte des Lebens, einmal ausbrechen, sich jung fühlen.

Ich selbst habe Glück empfunden nach der Krebserkrankung. Dieses Gefühl: Ich bin noch am Leben! Die Dankbarkeit, bewahrt worden zu sein, die war groß. Und ich habe durch die Krankheit eine Phase erlebt, in der ich zwei Monate Zeit nur für mich hatte, Zeit, zu mir selbst zurückzufinden. Ich konnte diese Zeit als geschenkte Zeit wahrnehmen. Als Zeit der Klärung. Wer bin ich? Lasse ich mich treiben von den Meinungen und Ansprüchen anderer? Wie will ich alt werden?

Heute habe ich die Balance wiedergefunden. Es hat ein paar Jahre gedauert, aber ich könnte heute wieder von mir sagen, dass ich glücklich bin. Auch das ist eine Erfahrung in der Mitte des Lebens: Du gehst durch tiefe Täler, aber du musst nicht unten bleiben, sondern du findest wieder einen Hügel, von dem aus du einen freien Blick über das Land hast.

52 Offenbarung 19,7.