»Was forschen Sie denn hier so?«

»Nun, das wäre sehr kompliziert zu erklären. Laienhaft gesagt: Es geht um Geo-Biologie, um Einzeller, Mikroorganismen.«

Spätestens jetzt war Kluftinger der Mann unsympathisch. Er erinnerte ihn an einen anderen Akademiker, der ebenfalls einen Doktortitel trug und genauso gern mit seinem Fachwissen prahlte.

»Wann waren Sie das letzte Mal da?«, fiel Kluftingers Kollegin in das Gespräch ein.

»Vor zwei Wochen. Wir sind hier immer ein paar Tage vor Ort und dann wieder in München, um die Daten auszuwerten.«

Friedel Marx bohrte weiter: »In dieser Zeit, in der Sie nicht da waren, hatte dieser Bühler hier was zu tun? Ich meine, am See?«

»Hier? Auf gar keinen Fall. Wir machen das immer zusammen. Es wäre auch viel zu gefährlich, hier allein zu tauchen. Ausgeschlossen.«

Die Beamten blickten sich an. Da war er wieder, der Hinweis darauf, wie gefährlich das Tauchen in diesem See doch sei.

»Hören Sie, wenn’s jetzt nichts mehr gibt, ich hätte noch eine Menge Arbeit«, erklärte der Professor.

Kluftinger zog die Augenbrauen nach oben. »Wollen Sie denn nicht wissen, was mit Ihrem Studenten los ist?«

Peinlich berührt blickte Guthknecht sie an. Zum ersten Mal während des Gesprächs wurde er unsicher. »Na … natürlich. Ich …« Er räusperte sich. »Was ist mit ihm?«

Der Kommissar prüfte sein Gesicht einige Sekunden, bevor er antwortete. Es war dem Wissenschaftler deutlich anzumerken, dass er seine Reaktion gerne rückgängig gemacht hätte.

Kluftinger holte tief Luft und lüftete das Geheimnis: »Wir haben den Herrn … wie heißt er noch gleich?«

»Bühler, Jochen Bühler.«

»Also wir haben Herrn Bühler hier leblos gefunden, nur ein paar Meter von der Stelle entfernt, wo wir jetzt stehen. Er lag am Ufer, halbtot, ein Tauchunfall oder möglicherweise ein Verbrechen.«

Gespannt warteten die Beamten auf die Reaktion des Professors. Der starrte sie mit offenem Mund an. Er schien ernsthaft um seine Fassung zu ringen, dann flüsterte er: »Ist er …?« Er fürchtete sich davor, den Satz zu beenden. Kluftinger war sich jedoch nicht sicher, ob seine Sorge wirklich seinem Studenten galt oder nur der reibungslosen Fortsetzung seiner Studien – oder etwas ganz anderem.

»Nein, er lebt noch«, antwortete Marx. »Aber er liegt im Koma. Keiner weiß, ob er durchkommt.«

»Das ist ja … furchtbar. Ich muss das sofort den anderen sagen.«

Noch bevor ihn die Beamten daran hindern konnten, wandte sich der Professor um, rief seine Studenten zu sich und erzählte ihnen, was er erfahren hatte.

Sofort kam Bewegung in die Menschentraube, einige schüttelten die Köpfe, andere raunten sich etwas Unverständliches zu, manche wirkten bestürzt.

»Wird er durchkommen?«, wollte ein breitschultriger Blondschopf wissen.

»Wir wissen es nicht«, antwortete der Kommissar wahrheitsgemäß.

»Aber was wir wissen ist, dass er hier getaucht hat, am Wochenende. Kann sich jemand von Ihnen vorstellen, warum? Hat er irgendjemandem etwas gesagt?«

Wieder begann ein Gemurmel, doch keiner beantwortete die Frage.

»Wissen Sie sonst irgendwas?«

Allgemeines Kopfschütteln.

»Er war kein Streber oder so.«

»Wie bitte?« Eine glockenhelle Frauenstimme hatte sich zu Wort gemeldet, aber Kluftinger hatte nicht gesehen, wem sie gehörte, und blickte nun suchend in die Menschentraube vor ihm.

»Ich meine, er war keiner, der besonders engagiert war.« Die Stimme gehörte zu einer hübschen, pausbackigen Brünetten. »Ich glaube nicht, dass er uns mit seinen Forschungsergebnissen beeindrucken wollte.«

»Woher willst du denn das wissen? Ich würde ihm das schon zutrauen«, mischte sich der Blondschopf wieder ein.

»Also ich fand ihn ganz in Ordnung. Ziemlich bodenständig«, erklärte der Mann mit der Schiebermütze und den Kopfhörern. Dann mischten sich immer mehr in die Unterhaltung ein und es erhob sich ein unverständliches Stimmengewirr.

»Meine Damen und Herren«, rief Kluftinger und hob dabei die Arme wie ein Prediger, »es ist sehr gut, dass Sie sich da alle ihre Gedanken machen. Aber uns würde es sehr helfen, wenn Sie diese Angaben geordnet zu Protokoll gäben. Mein Kollege …« Er drehte sich um, überlegte kurz und fuhr dann fort »Meine Kollegin Friedel Marx wird heute bei Ihnen bleiben und Sie können ihr einer nach dem anderen erzählen, was Sie für wichtig erachten. Und danach erzählen Sie ihr bitte das, was Sie für unwichtig halten.« Er versuchte, im Gesicht seiner Kollegin eine Regung abzulesen, doch er konnte nicht erkennen, was sie von ihrer neuen Aufgabe hielt. Schließlich nahm er den Professor beiseite, um von ihm einige Details über dessen Forschungen zu erfahren. Vielleicht könnte er seine Aufgaben selbst einem Unkundigen wie ihm etwas genauer erklären.

»Es ist eine Zeitreise, die wir unternehmen«, gab der nun sehr bereitwillig Auskunft, offenbar bemüht, den schlechten Eindruck, den er durch sein Verhalten vorhin gemacht hatte, zu korrigieren.

»Eine Zeitreise?«, fragte Maier neugierig und schob sich zwischen die beiden. Er hatte seit jeher ein Faible für unerklärliche Phänomene.

»Ja, eine Reise in die Zeit, als die Erde noch von Lebewesen beherrscht wurde, die keinen Sauerstoff benötigten. Anaerob nennen wir das.«

Maier schnaufte. Offenbar war er enttäuscht, dass der Professor nur in einer Metapher gesprochen hatte.

»Sie werden es bestimmt nicht wissen, aber was wir hier am Alatsee haben, ist weltweit einzigartig. Eine Anomalie, die es in dieser Form sonst nirgends gibt. Nicht oft, jedenfalls.«

»Sie meinen die rote Farbe.«

Der Wissenschaftler war überrascht. »Genau. Woher wissen Sie das?«

»Weil ihr Student, den wir hier am Ufer gefunden haben, über und über damit bedeckt war.«

Der Professor sah ihn ernst an. Nach einer Weile antwortete er: »Das würde bedeuten, dass er an ganz bestimmten Stellen getaucht ist. Denn diese Kulturen gibt es nicht überall im See.«

»Und gibt es an diesen Stellen etwas Besonderes?«, fragte Maier schnell.

»Allerdings.«

Mit einem zufriedenen Lächeln sah Maier seinen Chef an. »Und würden Sie uns sagen, was das ist?«, bohrte er weiter, sah dabei aber nicht den Professor, sondern Kluftinger an.

»Na, eben diese rote Farbe.«

Kluftinger grinste und Maier lief rot an.

»Für Sie mag das nur eine seltsame Laune der Natur sein, für uns ist es eine Sensation, die noch ihrer Erforschung harrt. Sehen Sie: In den Flachwasserzonen bis fünfzehn Meter finden Sie ein intaktes Ökosystem vor. Indikatoren wie die sehr sensible Köcherfliege zeigen uns das, aber ich will Sie nicht mit biologischem Fachchinesisch langweilen. Gehen Sie tiefer, stoßen Sie an manchen Stellen auf purpurfarbene Schwefelbakterien. Wir vermuten, dass die Mineralien im Faulenbacher Tal für dieses Phänomen verantwortlich sind, aber das müssen wir erst noch untersuchen. Jedenfalls sind diese Bakterien in einer Größe und Zahl vorhanden, wie das sonst in keinem mir bekannten Gewässer der Welt der Fall ist.«

Professor Guthknecht ließ die Worte ein wenig nachklingen, was die intendierte Wirkung nicht verfehlte. Die Polizeibeamten hingen förmlich an seinen Lippen. »Wie gesagt, bis etwa fünfzehn Meter ist das Ökosystem intakt, danach kommt, in einer Tiefe zwischen fünfzehn und zwanzig Metern, die Todeszone. Es sind einzelne Stellen, drei bis fünf Meter lang. Da gedeiht nichts. Das ist absolut lebensfeindliches Gebiet. Als wäre es nicht von dieser Welt. Wie auf einem anderen Planeten sozusagen.«

»Ein anderer Planet also«, wiederholte Kluftinger nachdenklich. »Und was könnte einen veranlassen, sich allein auf diesen Planeten zu begeben?« Er war fast ein wenig stolz, dass er das Wortspiel so gewandt weitergeführt hatte.

»Das ist wohl die Frage. Aber ich fürchte, die müssen Sie beantworten. Unsere Fragestellungen sind rein wissenschaftlicher Natur.«

»Hm, na gut«, brummte der Kommissar, der einsah, dass er hier erst einmal nicht mehr weiterkommen würde. »Meine Kollegin ist ja noch vor Ort und auch wir werden uns bestimmt wieder sehen.« In den Ohren des Professors klang das ein bisschen wie eine Drohung, was von Kluftinger durchaus beabsichtigt war. »Eine Frage nur noch: Warum machen Sie das Ganze hier gerade im Winter und nicht im Sommer, da wäre das Tauchen doch bestimmt angenehmer. Der See ist ja kurz davor, zuzufrieren.«

Ein mildes Lächeln zeigte dem Kommissar, dass er sich als Laie geoutet hatte. »Es gibt mehrere Gründe. Einmal ist das hier ja ein Badesee. Den im Sommer für unsere Forschungen sperren zu lassen, wäre sicher schwierig. Aber der Hauptgrund ist, dass jetzt im Winter sozusagen alles konserviert ist. Die ›Todeszonen‹ wandern nicht, wir haben hier perfekte Bedingungen für eine längerfristige Beobachtung. Im Sommer wären die von uns untersuchten Gebiete einer zu hohen Fluktuation ausgesetzt.«

Kluftinger hatte zwar nicht das Gefühl, wirklich alles verstanden zu haben, aber er gab sich fürs Erste damit zufrieden. »Richard, wir packen’s«, sagte er und war froh, wieder ins Auto zu kommen, denn die Kälte hatte dem kränkelnden Kommissar zugesetzt und er fühlte sich schwach und ausgelaugt.

Während sie durch den Schnee stapften und mit einem kaum merklichen Grinsen der Kollegin zuwinkten, die inmitten mehrerer Studenten stand und eifrig notierte, was diese ihr erzählten, sahen sie sich die Gerätschaften an, die – zum Teil im Wagen und zum Teil draußen im Schnee – herumstanden: Auf einem Tisch stand ein Bildschirm, auf dem grüne Kurven leuchteten, daneben etwas, das wie eine kleine Spielzeug-Planierraupe aussah, auf die eine Kamera montiert war. Kabel kamen aus den Autos heraus, in denen Kluftinger ebenfalls einige Monitore entdeckte.

»Was das kostet!« Maier schüttelte den Kopf. »Und wer zahlt’s? Natürlich die Steuerzahler!«

»Wie dein Gehalt, Richie, wie dein Gehalt«, erwiderte Kluftinger kurz und Maier verkniff sich eine weitere Bemerkung.

Wortlos schritten sie zum Auto. Maier, weil er keine weiteren Spitzen gegen seine Person provozieren wollte, Kluftinger, weil er das unbestimmte Gefühl hatte, irgendetwas übersehen zu haben. Als sie im Wagen saßen und Maier den Zündschlüssel herumdrehen wollte, fasste Kluftinger ihn am Arm.

»Warte noch«, bat er und starrte nach draußen. »Kruzifix, diese Erkältung macht mich ganz damisch im Grind! Irgendwas war noch, irgendwas hab ich übersehen.«

Maier sagte nichts, er blickte den Kommissar nur gespannt an. Er wusste, dass es in solchen Fällen am besten war, ihn einfach nachdenken zu lassen. Nicht nur, weil es unangenehme Folgen haben konnte, das nicht zu tun. Es kamen oft die verblüffendsten Ergebnisse heraus, wenn sich sein Chef den Kopf zerbrach.

»Herrgott, ich bin doch ein Depp.« Kluftinger schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Wir müssen noch mal raus, los.«

Maier hätte zu gerne gewusst, weshalb sie nun noch einmal in Richtung See gingen, aber er traute sich nicht, zu fragen.

Schon von weitem winkte Kluftinger dem Professor zu und beschleunigte seinen Schritt, was ihn einigermaßen außer Atem brachte. Als sie ihn erreicht hatten, hatte der Kommissar Mühe, einen verständlichen Satz herauszubringen: »Ich hab grad beim Gehen gesehen, dass Sie so ein kleines Tauchgerät haben.«

Der Wissenschaftler blickte ihn mit großen Augen an.

»Wenn mich nicht alles täuscht, ist da eine Kamera drauf. Bedeutet das, dass Sie Aufnahmen unter Wasser gemacht haben?«

»Natürlich, das ist so üblich.«

»Auch von den Stellen mit der roten Flüssigkeit?«

»Gerade von denen.«

»Kann ich sie sehen?«

»Die Aufnahmen oder die Flüssigkeit?«

»Die Aufnahmen. Es wäre sehr wichtig.«

»Natürlich können Sie die sehen. Aber es ist viel Material. Ein paar Stunden. Da haben Sie einiges zu tun. Und ich sage Ihnen gleich: Das ist eigentlich vorwiegend eine trübe rote Suppe, die Ihnen nicht viel weiterhelfen wird. Ich mache Ihnen eine Kopie. Die kann ich dann ja Ihrer Kollegin mitgeben. Können Sie mit einer DVD etwas anfangen?«

»Gleich!«

»Wie bitte?«

»Ich möchte sie gleich sehen.«

Professor Guthknecht legte die Stirn in Falten. »Das sind, wie gesagt, mehrere Stunden, Und ich müsste jetzt auch erst alles heraussuchen und wo wir doch gerade am Aufbauen sind …«

»Bitte«, sagte Kluftinger, aber es klang eher wie eine Anordnung. Guthknecht verstand.

»Na gut, Sie sind der Chef.«

Wenige Minuten später standen Kluftinger, seine beiden Kollegen, der Professor, der es gerade noch so eilig gehabt hatte, mit dem Aufbau fortzufahren, und mindestens die Hälfte der Studenten um die geöffnete Heckklappe des VW-Busses herum, in dessen Fond sich ein Computer mit Flachbildschirm befand. Auf dem Schirm war nichts außer einer trüben, grün-braunen Flüssigkeit zu sehen, die bei jeder Bewegung des Kameraroboters träge waberte und blubberte. Das Wasser, das vom Ufer aus so klar aussah, war voller Schwebeteilchen, die im Kegel des Kameralichtes aufleuchteten. Nur daran war zu sehen, dass der Roboter überhaupt seine Position veränderte, denn ansonsten zeigte der Bildschirm nur undurchdringliches, dunkles Grün.

Kluftinger hatte sich etwas nach vorn gebeugt und die Augen zusammengekniffen. Er war angespannt und nahm deshalb kaum wahr, wie die Kälte immer weiter seine Beine entlang nach oben kroch. Auf beiden Seiten flankierten ihn seine Kollegen und blickten ebenso konzentriert auf das Bild, das sich scheinbar nicht veränderte. Keiner sagte ein Wort, nur das Schnaufen der Menschen war zu hören, die dicht beieinander standen und deren Atem sich über ihnen zu einer dampfenden Wolke vereinte.

So verging Minute um Minute, ohne dass sich die Anzeige merklich veränderte. Doch auf einmal zuckte etwas blitzartig durch den Scheinwerferkegel und Maier erschrak derart, dass er Kluftinger am Arm packte, so dass auch dieser zusammenschreckte.

»Nur ein Hecht, die trifft man da unten gar nicht so selten«, kommentierte der Professor und legte einen Finger auf die Lippen, um seine Studenten, die ihr Lachen ob der Reaktion der Polizisten kaum unterdrücken konnten, zur Disziplin zu mahnen.

Nach etwa zehn Minuten wurde das Bild plötzlich schwarz und kurz darauf zeigte sich am unteren Rand des Schirms ein rötliches Schimmern. Kluftinger hielt den Atem an. So etwas hatte er noch nie gesehen. Ihn schauderte bei dem Gedanken, dass er in diesem See bereits mehrere Male gebadet hatte.

Das Schimmern wurde intensiver und auf einmal zog eine rosa leuchtende Wolke durchs Bild. Das Ganze sah aus wie ein riesiger Organismus. Ähnlich einer Qualle schwappte das leuchtende Gebilde durchs Wasser, mal wurde es von dunkleren Schlieren durchzogen, mal schienen hellere Farbfontänen vor ihren Augen zu explodieren. Etwa eine Minute ging das so, dann wurde der Bildschirm wieder schwarz, schwärzer als er es zuvor gewesen war.

»Die Todeszone«, hauchte der Professor und Kluftinger wagte kaum zu atmen. Ehrfürchtig und ein bisschen ängstlich staunte er dieses Naturphänomen an, wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal ein Gewitter erlebt.

Dann zuckte es auf dem Schirm und es war nur noch Bildrauschen zu sehen.

»Das war’s«, sagte der Professor. »Haben Sie was entdeckt?«

»War das alles? Sie haben doch gesagt, dass es mehrere solcher Stellen gibt.«

Widerwillig nickte Guthknecht. »Ja, die gibt es. Wenn Sie die auch sehen …«

»Will ich.«

Der Professor gab einem Studenten ein Zeichen und dieser legte eine andere DVD in das Laufwerk. Wieder wurde der Bildschirm zunächst grün, dann braun, schließlich schwarz und begann dann rosa zu schimmern. Kluftinger merkte, dass seine Kollegen ungeduldig wurden. »Wollen wir sie nicht mitnehmen und daheim anschauen?«, fragte Maier, der seit einigen Minuten unruhig von einem Bein auf das andere stieg und seine Hände gegeneinander rieb. Er war völlig durchgefroren. Der Bildschirm wurde rosa, dann schwarz und das Bild begann zu rauschen. Der Student wollte gerade die DVD aus dem Laufwerk nehmen, da rief der Kommissar: »Stopp! Noch mal zurück.«

Entgeistert wurde er von allen angeblickt.

»Also, Herr Kluftinger, ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber da war nichts.« Friedel Marx steckte sich einen Zigarillo an und blies ihm den Rauch ins Gesicht.

Maier nickte. »Komm, keiner hat was gesehen. Lass uns das Zeug mitnehmen und verschwinden.«

»Da kann ich doch nichts machen, dass ich der Einzige bin, der nicht ganz blind ist«, blaffte der Kommissar zurück. »Ich hab was entdeckt, ganz sicher. Schon traurig, dass ich mit meinen verquollenen Schnupfenaugen besser sehe als ihr alle zusammen.«

Keiner traute sich mehr, etwas zu sagen. Der Student drückte eine Taste und das Bild ruckelte rückwärts. Als Kluftinger die rosa Farbe sah, rief er: »Stopp! Können Sie das ab hier auch langsamer abspulen?«

Auf einmal waren alle wieder still. Jeder versuchte zu sehen, was der Kommissar gesehen hatte.

»Da! Da war es!«, rief er.

Die Umstehenden sahen sich fragend an.

»Hurament, habt ihr’s immer noch nicht gesehen? Nur ganz kurz.«

Keiner antwortete. Kluftinger kamen plötzlich selbst Zweifel. Sollten ihm seine benebelten Sinne einen Streich gespielt haben? Nein, er war sich ganz sicher. Jetzt wollte er es wissen. Er kletterte halb in den Bus, blickte sich mit den Worten »Darf ich?« zum Professor um und berührte, als der nickte, mit dem Finger den Bildschirm. »Hier, diesen Bereich, können Sie den vergrößern?«

Der Student nickte.

»Und ganz langsam laufen lassen.«

Auf dem Bildschirm erschien, etwas unschärfer als zuvor, wieder die rote Flüssigkeit.

»Anhalten!« Heiser stieß der Kommissar den Schrei aus und bezahlte das mit einem Hustenreiz. Als der sich gelegt hatte, nickte er und blickte sich um. »Seht ihr’s jetzt?«

Wie an einer unsichtbaren Schnur gezogen beugten sich die Köpfe der Menschen, die um das Auto herum standen, nach vorn. Es dauerte ein, zwei Sekunden, dann sagte eine junge Frau: »Er hat Recht. Da ist was.« Das Gedränge um den Bus wurde größer.

»Tatsächlich. Sie müssen ja Augen wie ein Luchs haben«, flüsterte Guthknecht.

Damit schien der Bann gebrochen, denn auf einmal sahen es alle: Am unteren Rand des Bildschirms, dort, wo sich die rote Flüssigkeit langsam in tiefes Schwarz auflöste, ragte etwas heraus. Es war eine schwer zu identifizierende, zackige Form, die Oberfläche diffus, weil sie von einer dicken Sedimentschicht überzogen war. Aber das war garantiert keine natürliche Form, kein Baumstamm, der in den See gefallen war. Der Balken oder Träger oder was das auch immer sein mochte, breitete sich mehrere Meter nach beiden Seiten aus, verjüngte sich nach unten und verschwand schließlich in der undurchdringlichen Schwärze des Sees.

»Was zum Teufel ist das?«, entfuhr es Maier.

Die Antwort des Professors kam schnell, zu schnell, wie Kluftinger fand: »Ach, da wird mal irgendjemand was reingeschmissen haben. Vielleicht eine Angelrute. Oder es ist ein alter Steg oder ein Segelmast.«

Kluftinger musterte ihn streng. »Wie tief ist es an dieser Stelle?«, wollte er wissen.

»Also, ich weiß nicht so genau, vielleicht …«, der Professor ruderte mit den Händen, »um die achtunddreißig Meter.«

»Soso. Angelrute, was? Mit einer so langen und dicken Angelrute könnte man ja bequem nach Walen fischen!«

Mit hochrotem Kopf stotterte der Professor: »Na, ich dachte ja nur, ich meine …« Er nahm seine Russenmütze ab und kratzte sich am Kopf. Der Kommissar nahm überrascht zur Kenntnis, dass er überhaupt keine Haare hatte. Die voluminöse Fellkappe hatte ihn irgendwie einen dichten Haarwuchs darunter vermuten lassen.

»Sonst irgendjemand eine Vermutung, was das sein könnte?« Die Umstehenden zuckten mit den Schultern. »Vielleicht eine Kaffeekanne oder ein Fußballtor?«, schlug Kluftinger zynisch vor. »Nein? Gut, wir werden es ja sicher herausfinden. Bitte geben Sie uns doch eine Kopie dieser … Scheibe da.« Dann wandte er sich um und sagte laut: »Sie halten sich bitte alle zur Verfügung. Wir werden sicher noch weitere Fragen haben und auch noch weitere Male herkommen. Einstweilen bleibt meine Kollegin bei Ihnen und wird sich noch ein bisschen umhören. Bis dahin.«

Nach ein paar Schritten drehte er sich noch einmal um: »Wo wohnen Sie eigentlich?«

»Im Gasthof da drüben«, beeilte sich der Professor zu sagen.

»Na, ich hoffe, Sie haben einen unempfindlichen Magen«, murmelte der Kommissar und ging.

»Endlich, Richard! Endlich bewegt sich was. Jetzt wissen wir immerhin, um wen es sich dreht. Und auch mit den Bildern aus dem See kommen wir sicher weiter.« Kluftinger war voller Tatendrang, er freute sich regelrecht darauf, die DVDs im warmen Büro anzuschauen, vielleicht sogar auf Maiers Videoleinwand.

»Dieser Projektor, kann man da drauf auch diese Filme abspielen?«, erkundigte er sich bei der Rückfahrt.

»Auf dem Beamer, meinst du?«

»Ja, auf diesem Projektor halt …«

»Weißt du, das ist ja im Endeffekt nur ein Ausgabegerät wie ein Monitor oder ein moderner Flatscreen.«

Kluftinger sah Maier vorwurfsvoll an. Da sein Kollege wusste, wie sehr er diese »englischen Angeberwörter«, wie er sie immer nannte, hasste, präzisierte Maier: »Also, man kann ihn an jeden Lap … also an jeden tragbaren Computer anschließen. Nimm ihn dir halt auch mal mit nach Hause! Ich hab ihn am Wochenende schon ein paar Mal gehabt, um mir Filme anzusehen.«

Kluftinger verkniff sich um des lieben Friedens willen eine Bemerkung über den Umgang mit Staatseigentum. Den Rest der Fahrt hing jeder seinen eigenen Gedanken nach, die sie meist in die Tiefen des Sees führten, den sie gerade aufgesucht hatten. Als sie in Kempten die Residenz passierten, kam Kluftinger eine Idee. »Ich muss noch schnell was einkaufen in der Mittagspause. Beim Horten. Soll ich dich in der Stadt rauslassen oder willst du ins Büro?«

»Du, da geh ich grad mit.«

Das kam Kluftinger aber nun gar nicht gelegen: Schließlich wollte er nicht irgendwas kaufen. Nicht Kartoffeln oder ein paar Bleistifte. Es ging hier um etwas Sensibles, etwas geradezu Intimes, etwas, wobei der Kommissar lieber auf die Begleitung seines Kollegen verzichtete: Es ging um Erikas Weihnachtsgeschenk!

»Du, Richard, vielleicht lassen wir das. Ist sicher auch grad viel los, so mittags in der Stadt.«

»Ach jetzt komm, jetzt gehen wir halt, tät mir gerade gut passen. Ich brauchte nämlich noch ein Weihnachtsgeschenk.«

Das ließ die Sache natürlich in einem anderen Licht erscheinen. Wenn sein Kollege ebenfalls auf Geschenksuche war, dann würde er ihn kaum bei seiner stören können. »Gut, dann machen wir’s so«, willigte der Kommissar deshalb ein.

»Also, Richard, bis glei dann. Ich schau derweil mal ein bissle nach einem Geschenk für Erika rum …«, sagte Kluftinger.

»Da schließ ich mich an! Ich such nämlich auch was für meine Holde.«

Kluftinger biss sich auf die Lippe. Sein Kollege hatte seinen Wink nicht verstanden. Und Maier wollte er bei diesem denkwürdigen Ereignis als Letzten dabei haben. Kluftinger beschleunigte einfach seinen Schritt, da er hoffte, sich so seines Begleiters entledigen zu können. Und tatsächlich blieb Maier kurz darauf in der Elektronikabteilung hängen, wo er sich die neuesten Handys ansah. Gott sei Dank! Nun musste Kluftinger nur noch um zwei Ecken und dann unauffällig in den Damenwäschebereich einbiegen.

Für den Kommissar war der alljährliche Geschenkeinkauf ein Graus.

Dabei musste er ja nur für Erika etwas kaufen. Alle anderen Besorgungen machte seine Frau, einschließlich der Geschenke für seine Eltern. Auch für Markus hatte er noch nie etwas selbst gekauft, wenn man einmal von dem Elektronikbaukasten absah, den er mit viel gutem Willen seinem damals sechsjährigen Filius ausgesucht hatte, da seine Frau kurz vor Weihnachten krank geworden war. Das hatte allerdings bei der Bescherung zu einigen Verstimmungen geführt, denn der Baukasten war für Kinder ab zwölf gewesen – und wurde drei Tage später gegen einen ferngesteuerten Geländewagen umgetauscht. Aber auch ihre jetzige Arbeitsteilung hatte schon zu peinlichen Situationen geführt, wenn sich etwa seine Mutter mit Tränen in den Augen für das »wunderbare Präsent« bedankte und ihn fragte, wie er denn auf diese Idee gekommen war – und er nicht einmal wusste, was sie ihnen da unter den Baum gelegt hatten. So war er im Laufe der Jahre etwas aus der Übung gekommen, was das Schenken anging. Zwar wusste er wohl, dass viele Frauen gern Schmuck, Reisen oder teure Kleidung zu Weihnachten bekamen, von edlem Parfüm oder Kosmetika ganz zu schweigen. Aber Erika freute sich mehr über praktische Dinge, mit denen man auch etwas anfangen konnte. Glaubte Kluftinger jedenfalls. Zu Weihnachten hatte sie früher meist etwas für die Küche bekommen, gerne auch neue Errungenschaften der Technik wie ein Rotationsgrillgerät oder einen Heißen Stein, die man dann etwa dreimal verwendete: das erste Mal an Silvester, danach noch an zwei Geburtstagen. Den Rest ihres fast noch jungfräulichen Daseins fristeten sie dann ungenutzt im Schrank.

Kluftinger sah sich um. Er kam sich ein wenig deplatziert vor, hier, inmitten von Büstenhaltern, Strumpfhosen und knappen Tangas. Erleichtert nahm er zur Kenntnis, dass er außer einer älteren Dame und einem Ehemann, der ähnlich hilflos wie er selbst dreinblickte, der einzige Kunde in der Abteilung war.

Er beobachtete den anderen Mann aus den Augenwinkeln: Der steuerte ziellos zwischen den Wäschebergen umher und machte sich schließlich an einer Auslage mit rosaroten Tangaslips zu schaffen. Der kauft nie und nimmer für seine Frau ein, mutmaßte der Kommissar und verfolgte weiterhin dessen Einkauf, wobei er beiläufig und ohne wirklich hinzusehen die Artikel an einem Wäscheständer durchstöberte.

Ein Räuspern neben ihm ließ ihn kurz zusammenfahren: Die ältere Dame stand nun ebenfalls an dem Ständer und gab ihm zu verstehen, dass sie sich die Artikel auch gerne etwas näher ansehen würde. Erst jetzt sah er, wo er da eigentlich stand: In seiner Hand hielt er ein fleischfarbenes Stützkorsett. Mit hochrotem Kopf hängte er es zurück und eilte einige Ständer weiter. Als dabei sein Blick zufällig den des anderen Mannes traf, hätte er schwören können, dass ein Grinsen über dessen Gesicht huschte.

Der Kommissar sah sich nach einer Verkäuferin um. Normalerweise konnte er Beratungsgespräche bei Kleidungseinkäufen überhaupt nicht leiden, aber in diesem Fall war es etwas anderes: Diese Ecken der Geschäfte waren sensible Bereiche, in denen er ein Fremder, ein Eindringling war. Und er hatte das Gefühl, dass ihn die Kundinnen das mit missbilligenden, zumindest aber misstrauischen Blicken auch merken ließen. Ein »So, schon was gefunden, mein Herr?« ließ Kluftinger aufschrecken. Vor ihm stand eine Verkäuferin mittleren Alters.

»Äh, wie bitte?«, krächzte er. Seine Stimme war belegt.

»Sie suchen einen Bademantel für die Gattin?«

»Bademantel. Such ich. Ja.«

»Irgendetwas Besonderes, was Sie sich vorstellen?«

»Nein … ich meine … ja, einen Bademantel halt. Was Besonderes schon, ist ja ein Weihnachtsgeschenk.« Der Kommissar war, was solche Verkaufsgespräche anging, nicht eben versiert. Zumal, wenn es sich um Damenbekleidung drehte.

»Also, ich würde Ihnen zu einem edlen Modell von Gabbiani raten. Die sind außen aus Seide und innen aus einem ganz flauschigen Samtfrottee, das gefällt jeder Frau. Sehen Sie …« Die Verkäuferin entfernte sich ein Stück, ging zu einem Kleidungsständer und kam mit einem glänzenden, rosa-violett gestreiften Modell wieder. »Ist das nicht toll? Fühlen Sie mal …«

Zögerlich streckte der Kommissar seine Hand aus und strich schnell über den Stoff. »Ja, schön weich. Was kostet der?«

»Qualität hat natürlich ihren Preis. Ist auch von Gabbiani. Etwas Besonderes eben«, trällerte die Verkäuferin.

»Also …?«, hakte Kluftinger ungeduldig nach, wobei er insgeheim bereits wusste, dass Erika und der Gabbiani aus pekuniären Gründen wohl nicht zueinander finden würden. »Hundertfünfzig – mit einer sehr repräsentativen Geschenkpackung.«

Kluftinger musste schlucken, bevor er antworten konnte: »Dreihundert Mark? Für einen … Bademantel?« Das letzte Wort klang so abschätzig, als handele es sich dabei um eine ansteckende Krankheit. Soviel hätte er nicht einmal für eine Winterjacke, geschweige denn einen Skianorak, ausgegeben – und das, wo diese Kleidungsstücke aus erheblich mehr Stoff gefertigt waren als so ein lappriger Bademantel.

»Nicht ganz dreihundert Mark«, korrigierte ihn die Dame. »Ich sagte ja, etwas Besonderes.«

»In dem Fall tut es etwas weniger Besonderes auch. Ist schließlich nur für meine Frau und nicht für …« Er machte eine kurze Pause, um zu überlegen, wie er den Satz eigentlich hatte beenden wollen.

»Nicht für Ihre Freundin«, murmelte die Frau so leise in die Pause hinein, dass Kluftinger nicht hätte beschwören können, ob er richtig gehört hatte.

»Ich nehme den gelben Mantel hier. Wenn Sie mir den nett verpacken.« Er reichte der Dame ein schlichtes Modell aus Frottee.

»Bitte, wie Sie meinen. Der tut sicher auch seinen Zweck«, sagte die Verkäuferin und Kluftinger konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie dabei etwas enttäuscht klang.

Aber in ihre Enttäuschung mischte sich sehr schnell so etwas wie Kampfgeist wider die Sparsamkeit einfallsloser Ehemänner und sie fragte herausfordernd: »Wenn ich so indiskret sein darf, was bekommt die Gattin denn noch?«

Kluftinger zuckte zusammen: »Wie … noch?« Er war überrumpelt und überlegte kurz: »Blumen halt.« Er wollte vor der Verkäuferin nicht als geizig dastehen. Gleichzeitig ärgerte er sich darüber, dass sie ihm das Gefühl gab, sich rechtfertigen zu müssen.

Sie erwiderte nichts, sondern zog lediglich die Augenbrauen nach oben und wandte sich zur Kasse. »Reicht das vielleicht nicht? Ist es denn nicht mehr die Geste, die zählt?« Die Verkäuferin drehte sich um; er hatte ihre Herausforderung angenommen.

»Ich dachte nur … für einen Mann in Ihrer Stellung …«

Kluftinger stutzte. Kannte sie ihn? Er hatte sie mit Sicherheit noch nie gesehen – sein Personengedächtnis war legendär. Aber er war hin und wieder in den Medien, das brachte seine Stellung, auf die die Dame offenbar anspielte, so mit sich. Er musste dabei einen ungeheuren Eindruck hinterlassen haben und fühlte sich geschmeichelt.

»Wieso, hätten Sie noch einen Tipp?«, fragte er etwas sanfter als zuvor. Vielleicht würde er tatsächlich noch ein Geschenk …

»Dessous! Edle Wäsche, damit könnten Sie Ihre Frau mal wieder verwöhnen. Etwas Feines, was man sich selbst nicht gönnen würde.«

Unterwäsche? Das war dem Kommissar nun doch zu heikel.

»Also, meine Frau hält nicht viel von Reizwäsche«, wiegelte er ab.

Sie grinste: »Ich rede von Dessous, nicht von Reizwäsche.«

»Ach so, ja dann …« Die Situation begann ihm mehr und mehr zu entgleiten.

»Welche Größe bräuchten wir denn?«, insistierte die Verkäuferin und brachte den Kommissar damit gleich in die nächste Verlegenheit.

»Hm … mittel, würde ich sagen.«

»Ein wenig genauer brauchte ich es schon. Achtunddreißig? Na ja, eher vierzig oder zweiundvierzig wahrscheinlich, oder?«

»Vierzig, das müsste passen«, antwortete der Kommissar zögerlich, das war schließlich genau die Mitte.

»Gut, also, da würde ich etwas aus Satin empfehlen. Sehen Sie, hier wäre eine wunderschöne tannengrüne Kombination. Hätten wir aber auch in bordeauxrot. Das trägt sich sehr angenehm, ist im Sommer schön kühl und regt die Phantasie an …«, lächelte ihn die Frau seltsam wissend an. Da Gespräche über das, worauf die Verkäuferin offenbar anspielte, bislang nie das Kluftingersche Schlafzimmer verlassen hatten, wechselte er rasch das Thema: »Kostenpunkt?«

»Neunundachtzig. Mit Tanga, Rio oder Hipslip?«

»Hm?«, war das Einzige, was Kluftinger herausbrachte. Und das nicht einmal wegen des horrenden Preises: Sie hatte eine Frage gestellt, das merkte er an der Satzmelodie. Vom Inhalt der Frage kam ihm aber nur das Wort »Tanga« bekannt vor. Er wurde rot. So etwas würde Erika nie anziehen.

Da er nicht antwortete, fuhr die Verkäuferin fort: »Also Rio, das ist wohl am besten.« Er nickte.

»Schön. Welchen Cup?«

Kluftinger begann zu schwitzen, seine Wangen leuchteten.

»Die Körbchen …« Die Verkäuferin schien mit ihrer Geduld am Ende.

Da hellte sich die Miene des Kommissars auf: Natürlich, die Körbchengröße. Hätte sie auch gleich sagen können. Verschwörerisch beugte er sich vor und flüsterte mit einem verschmitzten Lächeln:

»Zwischen Orange und Grapefruit – genau richtig halt.« Dabei zwinkerte er der Verkäuferin mit einem Auge zu.

Sie sah ihn lange an, schüttelte dann langsam den Kopf und entgegnete mit einem Seufzen: »Also C-Cup. Ich empfehle Ihnen Bordeauxrot. Kann ich’s einpacken?«

Kluftinger dachte in diesem Moment nicht mehr an den Preis und nickte. Er wollte nur noch raus hier und diesen leidigen Einkauf abschließen.

»Na, Chef, du bist doch ein Romantiker, was? Schöne Farbe. Da wird die Erika aber eine Freude haben!«

Kluftinger hatte Maier überhaupt nicht kommen sehen. Der schlug seinem Vorgesetzten kumpelhaft auf die Schulter und schob noch hinterher: »Ich hab meiner was leuchtend Rotes gekauft – ganz knapp alles. Schau!« Maier schwenkte eine transparente Plastiktüte vor Kluftingers Gesicht.

Nächstes Jahr gibt es wieder Bücher, schwor sich der Kommissar.

»Schöne Idee, Chef, wirklich! Und Bordeaux, da liegen Sie sicher richtig. Wenn Sie mich fragen … was der Richard gekauft hat, wäre mir zu grell.«

Kluftinger antwortete seiner Sekretärin mit einem resignierten Kopfnicken. Maier! Sein Kollege hatte also mal wieder den Mund nicht halten können. Dabei waren sie noch gar nicht lange im Büro. Er war bisher lediglich dazu gekommen, Hefele und Strobl damit zu beauftragen, wegen des Mannes im Koma alles in die Wege zu leiten. Schließlich wusste man nun, dass es sich um Jochen Bühler aus Regensburg handelte. Richard Maier hatte diese Zeitspanne aber bereits genutzt.

Kluftinger würde ihn erst einmal eine Weile beschäftigen. Er bat ihn, sich die DVDs des Forschungsteams genau anzusehen.

Zweieinhalb Stunden später wusste Kluftinger, dass Jochen Bühlers Eltern, die ihren Sohn in Regensburg bereits als vermisst gemeldet hatten, morgen nach Kempten kommen würden. Seine Kollegen hatten ihn auch darüber informiert, dass Bühler wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni gewesen war – bis er irgendwann nicht mehr aufgetaucht ist. Kluftinger gähnte und blickte aus dem Fenster in die bereits weit fortgeschrittene Dämmerung. Dann stand er auf, packte seine Sachen und ging nach draußen. Den fragenden Blick seiner Sekretärin beantwortete er mit einem schwermütigen »Ich glaub, ich geh heut mal früh. Meine Erkältung.« Er hatte die Türe fast schon hinter sich geschlossen, da streckte er noch einmal seinen Kopf ins Zimmer: »Sandy, sagen Sie doch dem Maier einen schönen Gruß. Er braucht gar nicht heimzugehen, bevor er nicht das ganze Material durchgesehen hat, ja? Ich werde ihn dann so gegen acht im Büro anrufen, ob er schon Ergebnisse hat.« Dann schloss er mit einem zufriedenen Lächeln die Tür.

Am nächsten Morgen stellte Kluftinger gegen halb zehn seinen Wagen auf dem Parkplatz des Musicaltheaters in Füssen ab. Er war früh ins Büro gekommen und hatte versucht, bei der Stadtverwaltung Füssen Genaueres über den Alatsee herauszufinden. Man hatte ihn an den Leiter des Wasserwirtschaftsamtes verwiesen. Und nachdem sich der gerade bei einer Begehung des Forggensees befand, hatte Kluftinger sich erneut nach Füssen aufgemacht. Friedel Marx hatte er dazu verdonnert, die Aussagen der Studenten schriftlich niederzulegen, womit sie wohl den Hauptteil des Tages beschäftigt sein würde. Deswegen war seine Laune auch so gut, als er seinen Passat abschloss und in der schneidenden Kälte zum Seeufer lief. Zwar schien sich seine Erkältung allmählich zu einer Bronchitis auszuwachsen. Doch er war heute zum ersten Mal, seit er in diesem Fall ermittelte, wieder sein eigener Herr, ohne weibliche »Unterstützung«.

Ein eisiger Ostwind blies über die freie Fläche des Forggensees, der ohne Wasser so einladend wirkte wie ein Truppenübungsplatz in der russischen Taiga. Der Kommissar zog seinen Schal enger um den Hals und schlug seinen Mantelkragen hoch. Die wenigen Schneeflocken, die der Wind mit sich trieb, trafen sein Gesicht wie winzige Nadelstiche. Er ging noch einmal zum Auto zurück und holte seine Mütze heraus, eine »Dreizack-Skimütze«, in den Farbtönen grün, weiß und violett, die ihm seit den Siebzigerjahren jeden Winter den Kopf warm hielt. Seine Frau und sein Sohn aber sagten immer, sie sehe aus wie das Dolomiti-Eis, das ebenfalls aus dieser Zeit stammte. Kluftinger zog sie sich so tief ins Gesicht, dass die Ohren ganz bedeckt waren. Wie er damit aussah, war ihm gleichgültig – er wusste, dass er kein »Mützengesicht« hatte. Was er sich über sein Haupt zog, war also völlig egal.

Am Festspielhaus vorbei lief Kluftinger in Richtung des Ufers. Er stellte sich an die Böschung, die etwa einen Meter tief abfiel, und blickte über die Fläche, die im Sommer einen der eindrucksvollsten Seen hier im Allgäu bildete. Man hatte einen schönen Blick auf die beiden Königsschlösser, die, fern von allem Trubel, sogar dem Kommissar gefielen. Heute sah die weite Ebene des Seegrunds, die mit ihren Gräben und von Eis bedeckten Furchen an eine Wattlandschaft erinnerte, noch viel unwirtlicher aus als am letzten Sonntag, als er mit seiner Familie hier gewesen war. Damals hatte die Sonne geschienen und dem trockenen Seebett etwas von seiner bedrückenden, ja morbiden Erscheinung genommen.

Der Kommissar musste die Augen zusammenkneifen, so stark blies der Wind. Weit draußen auf der offenen Fläche nahm er eine Gestalt wahr, die er an ihrer Kleidung als Günther Steinle, den Leiter des Wasserwirtschaftsamtes Ostallgäu identifizierte. In dessen Büro hatte man Kluftinger nämlich gesagt, er könne Steinle gar nicht verfehlen, der trage bei der Arbeit stets einen leuchtgrünen Anorak. Der Kommissar vergrub seine Hände tief in den Manteltaschen, zog seine Schultern hoch und ging los. Zum Glück hatte er sich an diesem Morgen die dicken Winterstiefel angezogen. Gerade, wenn er erkältet war, litt er unter kalten Füßen, und so war es ihm auch egal, wenn ihn Mitarbeiter wie Familie mit seinen Nordpol-Expeditionsschuhen aufzogen. Hauptsache warm, dachte er sich.

»Herr Steinle?«

Der Mann im neonfarbenen Blouson schreckte ruckartig hoch. Er hatte ein paar Reagenzgläschen in der Hand, offenbar gefüllt mit Proben, die er gerade aus dem schlammigen Grund entnommen hatte. Mit erschrockener Miene sah er Kluftinger an.

»Entschuldigen Sie, darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Kluftinger.«

»Aha. Womit kann ich dienen?«

Der Mann im grünen Anorak blickte misstrauisch drein und sah sich um. Kluftinger konnte diese Reaktion gut nachvollziehen. Sicher hatte er sich hier, inmitten eines abgelassenen Sees allein gewähnt und nun stand plötzlich ein Fremder vor ihm.

»Kripo Kempten«, sagte der Kommissar schnell. »Ich hätte ein paar Fragen an Sie, Herr Steinle. Ihre Mitarbeiterin hat mir gesagt, dass ich Sie hier finden würde.«

Kluftingers Gegenüber schien erleichtert. »Heu, ist die Friedel Marx krank?«

»Ach, Sie kennen sich?«

»Die Friedel und ich, wir waren mal ein Paar … Aber das ist schon ewig her.«

Kluftinger konnte nicht glauben, was er da eben gehört hatte. Steinle, der lange, kräftige Mittfünfziger mit der markanten Nase wirkte recht attraktiv. Abgesehen vielleicht von seiner etwas zu hohen Stimme. Wahrscheinlich wurde er am Telefon für eine Frau gehalten und die Marx …

»Die war damals ein heißer Feger«, fuhr Steinle unvermittelt fort. Der Kommissar weigerte sich, zu glauben, dass er von seiner Füssener Kollegin sprach. »Wie dem auch sei, wir haben jetzt ab und zu beruflich miteinander zu tun. Es gibt hier viele Seen, Flüsse, Stauwehre. Man glaubt gar nicht, was im Wasser so an Unfällen und Selbstmorden alles zusammenkommt. Bei solchen Sachen kommt dann die Friedel immer.«

»Soso. Nein, Frau Marx ist nicht krank – von ihrem Husten mal abgesehen.«

»Der kommt vom Rauchen. Wie ein kaputter Ofen schlotet die!«

Kluftinger war verwundert, dass ausgerechnet Friedel Marx der »Eisbrecher« für ihre Unterhaltung war.

»Ich bin heute allerdings wegen einer anderen Geschichte da«, wurde Kluftinger wieder sachlich. »Es geht um den Alatsee.«

»Meine Güte. Wieder ein Taucher? Die lassen sich nicht aufhalten, diese Deppen! Dabei ist doch grad die TU München oben.«

»Sie haben Recht, es geht um einen Tauchunfall, allerdings im Zusammenhang mit dem Forschungsvorhaben.«

»Ach, und da gibt es Ermittlungen der Kripo? Was ist denn genau passiert?«

»Nun, wir müssen davon ausgehen, dass jemand beim Unfall nachgeholfen hat. Aber sagen Sie: Was ist am Alatsee so faszinierend, dass er die Taucher so magisch anzieht, obwohl jegliches Tauchen dort verboten ist?«

»Nun«, hob Steinle an und legte die kleine Schaufel weg, mit der er die Erdproben aus dem Seegrund gebuddelt hatte, »es sind sicher das Verbot und der Reiz des Ungewissen, was die Leute lockt. Die biologischen Gegebenheiten machen den See faktisch zu einem Buch mit sieben Siegeln. Das Milieu schafft so feindliche Bedingungen, dass es selbst für die erfahrensten Taucher mit der besten Ausrüstung gefährlich werden kann. Es gibt eine Menge Geheimnisse, die mit dem See zu tun haben – und dazu kommen mindestens noch einmal so viele Legenden, Sagen und Geschichten, die man sich zusammenreimt.«

»Sehen Sie, Herr Steinle, deshalb bin ich hier. Ich möchte von Ihnen Aufschluss genau über diese Punkte: Was macht diesen scheinbar harmlosen, idyllischen Gebirgssee im Ostallgäu so einzigartig, dass sich die Menschen auf ganz unterschiedliche Art und Weise immer wieder mit ihm befassen?«

»Puh, wo fangen wir da an?«, begann Steinle und stieß hörbar die Luft aus. »Wissen Sie was, bevor wir anfangen, höre ich auf.«

Er packte seine Sachen zusammen und schlug vor, ins Café des Musicaltheaters zu gehen, um einen heißen Tee oder Glühwein zu trinken. Er sei hier mit seinen Proben ohnehin fertig und bevor man noch länger in der Kälte stehe … Der Kommissar war einverstanden und so marschierten die beiden nebeneinander dort, wo sonst alles unter Wasser stand, ans Seeufer.