Kluftinger kam bekannt vor, was er sah, als er aus dem Aufzug stieg, und es gefiel ihm ganz und gar nicht. Immer, wenn er mit seinen Kollegen einer besonders »heißen« Sache auf die Spur kam, war es das gleiche Bild: Ein angespannter, schwitzender Lodenbacher lief dann stets schon im Gang auf und ab und erwartete sie. Als er den Kommissar erblickte, stürmte er auf ihn zu und ließ eine niederbayerische Wortkaskade auf ihn prasseln, von der Kluftinger kein Wort verstand.

»Würden Sie schon mal in mein Büro vorgehen, Herr Lodenbacher, ich muss noch mal ganz dringend wohin. Ich komm dann sofort zu Ihnen, versprochen«, schlug Kluftinger vor.

Als er die Tür zu seinem Dienstzimmer schließlich öffnete, kam ihm Sandy Henske entgegen und verdrehte die Augen. Er sah, wie seine Mitarbeiter samt Friedel Marx um Dietmar Lodenbacher herumstanden. Der lief gestikulierend zwischen ihnen auf und ab und Kluftinger hörte Worte wie »hoaklig« und »Fingaspitzngfuih«. Das waren die Standardvokabeln seines Chefs bei Fällen, die etwas außerhalb des normalen Polizeialltags lagen.

»Ah, Herr Kluftinga, sand S’ aa scho do! Jetzad miassen mir amoi schaung, wia ma des hendln.«

Kluftinger hätte beinahe gelacht bei dieser Mischung aus Englisch und Niederbayerisch, doch im Augenblick schien es ihm ratsamer, möglichst ernst zu bleiben. Er hörte Lodenbacher also aufmerksam zu, nickte dann und wann, bejahte die Frage, ob er es für richtig halte, dass Lodenbacher bereits einen namhaften Historiker hinzugezogen habe, zog sich aber schließlich doch dessen Unmut zu, als er erklärte: »Ich denke, die Nazis haben da oben ein großes Ding laufen gehabt. Und alle, die das heil überstanden haben, waren nicht daran interessiert, dass davon irgendetwas ans Licht kommt.«

»Jetzt song S’ doch ned Nazis und Heil und soiche Sochn! Des is a hoaklige Sach!«, protestierte Lodenbacher.

»Ja wie denn dann Ihrer Meinung nach?«

»Naa, I moan hoid, mia miassn dös mit – wia sogt ma – obsoluter Diskretion oogeh«, wand sich ihr Vorgesetzter. »Es warn ja ned olles … Nazis, domois, ned? Mia woin doch neamand wos oohänga.«

Kluftinger nickte. Weniger aus Zustimmung, sondern weil er genau wusste, worum es Lodenbacher in Wirklichkeit ging: Er wollte sich mal wieder mit niemandem anlegen. Einige der Menschen, die im Nationalsozialismus herausgehobene Stellungen hatten, verfügten noch immer über Einfluss. Und waren die bereits tot, so gab es ihre Nachkommen, die meist wenig Interesse an einer öffentlichen Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte hatten. Einige davon mochten Lodenbachers Golffreunde sein, mutmaßte der Kommissar.

Diese Politik des geringsten Widerstands seines Chefs verabscheute Kluftinger zutiefst. Ihm ging es immer nur um die Sache, da war er kompromisslos. Andere Sichtweisen waren seiner Meinung nach bei der Polizei fehl am Platze. Er nahm sich vor, von nun an absichtlich Worte wie »Schergen« oder »Henkersknechte« einfließen zu lassen.

Mitten in Kluftingers Überlegungen klingelte das Telefon. Kluftinger nahm ab. Der Anrufer, der sich als Professor für Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin vorstellte, verlangte nach Lodenbacher. Er reichte den Hörer seinem Chef. Der hörte einige Sekunden zu, wurde dann blass und setzte sich. Er blickte seine Kollegen an und sagte in den Hörer: »Kennan S’ des no amoi song? I loss meine Kollegn grod mithean.« Lodenbacher stellte den Lautsprecher an.

»Wie gesagt: Sie sind da auf eine historische Sensation gestoßen«, kam es aus dem Lautsprecher. »Der Kollege, der das Wort ›Seegrund‹ auf diesen Metallteilen entdeckt hat, kann sich selbst auf die Schulter klopfen.« Alle sahen Kluftinger an, der errötend abwinkte.

»Es gibt einige offene Fragen, die sich mit der Geschichte des Dritten Reiches verbinden, wissen Sie«, tönte die Stimme weiter. »Sie haben ja vielleicht von der Suche nach dem Bernsteinzimmer gehört. In eine ähnliche Kategorie fällt die Frage, was sich hinter dem ›Projekt Seegrund‹ verbirgt.«

Die Beamten warfen sich fragende Blicke zu.

»Aus historischer Sicht ist das sogar noch bedeutender«, fuhr der Wissenschaftler fort. »Das Bernsteinzimmer ist sicher von herausragender kunstgeschichtlicher Bedeutung. Aber ›Seegrund‹ ist die Antwort auf eine jahrzehntelang offen gebliebene Frage, die die Nazis betrifft. Die Frage nach ihrer legendären Geheimwaffe.«

Beim Wort »Nazis« wollte Kluftinger schon seinen Chef herausfordernd angrinsen, doch als er den Begriff »Geheimwaffe« vernahm, erstarb sein Lächeln sofort.

»Wir wissen seit vielen Jahren von einem Projekt namens ›Seegrund‹. Dokumente, die wir gefunden haben, weisen darauf hin, dass es sich dabei um eine geheime Versuchsreihe handelt, mit der die Nazis den scheinbar verlorenen Krieg noch einmal herumreißen wollten.«

Kluftinger musste sofort daran denken, was Martl Bartenschlager ihm von seinen Kindheitserlebnissen erzählt hatte, von den Lichtblitzen und den Explosionen, die er am Alatsee beobachtet hatte. Atemlos lauschte er den weiteren Ausführungen des Geschichtsprofessors.

»Lange Zeit dachte man, die V2-Rakte sei diese Geheimwaffe gewesen, doch inzwischen weiß man, dass es noch etwas anderes gab. Diese Versuchsreihe namens ›Seegrund‹ konnten wir bisher keinem bestimmten Ort und auch keiner bestimmten Waffe zuordnen. Es gab mehrere Vermutungen, auch der Alatsee war eine Zeit lang im Gespräch, die Spekulationen wurden dann aber wieder fallen gelassen.

Die Amerikaner haben ja in den fünfziger Jahren intensiv an diesem See geforscht und auch wenn sie uns nie detailliert über ihre Ergebnisse informiert haben, so gehen wir doch davon aus, dass sie nichts wirklich Substantielles gefunden haben.

›Seegrund‹ war also Legende, Mythos – bis heute. Sie, meine Herren, haben vielleicht den Schlüssel gefunden, der uns die Tür zu den Antworten öffnet. Ich hoffe, Sie finden das nicht zu pathetisch, aber aus historischer Sicht haben Sie einen Schatz gehoben.

Herr Lodenbacher, wenn es Ihnen recht ist, kommen wir so bald wie möglich. Ich muss nur noch ein paar Dinge organisieren, ich denke, morgen könnten wir bei Ihnen sein. Und … ähm … ich kann Ihnen da natürlich keine Vorschriften machen, aber ich hielte es für besser, das zunächst nicht an die große Glocke zu hängen.«

Lodenbacher willigte ein und legte auf. Etwa eine Minute lang herrschte völlige Stille im Büro. Dann erhob sich Lodenbacher, lief zur Tür und sagte: »Ich werd eine obsolute Nochrichtnsperre verhenga, is dees klor? Oiß, wos nach draußd geht, laffd üba mi.« Dann knallte er die Tür hinter sich zu. Die fünf Beamten, die im Zimmer zurückblieben, sahen sich mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Betroffenheit an.

»Was war denn das jetzt?«, fragte Strobl, der als Erster seine Sprache wiedergefunden hatte.

»Historische Sensation«, wiederholte Maier mit glänzenden Augen.

»Wisst ihr, was das bedeutet, Kollegen?«, fragte Marx. »Wir werden in die Geschichtsbücher eingehen.«

Maier nickte heftig: »Die Maier-Enthüllung …«

»Ja, ganz bestimmt, Kollege«, mischte sich nun auch Kluftinger in das Gespräch ein. »Wer hat es denn gefunden, hm?«

»Ja, du«, flüsterte Maier zerknirscht.

»Wer? Ich hab das jetzt grad nicht ganz verstanden«, bohrte Kluftinger nach.

»Du hast’s gefunden, nicht ich«, erwiderte Maier nun etwas lauter und die anderen grinsten.

»Vielleicht wird das sogar mal eine Frage bei Günther Jauch oder bei Trivial Pursuit«, gluckste Hefele.

Kluftinger sah vor seinem geistigen Auge bereits das verdutzte Gesicht von Doktor Langhammer, wenn er ihn wieder einmal zu einer Partie dieses Wissensspiels nötigen würde und dann eine Frage nach ihm kommen würde.

In diese Phantasie, die für ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen des Kommissars sorgte, platzte ein Kollege der Verkehrspolizei. Er legte ihnen mit großer Geste ein Foto hin, das offenbar mit einer Radarkamera aufgenommen worden war, und sagte stolz: »Schaut mal, was ich da habe.«

Alle erhoben sich und warfen einen Blick auf das Foto, das einen Mann in einem Wagen zeigte, der offenbar zu schnell unterwegs gewesen war.

»Respekt, Tommy«, sagte Strobl und schlug dem Polizisten auf die Schulter. »Da habt ihr tatsächlich einen Temposünder erwischt, ganz herzliche Gratulation. Mit so etwas können wir natürlich nicht dienen, wir haben grad nur ein sechzig Jahre altes Welträtsel gelöst.«

Die Kollegen grinsten sich an, nur die Miene des Polizisten verfinsterte sich. »Wenn ihr immer so lang braucht, um eure Fälle zu lösen … Aber jetzt schaut’s euch den Mann mal genau an!«

Noch einmal beugten sich die Kriminalbeamten über das Foto. Keiner von ihnen erkannte die Person auf dem Foto, ein schätzungsweise Sechzig- bis Siebzigjähriger mit dunklem Mantel.

»Huhu, wenn das nicht der böse schwarze Mann ist«, grinste Hefele mit gespielt furchtsamer Miene.

»Lodenbacher?«, warf Kluftinger ein.

Jetzt platzte dem Verkehrspolizisten der Kragen: »Himmelherrgott, jetzt macht’s halt mal eure Augen auf. Die Autonummer! Schaut doch mal auf die Autonummer.«

Das Grinsen aus ihren Gesichtern verschwand schlagartig.

»HRO. Das gibt’s nicht«, presste Kluftinger heiser hervor. »Das ist …«

»Genau! Rostock. Das Auto, das ihr gesucht habt. So, jetzt ist euch das Spotten vergangen, oder?«

»Allerdings. Woher stammt denn das Foto?«

»Aus Pfronten. Das ist aus einem der fest installierten Starenkästen geschossen worden. Vorgestern. Das Auto gehört Pius Ackermann, ich nehme an, das wird der auf dem Foto sein.«

»Das war saubere Arbeit, wirklich«, lobte Kluftinger. »Aber jetzt sag: Wisst ihr am Ende auch noch, wo der Mann ist?«

»Leider nicht«, erwiderte der Polizist.

Kluftinger richtete sich auf: »Also Kollegen, es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn sich der nicht noch irgendwo in der Nähe rumtreiben würde. Ihr setzt mir Himmel und Hölle in Bewegung, bis wir Pius Ackermann« – er tippte auf das Foto auf dem Schreibtisch – »hier im Büro sitzen haben. Guten Abend.«

Erst als Kluftinger zu Hause in seine Einfahrt biegen wollte, konnte er seine Gedanken von seinem Fall lösen. Er schimpfte laut, denn der starke Schneefall des Tages hatte die Einfahrt unpassierbar gemacht. Er parkte also auf der Straße, stapfte dann zum Geräteschuppen und griff sich die Schneeschaufel. Gerade, als er beginnen wollte, die Einfahrt zu räumen, streckte seine Frau ihren Kopf aus der Eingangstür heraus: »Du brauchst nicht zu schippen, ich hab den Martin angerufen.«

»Du hast was?«

»Ich hab den Martin angerufen. Weil du so krank bist. Langhammers haben doch so eine tolle neue Fräse.«

In diesem Moment bog unter Hupen der Mercedes des Doktors um die Ecke. Auf einem Anhänger thronte die besagte, leuchtend rote Schneefräse. Kluftinger traute seinen Augen nicht: So ein Kaliber hatte nicht einmal der Hausmeister der Polizeidirektion, obwohl der gut und gerne zweitausend Quadratmeter zu räumen hatte. Der Doktor hingegen brachte es mit Gehsteig vielleicht auf schlappe hundert.

»Na, da bin ich ja gerade richtig gekommen, sonst hätte unser Invalide noch selbst den Schnee geräumt«, trällerte Langhammer, als er aus dem Auto stieg und den Anhänger öffnete.

Ungeahnte Kraftreserven wurden im Kommissar frei und ihn packte eine unbändige Wut, als der Doktor grinsend seine Höllenmaschine in die Auffahrt rollte. Seine Hände schlossen sich so fest um den Griff der Schneeschaufel, dass die Knöchel weiß hervortraten. Nur unter Aufbringung seines ganzen Willens schaffte er es, Langhammer die Schaufel nicht über den Schädel zu hauen.

»Hören Sie, das braucht’s wirklich nicht, so krank bin ich nicht«, versuchte er den Arzt abzuwimmeln, doch gegen ihn und gegen seine eigene Frau, hatte er keine Chance. Er fühlte sich regelrecht entmannt, als Langhammer den Auswurfkamin zur Seite kurbelte und das Fräswerk startete, worauf sich die Maschine röhrend in Gang setzte. Aus einer Tasche seines Anoraks holte der Doktor einen Gehörschutz und setzte ihn auf. Wie eine wild gewordene Mickymaus hüpfte er hinter der Fräse her.

»Wissen Sie, das ist ein schöner Ausgleich für mich«, brüllte der Doktor und seine weiße Zahnreihe leuchtete dabei noch heller als der Schnee, den der Scheinwerfer der Fräse anstrahlte. »Ich habe heute eine sehr komplizierte endoskopische OP ambulant durchgeführt, da habe ich gar nichts gegen ein bisschen grobe Arbeit am Abend. Und was haben Sie so getrieben?«

Kluftinger meinte, deutlich die Geringschätzung in dieser Frage herauszuhören. »Ach, nur ein welthistorisches Rätsel gelöst und mir dabei den Weg in die Geschichtsbücher geebnet«, antwortete der Kommissar und versuchte, es möglichst beiläufig klingen zu lassen.

Der Doktor sah ihn ein paar Sekunden lang prüfend an, dann zeigte er wieder sein breites Lächeln und winkte ab: »Ach, Sie immer mit Ihren Späßchen. So, jetzt muss ich aber mal loslegen, sonst kommen Sie heute nicht mehr in Ihre Einfahrt!«

Mit diesen Worten ließ er den Motor aufheulen und setzte seine Maschine in Bewegung, die sofort Unmengen Schnee aus dem Kamin an den Rand der Einfahrt spuckte. Als der Doktor sich umdrehte und sah, dass ihn der Kommissar mit großen Augen beobachtete, streckte er stolz die Brust heraus und legte noch einen Zahn zu. Schnell wandte sich Kluftinger ab und ging ins Haus.

»Der tut grad so, als hätt er das Ding entwickelt«, grantelte Kluftinger im Hausgang vor sich hin. Es ärgerte ihn, dass der Doktor seinen Blick bemerkt hatte. Er überlegte fieberhaft, wie er die erlittene Schmach wieder wettmachen könnte. Auf einmal hellte sich seine Miene auf und er lief in den Keller, wo er die billigste Flasche Wein aus dem Regal zog, die er finden konnte. Zusammen mit einem Zwei-Euro-Stück und einem Blatt Papier, auf das er die Worte »Fürs Benzin! Danke!« schrieb, legte er sie vor die Tür.

Als er vor dem Zu-Bett-Gehen noch einmal nach draußen ging, um sein Auto in die Garage zu fahren, sah er, dass seine kleine Aufmerksamkeit noch immer an ihrem Platz stand. Er vermutete schon, dass sie der Doktor nicht gesehen hatte, da bemerkte er, dass ein weiterer Zettel zusammen mit einem Fünf-Euro-Schein daneben lag. Auf dem Papier stand in schwer leserlicher Ärztehandschrift: »Für ordentlichen Wein.«

Als Kluftinger am nächsten Tag seinen Wagen auf den Parkplatz der Kemptener Polizei lenkte, erwartete ihn bereits sein Kollege Eugen Strobl. Es war ein kalter Donnerstagmorgen und die Sonne würde sich heute am trüben Himmel nicht sehen lassen. Wie so oft im Allgäu im Dezember. Vor der Polizei zog ein kleiner Traktor mit Schneepflug seine Runden, dessen knallroter Lack im Kommissar ungute Erinnerungen an den vorigen Abend wachrief. Kluftinger winkte dem Hausmeister vom Auto aus zu, als Strobl die Wagentür öffnete.

»Morgen Eugen!«

»Morgen. Das ist ein Service, was? Du kommst ins Büro und wir haben schon die ersten Ergebnisse. Brühwarm und frisch serviert.«

Es war schon kurz vor neun. Gegen halb acht hatte Kluftinger im Büro angerufen und angekündigt, heute später zu kommen, weil er endlich auch einmal in den Genuss des reichhaltigen Frühstücks kommen wollte, das seine Frau »den Kindern« zur Zeit jeden Tag machte.

»Ja, das ist schon ein gutes Gefühl, dass endlich wieder was weitergeht«, freute er sich, nachdem ihn Strobl unterrichtet hatte, man habe anhand der Meldebescheinigungen der Hotels Ackermann in einer kleinen Pension in Pfronten ausfindig gemacht.

Als auf der rechten Seite das »Haus Annerose« auftauchte, ein schlichter Bau im Pfrontener Ortsteil Kappel, stand davor wie erwartet Friedel Marx und rauchte einen Zigarillo zu Ende. Vom Auto aus hatten sie sie noch angerufen und gefragt, ob man denn nun nach »Ried«, »Kappel«, »Dorf« oder »Weißbach« kommen solle: Pfronten bestand aus einer Vielzahl eigenständiger Weiler.

Am »Haus Annerose« war anscheinend seit den späten sechziger Jahren nichts mehr verändert worden: Die Schindeln waren mit weinroter Lackfarbe angestrichen, ein gemaltes Edelweiß schmückte in trauter Einigkeit mit einem gelüftelten Enzian die Fassade. Darunter war in geschwungenen, rosafarbenen Buchstaben der Name der Pension und der Hinweis »Garni« zu lesen. Früher hatte sich Kluftinger oft gefragt, wie viele Hotels dieser mächtige Konzern Garni wohl unterhielt, bis man ihn dann darauf hingewiesen hatte, dass dieses »Garni« mit dem Frühstück oder dem Essen oder mit sonst etwas, jedenfalls nichts mit den Betreibern zu tun hatte.

Die Frau, die den Polizisten die Tür öffnete, hatte das Rentenalter bereits deutlich überschritten.

»Grüß Gott! Sie sind jetzt wegen dem Ackermann da, gell? Mein Name ist Annemarie Briechle, ich bin die Inhaberin. Ja, das stimmt schon. Sie werden sich jetzt vielleicht wundern, warum das Haus dann Annerose heißt, obwohl …«

»Ist Herr Ackermann da?«, unterbrach Kluftinger ihren Redeschwall.

»Ist Herr Ackermann da«, wiederholte die Frau mit dem grauen Dutt. »Der Ackermann ist leider noch nicht aufgetaucht, seit Sie mich benachrichtigt haben. Wer von Ihnen ist denn der Leiter? Der Herr Maier, mit dem ich telefoniert habe?«

»Der Maier ist nicht dabei. Das ist auch kein Leiter. Der fällt höchstens bald mal von einer runter, wenn er so weitermacht!«, brummte Kluftinger missmutig und erntete dafür einen verwunderten Blick der Wirtin. »Mein Name ist Kluftinger. Meine Mitarbeiter Frau Marx, Herr Strobl.«

»Also, wenn Sie mich fragen, man sieht’s ihm direkt an!«, flüsterte Frau Briechle mit verschwörerischem Blick.

»Was denn?«, wollte Kluftinger wissen.

»Was denn. Na ja, dass mit ihm was nicht stimmt. Mit dem Ackermann, mein ich. Er ist ein bisschen zu galant zu den Damen, zu mir war er das zu Beginn auch, ein bisschen zu unauffällig, was seine Kleidung und sein Auftreten angeht. Für sein Alter sieht er ja noch gut aus und scheint auf den ersten Blick eine gute Partie zu sein. Schließlich ist er allein stehend. Bei mir hat er es ja als Erstes versucht, aber ich bin und bleibe Witwe. Ich habe mir nie viel aus den Männern gemacht. Und immer hatte er so schlüpfrige Sprüche auf den Lippen. ›Auch späte Rosen blühen schön, Annerose‹, hat er gesagt, wo ich doch gar nicht Annerose heiße. Stellen Sie sich vor! Ich habe mir das verbeten. Den ganzen Tag ist er seitdem unterwegs. Dass er ein Betrüger sein könnte, hab ich mir gleich gedacht. Aber Heiratsschwindler sind von der ganz üblen Sorte«, empörte sich die Wirtin.

»Frau Briechle«, hob Strobl als Erster an, wobei er nur schwer sein Lächeln unterdrücken konnte, »wie kommen Sie denn darauf, dass wir deswegen hier sind? Hat Ihnen das der Herr Maier gesagt?«

Kluftinger ließ die Frau gar nicht antworten und ergriff seinerseits das Wort: »Wie auch immer, könnten wir Herrn Ackermanns Zimmer kurz in Augenschein nehmen?«

»Augenschein. Können Sie, ja, ich gehe mit und sperre es Ihnen sofort auf.«

Kluftinger war es im Grunde gleichgültig, wie die Briechle darauf gekommen war, dass es sich bei Ackermann um einen Heiratsschwindler handelte. Wahrscheinlich hatte sie zu viele Filme aus den sechziger Jahren gesehen. Aber so würde sie zumindest nicht nach den wahren Gründen der Ermittlungen fragen.

Im Obergeschoss der Pension waren die Türstöcke so niedrig, dass alle den Kopf einziehen mussten, als sie das Fremdenzimmer betraten. Frau Briechle wies darauf hin, dass sie ruhig alles durchsuchen könnten, sie als Hausherrin gebe ihnen die Erlaubnis. Sie wolle der Aufklärung von Verbrechen schließlich nicht im Wege stehen. Um die Kooperationsbereitschaft der älteren Dame nicht aufs Spiel zu setzen, wies Kluftinger sie im Folgenden auch nicht darauf hin, dass sie mit ihren neugierigen Blicken, mit denen sie jeden ihrer Schritte verfolgte, zumindest den Aufklärern von Verbrechen gehörig im Wege stand.

Als Kluftinger den Schrank öffnete, winkte er die Kollegen zu sich: Ein paar Flossen und Taucherbrillen lagen darin, ebenso ein Gerät, das wie ein futuristischer Staubsauger wirkte und das Strobl als Metalldetektor identifizierte.

»Sieh mal an. Der alte Herr taucht also auch! Erstaunlich, wie sportlich die alle noch sind.«

»Nein, nein, das hat er nicht selber verwendet«, mischte sich die Wirtin ein. »Ich hab ihn das auch gefragt. Sein Neffe ist Taucher und er hebt die Sachen nur für ihn auf. Der war auch schon ein paar Mal mit da, der Neffe.«

»Könnten Sie diesen Neffen beschreiben?«, wollte Kluftinger wissen.

»Neffen. Jederzeit. Ich würde ihn auch wieder erkennen«, erwiderte sie eifrig.

»Eugen: Phantombild von dem anfertigen lassen. Da soll dann gleich der Renn Willi jemanden schicken. Ruf ihn bitte nachher an.«

Strobl nickte.

Kluftinger nahm sich nun die beiden Nachtkästchen aus lackiertem Kirschbaum vor. Annemarie Briechle blickte ihm über die rechte Schulter und kam ihm dabei so nah, dass er ihren Atem im Nacken spürte.

»Frau Briechle, wenn Sie uns jetzt bitte allein lassen könnten?«

Kluftingers Ton wurde auf einmal schärfer. Wenn er etwas hasste, dann war es, wenn man seine Individualdistanz unterschritt.

»Ich?«, fragte die Pensionswirtin verwundert nach.

»Ja, Sie. Bitte, könnten Sie uns die Kopie von Ackermanns Ausweis bringen, die Sie gemacht haben, als er hier das Zimmer bezogen hat?«, versuchte Strobl die Situation zu retten.

Mit einem missbilligenden Blick auf Kluftinger verließ sie das Gästezimmer.

Der Kommissar hatte die Zeitschriften, die zuoberst in der Schublade lagen, herausgenommen und stieß darunter auf einen großen, gefalteten Bogen Papier. Auf dem Bett breitete er ihn aus. Es war eine topographische Karte. Eine Karte des Alatsees, das war keine Überraschung mehr für ihn. Auf dem detaillierten Plan waren die Höhenlinien der umgebenden Hänge ganz exakt eingezeichnet, das Ufer war zwar am Rand noch kartiert, der eigentliche Seegrund aber als weißer Fleck dargestellt.

Nicht einordnen konnte Kluftinger die Kreuzchen, Linien und Sternchen, die von Hand auf der Karte vermerkt waren. Sie verliefen von der Straße von Füssen über Bad Faulenbach bis in die weiß dargestellte Wasserfläche hinein.

»Was wollen die alle mit dem alten Schrott, der da unten liegt?«, fragte Kluftinger, wobei er sich von den Kollegen keine Antwort erwartete.

»Frau Marx, wir müssen unbedingt nach dem Ackermann fahnden«, sagte Kluftinger nach einer gedankenversunkenen Pause.

»Das machen wir seit gestern, lieber Kollege«, brummte die Marx. »Seit der Brief bei Karg aufgetaucht ist, das sollten Sie schon noch wissen.«

»Ja … dann jetzt halt g’scheit fahnden, mein ich!«

Sie hatten im Zimmer sonst nichts gefunden. Die Karte hatte Kluftinger wieder zusammengefaltet und eingesteckt. Nun stand er mit Strobl an dem kleinen Tresen im Eingangsbereich.

Friedel Marx war bereits nach draußen gegangen, um »frische Luft zu schnappen«, wie sie grinsend gesagt hatte. Immerhin paffte sie einem wenigstens nicht mehr dauernd die Hucke voll, dachte Kluftinger. Vielleicht hatten seine Beschwerden endlich gefruchtet.

Strobl schlug auf die alte Klingel, die auf der Ablage stand. Wortlos kam kurze Zeit später Annemarie Briechle mit der Kopie des Personalausweises.

»Frau Briechle«, flüsterte Kluftinger in verschwörerischem Ton, wobei er sich diesmal ganz nah zu seiner Gesprächspartnerin beugte. »Sie müssen uns jetzt helfen. Das ist eine sehr sensible Aufgabe, um die ich Sie bitte, aber ich bin mir sicher, Sie können damit umgehen.«

Kluftinger sah an der sich aufhellenden Miene der Wirtin, dass sie angebissen hatte und ihm seinen rüden Ton von vorhin nicht mehr nachtrug.

»Sie müssten uns unbedingt benachrichtigen, wenn Herr Ackermann nach Hause kommt. Rufen Sie uns unbedingt sofort an, hören Sie? Dabei ist aber wichtig, dass Sie sich nichts anmerken lassen. Wir wollen ihn schließlich nicht aus Versehen vorwarnen, nicht wahr?«

Annemarie Briechle schluckte und nickte heftig.

»Wann kommt er denn für gewöhnlich nach Hause?«

Die Wirtin reagierte nicht, sondern sah sie mit großen Augen an.

»Frau Briechle, wann kommt er denn gewöhnlich nach Hause?«

»Ich … der … der kommt meistens so am frühen Nachmittag. Wahrscheinlich, um ein Nickerchen zu machen«, antwortete sie.

»Also«, hob Kluftinger noch einmal an, »wie gesagt, eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, die Sie da übernehmen. Sie müssen sofort anrufen. Aber keine Angst, Frau Briechle, Ihnen droht keine Gefahr – wenn Sie ihm nichts verraten!«

Wieder nickte die Frau.

Als die drei Polizisten wieder im Auto saßen, sagte Strobl versonnen: »Aber es hätt mich schon noch interessiert, warum das Haus jetzt ›Annerose‹ heißt.«

In Friedel Marx’ Büro herrschte eine bedrückende Stille. Die Beamten fühlten sich zur Untätigkeit verdammt. Kluftinger überlegte, ob er sich gleich noch einmal den Souvenirhändler Appel vorknöpfen sollte, der sich bei der Befragung in seinem Büro so wenig souverän präsentiert hatte. Aber letztlich schien Pius Ackermann der Schlüssel zur Lösung dieses Rätsels, das hatten die Ermittlungen gezeigt.

Der Kommissar massierte sich mit leichtem Druck die Schläfen. In seinem Kopf pochte es, er hatte das Gefühl, nicht richtig denken zu können. Ihm war auch klar, warum: Das kleine Büro seiner Kollegin war vollkommen von bläulichem Dunst erfüllt. Der Aschenbecher auf ihrem Schreibtisch war schon wieder gut gefüllt, obwohl sie erst seit etwa einer Stunde hier waren und bei ihrer Ankunft nur einzelne Zigarillos darin gelegen hatten. Kluftinger bekam kaum noch Luft.

»Ich geh mal raus«, sagte er im Aufstehen und fügte etwas leiser, an Strobl gewandt, hinzu: »Ich glaub, wir sollten uns nachher gleich einer prophylaktischen Chemotherapie unterziehen.«

Obwohl er nur in einen fensterlosen, muffigen Gang trat, hatte er das Gefühl, als ströme frische Waldluft in seine Lungen. Es ärgerte ihn, dass seine Kollegin so wenig Rücksicht auf seine geschundenen Atemwege nahm. Aber sagen wollte er auch nicht dauernd etwas, um nicht als Jammerlappen dazustehen.

Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken und schlenderte durch den schmalen Gang. Es sah so aus wie bei ihnen in Kempten: Neonlampen an der Decke warfen hartes Licht auf die gemauerten, nicht verputzten Ziegelwände, wie sie für Zweckbauten der achtziger Jahre typisch waren. Daran hingen einige Plakate, die Fahndungsfotos von Top-Terroristen zeigten. Der Kommissar spazierte auf die Glasvitrinen zu, die am hinteren Ende des Ganges autgestellt worden waren. Er ahnte bereits, was sich darin befand, denn auch in der Direktion in Kempten gab es so etwas: Es war eine Art kleines Museum, ein Sammelsurium kurioser Beweisstücke, Andenken an wichtige oder in irgendeiner Weise bemerkenswerte Fälle, Schriftstücke, Fotos, die nicht nur die Geschichte der jeweiligen Polizeidienststelle darstellten, sondern zusammengenommen auch ein Panoptikum der Kriminalgeschichte im Allgäu abgaben. In Kempten waren neben ein paar Präparaten aus Willi Renns Gruselkabinett auch ungewöhnliche Mordwerkzeuge zu sehen, etwa eine Vorhangschnur und eine Sense, beides Reliquien aus Fällen, die Kluftinger bearbeitet hatte. Regelmäßig jagte ihm der Anblick einer ausgestopften Krähe eine Gänsehaut über den Rücken. Den Vogel hatten sie einmal auf einer Leiche gefunden.

Nun war Kluftinger gespannt darauf, was die Füssener in dieser Hinsicht zu bieten hatten. Er konnte sich an kein wirklich spektakuläres Verbrechen in dieser Stadt erinnern, jedenfalls nicht, so lange er in Kempten Dienst tat. Dementsprechend wenig eindrucksvoll präsentierte sich die Sammlung auch, die neben einem an der Grenze zu Österreich beschlagnahmten Bündel Falschgeld den Schwerpunkt auf eine historische Darstellung der Polizeiarbeit zu legen schien. Ein Paar uralte eiserne Handschellen lagen aus, ein Foto daneben zeigte die erste Mannschaft, die in Füssen Dienst getan hatte.

»He, Sie, das ist fei kein Museum und wir sind auch keine Wärmestube!«

Der Kommissar drehte sich um und sah einen kleinen, unrasierten Mann mit schlampig aussehender Uniform und fettigen Haaren den Gang entlang wuseln. Er musterte Kluftinger misstrauisch und wollte ihn gerade fragen, was er hier verloren habe, da fuhr ihm der Kommissar in die Parade: »Ich g’hör auch zum Verein. Kluftinger, Kripo Kempten.«

Sein Gegenüber bekam große Augen. Peinlich berührt stotterte er: »Ach, so … so hoher Besuch, Kollege Kluftinger. Ich hab ja schon so viel von Ihnen gehört. Mei, dass Sie mal bei uns vorbeischauen. Ich hab jetzt gedacht, wegen Ihrem Aufzug … ich mein …« Er brach ab und sein Kopf lief knallrot an. Ihm schien klar zu sein, dass er sich mit einer Vollendung des Satzes endgültig den Zorn seines Gegenübers zuziehen würde. Er blickte am Kommissar vorbei zu den Glasvitrinen und sagte dienstfertig: »Ach, Sie interessieren sich für unsere Geschichte? Da kann ich Ihnen gerne was dazu sagen, ich habe einige von den Stücken selbst ausgesucht.«

»Nein, danke, ich schau nur ein bissle rum«, antwortete Kluftinger kurz und ehrlich und mit den gleichen Worten, mit denen er sich in Kaufhäusern aufdringliche Bedienungen vom Leib hielt. Nach einer Führung durch diese kümmerliche Ausstellung war ihm nun wirklich nicht zumute. Der Polizist machte sich mit ein paar albern wirkenden, angedeuteten Verbeugungen schleunigst aus dem Staub.

Der Kommissar wandte sich wieder den Vitrinen zu. Rechts von ihm beanspruchte eine alte Uniformjacke ein ganzes Schaufenster. Gleich daneben hing eine Fotografie, die seine Aufmerksamkeit erregte. Sie zeigte einen Taucher in einem altertümlich anmutenden Tauchanzug. Der Helm war eine riesige Glocke aus Messing mit einem runden, vergitterten Sichtfenster. Von der Glocke führte ein Schlauch zu einem Apparat, um den einige Männer in Uniform herum standen; gleich neben ihnen wehte eine US-Flagge. Unter dem Bild stand mit blauer Tinte geschrieben: »Alatsee, Tauchmanöver der Amerikaner, Juni 1955.« Kluftinger zog die Brauen nach oben. Inzwischen konnte er sich denken, was die Soldaten dort gesucht hatten.

Er ging weiter und sein Blick wanderte über eine Art Tisch, auf dem unter einer Glasplatte verschiedene Dokumente ausgelegt waren. Kluftinger schaute nur oberflächlich darüber, er war nicht in der Stimmung, sich in irgendwelche historischen Akten einzulesen. Er wandte sich schon wieder ab und richtete seinen Blick auf die nächste Vitrine, in der eine alte, von Hand zu kurbelnde Sirene lag, da gefror seine Bewegung. Schweiß trat auf seine Stirn und er schluckte. Er drehte sich langsam um und senkte seinen Kopf wieder über den Tisch. Tatsächlich, seine Sinne hatten ihm keinen Streich gespielt. Mit klopfendem Herzen las er das Schriftstück, das vor ihm lag. Es war datiert auf den 30. Mai 1950 und trug den Stempel der Bayerischen Staatskanzlei:

An den Herrn Ministerpräsidenten

Dr. Hans Ehard, München,

Prinzregententstr. 7.

Betrifft: a) Rothschildschatz auf Schloß Neuschwanstein

b) Reichsbankgold im Raume Füssen

Bezug: Zwischenbericht des Präsidiums der Landpolizei von Bayern

Berichterstatter: Ob. Insp. d. LP. Martin

Die Ermittlungen der hiesigen Dienststelle zu den im obigen Betreff angeführten Vorgängen sind vorläufig abgeschlossen. Der größte Teil der beteiligten Personen wurde ermittelt und protokollarisch oder informatorisch zur Sache gehört. Über das Ergebnis wird nachfolgend berichtet.

Da die Einlagerung eines Teils des Rothschildschatzes auf Schloß Neuschwanstein mit den angeblichen Goldtransporten der ehemaligen Deutschen Reichsbank in den Raum Füssen in keinem Zusammenhang stehen …

Der Kommissar schluckte. Die zweite Seite war nicht ausgestellt. Kluftinger wollte bereits die Vitrine öffnen, da bemerkte er ein weiteres Schreiben. Es war ein als geheim gekennzeichneter Brief der Oberfinanzdirektion unter Doktor Schön an den damaligen Bundesfinanzminister, dessen Abschrift am 21. Juli 1953 der Polizei Füssen zugeleitet wurde.

Geheim!

21. Juli 1953

An den Herrn Bundesminister der Finanzen

Bonn/Rhein

Rheindorferstraße 116

Betr.: Bergung von Munition, Schrott und sonstigem Eigentum des ehemaligen Deutschen Reiches aus den Alp-Seen bei Füssen

Meine Bundesvermögensstelle Kempten berichtete mir, daß die z.Zt. vom Bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft und Verkehr mit Munitionsbergungen beauftragte Firma N., Schrottgroßhandlung, Spezialfirma für Abbruch und Bergung, Augsburg, um die Genehmigung zur Bergung eines angeblich im Alatsee versenkten Schatzes der ehemaligen »Reichsschatzkammer« nachgesucht habe.

Die Firma N. hat u.a. im Alatsee nach etwa dort verlegten Kabeln getaucht. Da ein bereits heraufgezogenes Kabel wieder in den See zurückgefallen und im Schlamm versunken war, warf die Firma einen 2 Ztr. schweren Anker in den See und zog ihn am Grund entlang. Dabei wurde ein Kupferseil gehoben und bis zu einem Punkt, etwa in der Mitte des Sees, herausgezogen; von hier aus führte es dann senkrecht auf den Seegrund. Durch plötzlich auftretenden Sturm wurde das Kupferkabel dann aber aus seiner Verankerung gerissen und konnte geborgen werden. An dem Kupferseil war nach Angabe des Herrn N. eine Plombe mit dem Prägedruck »Reichsschatzkammer«. Da in dem See eine Schwefelquelle vorhanden ist, die die Arbeiten unter Wasser ausserordentlich erschwert, kann sich der jeweilige Taucher nur sehr kurz an der vorerwähnten Stelle aufhalten.

Aus Kreisen der Bevölkerung ist der Firma N. berichtet worden, daß etwa 3-4 Wochen vor dem Zusammenbruch 2 LKW' s mit KZ-lern, die von höheren Offizieren bewacht waren, an den Alatsee fuhren. Daraufhin wurde für etwa 6 Stunden Fliegeralarm gegeben, sodaß die Bevölkerung nicht beobachten konnte, was im Einzelnen am Alatsee geschah. Auf den LKW' s befanden sich angeblich mehrere Kisten in der Grösse 50 x 20 x 20 cm. Die Kisten waren angeblich verlötet.

Herr N. betonte ausdrücklich, daß er, wenn etwa eine andere Bergungsfirma von mir eingesetzt werden sollte, dies unter allen Umständen verhindern würde, damit der Schatz nicht mehr geborgen werden könne. Mir wurde von dem von mir vorsorglich an den Alatsee entsandten Aufsichtsbeamten ferner mitgeteilt, daß ein amerikanischer Major mit 2 Zivilamerikanern in einem Opel-Kapitän mit deutscher Zulassungsnummer bereits zweimal am Alatsee war. Angeblich wollten die Amerikaner die Firma veranlassen, für Rechnung der Besatzungsmacht ein Einmann-Versuchs-U-Boot zu bergen, welches auf dem Grunde des Alatsees liegen soll.

In Vertretung

(Seuss)

Kluftingers Mund war staubtrocken. Er atmete schwer. Dann fiel ihm siedendheiß sein Besuch in Ackermanns Hotelzimmer heute Morgen ein. Mit zitternden Händen langte er in seine Tasche und zog das Papier heraus, das er von dort mitgenommen hatte. Er entfaltete es und betrachtete es nun zum zweiten Mal, diesmal allerdings mit anderen Augen. Da waren die Linien, die das Ufer markierten, die Straße nach Füssen, der Alatsee. Und da waren diese handschriftlich hinzugefügten Kreuze …

Er schlug sich gegen die Stirn. Hatte ihm seine Erkältung so die Sinne vernebelt? Wie hatte er das nur übersehen können!

Eilig hob er die Glasplatte, fischte die Dokumente heraus, lief aufgeregt den Gang hinunter und stieß die Tür zu Friedel Marx’ Büro auf. Die Köpfe seiner beiden Kollegen flogen erschrocken herum.

»Herrgott, wir waren wie vernagelt«, polterte Kluftinger. Mit seiner rechten Hand hielt er die Papiere in die Luft und rief so aufgeregt, dass sich seine Stimme dabei überschlug: »Eine Schatzkarte. Es ist eine Schatzkarte.«

Marx und Strobl blickten sich mit großen Augen an. Die Beamtin machte eine wegwerfende Handbewegung. Kluftinger warf die Tür hinter sich ins Schloss und rannte zu ihrem Schreibtisch und schrie:

»Haben Sie sich eigentlich schon mal Ihr eigenes Museum angeschaut?« Mit diesen Worten knallte er ihr die Dokumente auf den Tisch. Sie wollte zunächst gegen Kluftingers aufbrausende Art protestieren, überflog jedoch die Zeilen vor sich und blickte ihn dann erschüttert an. Nun trat auch Strobl zu ihnen, las und wurde bleich.

»Mein Gott«, flüsterte er.

»Wer kann was Genaueres darüber wissen?«, fragte der Kommissar.

Seine Kollegin überlegte kurz, dann sprang sie auf und sagte: »Es gibt da einen Historiker auf dem Schloss. Der weiß bestimmt was. Hier!« Mit diesen Worten warf sie Kluftinger seinen Mantel zu und sie stürmten aus dem Büro.

Friedel Marx hatte darauf bestanden, ihr Auto zu nehmen, um zum Schloss zu fahren. Schließlich kenne sie sich hier am besten aus und zudem habe sie in ihrem alten Subaru Allradantrieb.

Strobl war im Büro geblieben, falls Ackermann auftauchen oder sonst eine neue Entwicklung eintreten sollte.

Die ganze Fahrt über wippte Kluftinger nervös mit den Füßen. Erst als das Schloss vor ihnen auftauchte, wurde er etwas ruhiger. Kein schlechter Arbeitsplatz, dachte er sich. Erhaben ragten die Türme von Neuschwanstein über die verschneiten Baumwipfel. Wild hupend und mit aufheulendem Motor bahnte sich Friedel Marx den Weg vorbei an den Souvenirläden. Die Straße war noch mit einer dünnen Schneedecke überzogen und einmal musste Friedel Marx scharf bremsen, weil ein Asiate auf die Fahrbahn lief, um ein Foto zu schießen.

»Fahr heim zum Fujiyama!«, kommentierte die Polizistin das Verhalten des Touristen. Kluftinger quittierte dies mit einem missbilligenden Blick, den seine Kollegin nicht recht einzuordnen wusste. Sie zündete sich einen Zigarillo an, woraufhin Kluftinger schwer zu husten anfing und das Seitenfenster herunterkurbelte.

Seine Kollegin drosselte ihr Tempo kaum, als sie in den eigentlich für Autos gesperrten Weg hinauf zu Neuschwanstein und zur Marienbrücke einbog. Von der Brücke aus konnte man die berühmten Postkartenfotos vom Schloss schießen.

»Sakrament, schleicht’s euch halt«, schimpfte Frau Marx in Richtung der Touristen, die hier scharenweise den Weg bevölkerten. Dabei blies sie den Rauch in dicken Schwaden aus dem Mund.

Die Kutscher, die die Touristen für viel Geld mit ihren Gespannen nach oben beförderten, schienen im Gegensatz zu den Fußgängern weniger bereit, dem Auto, das ihrer Meinung nach hier nichts verloren hatte, Platz zu machen. Wütend drohten sie mit ihren Peitschen.

Da beugte sich Friedel Marx zum Beifahrersitz hinüber, um das Handschuhfach zu öffnen. Aus dem fielen erst dutzende leere, zerknüllte Zigarillopackungen, dann kam eines der Blaulichter mit Magnethalterung zum Vorschein. Grinsend setzte sie es aufs Dach und schaltete es ein.

»Ohren zuhalten«, brummte Friedel Marx noch.

Wie vom Blitz getroffen fuhren die Pferde zusammen und machten einen Satz an den Fahrbahnrand. Grinsend drückte Marx aufs Gas und schon nach kurzer Zeit hatten sie das Schlosstor erreicht. Im Inneren des Durchlasses hallte das Signalhorn so laut, dass sich die dort wartenden Besucher reflexartig die Ohren zuhielten. Endlich verstummte auch die Sirene. Beim Aussteigen bemerkten sie, dass die in der Schlange stehenden Besucher fast alle Kamera oder Fotoapparat auf sie gerichtet hatten.

Die Beamten liefen zum Informationsschalter, der sich im vorgelagerten Torbau befand. »Kenntat Sie mir a Information geaba, bittschee?«, fragte der Kommissar in viel breiterem Allgäuer Dialekt, als er ihn sonst benutzte. An Orten wie diesem war es ihm besonders wichtig, dass man ihn als Einheimischen wahrnahm. »Ei was wolle Se denn?«, fragte die Frau an der Kasse beiläufig, ohne zu Kluftinger hinzusehen – in tiefstem Hessisch.

»Polizei. Doktor Bandura, und zwar gleich!«, blaffte die Marx sie an.

»Moment …«, sie sah auf ihren Computerbildschirm, »Herr Doktor Bandura macht gerad eine Führung. Wenn Sie möschten, könnense noch dazustoßen, isch verständische den Kolleschn am Eingang.«

Als die Beamten an den Wartenden vorbei zum Eingang gingen, erhob sich aufgeregtes Stimmengewirr, ehe man ihnen die Tür öffnete und sie dann hinter ihnen schloss. Der Mann am Eingang beschrieb ihnen den Weg zu Banduras Gruppe und ließ sie dann allein zurück.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie die Ehrfurcht, die sie beim Anblick der gewaltigen Halle verspürten, abgeschüttelt hatten. Doch dann besannen sie sich wieder ihres Auftrages und begannen zu laufen. Den langen Gang im »Ritterhaus« entlang, einem Verbindungstrakt zum Hauptgebäude, durch prunkvolle Säle und Räume voller Gold und Silber.

Nachdem ob des anfänglichen Laufschritts sowohl Friedel Marx als auch Kluftinger heftig anfingen zu husten, beschlossen sie in stillschweigendem Einvernehmen, langsamer zu gehen. Der Thronsaal, den Kluftinger und Marx nach einigen Schlafgemächern der Dienerschaft erreichten, war leer. Obwohl sie es eilig hatten, blieben die Beamten kurz stehen, so sehr nahm sie der Anblick dieser prächtigen Halle gefangen. Eigentlich glich sie mehr einer Kirche als einem Festsaal. Das leuchtende Blau der Säulen, der Mosaikfußboden, der schneeweiße Marmor und das viele Gold boten einen überwältigenden Anblick, von dem sich die Polizisten nur mühsam losreißen konnten.

Durch das königliche Schlafzimmer, das Kluftinger wegen seiner dunklen, mit kostbaren Schnitzereien versehenen Eichenholz-Vertäfelung besonders gefiel, ging es in die Ankleide und das Wohnzimmer bis zur Grotte. Kluftinger war lange nicht mehr dort gewesen, aber jedes Mal jagte ihm dieses bunt beleuchtete Beispiel der bizarren Launen des Paradiesvogels, der einst über das Königreich Bayern herrschte, einen Schauer über den Rücken. Im ehemaligen Arbeitszimmer jedoch verharrte er für einen Augenblick ehrfürchtig. Er hatte einen Blick aus dem Fenster geworfen: Vor ihm lagen tief verschneit das Füssener und Schwangauer Tal. Dunkle Wolken drängten sich darüber zusammen. Der Anblick war atemberaubend.

»Können wir wieder?«, riss ihn die Marx aus seinen Gedanken. Weiter ging es die steile Wendeltreppe nach oben, die in einer großen Palme aus Stuck endete. Nun hörten die beiden eine Stimme hinter einer verschlossenen Tür.

Friedel Marx öffnete die Tür und sie betraten den riesigen Sängersaal im vierten, obersten Stockwerk des Schlosses. Hoch ragten die reich verzierten Wände, auf denen Szenen aus der Parzivalsage dargestellt waren, bis zu einer gewaltigen Holzdecke, die nach oben trapezförmig zulief. Von der Decke hingen vier riesige goldene Leuchter. Der Führer einer vielleicht fünfzehnköpfigen Gruppe nahm die hereinkommenden Polizisten zunächst gar nicht wahr. Mit monotoner Stimme beschrieb er den Raum: »… und der Saal ist in Teilen eine Kopie des Festspielsaals der Wartburg, in dem 1207 der Sängerstreit stattgefunden haben soll. König Ludwig, ein glühender Verehrer des Mittelalters und der Kompositionen Richard Wagners, konnte leider nie die Akustik dieses Raumes genießen. Die aus sechsundneunzig Teilen bestehende und bunt gefasste Fichtendecke sollte als Resonanzkörper ähnlich wie bei Streichinstrumenten den Ton der Musik verstärken. Wie kommen Sie hier herein und was kann ich bitte für Sie tun?«

Kluftinger hatte zunächst gar nicht bemerkt, dass der Mann am Ende ihn und seine Kollegin angesprochen hatte, so wenig unterschied sich die Anrede von dem leiernden Singsang seines sicher immer gleich lautenden Textes.

»Herr Doktor Bandura?«, fragte Kluftinger.

Bandura nickte. Unter seinem grünen Lodencape zeichnete sich ein massiger Körper ab. Oben war Bandura ganz schmal, mit hängenden Schultern, am Bauch und den Hüften aber derart voluminös, dass Kluftinger sich neben ihm vorkam wie ein Hänfling.

»Wir würden Sie gern in einer dienstlichen Angelegenheit sprechen. Kripo Kempten.«

Noch einmal sah der Mann auf und auch die Aufmerksamkeit seiner Gruppe war geweckt. Dann fuhr er in seinen Ausführungen fort und lenkte damit die Blicke der Touristen wieder auf sich. Schließlich ging er zu einer Tür an der Stirnseite des Raumes und öffnete sie.

»Ich darf Sie nun bitten, sich über die hundertsechsunddreißig Stufen der Wendeltreppe in die Schlossküche zu begeben, die für damalige Zeiten modernste Großküche Europas: Details können Sie den unten angebrachten Hinweistafeln entnehmen. Wir hoffen, die Führung hat Ihnen gefallen, und wir würden uns freuen, Sie bald wieder in einem Schloss der Bayerischen Schlösser- und Seenverwaltung begrüßen zu dürfen, ich darf Sie darauf hinweisen, dass auch in den Treppenhäusern, in der Schlossküche wie auch im schlosseigenen Andenken-Shop das Rauchen untersagt ist, bitte achten Sie auf der Treppe auf Ihren Kopf, die Tür ist nur einen Meter neunzig hoch, vielen Dank und auf Wiedersehen.«

Völlig ohne Modulation in der Stimme hatte Bandura seinen Text heruntergebetet. Als die Gruppe, die sich als Kirchenchor aus dem Bayerischen Wald entpuppt hatte, nach einem Kanon, der eilends wegen der einzigartigen Akustik angestimmt worden war, den Raum verlassen hatte, schob Bandura mit schwankenden Hüften seinen massigen Körper auf Kluftinger und Friedel Marx zu.

»So, was kann ich für Sie tun?«

»Kluftinger, Kripo Kempten. Das ist meine Kollegin, Frau Marx. Wir sind mit einigen Fragen gekommen, die Sie uns vielleicht beantworten können. Es geht um … warten Sie …«, Kluftinger reichte ihm das Schriftstück aus der Vitrine. »Es geht um die Vorgänge, die hier beschrieben sind.«

Bandura las sich das Papier kurz durch und gab es Kluftinger zurück.

Er holte tief Luft, seufzte und hob an zu reden: »Nun, ich weiß zwar nicht, warum sich die Kriminalpolizei dafür interessiert, ich will Ihnen aber gern sagen, was ich darüber weiß. Und das ist aus historischer Sicht vielleicht weniger, als Sie sich erhoffen. Ich kann Ihnen nämlich weder sagen, wo der Rothschildschatz abgeblieben ist, noch, wo Sie das legendäre Reichsbankgold finden.«

Kluftinger traute seinen Ohren nicht. Bandura hatte nun eine völlig andere Stimme, redete in lebendigem Tonfall.

»Es gibt natürlich einiges, was wir sicher wissen. Am Ende des Krieges, etwa ab 1943, ahnten viele längst, dass der deutsche Größenwahn in einem unvergleichlichen Debakel enden würde. Um für diesen Fall Sorge zu tragen, brachte man systematisch die Bestände von Museen, Kunstsammlungen, wissenschaftlichen Sammlungen und Bibliotheken in Sicherheit. Und Sicherheit, das versprach aus damaliger Sicht am ehesten die Provinz. Gerade die Allgäuer Kappellen, ländliche Schlösser und Pfarrhäuser wurden zur Sicherung der Kunst- und Goldschätze auserkoren.

Was damals alles in Kisten verpackt und an die verschiedensten Orte gebracht wurde, kann man sich gar nicht vorstellen. Ein Wunder, dass so vieles davon überhaupt jemals wieder aufgetaucht ist.

Wenn Sie so wollen, war ab 1943 das Allgäu mehr und mehr der Luftschutzbunker deutscher Kunst. 1946 gab es sogar sechs große Ausstellungen von Meisterwerken deutscher Kunst in Kempten und Memmingen, bevor die Bestände wieder auf die Museen und Sammlungen verteilt worden sind.

Aber zurück in die Wirren der letzten Kriegsmonate: Sonderkommandos wurden gebildet und generalstabsmäßig wurde die Verlagerung immenser Kostbarkeiten organisiert. Schätzungen gehen davon aus, dass das verlagerte Gut hier im Allgäu einen Wert von etwa fünfhundert Millionen Goldmark hatte. Und das Reichsbankgold ist dabei noch nicht einmal eingerechnet.

Nur vage kann man jedoch den Umfang der Beutekunst, die nach dem Krieg nie wieder aufgetaucht ist, benennen. Dazu gehört auch der Familienbesitz der Rothschilds. Diese Familie war damals in der ganzen Welt für ihren Reichtum bekannt. Zusammen mit den Rockefellers waren die Rothschilds so etwas wie die Finanzgeber der westlichen Welt. Sehr wertvolle Gemälde befanden sich bis zum Krieg in ihrem Besitz, etwa von Velasquez, van Dyck oder van Gogh. Vor allem für ihre einzigartige Sammlung von Rubinensembles wurde Baroness von Rothschild beneidet. Die Frau von Louis Rothschild, der von den Nazis gefangen genommen wurde, war außerdem eine große Liebhaberin von Schmuck. Und so ließ ihr Mann ihr zu jedem Fest ein Armband, einen Ring, ein Collier und Ohrringe aus den teuersten Rubinen machen, immer anders gefasst und immer in anderen Formen. Legendär sind etwa die Ohrringe mit Rubinen, die in Tränenform geschliffen worden sind. Die Roten Tränen, hießen sie.

Und die Familie sammelte natürlich die Mouton-Rothschild-Weine. Auch die Weinsammlung ist seit dem Krieg verschollen. In den achtziger Jahren ist einmal ein Lafite Rothschild von 1799 bei einer Versteigerung aufgetaucht. Da gingen die Gerüchte wieder los, ob dies eine Flasche der legendären Sammlung sei. Damals hat ein Deutscher die Flasche für eine halbe Million Mark gekauft. Stellen Sie sich vor, der Wein war noch trinkbar! Das ging durch die Medien. Da waren auch hier einige, die sich bei mir erkundigen wollten. So etwas legt sich wieder. Seitdem ist diesbezüglich jedenfalls wieder Ruhe eingekehrt. Bis heute.«

Bandura hatte ohne Punkt und Komma geredet. Kluftinger hatte ihn nicht unterbrechen wollen, deshalb hakte er erst jetzt nach: »Doktor Bandura, Sie haben vorhin gesagt, dass gegen Ende des Krieges Sonderkommandos gebildet wurden. Gab es hier in Füssen solche Kommandos?«

»Lassen Sie mich erst noch etwas zu den Rothschilds sagen. Was Sie noch nicht wissen, ist, dass ein großer Teil des Familienschatzes tatsächlich hier im Schloss gelagert wurde. Überwiegend wertvolle Gemälde.«

Kluftingers Kiefer klappte herunter.

»Jetzt freuen Sie sich mal nicht zu früh. Ebenso ist bekannt, dass das meiste davon noch im Jahr vierundvierzig von den Nazis nach Salzburg geschafft worden ist. Aber einiges blieb im Schloss. Das alles wurde sehr gut bewacht. Zwölf Kontrollpunkte mit zwölf Kontrolluhren waren hier installiert, zwölf zivile Wachen patrouillierten Tag und Nacht. Bis die Amerikaner kamen und alles übernahmen. Ob vorher doch noch mal was weggekommen ist, das ist Spekulation. Die Rothschilds haben selbst lange hier gesucht. Einer ihrer Anwälte hat sich hier rumgetrieben und auch ein paar Leuten gutes Geld für Informationen gezahlt.«

Kluftinger fragte noch einmal nach den Sonderkommandos.

»Ach wissen Sie, da gab es so viele. Bestimmt auch hier. Die wurden aus dem Boden gestampft, wenn es nötig war, und dann auch gleich wieder aufgelöst.«

»Halten Sie es für möglich, dass das NS-Regime die Sachen in Seen versenken ließ?« Der Kommissar hielt den Atem an. Plötzlich hatte er selbst die Szene vor Augen: Die letzten Kriegstage. Einige leichte Lastwägen und Motorräder. Junge Soldaten. Der See, der keine Geheimnisse preisgibt.

»Mit Sicherheit ist das geschehen. Die Alliierten haben aus einigen Seen und Weihern nach dem Krieg immer wieder verlötete Kisten herausgezogen. Sie müssen wissen, dass die meisten versteckten Beutegüter oder Schätze ja wieder aufgetaucht sind. Professionelle Schatzsucher sind damals durch halb Deutschland gezogen. Nur einige spektakuläre Dinge sind eben verschollen geblieben. Na ja, und seitdem kommen hier immer wieder Wünschelrutengänger und illegale Schatztaucher her …«, erzählte Bandura ruhig. Kluftinger war aufgeregt. Auf einmal verstand er.

»Was ist dran an den Gerüchten, dass im Alatsee noch Schätze liegen?«, wollte Marx wissen.

Bandura sah sie an und schüttelte den Kopf »Wenn ich zu hundert Prozent wüsste, dass da unten das Bernsteinzimmer oder irgendein Goldschatz liegt, dann hätte ich die nötigen Schritte bereits unternommen«, grinste er. »Im Ernst: Das sind Gerüchte, teilweise Berichte von Augenzeugen, die aber nicht mehr genau nachvollziehbar sind. Ich kann Ihnen da nichts Genaues sagen, tut mir leid. Es hält sich allerdings hartnäckig diese Geschichte von den Lastwagen mit den KZ-Häftlingen, die an den Alatsee gefahren worden seien. Dann habe es sechs Stunden lang Fliegeralarm gegeben, damit sich kein ungewollter Zeuge dorthin verirren würde.«

»Hat man denn jemals etwas im Alatsee gefunden?«, fragte Kluftinger.

»Kommt darauf an, was man unter ›etwas‹ versteht. Immer wieder waren und sind an den zugänglichen Stellen Leute mit Metalldetektoren unterwegs. Am Ufer, in den wenigen Flachwasserzonen. Nun war der See lange Zeit militärisches Sperrgebiet, wie Sie wissen müssen. Und da hat sich an Metall einiges angesammelt. Von spektakulären Funden weiß ich allerdings nichts.«

Kluftinger unterrichtete Bandura detailliert über seinen Fund in der Hütte des Schamanen. Als er geendet hatte, antwortete der Historiker unwirsch: »An die Schlösser- und Seenverwaltung hat bei diesem Fund natürlich niemand gedacht. Sagen Sie Ihrem Chef ruhig, dass für Dinge, die in bayerischen Seen liegen, die bayerischen Wasserwirtschaftsämter oder aber wir zuständig sind und nicht irgendwelche Kollegen aus Berlin, die Ihr Herr Lodenmacher da verständigt hat. Wann, sagen Sie, kommen die Herrschaften?«

Kluftinger war nicht auf die gereizte Reaktion Banduras gefasst gewesen. Er wollte auch nicht den Sündenbock für seinen Vorgesetzten abgeben. »Wie gesagt, es tut mir sehr leid, aber das hat unser Chef versaubeutelt. Die Herren müssten eigentlich heute im Lauf des Tages noch kommen.«

»Gut, auch bei Ihnen werden Funktionsstellen wohl nicht vorwiegend nach Qualifikation besetzt, wie? Na ja, warum sollte das bei der Polizei anders sein als in allen anderen Behörden«, schimpfte der Historiker und klang dabei ziemlich resigniert. »Wenn Sie dann bitte veranlassen, dass ich bei allen Aktionen hinzugezogen werde, ja? Ich bin hier noch bis sieben Uhr unabkömmlich, dann rufen Sie mich bitte an.« Bandura reichte Kluftinger eine Visitenkarte. Dann gab er zuerst Marx, danach Kluftinger die Hand und geleitete die beiden zur Tür.

»Wir sehen uns, Frau Marx, Herr Kluftinger«, sagte er zum Abschied und es klang wie eine Order.

Friedel Marx stellte jedoch noch eine Frage, die sie die ganze Zeit beschäftigt hatte: »Eine letzte Frage, Herr Bandura. Rein interessehalber. Sind eigentlich alle Führer hier im Schloss Historiker? Da sind Sie ja wohl reichlich überqualifiziert, oder?«

Bandura lachte verächtlich, bevor er antwortete. »Machen Sie Witze? Das sind Hausfrauen, Studenten und ehemalige Zeitsoldaten, die ins Berufsleben eingegliedert werden sollen. Völlig unqualifiziertes Pack. Ich bin im Laufe der so viel gepriesenen Verwaltungsreform dazu verdonnert worden. Der bayerische Staat möchte sich nicht mehr so viele Historiker in den Schlössern leisten. Alles sei schließlich zur Genüge dokumentiert, aufbereitet und erforscht. Letztes Jahr haben sie mich vor die Wahl gestellt: Ich hätte als Geschichtslehrer an eine Schule wechseln können. Das wäre mein Untergang gewesen! Und so muss ich zwei Tage in der Woche immer denselben Text aufsagen, den ich irgendwann selbst entworfen habe. Das macht sie mürbe. Sie stumpfen irgendwann völlig ab. Da ist es Ihnen auch egal, ob die Schulklassen, die hier durchgeschleust werden, zuhören, oder nicht. Ich lebe für die drei Tage, an denen ich meiner eigentlichen Arbeit am Schreibtisch und in den Denkmälern nachgehen kann.«

Kluftinger und seine Kollegin hatten beinahe Mitleid mit dem birnenförmigen Mann. Wahrscheinlich hatte er sich Frustspeck angefressen.

Bandura setzte nun wieder sein teilnahmsloses Gesicht auf und wechselte in den leiernden Singsang, den sie bei der Führung von ihm gehört hatten: »Ich darf Sie nun bitten, sich über die hundertsechsunddreißig Stufen der Wendeltreppe in die Schlossküche zu begeben, die für damalige Zeiten modernste Großküche Europas: Details können Sie den unten angebrachten Hinweistafeln entnehmen. Ich darf Sie darauf hinweisen, dass auch in den Treppenhäusern, in der Schlossküche wie auch im schlosseigenen Andenken-Shop das Rauchen untersagt ist. Bitte achten Sie auf der Treppe auf Ihren Kopf, die Tür ist nur einen Meter neunzig hoch. Vielen Dank und auf Wiedersehen.« Er seufzte tief und schloss die Tür hinter den beiden Beamten.

Wie auf Kohlen hatten sie über drei Stunden untätig in der Füssener Polizeistation gesessen. Nur Friedel Marx hatte kurz ihr Büro verlassen, um sich an der Tankstelle drei neue Schachteln Zigarillos zu besorgen. Schließlich könne es noch dauern, bis die Historiker aus Berlin endlich eintreffen würden. Von Lodenbacher hatten sie die strikte Anweisung erhalten, nichts mehr zu unternehmen, bis die Wissenschaftler bei ihnen wären.

»Pass auf!«, zischte Strobl Kluftinger zu, als er schließlich mit einem Mann und zwei Frauen Marx’ Büro betrat. »Da ist so eine Tussi vom BKA dabei, die hat’s furchtbar wichtig.«

Bundeskriminalamt? Kluftinger war beeindruckt. Mehr noch aber befürchtete er, dass die übergeordnete Behörde nun in die Ermittlungen eingreifen und alles über den Haufen werfen könnte.

»Marlene Lahm«, stellte sich eine der beiden Frauen vor und streckte ihm eine schlanke Hand aus ihrem cremefarbenen Mantel entgegen. Nach einer wohldosierten Pause fügte sie hinzu: »BKA.«

Kluftinger stellte sich und seine Kollegin vor. Aber bevor er irgendwelche Fragen stellen konnte, ergriff Frau Lahm das Wort: »Das sind Professor Timm und seine Mitarbeiterin Anna Schmidt aus Berlin. Wir möchten sofort diesen Ofen sehen.«

»Ja, ja, kein Problem. Das sind nur ein paar Minuten mit dem Auto. Aber soll ich Sie nicht erst einmal über alles Weitere informieren?«

Die Beamtin mit den kurzgeschorenen Haaren, die Kluftinger auf Ende Dreißig schätzte, schüttelte den Kopf. »Wir wissen Bescheid. Den Ofen bräuchten wir«, sagte sie kurz.

Der Kommissar atmete tief durch. Schon die zweite Frau in diesem Fall, die ihm Anordnungen erteilte. Vielleicht war es besser, wenn er ihnen vorerst nichts von dem Schatz erzählte. Auf ihrem Weg zum Auto wurde Marlene Lahm doch noch etwas gesprächiger: »Wir haben bereits Ihrem Vorgesetzten Herrn Lodenbacher erklärt, dass es hier um eine Sache höchster Wichtigkeit geht. Herr Timm und Frau Schmidt werden Ihnen das bestätigen.«

Kluftinger drehte sich zu ihnen um und die beiden nickten nur. Offenbar waren die Hierarchien bereits klar geregelt worden.

»Ich glaube, wir kriegen heute noch richtig Schnee«, sagte Kluftinger in die Stille, die seit einigen Minuten in Friedel Marx’ Auto herrschte. Sie waren gerade in der kleinen Holzhütte am Alatsee gewesen und hatten den Ofen in Augenschein genommen. Die Historiker schienen beeindruckt, während Frau Lahm ihren beherrschten Gesichtsausdruck behielt.

Norbert Schnalke dagegen war bleich geworden, als sie ihm mitteilten, was alles passieren könne, wenn er den Ofen weiter betreibe, es gebe da ganz fürchterliche andere Beispiele, wo selbst nach vielen Jahren alles unvermutet in die Luft geflogen sei. So schnell hatte Kluftinger noch niemanden ein Feuer löschen sehen.

Während des ganzen Rückwegs zum Auto hatten die Forscher dann mit Frau Lahm getuschelt, während der Kommissar und Friedel Marx schweigend hinter ihnen hergelaufen waren.

»Ich mach mal das Radio an«, sagte Kluftinger, als er die Stille kaum mehr aushielt. Es schien ihm, als heckten die drei Fremden, die im Fond saßen, buchstäblich hinter seinem Rücken etwas aus.

»… hat der Deutsche Wetterdienst eine Unwetterwarnung für das Voralpenland herausgegeben. Es ist mit starken Schneefällen, Sturmböen und Schneeverwehungen zu rechnen«, tönte eine Stimme aus dem Radio.

»Sag ich’s doch«, nickte Kluftinger zufrieden. »Bei so was lieg ich selten falsch, das merk ich im Bein.«

»Eine alte Kriegsverletzung?«, fragte Friedel Marx, ohne dabei die Straße aus den Augen zu lassen.

»Der Punkt geht an Sie«, grinste Kluftinger.

»Wie gedenken Sie nun fortzufahren?« Marlene Lahm hatte ihre Sprache offenbar wiedergefunden.

Kluftinger drehte sich auf dem Beifahrersitz um, obwohl ihm vom Rückwärtsfahren immer schlecht wurde, und sagte: »Hm, Sie sind ja über die gesamten Ermittlungen im Bilde, nicht wahr? Ich dachte, ich kümmere mich mal wieder um die Alten.«

»Die Alten?«

Kluftinger seufzte. Musste er ihr jetzt doch alles von Anfang an erklären?

Friedel Marx’ Stimme durchbrach seine Gedanken: »Klingt wie der Lodenbacher!«

»Was?«

»Im Radio. Klingt wie der Lodenbacher.«

Kluftinger spitzte die Ohren. Tatsächlich. Im Radio sprach ein Mann mit unverkennbar niederbayerischem Akzent, wenn auch nicht so ausgeprägt wie ihr Vorgesetzter. Er wollte sich schon wieder der Beamtin auf dem Rücksitz zuwenden, da hörte er, wie jemand im Radio sagte: »Welche Sensation, Herr Lodenbacher?«

Kluftinger schluckte. Blitzschnell drehte er lauter.

»Jo, wir hoben einen, ich dorf doch sogen, historischen Fund gemocht«, sagte er und der Kommissar merkte ihm deutlich an, dass er versuchte, möglichst hochdeutsch zu sprechen.

Alle lauschten gespannt dem Interview, in dessen Verlauf Lodenbacher immer wieder betonte, welche herausragende Leistung seiner Abteilung es gewesen sei, bei den von ihm geleiteten Ermittlungen dem Projekt Seegrund und damit der verschollenen Geheimwaffe der Nazis auf die Spur zu kommen.

»Wia weaden diesen einzigoartigen historischen Fund entsprechend behondeln und dia Eagebnisse notürlich donn dea Weltöffentlichkeit mitteilen!« Mit diesem Versprechen seines Vorgesetzten endete das Gespräch.

Ein paar Sekunden sagte keiner etwas, dann presste Marlene Lahm ein »Dieser Idiot!« zwischen den Lippen hervor. Kluftinger widersprach ihr nicht.

»Welcher Sender ist das?«, fragte unvermittelt Professor Timm.

»Radio Ostallgäu«, antwortete Friedel Marx.

»Ich schätze, dann haben wir bis morgen früh noch Ruhe.«

»Ruhe?« Kluftinger verstand nicht.

»Sehen Sie«, hob Timm an, »über die Wichtigkeit dieses Fundes hat Herr Lodenberger ja gerade ausführlich gesprochen. Er hat Recht, da gibt es keinen Zweifel. Genau deswegen hätte er es auch lieber für sich behalten sollen, fürs Erste. Nationalsozialismus verkauft sich in den Medien immer noch sehr gut. Denken Sie nur an den Film ›Der Untergang‹. Und wissen Sie, dass Hitlers Konterfei nach wie vor so oft wie kaum ein anderes als Titelbild auf Nachrichtenmagazinen auftaucht?«

Das war Kluftinger zwar neu, doch er sagte nichts.

»Ich erzähle Ihnen das, weil ich Ihnen begreiflich machen will, was Sie ab morgen hier erwartet. Die gesamte Medienlandschaft Deutschlands wird hier einfallen. Ach, was sage ich: Europas!

Wir hatten einmal einen Verdacht, einen Teil des Bernsteinzimmers in einem kleinen polnischen Dorf gefunden zu haben. Glauben Sie mir, nachdem das bekannt geworden ist, war da der Ausnahmezustand.

Als ein paar Tage später die Medienmeute wieder abgezogen ist, lag da kein Stein mehr auf dem anderen. Und das hier ist spektakulärer, glauben Sie mir. Wir haben noch Glück im Unglück, weil wir uns darauf vorbereiten können.

Das war jetzt erst mal ein kleiner Lokalsender, es wird, denke ich, bis morgen früh dauern, bis die großen Stationen und Zeitungen davon Wind bekommen. Aber dann …« Der Professor brachte seinen Gedanken nicht zu Ende.

Die kurze Ansprache verfehlte ihre Wirkung bei den Beamten nicht. Kluftinger schluckte, blickte zu seiner Kollegin und sagte dann seufzend: »Nur gut, dass sie noch nichts von dem Schatz wissen.«

»Welcher Schatz?!« Wie aus der Pistole geschossen kam die Frage von Frau Lahm.

Kluftinger biss sich auf die Unterlippe. Eigentlich hatte er es ihnen ja noch gar nicht erzählen wollen. Aber nun war es zu spät. Und irgendwann musste er ja doch mit der Sprache rausrücken. Also informierte er sie über die alten Männer, die Tauchgeräte, die Karte im Hotelzimmer und die Schatzlegende.

»Ich werd verrückt!« Der Professor ließ sich in die Lehne des Autositzes fallen. In seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Entsetzen und Faszination. »Sie sind auf Gold gestoßen, im wahrsten Sinne des Wortes.« Timm referierte noch einmal kurz über die Legenden um die Nazischätze ganz allgemein.

Der Kommissar drehte sich wieder nach vorne. Ihm war schlecht, aber diesmal kam es nicht vom Rückwärtsfahren. Er hatte das Gefühl, dass ihm die ganze Sache über den Kopf wuchs. Nazis, Goldschätze, Waffensysteme – er hatte doch eigentlich nur einen fingierten Tauchunfall aufklären wollen. Und jetzt das. Er spürte, wie seine Knie weich wurden.

»Wie spät ist es eigentlich?«, fragte er mit zittriger Stimme.

»Kurz vor zehn«, antwortete der Professor. »Meinen Sie. wir könnten noch schnell irgendwo einen Happen essen? Ich hab seit heut früh nichts mehr in den Magen bekommen.«

Sie hielten bei einer kleinen Wirtschaft am Ortsrand von Füssen. Es kostete sie einige Mühe, den Wirt zu überreden, noch etwas für sie zuzubereiten. Schließlich sei die Küche längst geschlossen. Doch nachdem die Beamtin aus Wiesbaden ihren Ausweis vorgezeigt hatte, war der Mann so eingeschüchtert, dass er sich verzog. Linsen mit Spätzle könne er warm machen, rief er aus der Küche zu ihnen, nachdem er bei seiner Frau nachgefragt hatte. Dazu habe er noch Wienerle. Und einen Apfelstrudel mit Vanillesoße als Nachspeise.

Erst, als sie alle etwas zu essen und zu trinken bekommen hatten, kam wieder ein Gespräch in Gang.

»Wir müssen den See sperren«, sagte Frau Lahm schließlich. »Können Sie das bis morgen veranlassen?«

Kluftinger nickte. »Kein Problem. Ich geb’s dann auch gleich an den Verkehrsfunk. Vielleicht halten wir so ein paar Reporter davon ab, überhaupt herzukommen.«

»Gut. Aber machen Sie’s bitte so unspektakulär wie möglich. Sie können ja sagen wegen Straßenarbeiten oder wegen Schneebruchgefahr.«

»Ich kümmer mich drum«, versprach Kluftinger. »Reicht’s Ihnen, wenn die Kollegen gleich morgen früh rausfahren?«

Lahm überlegte und sah zu Timm, der zustimmend mit dem Kopf nickte. »Ja, das wird sicher genügen. Wie wollen Sie nun fortfahren?«

Kluftinger war auf die Frage vorbereitet und er wusste genau, was er antworten würde. »Ich denke, es ist an der Zeit, noch mal die alten Herren einzubestellen. Wir können nicht warten, bis uns der Ackermann ins Netz geht. Es ist zwar spät, aber am liebsten würde ich es gleich noch veranlassen.«

Alle nickten und Kluftinger sowie seine Füssener Kollegin führten dafür einige Telefongespräche.

Dann widmeten sie sich alle wieder wortlos ihrem Essen. Etwa zwanzig Minuten später klingelte das Handy des Kommissars.

»Ja, Kluftinger … ah, Richard … nicht da? Hm, gut, weiß Bescheid.«

Er legte auf und blickte in vier fragende Gesichter. »Das war einer meiner Kollegen. Wagner, einer der Männer, von denen ich gesprochen habe, ist nicht zu Hause und auch sonst im Moment nirgends aufzutreiben.«

»Das geht ja schon gut los!«, seufzte die Marx.

Und sie behielt Recht, denn innerhalb der nächsten halben Stunde tröpfelten nach und nach die Meldungen über die anderen Männer ein, die alle ähnlich lauteten: nicht zu Hause, ausgeflogen, nicht auffindbar.

»Seltsamer Zufall«, murmelte Kluftinger, obwohl er an einen Zufall nicht glauben mochte.

Der Wirt, der um ihren Tisch herumschlich, unterbrach seine Gedankenkette. »Wenn Sie nichts dagegen haben, mir täten jetzt zusperren«, sagte er und deutete mit einer Hand auf die Tische in der Gaststube, die bereits alle verwaist waren.

Sie zahlten also und standen auf. Als sie hinausgehen wollten, klingelte Friedel Marx’ Handy. Die anderen gingen schon vor, sie blieb stehen und nahm das Telefonat entgegen. Als sie draußen zu ihnen stieß, war sie sehr aufgeregt.

»Ihr werdet es nicht glauben«, keuchte sie heiser. »Sie haben Pius Ackermann.«

Langsam fuhr das Stahltor der Füssener Polizei auf, um das gelbe Blinklicht tanzten dicke Schneeflocken. Hoffentlich ist die Garage geheizt, schoss es Kluftinger durch den Kopf: Die Kollegen hatten sie in eine Halle bestellt, in der Zoll und Polizei stichprobenartig Fahrzeuge, die ihnen bei der so genannten Schleierfahndung aufgefallen waren auseinander nahmen. Jetzt sollte dort Ackermanns Auto genau unter die Lupe genommen werden.

Auf dem Polizeihof hupte die Marx dreimal kurz, worauf sich eines der Rolltore der Garagen öffnete. Ein großer, dunkelgrauer Opel stand rückwärts in der Garage. Ein Mann mit kurz geschorenem grauem Haar stand links davon, neben ihm Strobl und zwei Polizisten in grünen Overalls. Dazwischen stand, mit dem Rücken zu ihnen, ein weiterer Mann.

Als Kluftinger aus dem Wagen stieg, nahm er mit Erleichterung zur Kenntnis, dass die Halle angenehm trocken und halbwegs warm war. Er zog sein nicht mehr ganz frisches Stofftaschentuch aus der Tasche und schnäuzte sich kräftig hinein. Dann bat er einen der Beamten, den Professor und seine Mitarbeiterin ins Hauptgebäude zu begleiten.

Kluftinger blickte auf die Uhr und erschrak ein wenig: Es war schon kurz nach halb zwölf und er hatte sich den ganzen Tag über nicht bei Erika gemeldet. Sicher, er hatte heute Morgen so eine Ahnung gehabt und sie vorsorglich gewarnt, dass es spät werden könne. Er beschloss, trotz der fortgeschrittenen Stunde noch kurz daheim anzurufen. Sicher würde Erika vor dem Fernseher schlafen und auf ihn warten. Nach der Strafpredigt seiner Frau, warum er sich denn nicht früher gemeldet habe, bereute er diesen Entschluss jedoch. Schnell beendete er sein Gespräch und hatte es schon wenige Sekunden später vergessen.

Als er näher zu dem Mann trat, den Strobl ihm als Pius Ackermann vorstellte, drehte sich auch dessen Begleiter um. Kluftingers Kiefer klappte nach unten: Es war Klaus, der penetrante Student aus Professor Guthknechts Forschungsteam. Der mit der Schiebermütze, der sich schon die ganze Zeit über so seltsam verhalten hatte! Unwillkürlich machte Kluftinger einen Schritt zurück. Er schluckte. Kurzzeitig drehte sich alles um ihn, und er hatte schon Angst, dass seine Erkältung ihn in die Knie zwingen würde, doch dann wurde alles ganz klar. Auf einmal formte sich aus dem chaotischen Haufen aus Theorien, Aussagen und Vermutungen ein Bild. Die Lösung des Falles lag vor ihm wie ein Puzzle, dessen System er endlich durchschaut hatte und das er nur noch zusammensetzen musste. Es würde nur noch einen Augenblick dauern, doch er brauchte Ruhe dafür.

»Fangt bitte gleich mal an! Ich muss noch über was nachdenken«, flüsterte er Friedel Marx und Strobl zu. Dann ging er ein paar Schritte zurück und ließ sein Gehirn arbeiten, ohne die anderen dabei aus den Augen zu lassen. Versatzstücke dessen, was Marx und Strobl fragten, drangen an sein Ohr und fügten sich in seinem Unterbewusstsein in das dort entstehende Gesamtbild ein.

Pius Ackermann protestierte zunächst lautstark gegen die vorläufige Festnahme, während Klaus sich im Gegensatz zu den bisherigen Zusammentreffen auffällig still verhielt. Pius Ackermann gab an, dass Klaus sein Neffe sei, er selbst auf dem Weg nach Pfronten in seine Pension.

Friedel Marx fragte Ackermann nun, was es mit der ominösen Karte des Sees auf sich habe, und bei der Antwort horchte Kluftinger auf: »Gute Frau, ich bin Geologe. Ich hatte einen Lehrstuhl in Rostock. Können Sie sich denn nicht vorstellen, dass mich ein Gewässer, das so viele Geheimnisse birgt wie der Alatsee, interessiert? Noch dazu, wo mein Neffe, der in meine beruflichen Fußstapfen tritt, eben dort als Teil eines Forschungsteams agiert?«

»Und wenn ich Ihnen sage, dass es sich bei dem Papier um eine Schatzkarte handelt?«, hakte Strobl nach, was Ackermann mit einem kehligen Lachen und dem in Kluftingers Augen reichlich deplatzierten Kommentar quittierte, ob Strobl zu viel Karl May gelesen habe. Strobl blieb jedoch völlig ruhig. Hätte Kluftinger diese Phrase von Ackermann an den Kopf geworfen bekommen, er wäre unter Garantie laut geworden.

»Wir wissen sehr wohl, was Sie und die anderen am Ende des Krieges am See getrieben haben«, setzte Marx sofort nach.

Das seien alles nur Spekulationen und Gerüchte, die sich über die Jahre verselbstständigt hätten, schimpfte Ackermann. Ammenmärchen, mehr nicht.

»Herrgott, was wollen Sie denn dann hier?«, schnauzte Marx ihn an und es war deutlich zu erkennen, dass ihnen allmählich die Fragen ausgingen. Egal, was sie von ihm wissen wollten, er wand sich wie ein Aal und schien für sie nicht zu fassen. Schließlich bestand er darauf, dass sie ihn gehen ließen. Und den verzweifelten Polizisten fiel tatsächlich kein triftiger Grund mehr ein, Ackermann und seinen Neffen, wenn Klaus das denn tatsächlich war, weiter festzuhalten.

Doch dann passierte etwas, das Kluftinger die Klarheit verschaffte, die er noch brauchte. Das letzte Puzzlestück fügte sich ins große Bild:

Die Marx zündete sich gerade einen Zigarillo an, woraufhin auch Klaus eine Schachtel Zigaretten hervorzog. Als er zum Feuerzeug griff fiel ihm dies jedoch aus der Hand, er musste sich bücken, um es aufzuheben. Der Kommissar kniff die Augen zusammen und nickte.

Auf die verzagt geflüsterte Frage seiner Kollegin, ob er denn keine Fragen mehr habe, man müsse die beiden sonst gehen lassen, reagierte Kluftinger gar nicht mehr. Stattdessen ging er zielstrebig und mit funkelnden Augen auf Ackermann zu, warf Klaus einen Blick zu, legte sich noch ein paar Worte zurecht, holte tief Luft und begann zu sprechen: »Wissen Sie, Herr Ackermann, woran ich am längsten zu kauen hatte? Was ich mir die ganze Zeit nicht erklären konnte? Dass es zwei Seiten, zwei Parteien gibt, die zum Seegrund wollen. Darauf bin ich, ehrlich gesagt, jetzt erst gestoßen, als ich Sie und Ihren …«, Kluftinger warf Klaus einen abschätzigen Blick zu, »… Ihren ›Neffen‹ zusammen gesehen habe. Dann ist bei mir endlich der Knoten geplatzt. Dass das so lange gedauert hat, lag wohl vor allem daran, dass alles auf den ersten Blick anders schien, als es sich dann in Wirklichkeit dargestellt hat.«

Marx und Strobl warfen sich fragende Blicke zu und zuckten mit den Schultern. Keiner wusste, worauf der Kommissar hinaus wollte. Atemlos lauschten sie und Marlene Lahm seinen Ausführungen.

»Zuerst war da mal der Tote, der gar keiner war. Mit Eltern, die gar keine waren. Der Kerl, ein Forscher, der gar keiner war, lag in einer Lache aus Blut, das, wie sich bald herausstellte, auch gar keines war. Am Anfang ermittelte ich also in einem Fall, der eigentlich gar keiner war. Und vielleicht wäre es dabei geblieben: ein ominöser Tauchunfall im Schnee. Aber da war dieses Zeichen. Als Sie nach der Wende zum ersten Mal hierher gekommen sind, Herr Ackermann, müssen Ihnen ja die Augen übergegangen sein. Überall stößt man hier darauf!«

Kluftinger ging auf den Opel von Ackermann zu und malte das Zeichen auf die verdreckte Heckscheibe.

»Letztendlich war es die maßlose Arroganz Ihrer Kameraden, die mir die Augen geöffnet hat. Kein Wunder: Ein Geheimnis, das über sechzig Jahre nicht gelüftet wurde, das scheint gegen alle Eventualitäten gefeit. Und dann wird man überheblich. Und von der Überheblichkeit ist es nur ein kleiner Schritt zum Leichtsinn.«

Kluftinger grinste versonnen und fuhr fort: »Aber der Reihe nach: Der Beginn dieses Falles führt uns zurück, weit zurück in die vielleicht dunkelsten Monate, die unser Land jemals erlebt hat. Es sind die letzten Wochen oder Monate des Krieges.

Alle, die nicht blind sind, sehen, dass es kein gutes Ende nehmen wird. Und man beruft alles ein, was zwei Beine hat, um zu gehen.

Aber Sie haben Glück, Sie werden nicht an die Front geschickt, um Ihren Kopf ins Feuer zu halten wie die anderen in Ihrem Alter. Nein, mit Ihnen allen hat man anderes vor. Sie steckt man in eine Sondereinheit. Es ist nur ein Befehl, der Sie alle zusammenführt, Ihrer aller Leben für immer verändert. Wie viele Kisten waren es denn, Herr Ackermann, die Sie damals, in einer dunkeln Nacht, im Alatsee versenkt haben?«

Kluftinger sah den alten Mann an, der aber wich seinem Blick aus und drehte den Kopf weg.

»Egal, wir werden es ja ohnehin bald erfahren. Sie und Ihre Kameraden wissen also selbst nicht genau, was in den Kisten ist, die Sie da transportieren. Aber in Ihnen reift eine Ahnung. Sie versenken die Kisten und versuchen, sich die Stelle zu merken. Doch das ist schwierig mitten in der Nacht. Ohne Kompass, ohne Navigationsgeräte. Aber davon verstehen Sie eh nichts. Sie sind Jungen, gerade aus der Pubertät heraus. Und so leisten die Kinder, denen man die Kindheit genommen hat, einen Eid. Irgendwann werden Sie zurückkommen. Sie alle zusammen. Und nachsehen, was in den vermaledeiten Kisten ist. Dann wird man gerecht teilen. Aber zu einem richtigen Bund gehört ein Zeichen. So stand es in den Abenteuergeschichten, nicht wahr? Was mir wirklich Respekt einflößt, ist, dass dieser Bund von Jungen, dass dieses Versprechen so lang gehalten hat. Vielleicht war es Ihr Stolz, ein so großes Geheimnis zu bewahren. Doch es gab etwas, das Sie nicht wussten.«

Kluftinger machte eine Pause und wartete, bis Ackermann ihn stirnrunzelnd ansah.

»Sie wussten nicht, dass der See noch zwei andere Geheimnisse barg. Geheimnisse, die aus dem See so etwas wie einen unbezwingbaren Tresor gemacht haben.

Erstens: Der Seegrund war aus damaliger Sicht nach menschlichem Ermessen und mit der damaligen Technik unerreichbar. Die Schwefelbakterien waren sozusagen das Siegel der Verschwiegenheit, das niemand durchbrechen konnte.

Zweitens: Die Nazis hatten Waffenversuche dort oben gemacht, hatten den See zum Sperrgebiet erklärt und möglicherweise ihre Superwaffe erprobt. Deshalb haben später auch die Amerikaner einige Jahre den See abgesperrt. Ohne je etwas zu finden. Oder haben sie es nur nicht bekannt gemacht?«

Bei der letzten Frage zuckte Ackermann leicht zusammen.

»Doch Ihr Krieg ist noch nicht zu Ende. Ganz am Schluss kommen Sie doch noch an die Front. Russische Gefangenschaft?«

Ackermann nickte zögerlich.

»Dann Ostdeutschland. Sie werden Geologe. Ich weiß nicht, wie es Ihnen ergangen ist. Aber es hat Sie nicht losgelassen, was? Die Kisten. Die Kameraden. Die sich ohne Sie weiterhin trafen. Wurde damals Ihr Hass gesät? Und der Zweifel? Wussten die anderen, was mit Ihnen passiert war? Und nach der Wende haben die anderen Sie einfach abblitzen lassen? Haben die Sie nicht mehr auf der Rechnung gehabt?

Jetzt wollten Sie bestimmt auch nicht mehr mit denen teilen. Aber die anderen haben Ihnen gedroht, stimmt’s? Ich habe einen entsprechenden Brief gelesen. Und dann wittern Sie endlich Ihre Chance. Bringen auf einem Kongress Professor Guthknecht auf die Fährte des Sees. Sie wissen, dass man für Ihr Unterfangen einen Roboter, gutes Equipment und nicht zuletzt die nötigen Genehmigungen braucht. Sie wissen also, dass der einzige Weg zum Seegrund über ein offizielles Forschungsvorhaben führt. Und jetzt kommen Sie ins Spiel, Klaus!«

Der Student schreckte auf und sah Kluftinger mit großen Augen an.

»Sie müssen einen Maulwurf in das Team einschleusen, Ackermann, jemanden, der Ihre Interessen im Auge hat. Mit all dem Equipment wird sich schon die Gelegenheit ergeben, irgendwann nachts auf eigene Faust loszulegen, nicht wahr? Sind Sie eigentlich wirklich sein Neffe?«

Klaus blieb starr.

»Egal. Was Sie nicht wissen, Ackermann, ist, dass die anderen ebenfalls einen Verbindungsmann platzieren: den Sohn Ihres Kameraden Johann Röck. Wie Sie Ihren Klaus ins Team gebracht haben, weiß ich nicht, vermutlich studiert er tatsächlich Geologie …«

Der Student nickte, ohne Kluftinger anzusehen.

»Die andere Seite hingegen ist nicht so zimperlich. Die tauschen kurzerhand einen Mitarbeiter des Projekts aus, den sie mit einigem Schweigegeld ins Ausland schicken und somit aus dem Weg schaffen.

Wann haben Sie gemerkt, dass Sie nicht der Einzige waren, der nicht an den Forschungen interessiert ist, Klaus? Und wie lange hat es dann noch bis zu dem Mordversuch gedauert?«

Klaus sagte kein Wort, stattdessen sah er regungslos zu Boden. Kluftinger blickte sich zum ersten Mal um, seit er mit seinem Monolog begonnen hatte. Alle sahen ihn gebannt an.

»Sagen Sie, haben Sie ihn im Morgengrauen erwischt, als er versucht hat, allein am Roboter zu hantieren? Wussten Sie bereits, wer er war? Haben Sie ihm angeboten, zu helfen? Sind Sie mit ihm auf eine Bootstour gegangen, von der es für ihn keinen Rückweg geben sollte?

Oder war es ganz anders? Hat er sich Ihnen offenbart, als er merkte, dass er es allein nicht schaffen würde? Oder hat er Ihnen sogar Geld geboten?

Eigentlich gleichgültig, denn was Sie erreichen wollten, hat nicht geklappt. Denn er hat überlebt. Und wieder macht Ihnen dieser mysteriöse See einen Strich durch die Rechnung. Wie ein Fanal breitet er seine rote Farbe über dem Sterbenden aus.

Ich hätte ihn sicher nicht gefunden, wäre nicht diese riesige Lache gewesen. An diesem Tag hat der blutende See eines seiner Geheimnisse preisgegeben.«

Zufrieden suchte Kluftinger die Blicke seiner nach wie vor bewundernd dreinschauenden Kollegen. Er genoss die Anerkennung, die sich in ihren Gesichtern spiegelte. Das stachelte ihn an, noch eins draufzusetzen: »Ackermann, wissen Sie übrigens, wann mir klar geworden ist, dass es zwei Seiten gab? Als das Forschungsmaterial verschwand.«

Eine Weile sagte niemand etwas und es schien, als lauschten alle dem Heulen des Windes, der draußen immer heftiger blies. Dann räusperte sich Strobl und fragte: »Warum bist du denn ausgerechnet dabei auf die Existenz von zwei Gruppen gekommen?«

Der Kommissar lächelte. »Der Bund der Alten wollte den Schatz heben und er hier wollte es verhindern. Eine Seite war ja bereits ausgeschaltet. Wieso hätten dieselben die Instrumente zerstören sollen? Dafür musste jemand anderes verantwortlich sein.«

Strobl sah ihn mit großen Augen an. Kluftinger war sich nicht sicher, ob er sich verständlich genug ausgedrückt hatte, aber er wollte sich damit jetzt nicht aufhalten. Zielstrebig ging er auf Ackermann zu. Mit forscherer Stimme als zuvor sagte er: »Wenn mich nicht alles täuscht, sind Sie gerade auf dem Weg zum See, nicht wahr, Herr Ackermann?«

Ackermann hatte die Veränderung in Kluftingers Auftreten ebenfalls bemerkt. »Also bitte, Herr Kluftinger, wo denken Sie hin?«, wiegelte er ab. »Mitten in der Nacht. In meinem Alter! Ich bin froh, wenn ich in mein Bett komme.«

Kluftinger lächelte selbstsicher. Er ging langsam um Klaus herum, der ihn fragend ansah. Mit einer plötzlichen Bewegung zog er ihm von hinten die Hose herunter. Er trug eine dieser weiten Cargojeans, die sich leicht nach unten ziehen ließ. Nicht nur der Student, auch die anderen waren sprachlos. Erst nach einer Schrecksekunde erkannten sie den Grund für Kluftingers seltsames Verhalten: Der völlig perplexe Student stand nicht etwa in Unterhosen da. Stattdessen kam ein schwarzglänzender Taucheranzug zum Vorschein.

Friedel Marx brach als Erste das Schweigen: »Respekt, Kollege Kluftinger! Das nenn ich Kombinationsgabe«, sagte sie und pfiff durch die Zähne.

»Es würde mich nicht wundern«, fuhr Kluftinger herablassend fort, »wenn wir im Kofferraum auch den Roboter finden. Eugen, mach doch mal kurz auf.«

Strobl ging in Richtung Auto. Im selben Moment setzte sich auch Klaus in Bewegung, wollte auf den Beamten zustürzen, doch er verhedderte sich schon beim zweiten Schritt derart in seiner heruntergezogenen Hose, dass er der Länge nach hinfiel. Dann drehte er sich auf den Rücken und strampelte wild mit den Füßen, um sich von seinen Fußfesseln zu befreien.

»Ich glaube, Sie legen ihm vorsichtshalber auch noch Handschellen an«, schlug Kluftinger einem der Polizisten vor. Er hatte Mühe, sein Lachen zurückzuhalten.

Strobl hatte mittlerweile den Kofferraum des Opels geöffnet und winkte die Kollegen zu sich. Kluftinger war der Letzte, der einen Blick in den Wagen warf. Von einem Tauchroboter war darin nichts zu sehen. Strobl hob einen Teppich nach oben, darunter fanden sich säuberlich in eine Decke gepackt zwei Jagdgewehre und ein Revolver.

Kluftinger war überrascht. Für einen Moment geriet seine Souveränität ins Wanken. »So, Herr Ackermann, jetzt sagen Sie mir sicher gleich, dass Sie gerade auf dem Weg zur Jagd waren. Nachtjagd am Seegrund, oder wie?«

»Na gut, das Spiel, das so lange gedauert hat, ist damit wohl aus«, hob der Alte mit sonorer Stimme an. »Sie waren brillant, Herr Kommissar, wirklich. Man kann sagen, dass ich in Ihnen wohl meinen Meister gefunden habe, und das gilt auch für die anderen.

Nur eines haben Sie nicht verstanden. Da sind Sie völlig auf den Holzweg geraten: Wir haben weder die Ausrüstung der Forschungsgruppe zerstört noch sind wir im Besitz des Tauchroboters.«

Kluftinger zog die Brauen nach oben. Sollte er sich wirklich getäuscht haben? Sollte er sich ein Kartenhaus gebaut haben, das nun mit einem Handstreich zum Einsturz kam? Seine Lippen bebten, als er Ackermann aufforderte, weiterzusprechen.

»Meine Kameraden hatten mit dem jungen Röck ihren Zugang zum See verloren.«

»Sie meinen also, die Alten, ich meine, Ihre Kameraden haben die Forschungen sabotiert, damit ihnen nicht durch Zufall oder absichtlich jemand zuvorkommt?«

»Verstehen Sie denn nicht?« Ackermann wurde laut. Es schien ihm nun ein Bedürfnis zu sein, die Sache gänzlich aufzuklären, um so Kluftingers Irrtum nachzuweisen. »Während wir hier palavern, sind die wahrscheinlich am See und heben die Kisten!«

»Ich bitte Sie! Es hat einen regelrechten Schneesturm draußen und es ist stockfinstere Nacht. So blöd werden die kaum sein!«

»Was meinen Sie denn, warum wir versucht haben, dort hinauf zu kommen, heute Nacht?«

Kluftinger wurde es heiß, sein Gesicht lief rot an. Natürlich! Deshalb die Waffen.

»Der Radiobeitrag …«, dachte er laut.

»Sicher!«, rief Ackermann. »Irgendein Idiot von Ihnen hat doch über die Medien die Sache mit der Geheimwaffe rausgeblasen. Das ist die letzte mögliche Nacht. Ab morgen bleibt da kein Stein mehr auf dem anderen. Die kämmen den kompletten Seegrund durch, das versteht sich doch von selbst!«

Kluftinger bebte innerlich. Ganz hatte er die Sache eben doch nicht überrissen. »Eugen, Frau Marx, Frau Lahm, wir fahren sofort los! Sie kommen mit, meine Herren«, sagte er, an die Polizisten gewandt.

»Und dass mir irgendjemand Verstärkung ruft!«