Für den Körper sorgen

»Mein Körper verändert sich, ich kann machen, was ich will«, sagt mir eine Freundin. Das ist ja eine völlig normale Erfahrung in der Mitte des Lebens. Eine andere sagt: »Ich habe zehn Kilo zugenommen, was ich auch mache, Sport, Diät, ich komme nicht runter.«

Diese Veränderungen müssen aber nicht nur eine negative Erfahrung sein – auch wenn sich nicht leugnen lässt, dass es teilweise so ist. Doch es kann in der Mitte des Lebens auch einen neuen, gelasseneren Blick auf den eigenen Körper geben, und es können neue Kräfte wachsen. Sehr beeindruckt hat mich, was die vor Kurzem mit fünfzig an Krebs verstorbene Schauspielerin Barbara Rudnik in einem ihrer letzten Gespräche dazu gesagt hat: »So unglaublich es klingen mag, in vielen Dingen hat mir der Krebs eine größere Entspannung gebracht. Ich beginne mal mit dem Äußerlichen: Früher fand ich mich manchmal sehr hübsch, aber zuweilen empfand ich mich auch als geradezu hässlich. Damit hatte ich immer wieder zu kämpfen. Jetzt fühle ich mich diesbezüglich viel stabiler, ein angenehmes Gefühl. Ich habe früher bestimmt viel besser ausgesehen, aber nun kann ich einfach sagen, ich sehe so aus, wie ich aussehe.«17

Auch im Blick auf unseren Körper gilt es, die rechte Balance zu finden. Wenn wir älter werden, können wir auch etwas freundlicher, wohlwollender auf uns selbst blicken, weniger ungnädig und verurteilend als in der Jugend. So ist er halt, mein Körper. Ich kann das Altern nicht verhindern, aber ich kann ihn pflegen. Wie sagt meine Kosmetikerin immer so tröstlich: »Zurück können wir nicht mehr, aber wir können den Istzustand so lange wie möglich halten.«

Schönheit feiern18

Schön bist du wie keiner unter den Menschen.19

Da können wir noch so viel »Bodyforming« machen, das Zahnfleisch geht zurück, der Busen wird schlaffer. Die Haare werden grau! Auch wer bis fünfzig noch mit einigen wenigen grauen Strähnen davongekommen ist, jetzt sind Entscheidungen gefragt: Färben oder nicht? Tönen oder Strähnchen? Bei Männern hat sich diese Frage oft erledigt, sie kämpfen mit dem Haarverlust und der äußeren Veränderung, die er mit sich bringt. Frauen aber müssen entscheiden: Grau zulassen oder Farbe, und wenn ja, welche? Aber auch andere Veränderungen finden statt. Irgendwann verschwimmen die Buchstaben in den Büchern oder auf den Straßenschildern. Dann führt kein Weg an einer Brille vorbei; wer damit nicht zurechtkommt, kann heute immerhin zu Kontaktlinsen greifen. Und als meine Tochter das erste Mal sagte: »Mama, kann es sein, dass du schwer hörst?«, hat es mich doch getroffen. Meine Großmutter hat ihre Schwerhörigkeit damals immerhin mit Humor genommen und erklärt, es sei auch von Vorteil, nur noch das hören zu müssen, was sie hören wolle. Und da hat sie in der Tat ausgewählt! Aber aller Humor hilft nicht darüber hinweg, dass es Einschränkungen gibt, Veränderungen, die wir nicht ignorieren können.

Das gilt auch für die körperliche Leistungsfähigkeit insgesamt. Mehr als ein Mann in meinem Bekanntenkreis hat nach dem vierzigsten Geburtstag begonnen, für einen Marathonlauf zu trainieren. Einmal einen Marathon bewältigen, bevor es »zu spät« ist – das wurde plötzlich ein sehr erstrebenswertes Ziel. Die eigene Kraft noch einmal spüren, messen, bevor sie wirklich nachlässt – ich kann das nachvollziehen, auch wenn für mich Sport eher Entspannung bedeutet und ich mir Druck zur Leistung dabei erspare.

Aber ist es nicht überhaupt eitel, über den Körper, seine Kraft und Attraktivität, über seine Schönheit nachzudenken? Eitelkeit gehört in der Bibel nun wahrlich in die Lasterkataloge. Und: Ist »Schönheit« überhaupt eine akzeptable Kategorie in der Mitte des Lebens? Wie steht es mit Humor in Sachen Schönheit? Oder gibt es da nur Konkurrenz und Maßeinheiten? Wer definiert Schönheit? Wenn ein Mensch heute Antworten auf solche Fragen sucht, geht die Recherche spontan ins Internet. Für »Schönheit« gibt es 992 000 Treffer in 0,21 Sekunden. Und da ist dann schon auf der ersten Seite alles für die älter werdende Zielgruppe, von Anti-Aging über Plastische Chirurgie bis hin zu Ästhetischer Chirurgie.

Für »Schönheit in der Bibel« gibt es im Internet immerhin noch 41 500 Treffer in 0,23 Sekunden. Dort geht es dann allerdings eher um schöne Bibeln und die Schönheit der Psalmen. Und bald trifft man auch auf den mahnenden Bibelvers in Hesekiel 28,17: »Die Schönheit ist dir zu Kopf gestiegen.« Ja, Demut wird in der Bibel gepriesen und Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. Schließlich sollen wir nicht äußeren Werten nachjagen, sondern uns um die Seele, das Heil, den Lebenssinn bemühen. Aber wie sehr wird Schönheit in der Bibel doch auch gepriesen, ja geliebt! Das fängt mit der Schöpfung an: »Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut!« (1. Mose 1,31) Es war sehr gut – es war sehr schön. Und das kann doch auch der Mensch im 21. Jahrhundert unmittelbar empfinden, am Meer, bei einem Waldspaziergang, auf einer blühenden Bergwiese, beim Anblick eines Sonnenaufgangs: Die Schöpfung ist wunderbar! Wir können sie preisen wie die Dichter der Psalmen, wir erfahren ihre Schönheit und können wie Psalm 147 sagen, dass es schön ist, Gott in der Schöpfung zu lieben. Auch wir können, wenn wir mit offenen Augen schauen, sehen, dass die »Frucht des Landes herrlich und schön ist« (Jesaja 4,2).

Und dann gibt es auch in der Bibel natürlich einen Blick für die Schönheit junger Menschen: Rahel wird beschrieben als »von schöner Gestalt« (1. Mose 29,17), genauso wie Josef (1. Mose 39,6). Was ist das für eine Schönheit? Rahel und Josef waren natürlich jung, als sie so beschrieben wurden, und Jugend hat eine ganz eigene Schönheit. Ein junges, rankes Mädchen, faltenlos, hat eine besondere Anmut und Schönheit. Ein junger Mann, strotzend vor Energie ist schön! Aber nicht nur die unberührt wirkende Jugend ist schön, auch das Leben kann schön machen, Menschen können auf eigene Weise schöner werden mit der Zeit. Alter schließt Schönheit nicht aus. Vor vielen Jahren auf einer Reise nach Ungarn habe ich ein Altenheim besucht. Da war eine sehr alte Frau mit einem Gesicht voller Falten – die ich nie vergessen habe, weil ich sie auf beeindruckende Weise schön fand. Schön, weil voller Leben und auch im Einklang mit dem Leben. Schönsein, das heißt nicht konform, nicht 90-60-90, und alles andere ist egal, Schönheit ist nicht ein Abziehbild, wie es Tausende gibt. Schönheit kann auch durch gelebtes Leben entstehen, durch eine innere Harmonie, die wir ausstrahlen, durch Glück, das sich auf unserem Gesicht zeigt.

Eine alternde Frau aber wird selten als schön empfunden. Zum höchsten Gut gleich nach der Gesundheit sind Attraktivität und Jugendlichkeit geworden. Also wird nicht nur Sport getrieben und das Fitnessstudio besucht – was ja wahrlich gut sein kann –, sondern auch Botox gespritzt, Silikon eingearbeitet, Fett abgesaugt und eine Diät nach der anderen ausprobiert. Wie schade, was für ein Verlust – von Zeit und Energie, die dafür aufgewendet werden, aber auch von Individualität! Falten zeigen ja auch gelebtes Leben. Und bei manchem Gesicht mit Falten denke ich: Wie schön ist das! Frauen müssen auch selbst immer wieder prüfen, wer hier eigentlich die Deutungsmacht hat, wer definiert, wie es zu sein hat. Ich will Schönheitsoperationen nicht in Bausch und Bogen verdammen. Wenn eine Frau unter ihrer Busengröße oder ihrer Nase massiv leidet, kann ein operativer Eingriff für sie eine Erleichterung sein. Aber der Versuch, das Alter zu verbannen, nimmt Menschen auch etwas von ihrer Persönlichkeit. Immer mehr Menschen legen sich auch in Deutschland unters Messer, Schönheit ist inzwischen für Geld zu haben. Aber ist das Schönheit? Von einer Sängerin wurde kürzlich berichtet, sie habe inzwischen so ziemlich alles operiert und finde nun ihre Knie fett, die sollten als nächstes verschlankt werden. Das sind Wahnvorstellungen.

Durch die Zeiten hat sich das Empfinden für Schönheit sehr gewandelt. Wenn wir an die Gemälde vom Anfang des 17. Jahrhunderts denken, an Rubens und die Frauengestalten, die er malte: Üppige Rundungen an Bauch, Hüften und Busen, runde Gesichter, das galt als schön! Die heutigen »Schönen«, die Magermodels, wären mit Mitleid abgestempelt worden. Wer sich Müßiggang und Schatten leisten konnte, war dick und blass. Und schön. Dünn und von der Sonne gebräunt waren die, die schuften mussten – low-class galt noch nie als schön …

Heute haben in den USA die so genannten »religiösen Rechten« das Problem mit dem Gewicht als Missionsprogramm entdeckt. Da gibt es: »Dieting for Jesus« (Abspecken für Jesus), und Diätmaterial mit Titeln wie »Hilfe Herr – der Teufel will mich mästen« oder »Bete dein Gewicht weg« oder auch »Slim for Him«.20 Auf Versammlungen wird verkündet, dass Gott allen Fettbeladenen hilft (kein Scherz, zu finden auf der Homepage »Slim for Him«) und Bekenntnisse wie: »Gott hat mich von Little-Debbie-Keksen erlöst«. Das ist nun wirklich die Verkehrung der Rechtfertigung allein aus Glauben, der frohen Botschaft, dass Gott die Menschen ohne Voraussetzungen liebt – eine Verkehrung in allergrößte Absurditäten. Das kann eigentlich kaum jemand ernst nehmen – und vielleicht ist die Studie der Purdue University beruhigend, die besagt, dass Christen in den USA weit molliger sind als andere Amerikaner – vielleicht nehmen sie den Diätwahn ja gelassener oder sind die größeren Genießer. Aber dass als Konfirmationsgeschenk immer öfter eine Brustvergrößerung oder eine Nasenkorrektur gewünscht wird, muss zu denken geben. Ich wünschte mir damals einen Plattenspieler. (Auch ich habe mich bei der Konfirmation 1972 allerdings schon zu dick gefühlt, so neu ist das alles wohl gar nicht, nur extremer.)

Aber ernsthaft: Bulimie und Anorexie sind heute in Deutschland weit verbreitet. Gerade Mädchen leiden zum Teil entsetzlich, wenn sie den Magermodels mit Größe 32 nicht entsprechen. Sie hungern und erbrechen, haben Angst vor jeder Kalorie und unterdrücken die Lust am Stück Sahnetorte, und gleichzeitig erobern Fast Food und Supersize-Portionen den Markt … Dieser Druck zur Konformität mit einem Idealbild und die permanent erzeugte Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper sind traurig, finde ich. Mit der biblischen Lust und Freude am Verschiedenen, am Schönen, mit dem Moment des Staunens und der Liebe hat das alles nichts zu tun.

Das Sprichwort sagt: »Schönheit liegt im Auge des Betrachters«, und damit kommen wir der Schönheit vielleicht auf die Spur. Die Liebe macht den anderen schön, lässt die andere schön sein in meinen Augen. Das können wir in allen Liebesliedern der Welt nachlesen – in der Bibel zum Beispiel im Hohelied Salomos, das schon so manche trockene Konfirmandenstunde spannend werden ließ. »Siehe, meine Freundin, du bist schön! Siehe, schön bist du. Deine Augen sind wie Taubenaugen hinter deinem Schleier. Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die herabsteigen vom Gebirge Silead« (2,1ff.) – obwohl, »Ziegenhaar«, da fing das Gekicher schon an. Wer findet was schön? Aber geht es nicht wunderbar weiter: »Deine beiden Brüste sind wie junge Zwillinge von Gazellen, die unter den Lilien weiden« (4,5) – da erfreut nicht zuletzt das Wunder, dass ein solcher Text in der Bibel bleiben durfte.

Mich freut, dass die Bibel Schönheit und Liebe begeistert feiert. Wie oft ist das in der Kirchengeschichte ignoriert worden. Nicht Begeisterung, sondern Sündenbewusstsein, nicht Liebe als Geschenk Gottes, sondern Keuschheit als Lebenshaltung wurden da gepredigt. Ach, wie viel Lebensfreude und Lebenslust wurden so zerstört. Die Bibel hält da eine gute Balance, finde ich. Einerseits wird Schönheit geliebt und gepriesen: »Du bist wunderschön, meine Freundin, und kein Makel ist an dir« (Hohelied Salomos 4,7). Andererseits heißt es in den Sprüchen: »Lieblich und schön sein ist nichts; ein Weib, das den Herrn liebt, soll man loben« (21,30). Diese Balance hält auch das Neue Testament mit der Warnung vor ihrer Vergänglichkeit, etwa im Jakobusbrief: »Die Blume fällt ab und ihre schöne Gestalt verdirbt; so wird auch der Reiche dahinwelken in dem, was er unternimmt« (1,11), und andererseits den Lilien auf dem Feld, deren Schönheit gepriesen wird (Matthäus 6,28). Und Jesus selbst konnte sich salben lassen, er feierte und wusste das Schöne im Leben zu schätzen. Sich selbst gut tun, das ist biblisch gesehen nicht verwerflich.

Ein schöner Tag kann ein Tag sein, der einfach gelebt wurde. Schön eine Zeit, die intensiv war. Schön der »Glanz Gottes, der aus Zion hervorbricht« (Psalm 50,2): Das ist Schönheit im Moment, das Spüren des Lebens, die Wahrnehmung der Natur, ein Lachen, das aus der Tiefe kommt. Ja, und da ist die Schönheit des Menschen. Aber sie zeigt sich nicht in Body-Mass-Index-Einheiten. Ein schöner Mensch – voller fröhlicher Energie. Ein Mensch, der etwas weiß und zeigt vom Leben in aller Tiefe. Schönheit ist die Eigenheit jedes Menschen, geschaffen von Gott. Alle verschieden. Der kleine behinderte Junge und das Model, der rundliche Mann und die alte Dame, die mit der krummen Nase und der mit den breiten Ohren. Ich empfinde ein Mädchen mit Down-Syndrom schön, weil sie von innen her strahlt und etwas spüren lässt von der Liebe zum Leben, vom Glücklichsein. Schön ist auch ein Tag, an dem ich etwas geben konnte, an dem ich für jemanden wichtig war, oder ein Tag, an den ich gern zurückdenke. Schön ist ein Moment der Stille am Meer. Einklang mit der Natur. Harmonie mit einem Menschen.

Warum nur müssen wir alles normieren, angleichen, anpassen, gleichmachen, klonen, damit es einem Ideal entspricht, das sich ja doch immer wieder verändert? Schönheit ist Individualität. Schönheit strahlt aus dem Mann, der eine wunderbare Erfahrung gemacht hat. Schönheit leuchtet aus der Frau, die Liebe gespürt hat und Liebe geben konnte.

In der Bibel sehe ich solche Schönheit, wenn Menschen angesehen werden durch Jesus, mit den Augen der Liebe, und so »angesehene Menschen« werden. Schönheit ist wunderschön! Ich wünschte, wir hätten die Freiheit, sie im Alltag mehr zu entdecken Dann wären wir wohl auch wieder offen für das Wunder des Lebens, das jeden Tag neu geschenkt wird.

Vielleicht können die Mitte des Lebens und die Veränderungen unseres Körpers schlicht unseren Blick weiten. Der Druck nimmt ab, ich muss nicht »gefallen«, es geht darum, wer ich bin. Wenn Jugend und Anpassung an eine Norm hinter uns liegen, können wir Schönheit in neuen Kategorien wahrnehmen, weniger oberflächlich, und das erlebe ich als Bereicherung. Ich kann mich freuen an der Schönheit der Jungen, und ich kann mit den Augen der Liebe eine ganz andere, weniger offensichtliche Schönheit entdecken. Vielleicht können wir auch neu lernen, anderen zu sagen, was wir an ihnen schön finden. Wie gut tut es, wenn jemand dir sagt: »Deine Beine sind einfach super«. »Du hast die grünsten Augen, die ich kenne«, oder »Ich mag deine Lachfalten«. Richtig gefreut habe ich mich neulich, als eine Freundin sagte: »Jetzt wirst du richtig grau, sieht aber toll aus, das steht dir!« Na also …

Schließlich ist mir vom Glauben her wichtig, dass wir nicht unsere eigenen »Schönfinder« sein müssen; Fulbert Steffensky verwendet diesen Begriff: »Im Gebet sind wir am meisten die, die wir sein sollen; die, die nicht auf sich selbst bestehen, die sich aussagen in den Grund der Welt. … Wir erkennen unsere eigene Schönheit und Würde im Blick Gottes. … Das Gebet ist der höchste Ort der Passivität; des Verzichts darauf, sein eigener Liebhaber und Schönfinder zu sein.«21 Wir müssen nicht unsere eigenen Schönfinder sein, weil Gott uns schön findet. Und gerade deshalb können wir uns annehmen, wie wir sind und nicht ständig an uns selbst herummäkeln. Ich bin selbst nicht frei davon, überheblich soll das nicht klingen. Aber es gibt Freiheit, zu sagen: Wie ich bin, hat Gott mich geschaffen.

Am Ende denke ich, die Liebe ist entscheidend. Die Liebe Gottes zuallererst, auf die ich mich verlassen kann, eine Lebenshaltung, die darauf vertraut: Ich kann nie tiefer fallen als in Gottes Hand. Und das gilt im Leben wie im Sterben. Aber es geht auch um die Liebe von Menschen, die mich hält und trägt in guten und in schweren Zeiten. Das wusste schon der Apostel Paulus, wenn er unnachahmlich eine Art biblisches Liebeslied formuliert im ersten Korintherbrief: »Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. … Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen« (1. Kor. 13). Für mich ist das auch eine Standortbestimmung in Zeiten, in denen die Ökonomisierung aller Lebensbereiche überhandzunehmen scheint. Das Wichtigste im Leben ist eben nicht käuflich: Liebe, Freundschaft, Vertrauen, Glaube. Das Wichtigste und Größte gewinnst du nicht, wenn Du versuchst, zu raffen und festzuhalten, sondern gerade, indem du selbst freigiebig bist, indem du liebst, indem du Vertrauen schenkst. Und du wirst Liebe erleben und Vertrauen erfahren, weil es einen Segenskreislauf des Gebens und Nehmens dieser Grundgefühle des Lebens gibt.

Kräfte entdecken

Sag nicht: Ich bin noch so jung. Nein, wohin immer ich dich sende,

dahin wirst du gehen, und was immer ich dir auftrage,

das wirst du reden. Fürchte dich nicht vor ihnen;

denn ich bin mit dir, um dich zu retten – Spruch des Herrn.22

Es gibt ja diese Zeit, da meinen wir, zu jung zu sein für eine Aufgabe, eine Verantwortung, da würden wir uns ganz gern drücken wie der Prophet Jeremia, der diesen Satz spricht. Als ich 1999 zwei Tage nach meinem 41. Geburtstag zur Landesbischöfin einer Kirche mit mehr als drei Millionen Mitgliedern gewählt wurde, habe ich damit gehadert und gedacht: Du bist zu jung, wie soll das gehen? Ich hatte mich auf die Wahl eingelassen in dem Eindruck, den viele mir vermittelt haben: Es ist gut zu kandidieren, aber gewählt werde ich sicher nicht. Damals hat mir jener Satz Gottes an Jeremia gut getan. Er hat mir eine gewisse Leichtigkeit gegeben – in dem Sinn: Also gut, Gott, wenn du das so willst, dann musst du auch mitverantworten, was kommt. Irgendwie fand ich, Gott zeige auch Humor, wenn ausgerechnet ich Bischöfin werde. Mit meinem Bild eines real existierenden Bischofs jedenfalls konnte ich mich selbst nicht identifizieren.

Aber es gibt offenbar auch eine Zeit, in der wir meinen: »Ich bin zu alt«, das geht nicht mehr, ist nicht zu schaffen, die Kräfte lassen nach, ich fange nicht mehr neu an, ich lasse mich nicht mehr auf einen anderen Menschen ein. Zu spät für Veränderungen! Oder wir wollen schlicht unsere Ruhe und unseren Frieden finden, keine Aufbrüche mehr wagen. Eine Art Ermattung setzt dann ein, wir glauben, nichts mehr verändern zu können. Alles ist schon passiert und gewesen, es sind keine Überraschungen in Sicht. Das ist ein erschöpftes Sich-Abfinden mit der Realität. Ich lese es in der Antwort einer Freundin, die ich kürzlich fragte, ob sie Lust habe, zu der wunderbaren Kunstausstellung »Marc, Macke und Delaunay« nach Hannover zu kommen: »Ich würde ja eigentlich richtig gern kommen (!), aber mir läuft die Zeit davon! Ich bin im Moment in einem total Müde- und Überfordert-Zustand! Ich schlafe sehr schlecht, da mir noch laufend Dinge durch den Kopf gehen, die ich dringend erledigen muss und keinesfalls aufschieben kann. … Ich glaube ich werde deutlich älter!!«

Ihre Worte haben mich beunruhigt, denn eigentlich ist sie eher ein ruhiger Typ, der die Herausforderungen gelassen und sachlich angeht. In der Mitte des Lebens gibt es offenbar auch dieses plötzliche Erschrecken: Ich kann nicht mehr, das übersteigt meine Kräfte! Eine solche körperliche, aber auch geistige Erschöpfung nehme ich bei vielen in meinem Alter wahr. Dann ist die Frage: Gibt es Orte, an denen ich neue Kräfte finden kann? Wo sind meine Kraftquellen?

Die Antwort darauf wird sicher unterschiedlich aussehen. Auszeiten, Oasentage, Stille und Meditation sind gute Möglichkeiten, Abstand zu gewinnen von einem Alltag, der überanstrengt, und Ruhe zu finden. In meiner Landeskirche gibt es 15 Frauenklöster und Damenstifte und drei Männerklöster, in denen solche Zeiten angeboten werden, auf sehr verschiedene Weise. Für viele ist die Entdeckung der Spiritualität eine Entdeckung von Kraftquellen. Oft sind es ja alte, sehr alte Rituale, die uns im Alltag begleiten können.23 Die einen nehmen die Herrnhuter Losung mit in den Tag. Andere finden eine tägliche Zeit für das Gebet oder auch für eine Meditation. Wieder andere suchen eine Kirche auf, zünden eine Kerze an oder gehen am Sonntag zum gemeinsamen Gottesdienst.

Die Sehnsucht nach Spiritualität scheint dabei in jüngster Zeit besonders bei Frauen mittleren Alters ausgeprägt zu sein. Das wird von manchen sehr kritisch gesehen – Ingke Brodersen und Renée Zucker formulieren recht salopp: »Neben angeblichen Einparkmängeln oder der beliebten Menstruationserklärung – wenn´s mal nicht so klappt mit dem Nachbarn – gehört Spiritualität zur »Typisch Frau«-Geringschätzung.«24 Das halte ich für eine Fehleinschätzung. Auch für mich persönlich ist Spiritualität, die Stille, der Rückzug eine große Kraftquelle. Einen biblischen Text meditieren, einfach einmal allein sein, ein Gedicht lesen: Dabei finde ich zu mir. Wer einen dichten Arbeitsalltag hat, braucht solche Zeiten. Das Burn-out-Syndrom befällt ja gerade Menschen, die keinen Rhythmus mehr finden zwischen Schaffen und Ruhen. Wer nicht regenerieren kann, wird eines Tages auch keine Kraft mehr haben, zu leisten. Sehr schöne Anregungen dazu gibt ein gerade erschienenes kleines Buch mit dem Titel »Stay wild statt Burnout. Leben im Gleichgewicht«.25 Es reflektiert selbstkritisch den hohen Stellenwert der Erwerbsarbeit in unserer Gesellschaft, an dem auch theologische Überlegungen und christliches Arbeitsethos ihren Anteil haben. In kleinen Schritten gibt das Buch Ratschläge zum Tun und zum Lassen. Und es ermutigt, die eigenen Grenzen zu sehen und Formen zu finden, neue Kraft zu gewinnen, durch Impulse zum Nachdenken oder zu geistlichen Übungen mitten im Alltag. »Wer privat oder beruflich gefordert ist, dem helfen Rituale. Sie sind verinnerlichte Gewohnheiten – Verhaltensweisen, die meist zur selben Zeit, am selben Ort und auf dieselbe Art und Weise praktiziert werden. Rituale entlasten: Sie nehmen die Last ab, immer alles immer wieder neu entscheiden zu müssen. … Rituale sind wie ein Netz, das uns auffängt – uns Halt gibt, damit wir nicht fallen – und falls wir fallen.«26 Gerade das Gebet kann solch ein Ritual darstellen, am Morgen, am Mittag oder am Abend. Oder die Viertelstunde am Abend, die ich allein für mich habe und Musik höre.

Gerade berufstätige Frauen in der Mitte des Lebens kennen dieses Gefühl: Da ist die Lust an der Leistung, aber ebenso der Kraftakt, täglich antreten zu müssen. Das gehört wohl zur Mitte des Lebens, denke ich: die beruflichen Belastungen – und die Erschöpfung. Anforderungen wahrzunehmen und nicht zu verdrängen – und der Sehnsucht nach Ruhe und Erholung Raum zu geben. Sich an der eigenen Leistungsfähigkeit freuen, aber auch den Leistungsdruck spüren und ihm, wo nötig, widerstehen. Das ganze Gefragtsein, Wichtigsein, das Ringen um Status und die Angst vor Statusverlust können in die zweite Reihe treten, wenn mir deutlich wird, dass dieses Ringen um Machbarkeit, die Pflichterfüllung, die mir wichtig ist, mit Blick auf das Leben insgesamt sekundär sind. Beruflicher Erfolg kann schnell schal werden, wenn kein Lebensglück mehr verspürt wird, der Leistungsdruck überhandnimmt, die kleinen Dinge des Lebens, die so viel bedeuten können, nicht mehr spürbar sind. Vielleicht macht genau das die »Leichtigkeit des Seins« aus, die Milan Kundera in seinem schönen Roman beschrieben hat: begreifen, dass wichtig nicht immer das ist, was ich für wichtig halte. Wer das erkennt, wird eben doch ein klein wenig weise in der Mitte des Lebens!

Kraftquellen müssen aber auch nicht ausschließlich spiritueller Natur sein. Ich gewinne auch neue Energie aus einem Abend mit einer Freundin in der Sauna, ein paar Stunden in einem Wellness-Bad. Der Besuch einer Kunstausstellung kann mir Kraft geben. Ein ausgiebiger Spaziergang. Ein Frühstück mit den Töchtern. Wichtig ist: Entschleunigung, Entspannung, Unterbrechung des Alltages.

Für Menschen, die im Alltag eher zu viel Ruhe haben oder gar Leere empfinden, ist vielleicht auch ein Kontrastprogramm die richtige Kraftquelle – Aktivität, Sport, Zusammensein mit anderen, eine ehrenamtliche Aufgabe, die fordert. Ich denke an einen Mann, der im Ruhestand erlebt, wie seine Qualitäten als Bankfachmann in der Schuldnerberatung ganz neu gefragt sind. Er kommt jetzt in Wohnungen, die er früher nie betreten hätte, aber er erlebt: Ich werde gebraucht. Ich verdiene kein Geld mit meiner Arbeit, aber ich leiste einen ungeheuer wichtigen Beitrag, Menschen brauchen mich und vertrauen mir. Diese Erfahrung des Geben-Könnens, des Gebraucht-Werdens, der Beteiligung an der Gestaltung des Gewebes, das eine Gesellschaft zusammenhält, kann ungeheure Energie schenken.

Aller Trauer um den Verlust jugendlicher Kraft und Leichtigkeit zum Trotz bringt die Mitte des Lebens ganz offensichtlich auch neuen Mut, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden und neue Wege zu gehen. Abseits von Konventionen bringt sie den Mut, etwas ganz anderes zu wagen. Luise Rinser hat einen interessanten Beziehungsroman geschrieben mit dem Titel »Mitte des Lebens«. Sie setzt ihn fort mit einem zweiten Band »Abenteuer der Tugend«, in dem es ernüchternd heißt: »Aber was ist ›leben‹? Tun, was man will? Das glaubt man, wenn man jung ist. Leben bedeutet immer: tun, was man soll. Ich glaube fast, es ist gleichgültig, was man tut. Es kommt nur auf die Intensität an, mit der man es tut.«27 Ist das ein Fazit in der Mitte des Lebens, eingebunden in die eingegangenen Verpflichtungen beruflicher und privater Art, nur noch zu tun, was du sollst, nicht mehr, was du willst? Das wäre eine traurige Wahrheit. Ob deshalb so viele versuchen, die Mitte des Lebens zu vermeiden, sozusagen von Jung nach Alt ohne Zwischenhalt, oder gar aus allem auszubrechen in der Mitte des Lebens?

Wer sich in der Mitte des Lebens befindet, kann nicht nur freier, sondern auch mutiger werden. Wie sehr hat mich früher Kritik getroffen, wie tief hat es mich verletzt, wenn andere mich angegriffen haben wegen einer Meinung, die ich vertreten habe. Wie viel Angst gab es auch, das Falsche zu tun oder zu sagen. Älter geworden, ist mir Kritik noch immer wichtig, denn wer das eigene Reden und Handeln nicht von außen spiegeln lässt, wer nicht mehr bereit ist, eigene Positionen zu überdenken, wird seltsam starr und letzten Endes uninteressant. Aber ich empfinde auch eine größere Gelassenheit. Das wurde mir bewusst, als ich in einer Pressemeldung las, in einem Buch werde mir »mangelnde theologische Bildung« vorgeworfen. Früher hätte mich das tief getroffen. Heute habe ich darüber eher geschmunzelt und gedacht, wer es nötig hat, die eigene Bildung kundzutun, indem er sie anderen abspricht, entlarvt sich doch nur selbst.

Ich erlebe, in der Mitte des Lebens entsteht eine größere Ruhe, weniger Aufgeregtheit. Dazu ist es aber auch nötig, diese Ruhe zuzulassen. Um unsere Kräfte zu finden, müssen wir ihnen auch Raum geben, zu wachsen. Stille Zeiten, Rückzugszeiten, bewusste Erfahrungen seelischer und körperlicher Erholung, auch hier eine Balance zwischen Schaffen und Ruhen, zwischen Anforderung und Gelassenheit. Angesichts von allem, was ich erlebt und erfahren habe, angesichts der Erfahrung auch, dass ich heute schneller erschöpft bin als mit 30, kann ich akzeptieren, wo meine Grenzen sind, was ich brauche, damit ich im Gleichgewicht bin, und mir dafür die Zeit nehmen, die ich benötige. Werde ich heute gefragt, wie ich es geschafft habe, vier Kinder groß zu ziehen und gleichzeitig berufstätig zu sein, kann ich es gar nicht mehr sagen. Was ich weiß: Heute würde ich es nicht mehr schaffen wie damals. »Alles hat seine Zeit«28, heißt es in der Bibel. Und so hat auch das Krafthaben seine Zeit und das Kräftesammeln.

Bei allem: Eine Sorge bleibt für mich. Vielleicht werde ich zu ruhig? Was hat mich einst die Ungerechtigkeit der Welt aufgebracht! Wie habe ich mich engagiert! Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, die Anliegen des Konziliaren Prozesses, wie sehr war ich dafür unterwegs! Und wie unverändert zentral sind die Themen für eine Welt in Finanzkrise und Klimakatastrophe! Innere Ruhe sollte sicher auch keine Beruhigungspille werden. Obwohl natürlich auch das eine Erfahrung jeder Generation ist: Die Aufbrüche der Jugendzeit, das radikale Anfragen, sie werden etwas matter. Wir werden ruhiger. Aber wie gesagt, allzu ruhig wäre auch nicht gut in einer Welt, die so viel Elend und Unrecht kennt.

17 In: ZEIT-Magazin Nr. 25, 11.6.2009.

18 Leicht veränderte Fassung von: »Mit den Augen der Liebe« in: Der Überblick. Bonn 4/2004, S. 106 ff.

19 Psalm 45,3.

20 Vgl. FR online 10.08.2004.

21 Fulbert Steffensky, Die Schwachheit und die Kraft des Betens, in: Das Beten – Herzstück der Spiritualität, hg.v. VELKD. Hannover 2005, S. 9ff.; S. 12f.

22 Jeremia 1,7f.

23 In dem Buch »Mit Herzen, Mund und Händen. Spiritualität im Alltag leben« (Gütersloh 2007) habe ich versucht, Anregungen dafür zu geben, wie wir mitten im Alltag solche spirituellen Elemente einbauen können.

24 Brodersen/Zucker, a.a.O., S. 95.

25 Stay wild statt Burnout. Leben im Gleichgewicht, hg. v. Susanne Breit-Keßler und Norbert Dennerlein, Gütersloh 2009.

26 Ebd. S. 62.

27 Luise Rinser, Abenteuer der Tugend, Frankfurt 1969, S. 117.

28 Prediger 3.