Lebenserfahrungen machen
Kein Leben verläuft gerade, einfach so, nach Plan, oder immer im Aufwind. Es gibt Höhen und Tiefen. Mir ist wichtig, die schweren Zeiten nicht als verlorene Zeit zu sehen, sondern als Zeit der Reife. Die Tiefe des Lebens erfahren wir gerade in Zeiten von Angst, Krankheit und Konflikt. Allzu glatte Bilder nach außen sind ja oft auch Fassaden, die das Innere verdecken, das womöglich anders aussieht. Es ist eine Frage der Freiheit und ja, wiederum der Balance, die schweren Zeiten bewusst zu erleben.
Wüsten durchqueren34
Danach wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt,
um vom Teufel versucht zu werden.35
Auch wenn wir die Wüstenerfahrung nicht suchen: Manchmal finden wir uns vor in der eigenen Wüste des Lebens, gerade dann, wenn wir den Zenit überschritten haben und auf der Suche nach der Mitte sind. Wir erleben die Wüste der Einsamkeit, der Trauer, der Krankheit, des Versagens. Wüstenzeit, auf sich geworfen sein – allein mit sich und manchmal, wenn es sein kann, mit Gott allein. Es gibt natürlich aber auch eine Wüstenzeit des Glaubens: Gibt es Gott? Wie kann Gott das zulassen? Warum steht Gott mir nicht bei?
Wer in die Wüste geht, ist getrieben von der Sehnsucht nach Klärung. Nein, das ist nicht das Abenteuer und die Rallye Paris – Dakar … Da ist nichts Sensationelles, sondern Einsamkeit. In der Wüste geht es um den Mut, sich selbst gegenüberzustehen. Oder sich selbst und Gott. Wer in die Wüste geht, kann niemandem mehr etwas vormachen. Da bin ich nur ich. Keine Fassade. Kein schöner Schein. Kein big pretender.
Wüstenzeit ist Zeit der Sensibilität, des Schutzlos-Seins. Ausgesetzt der Sonne, dem Hunger, den Gefahren des Lebens und der Kälte der Nacht. Hier geht es nicht um Überlebenstraining und schöne Sonnenuntergänge. Wüste steht in der Bibel für Einsamkeit und für das Selbst. Für Selbst-Erfahrung. Und für Gotteserfahrung. Wüste ist auch ein Auf-Sich-Geworfen-Sein. Eine Wüstenzeit suchen sich nur wenige Menschen freiwillig. Und doch müssen die meisten Menschen sie irgendwann und irgendwie erleben und durchleben.
Vier Tage können da schon zu viel sein, unerträglich. Von vierzig Tagen ganz zu schweigen – eine überlange Zeit. Die Vierzig begegnet uns häufiger: Vierzig Tage lang fastet Jesus in der Wüste. Vierzig Jahre lang geht das Volk Israel durch die Wüste. Vierzig Tage verbringt Moses auf dem Berg Sinai, bevor ihm die Bundestafeln übergeben werden.
Wüstenzeit ist Zeit der Stille und Möglichkeit zum Hören auf die eigene Stimme tief drinnen, die sonst so leicht übertönt wird. Und sie ist eine Chance, neu zu hören auf Gott und das, was er zu sagen hat.
Jesus geht in die Wüste, freiwillig. Nein, nicht wirklich freiwillig: Der Geist führt ihn dorthin, heißt es. Ein Geführter. Ein Getriebener? Er setzt sich einer extremen Erfahrung aus. Ob er klären will, welches die richtigen Weichenstellungen für sein Leben sind? Nach der Wüste wird er öffentlich predigen, das Reich Gottes verkündigen. Er wird die Kraft haben, seinen ganz eigenen Weg zu gehen. Die Wüste wird zum Ort der Klärung der eigenen Berufung, zum Ort der Bewährung. Jesus hat das gewusst. Das Volk Israel hat es erlebt. Wüstenzeit lehrt, worauf es ankommt. Da wird das Stück Brot zum Leben und der Schluck Wasser zum Genuss. Und tief drinnen spürt der Mensch: Es kommt darauf an, dass ich meine Seele nicht verliere. Meine Seele, meine Mitte, meine innere Balance. Denn was immer der Mensch auch durchmacht, seine Seele ist in ihm und sucht nach Leben und nach der lebendigen Beziehung zu Gott. In der Wüste! Und im Leben, das manchmal Wüste ist.
Jesus wird in die Wüste geführt, um Klarheit zu finden. Er muss verstehen, was sein Auftrag ist. Er geht bewusst, findet sich nicht einfach dort vor. Jesus sieht sich vom Geist geführt, von der Geistkraft. Er versteht, dass er diesen Weg in die Wüste alleine gehen muss, um die innere Klärung zu finden und die Kraft für seinen Auftrag. Anfang dreißig war Jesus bei dieser Erfahrung, aber sie steht gut für die notwendigen Klärungen in der Mitte des Lebens, die jeder und jede für sich allein finden muss.
Diese Einsamkeit auf der Suche nach dem eigenen Weg beschreibt Hilde Domin auf wunderbare Weise in einem Gedicht. Es hat mich auf einer Wüstenstrecke meines Lebens begleitet und ist mir wichtig geworden, weil es um die Wüste weiß, aber auch die Möglichkeit der Veränderung und der Erneuerung, die immer keimt.
Die schwersten Wege
werden alleine gegangen,
die Enttäuschung, der Verlust,
das Opfer,
sind einsam.
Selbst der Tote der jedem Ruf antwortet
und sich keiner Bitte versagt
steht uns nicht bei
und sieht zu
ob wir es vermögen.
Die Hände der Lebenden die sich ausstrecken
ohne uns zu erreichen
sind wie die Äste der Bäume im Winter.
Man hört nur den eigenen Schritt
und den Schritt den der Fuß
noch nicht gegangen ist aber gehen wird.
Stehenbleiben und sich umdrehn
hilft nicht. Es muss gegangen sein.
Nimm eine Kerze in die Hand
wie in den Katakomben,
das kleine Licht atmet kaum.
Und doch, wenn du lange gegangen bist,
bleibt das Wunder nicht aus,
weil das Wunder immer geschieht,
und weil wir ohne die Gnade
nicht leben können:
die Kerze wird hell vom freien Atem des Tags,
du bläst sie lächelnd aus
wenn du in die Sonne trittst
und unter den blühenden Gärten
die Stadt vor dir liegt,
und in deinem Hause
dir der Tisch weiß gedeckt ist.
Und die verlierbaren Lebenden
und die unverlierbaren Toten
dir das Brot brechen und den Wein reichen –
und du ihre Stimmen wieder hörst
ganz nahe bei deinem Herzen.36
Jesus tritt am Ende wieder heraus aus der Wüste. Er findet die innere Kraft für seinen Weg. Er überwindet das Dunkel, er hört wieder die Stimmen der verlierbaren Lebenden und der unverlierbaren Toten. Sie brechen ihm Brot und reichen Wein.
Und eines Tages wird er wieder allein sein. In Gethsemane. Und schließlich auch am Kreuz. Und gerade so wird er für uns zu dem, der die Gnade und das Wunder spürbar werden lässt. Er ist das Licht, das uns die Angst nimmt, uns die Kerze ausblasen lässt. Der uns Brot und Wein reicht. Für unseren Weg. Als Wegzehrung. Wir bleiben nicht allein, sondern feiern miteinander und mit dem Auferstandenen, wenn wir Brot und Wein teilen. Als Fest des Lebens. Zu seinem Gedächtnis.
»Und siehe, da traten Engel zu ihm und dienten ihm« (Matthäus 4,11) – mit diesen Worten endet der Abschnitt über die Wüstenerfahrung Jesu. Andere werden ihm zu Engeln auf dem Weg. Tröstlich. Jesus hat das Schlimmste – vorerst – überstanden. Jetzt kann er neue Kraft schöpfen. Engel sorgen für ihn. Vielleicht sind es Menschen, die ihm in der Wüste etwas zu essen und zu trinken geben. Er spürt: Die Kraft kommt zurück. Auch das ist ja eine Lebenserfahrung mit fünfzig: Es gibt nach tiefen Tälern neue Anfänge. Ich komme zurück aus der Wüste, lasse diese dämonischen Stimmen hinter mir und kann meinen Weg gehen: meinen Weg auf Gottes Wegen. Mit anderen Menschen an meiner Seite.
Eine Journalistin fragte mich kürzlich im Interview, ob meine Krebserkrankung für mich eine Wüstenerfahrung gewesen sei. Nein, habe ich gesagt, die Krebserkrankung nicht. Da sind mir Wellen der Sympathie entgegengeschwappt. Mitleid, Betroffenheit, Angst vor Verlust, Zuneigung – in vielen Briefen und Blumensträußen wurde das bekundet und es hat mich sehr berührt.
Eine Wüstenerfahrung habe ich gemacht, als meine Scheidung öffentlich wurde. Einerseits waren da »Engel«, die mich getragen haben, meine Töchter, mein allernächstes Arbeitsumfeld in der Kanzlei, im Landeskirchenamt, im Bischofsrat, im Senat der Landeskirche. Aber es gab auch die Einsamkeitserfahrungen – Zurückweisung, Häme, Giftspritzen ohne Absender, Leserbriefe ohne Barmherzigkeit, die Freude am »tiefen Fall« eines Menschen, eine Lust geradezu an der Herabsetzung. Es gab dieses Gefühl, beobachtet zu werden: Hält sie durch oder nicht? Das ist überhaupt nicht erquicklich. Eine Wüstenerfahrung war das auch, weil ja nicht im Vorhinein klar ist, wie weit die Kraft trägt. Kann ich standhalten oder werde ich doch flüchten? Ertrage ich diesen Zugriff der Öffentlichkeit, die meint, mein Privatleben abschließend beurteilen zu können oder entziehe ich mich, gehe weg, trete die Flucht an in die USA oder in ein ganz anderes Leben … Ich habe standgehalten, weil andere mir den Rücken gestärkt haben. Wüstenerfahrungen muss ein Mensch letzten Endes wohl immer allein durchstehen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, sie zu bestehen ohne das Wissen um Menschen, die zu mir halten und wie eine Oase in der Wüste für mich sind.
Und nicht ohne meine Verwurzelung in meinem Glauben. Wenn heute viele auch gern mit Häme auf Menschen sehen, die sich im Glauben beheimatet wissen, wie Karen Duve jüngst im »Spiegel«37, so spüren sie nichts von dem, was Glaubende hält und trägt, denke ich. Glaube ist, so sagt es Martin Luther, ein tiefes Vertrauen. Das lässt sich nicht verkaufen, nicht verordnen, kaum erzählen, sondern nur erfahren und erleben.
Gelernt habe ich in den Wüstenerfahrungen einerseits eine gewisse Ernüchterung, auch Demut: Ich habe nicht alles im Griff, nicht alles ist machbar oder kann selbstbestimmt geregelt werden. Das gilt auch für die Erfahrung, zu erleben, wie Menschen mich abstempeln, beurteilen, sich freuen an meinem Scheitern; das war neu und auch bitter für mich. Und gleichzeitig habe ich erlebt, wie andere mir zur Seite stehen, von denen ich es kaum erwartet habe. Das gehört vielleicht zu den überraschendsten Erfahrungen in der Mitte des Lebens, dass Menschen auch im positiven Sinne anders sein können, als ich es erwarte. Und dass ich erlebe, wie andere sich an mir festhalten, weil sie selbst mitten im Sturm stehen.
In den Wüstenzeiten unseres Lebens kommen wir ans Ende unserer Kraft. Aber aus solchen Zeiten der Klärung können wir eben auch gestärkt hervorgehen, uns neu orientieren und mit frischem Mut nach vorn weiterleben.
Gärten bewässern
Gott, der Herr, pflanzte einen Garten in Eden, im Osten, und setzte
den Menschen hinein, den er gebildet hatte.38
Die Mitte des Lebens ist ganz gewiss nicht eine einzige Wüste. Sie bringt auch Erfahrungen des Glücks mit sich, der Freiheit, der Weisheit durch Erfahrung. Der Garten ist ein schönes Symbol dafür, finde ich. Ein neu angepflanzter Garten ist ja auch mit viel Anstrengung verbunden. Aber ein Garten, der schon länger da und bepflanzt ist, atmet etwas von Geborgenheit. Pflegen und wässern müssen wir ihn allerdings auch. Das gilt so sicher auch für unseren Lebensgarten in der Mitte des Lebens. Wir können nicht davon ausgehen, dass alles jetzt gut ist, wie es ist, oder auch schlecht ist, wie es ist, jedenfalls einfach nur so bleiben muss. Auch wenn vieles bereits fest gepflanzt ist, braucht es das Bewässern, kann plötzlich und manchmal ganz überraschend Neues aufblühen und muss auch hier und da mal ein alter Strauch oder ein wucherndes Unkraut entfernt werden.
Gärtnern ist ganz offensichtlich eine der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen der modernen Gesellschaft. Auch wenn viele es sich gar nicht so klar machen – Gärtnern ist eine Aktivität, die Menschen glücklich macht. Der Duft regennasser Erde, taufeuchtes Gras und blühende Blumen, das Wachsen des Gepflanzten – im Garten zu sein ist eine Möglichkeit, in der technologisierten Gesellschaft Nähe zur Natur zu erfahren und tut einfach gut. Vielleicht hängt auch der Wunsch damit zusammen, eine kleine heile Welt zu schaffen mitten in einer großen Welt, von der wir wissen, dass sie ökologisch immer mehr zerstört wird. Regenwälder werden abgeholzt, das Eis der Pole schmilzt, Dürre breitet sich aus – da ist der eigene Garten ein Stück Gegenrealität. Ich denke, der Garten ist ein Ort tiefer Sehnsucht …
Tatsächlich ist die Schrebergartenbewegung neu auf dem Vormarsch. Junge Familien etwa bewerben sich um ein Grundstück, weil sie nach freier Bewegung für die Kinder suchen. Interkulturelle Gärten entstehen, spannende Projekte, bei denen Menschen verschiedener Herkunft und Kulturen ihre Visionen von Garten zusammenbringen und – so habe ich es bei mehreren Besuchen erlebt – im Miteinander im Garten zueinanderfinden. In Deutschland gibt es heute mehr als eine Million solcher Kleingärten mit einer Fläche von mehr als 46000 Hektar. Warum suchen Menschen Gärten, warum engagieren sie sich derart intensiv für Rasenschnitt und Hecke, für Blumen und eigenen Kohlrabi? Ist das nur eng oder ist das vielleicht sogar besonders weit?
Der Wunsch nach heiler Welt, die Frage nach der Sehnsucht nach dem Paradies hat vor allem die Tiefenpsychologie beschäftigt. Dabei hat sie immer wieder auf die biblische Paradieserzählung zurückgegriffen. Das Wort »Paradies« stammt ursprünglich aus dem Persischen und bedeutet »Einzäunung, Enge, Umgrenzung«. Unser persönliches Paradies, das wir alle erlebt haben, die wohlige Enge, die uns zum Lebensanfang umgab, war der Uterus der Mutter mit völliger Geborgenheit, Schutz vor Gefahren, optimaler Versorgung, ohne Entbehrungen und Einsamkeit, der stete Herzschlag der Mutter war das Signal, dass das Leben unaufhörlich weitergeht. Wir mussten nichts tun, nicht aktiv werden, hatten alles, was wir brauchten, ohne jede Anstrengung. Ein Leben ohne Sorgen. Die einzige Veränderung war unser Wachstum – und Wachstum führt offenbar zur Vertreibung aus dem Paradies. Die Geburt trennt uns von diesem Wonne-Garten und bringt uns in eine Welt voller unangenehmer Empfindungen und Entbehrungen. Geblieben ist aus dieser frühen Erfahrung die Sehnsucht nach einem konfliktlosen, harmonischen Dasein, nach einer heilen Welt.
Auch im großen gesellschaftlichen Zusammenhang gibt es diese Sehnsucht: Wissenschaft, Forschung und Technik sind auch Mittel zur Verwirklichung eines Paradieses, zeigen, dass der Mensch Allmachtsfantasien und Kräfte einsetzt, um sich das Paradies zurückzuerobern und um letztlich vielleicht den Gott zu überlisten, der ihn fernhält von dieser Erfüllung. Fatalerweise steuern wir dabei allerdings in die entgegengesetzte Richtung: Je mehr wir uns unsere individuellen Paradiese zu schaffen versuchen, desto mehr geht das uns umgebende »natürliche« Paradies unserer Umwelt verloren.
Und doch haben die kleinen Paradiese große Wirkung. Die Bischofskanzlei, über der ich auch wohne, hat einen wunderbaren Garten. Er ist nicht riesig, aber er ist ein Garten mitten in der Stadt. Ringsum ist nicht viel zu tun, die Büsche und Bäume sind alt und umgeben ihn mit erhabener Ruhe. In der Mitte liegt eine Rasenfläche, die schnell gemäht ist, nur ab und an entmoost werden muss. Und es gibt zwei Beete, die ich mit Liebe »bebaue«. Ein kleines Beet, auf das ich direkt von meinem Schreibtisch aus schaue, blüht das ganze Jahr. Es beginnt mit Schneeglöckchen, später kommen kleine buschige Osterglocken, die ich sehr mag, und Hyazinthen in Rosa und Blau. Dann blühen die Hortensie und vor allem eine weiße Rose mit Blüten von Mai bis Oktober. Im Juni pflanze ich oft Sonnenblumenkerne, die dann zu einer wunderbaren Pracht im September führen. In einem Jahr habe ich das vergessen, ich habe mein Beet sozusagen nicht »bewässert«, und es hat mir etwas gefehlt im Herbst.
Und dann gibt es mitten im Garten ein Rosenbeet. Einst war es ein Teich, wurde dann zum Beet, und da ich Rosen so liebe, haben meine Mitarbeiterinnen in der Kanzlei, das Kolleg des Landeskirchenamtes und der Bischofsrat mir zum 50. Geburtstag dort als Geschenk ein Rosenbeet anpflanzen lassen. Etliche Geburtstagsgäste brachten Rosenstöcke mit. Ich muss zugeben, ich dachte zuerst auch: O nein, noch mehr Arbeit! Aber ich liebe dieses Beet inzwischen sehr. Die Rosen erinnern mich an die Menschen, die sie geschenkt haben. Das Betrachten der Blüten ist für mich eine Weise, mich zu erinnern, Abstand zu finden vom Getriebe, ja fast eine Art Meditation. Dazu braucht es Ruhe und Gelassenheit. Oft habe ich in einer Woche ja nur den Sonntagnachmittag frei. Dann im Garten zu sein, die Rosen zu bewässern und zu beschneiden, ist für mich ein wunderbares Ritual. Nein, das bedeutet keine Sonntagsarbeit, das ist innere Ruhe, Entspannung, Kraft schöpfen. »Seht die Lilien auf dem Felde«,39 sagt Jesus. Die Schönheit der Natur sehen, sich an ihr freuen, das ist Teil unseres Lebens. Ich möchte den Blick nicht verlieren für das Schöne, das Besondere, das oft auch im Unscheinbaren daher kommt. Gärten und ihre Blumen sind ein wunderbares Symbol dafür.
Dass ich Blumen sehr mag, hat sich inzwischen herumgesprochen. Und so erhalte ich für einen Vortrag oder eine Predigt oft einen Strauß als »Honorar«. Kürzlich hatte ich fünf solche Ereignisse in einer Woche, meine Kanzlei war ein Blütenmeer, und alle Besucher fragten erschrocken, ob sie irgendetwas nicht mitbekommen hätten, gab es einen Geburtstag, war da ein Jubiläum? Ich mag es, am Schreibtisch zu sitzen und Blumen um mich zu haben. Die stolzen Lilien, die bunten Tulpen, die erhabenen Rosen, die kleinen Christrosen. Sie zeigen etwas von der Schönheit der Schöpfung – natürlich auch von ihrer Vergänglichkeit. Das macht ihr Blühen aber noch kostbarer. Manchem Strauß trauere ich nach, wenn er nicht mehr zu halten ist …
Dieses Thema und das ganze Kapitel »Gärten wässern« entstand aus einem Gespräch über die »Mitte des Lebens« mit einer Frau, die acht Jahre jünger ist als ich und fröhlich ohne Ehepartner und ohne Kinder lebt. Ja, die Kinderfrage hat auch sie lange umgetrieben. Das ist wohl bei allen Frauen in der Mitte des Lebens so. Ich kenne inzwischen viele Frauen, die den richtigen Partner nicht gefunden haben, nicht den Zeitpunkt oder die einfach nicht schwanger wurden, als sie es wollten. Mir ist wichtig, dass das heute nicht mehr als Mangel gesehen wird. Als ich das Buch über die »Mütter der Bibel« schrieb, wurde mir noch einmal bewusst, wie sehr das Mutter-Sein die Frauen in der Bibel bestimmt. Welche Rolle nimmt eine Frau ohne Kinder ein in unserer Gesellschaft, unserer Kirche? Sie entspricht in keiner Weise mehr dem Bild einer armen Frau, die »keinen abgekriegt« hat, wie das noch vor dreißig oder vierzig Jahren gesehen wurde. Allein zu leben, das ist eine Lebensform, die übrigens auch im Beruf des Pastors beziehungsweise der Pastorin inzwischen wieder eine größere Rolle spielt. Als evangelische Kirche beginnen wir gerade erst, das hinreichend wahrzunehmen, ist doch das Berufsbild oft sehr stark von der »Pfarrfamilie« bestimmt. Was es heißt, dass Frauen und Männer allein leben, wird sich auch auf das evangelische Pfarrhaus auswirken, davon bin ich überzeugt.
»Wer allein lebt, hat meist auch ›Kinder‹«, sagt meine persönliche Referentin, und ich denke, sie hat recht. Es gibt einen Teil von Freiheit von familiären Verpflichtungen, der in Verantwortung umgesetzt wird. Menschen ohne biologische Kinder engagieren sich oft auf den unterschiedlichsten Gebieten. Sie schaffen neue Formen von Familie. Das wird umso wichtiger, als traditionelle Familien immer kleiner werden. Da feiern Singles in großer, fröhlicher Runde Weihnachten, gehen zusammen in den Gottesdienst, kochen miteinander, beschenken sich. Viele Singles üben früher ein, was Menschen, die als Paar oder mit Kindern leben, später und oft erst schwer lernen müssen. Eine Frau schreibt mir: »So, wie ich mein Leben jetzt schon anders, eben in vielen Teilen single lebe, so werde ich es auch im Alter tun, so Gott will und ich einigermaßen gesund bleibe. Ich werde auch mit 70 hoffentlich noch Projekte ausbrüten und gebären, zum Laufen bringen und dann gehen lassen.«
Frauen kennt die Kirchengeschichte vor allem in zwei Extremen, und immer hatten die Bilder mit den Beziehungen der Frauen zu den Männern zu tun – sie waren Hure oder Heilige. Da ist Eva, die »Verführerin«, Maria aus Magdala, die mit der Frau identifiziert wurde, die Jesus die Füße salbte – sie werden in der Fantasie zu den großen Sünderinnen stilisiert, die sie so nie waren. Wer die Geschichte Evas nachliest, sieht, dass es bei der »Verführung« überhaupt nicht um Sexualität ging, sondern um die Tatsache, dass sie neugierig war im besten Sinn auf die Möglichkeiten, die über das Bisherige hinausgingen, dass sie intellektuell angeregt war, nachdenken wollte.
Und Maria aus Magdala war eine mutige Frau: Sie blieb unter dem Kreuz bei dem sterbenden Jesus, als alle anderen aus Angst schon gegangen waren. Sie geht zum Grab um ihn, den Mann, den sie geliebt und verehrt hatte, zu salben. Sie wird nach den Evangelien vom Auferstandenen als Erste in die Verkündigung geschickt.
Das andere christliche Bild der allein lebenden Frau ist die Heilige, und am besten aufgehoben ist sie im Kloster, ganz so auch, wie Maria in der katholischen Tradition gesehen wurde: danach bekam sie nach Jesus keine weiteren Kinder (obwohl das in der Bibel steht) und lebte keusch und zurückgezogen, ganz die heilige mütterliche Jungfrau und später trauernde Mutter.
Dieses Bild ändert sich deutlich. Immer mehr Frauen leben allein. Und in unserem Jahrtausend können sich viele in den westlichen Industrienationen das nun auch leisten. Sie haben ein eigenes Einkommen, eine eigene Rente, eine eigene Wohnung. Das ist ein völlig neues Lebensmodell für Frauen. Als eine Freundin von mir kürzlich ihrer Mutter sagte, dass eine Ehescheidung für sie offenbar unvermeidlich sei, meinte diese: »Aber in deinem Alter findest du doch keinen Mann mehr!« Eine Frau ohne Mann passte nicht in ihr Bild – einen Mann »haben« war für die Frau immer eine Frage des Status, und eine unverheiratete Frau irgendwie defizitär.
Dass Frauen allein leben und damit glücklich sein können, dass Frauen keine Kinder haben und trotzdem Mütterlichkeit leben können, das wird erst allmählich akzeptiert … Ich denke auch an das Engagement von Frauen an den unterschiedlichsten Orten. In einem »Fairkauf«-Kaufhaus habe ich eine Frau kennengelernt, die in ihrem Erwerbsleben Verkäuferin war, jetzt pensioniert ist und ihre Zeit wie ihre Erfahrung dieser diakonischen Einrichtung mit viel Liebe zur Verfügung stellt. Sie ist es, die genügend Geduld hat mit der etwas schwierigen Azubi und ihr den Weg in die erfolgreiche Ausbildung ebnet. Sie ist es, die oft das richtige Gefühl dafür hat, wie die Ware anzuordnen ist und wer was braucht. Sie wässert einen Garten, sie hat neue »Kinder«. Und ohne Menschen wie sie wäre das soziale Gewebe, das unser Land zusammenhält, noch viel löcheriger. Mehrgenerationenhäuser sind ein anderes Beispiel für neue und andere »Familienbeziehungen«: Da erzählen alte Menschen Kindern Märchen. Da erhalten junge Mütter wichtige Ratschläge von alten Müttern. Da treffen sich Menschen ohne Angehörige am Ort mit anderen, die zu ihren Angehörigen werden über Generationen hinweg. Mit dem sich wandelnden Familienbild werden solche Treffpunkte, Orte des Miteinanders, des geselligen Lebens immer wichtiger.
Das gehört zur Mitte des Lebens: Wir haben Erfahrungen gemacht, die wir weitergeben können. Bestimmt nicht zwanghaft. Es ist immer eine Belastung für die jüngere Generation, wenn die Ältere meint, ihre Erfahrungen seien entscheidend, ja wegweisend, wenn Erfahrungen aufgedrängt werden. Jede Generation muss ihre eigenen Erfahrungen machen. Aber ein offenes Ohr zu haben, das ist eine besondere Leistung und Gabe. Wie viele sehnen sich nach einem Menschen, der zuhört und Rat geben kann, ohne diesen Rat aufzudrängen. Lebenserfahrung ist ein Angebot, keine Pflichtlektüre.
Dies war ein weiter Bogen von biblischen Paradiesgärten über reale Gärten bis zu den Gärten unseres Lebens und unserer Gesellschaft. An dem Bild lässt sich wunderbar weiterdenken in der Mitte des Lebens, finde ich. Die Sehnsucht nach dem Paradies ist vielleicht etwas überdeckt, aber nicht erloschen. Und sie wird lebendig, weil plötzlich eine neue Liebe auftaucht, eine neue Aufgabe sich zeigt, weil Überraschendes passiert – und dann kann die Erfahrung des Neuen und die Sehnsucht nach dem Vollkommenen viel Kraft freisetzen, sich für bessere Zustände auch schon hier und jetzt einzusetzen. Dafür gibt es in der Mitte des Lebens meist auch emotional stabile Räume, das schon Bepflanzte im Lebensgarten schafft einen »sicheren« Rahmen für das Neue. Wichtig ist, nicht zu vertrocknen, sondern offen zu sein für das Neue und keimen und aufblühen zu lassen, was blühen will und kann.
34 Teile dieses Abschnittes sind meiner Bibelarbeit auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Köln am 7.6.07 entnommen. Der vollständige Text ist abgedruckt in: Deutscher Evangelischer Kirchentag Köln 2007, hg. v. Silke Lechner und Christoph Urban, Gütersloh 2007, S. 51ff.
35 Matthäus 4,1.
36 Hilde Domin, Gesammelte Gedichte, © S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1987.
37 Vgl. Karen Duve, Welt ohne Gott, DER SPIEGEL 14/2009, S. 142.
38 1. Mose/Genesis 2,8.
39 Matthäus 6,28.