Halten Sie die Augen auf! Wie ein Echo hallte dieser Satz des alten Mannes in Kluftingers Kopf wider. Es war ein seltsames Treffen gewesen, das ihn weit zurück in eine Vergangenheit geführt hatte, die er bisher nur aus Büchern und Filmen kannte. Auch sein Vater hatte nie viel über den Krieg erzählt. »Alte Leichen soll man nicht wieder ausgraben«, hatte er immer gesagt, wenn die Sprache darauf gekommen war. Und erst jetzt wurde Kluftinger bewusst, dass er nie wirklich nachgefragt hatte. Wäre das nicht eigentlich die Pflicht seiner Generation gewesen: nachzufragen, nicht locker zu lassen? Viele hatten das getan, er selbst nicht. Eine Mischung aus Desinteresse und Angst vor den Antworten hatte ihn bisher davon abgehalten.

Ein heftiger Niesreiz lenkte seine Gedanken wieder ins Jetzt. Seine Taschenheizer hatten inzwischen ihren Dienst quittiert und waren hart und steif geworden. Er hatte gelesen, dass man sie eine halbe Stunde kochen musste, um ihnen die Energie zurückzugeben. Die trockene Luft des Heizgebläses im Auto kitzelte seine Schleimhäute.

»Haoaschissss!« Er nieste derart heftig in seine Hand, dass sein Nebenmann erschrocken zusammenfuhr.

»Gesundheit, Herr Kluftinger!«

»Vergelt’s Gott, Herr Steinle. Aber ich glaub, das ist schon zu spät.«

»Hört sich wirklich nicht gut an.«

Kluftinger suchte in seiner Jacke nach einem Taschentuch, das noch zu gebrauchen war, stieß aber nur auf solche, die bereits weit über ihr Fassungsvermögen beansprucht worden waren.

»Könnten Sie mir mal im Handschuhfach schauen, ob da noch ein Taschentuch drin liegt?«, bat er seinen Beifahrer.

Steinle kramte darin herum, schob vergilbte Kassettenhüllen mit Titeln wie »Wunderbare Heimat« und »Zauber der Gitarre« beiseite, grub sich durch eine Schicht durchgebrannter Glühbirnchen, alter Parkscheine und Türschloss-Enteiser, bis er schließlich fündig wurde. Als er das Stofftuch dem Kommissar reichte, fiel sein Blick auf die Stickerei: »A.I.K. … Ihre Initialen?«, fragte er.

Kluftinger verdrehte die Augen: »Ja, so ein Tick meiner Mutter. Sie stickt mir heute noch Buchstaben in alle möglichen Dinger: Socken, Hemden und eben auch Taschentücher.«

»Finde ich eigentlich ganz schön«, kommentierte Steinle. »Das gibt es ja kaum noch, heutzutage ist ja alles zum Wegwerfen.«

»Auch wieder wahr«, nickte der Kommissar und trötete dann lautstark in sein Taschentuch.

»Wie fanden Sie eigentlich den Martl?«, wollte Günther Steinle wissen, nachdem er sich mit einem Blick versichert hatte, dass Kluftinger fertig geschnäuzt hatte.

»Hm, ich fand, er wirkte sehr klar im Kopf. Gar nicht wie ein Spinner.«

»Ja, deswegen hab ich Sie ja hingebracht. Aber ich glaube, im Laufe der Zeit hat er sich so in seine Geschichte verrannt, dass er selbst nicht mehr genau weiß, was daran wahr ist und was nicht.«

»Aber Sie glauben ihm doch?«

»Ich halte ihn jedenfalls nicht für verrückt wie viele andere hier. Er hat hier einen Exotenstatus, der ihm einerseits eine gewisse Narrenfreiheit beschert, andererseits aber auch dazu führt, dass ihn keiner mehr ernst nimmt.«

»Bis auf Sie.«

»Zum Teil eben. Wie ich sagte: Man weiß, dass das Gelände irgendwie militärisch genutzt wurde. Aber wofür genau, das ist bis heute nicht wirklich klar.« Nach einer nachdenklichen Pause fuhr Steinle fort: »Vielleicht ist das der beste Beweis dafür, dass Bartenschlager Recht hat.«

Kluftinger kam nicht mehr dazu, weiter zu fragen, denn sein Mitfahrer streckte die Hand aus und rief: »Da vorne können Sie mich rauslassen.«

Als er allein Kurs auf Marx’ Büro nahm, merkte er erst, wie erschöpft er war. Der Tag hatte viele Überraschungen für ihn bereitgehalten, und er hatte das Gefühl, etwas Großem auf der Spur zu sein. Etwas zu Großem vielleicht, und dieser Eindruck behagte ihm gar nicht. Wie ein dunkler Schatten hatte sich plötzlich die Vergangenheit über seine aktuellen Ermittlungen gelegt. Eine Vergangenheit, die … Mit aller Kraft stieg Kluftinger aufs Bremspedal und wurde von seinem abrupten Manöver gegen den Sicherheitsgurt gepresst. Ein Hupkonzert hinter ihm machte ihm klar, dass der nachfolgende Fahrer nur mit Mühe einen Auffahrunfall verhindert hatte. Er brauchte ein paar Sekunden, dann hatte er den Schreck über sein eigenes Handeln überwunden. Er hatte soeben etwas gesehen, eigentlich mehr wahrgenommen, unterbewusst. Etwas, das ihm durch alle Glieder gefahren war. Er schaute in den Rückspiegel. Da war es: Auf dem Schild des Tauchladens, den sie erst vor wenigen Tagen besucht hatten, prangte das Zeichen aus dem Schnee.

Als Kluftinger auf den Eingang zuschritt, war er sich nicht mehr so sicher, ob es wirklich das gesuchte Symbol war. Er hatte es beim Vorbeifahren spiegelverkehrt gesehen und sofort diese Assoziation gehabt, aber jetzt sah es eigentlich ganz anders aus. Das erklärte auch, warum es ihm bei seinem ersten Besuch nicht aufgefallen war: Das Schild über dem Eingang zeigte, sehr stilisiert, aber doch erkennbar, eine Hand, deren Zeigefinger und Daumen einen Kreis formten. Die drei anderen Finger waren fächerartig abgespreizt.

Zögerlich öffnete der Konamissar die Türe. Wie beim letzten Mal erklang ein melodischer Klingelton, doch diesmal empfing ihn nicht der sportliche Verkäufer.

»Grüß Gott«, sagte eine attraktive Blondine mit Kurzhaarschnitt. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ja, Kluftinger, Kriminalpolizei. Ich war neulich schon mal hier, da hat mich ein Mann bedient … ich meine, er hat mit mir gesprochen. Der Inhaber, denke ich. Ist er da?«

Als der Kommissar das Wort »Kriminalpolizei« erwähnte, nahm das Gesicht der Frau einen besorgten Ausdruck an.

»Fred … mein Freund … also der Besitzer des Geschäfts ist hinten im Lager. Soll ich ihn holen?«

Kluftinger überlegte kurz. Eigentlich konnte sie seine Fragen ebenso beantworten.

»Nein, danke, nicht nötig. Ich habe nur eine Frage: Was bedeutet das Zeichen auf Ihrem Schild?«

Die Frau sah ihn verständnislos an. Kluftinger wiederholte seine Frage.

»Sie meinen das auf unserem Firmenschild?«

»Genau das. Diese Hand mit den abgespreizten Fingern.«

»Das ist ein internationales Tauchzeichen. Es heißt soviel wie ›Alles in Ordnung‹.«

»Das würde ja passen …«, murmelte der Kommissar.

»Wieso? Stimmt damit was nicht?«

»Doch, doch«, antwortete Kluftinger und hätte beinahe selbst das Zeichen gemacht, um ihr zu signalisieren, wie sehr sie ihm geholfen hatte.

Kluftinger hatte sein Auto noch nicht erreicht, als sein Handy klingelte. Er sagte wenig, und als er aufgelegt hatte, drang ein tiefer Seufzer aus seinem Mund. Seine Frau hatte ihm gerade mitgeteilt, dass er gar nicht erst nach Hause zu fahren brauche. Stattdessen würden sie nach Füssen kommen, denn »die Kinder« – womit sie Markus und Yumiko meinte – hätten eine ganz tolle Überraschung für sie: Sie würden heute gleich ihr vorgezogenes Weihnachtsgeschenk bekommen – einen Besuch im »Ludwig-Musical« in Füssen.

Seine spärlichen Versuche, dieses nach Kluftingers Ansicht unangebracht harte Los noch abzuwenden, hatte seine Frau im Keim erstickt. Die Kinder hätten nur noch für heute Karten bekommen, und er solle sich nicht so anstellen wegen seiner Erkältung, denn wer arbeiten könne, könne sich ja wohl auch ein Theater anschauen. Auch alle anderen Ausreden wurden abgeschmettert: Die entsprechende Kleidung bringe sie mit und essen könne man im Festspielhaus.

Statt in den Feierabend fuhr er also zum Parkplatz des Theaters. Kluftinger war gespannt, wie seine Frau und seine Familie nach Füssen kommen wollten, schließlich besaß die Familie nur ein Auto. Ob Erika seine Eltern um deren Wagen gebeten hatte? Wahrscheinlich, dachte der Kommissar und hielt deshalb von nun an Ausschau nach einem weinroten Opel Vectra.

Plötzlich ließ ihn ein Hupen direkt hinter dem Wagen zusammenzucken. Er blickte sich um: Dort stand ein großer silbergrauer Mercedes. Auch das noch. Es war Langhammers Wagen! Er erkannte ihn an dem Schild, das der immer an der Windschutzscheibe angebracht hatte: »Arzt im Einsatz« stand darauf, und Kluftinger wusste, dass Langhammer es auch dann dort beließ, wenn er privat unterwegs war.

Die Tür ging auf und Erika stieg aus dem Wagen.

»Hast du lange warten müssen? Markus, parkst du und bringst mir noch meine Jacke mit? Ich bleib gleich beim Vatter!«

Markus? Warum fuhr Markus den Langhammerschen Mercedes?

»Hast du dir von denen das Auto geliehen? Warum jetzt das? Hättest halt meinen Vatter gefragt!«

»Wenn du dich mehr um deine Eltern kümmern würdest, wüsstest du, dass sie bei Bekannten im Schwarzwald sind. Mit dem Auto.«

»Ach so, stimmt ja«, brummte Kluftinger erleichtert. Ohne den Doktor schien ihm der Abend auf einmal wieder erträglich.

Als die anderen sich anschickten, den Weg vom Parkplatz zum Musicaltheater zu einem kleinen Spaziergang zu nutzen, hielt er sie zurück: »Wir fahren!«

»Aber Vatter, da dürfen nur Mitarbeiter rein«, protestierte Markus.

»Mitarbeiter und Polizei«, erwiderte Kluftinger.

Sein Sohn verdrehte die Augen: »Oh nein, nicht schon wieder. Bitte, wir haben einen Gast dabei.«

»Unser Gast fährt sicherlich auch lieber, anstatt durch die Kälte zu laufen, stimmt’s?«, sagte Kluftinger und blickte Yumiko dabei so überzeugt an, dass ihr keine andere Wahl blieb, als zuzustimmen.

Sie stiegen also wieder in den Mercedes ein, wobei diesmal Kluftinger senior das Steuer übernahm, weil er ja mehr Fahrpraxis habe, defensiver und umsichtiger fahre und vor allem als Einziger das Geld besitze, einen möglichen Schaden an der Medizinerkarosse zu ersetzen. Mit einem beleidigten »Alles klar« setzte sich Markus neben Yumiko in den Fond.

Unter nochmaligen heftigen Protesten seiner Frau und seines Sohnes fuhr er bis zur Schranke vor, drückte den Knopf für die Sprechanlage und verschaffte sich mit den Worten »Kluftinger, Kriminalpolizei« Einlass. Noch während sie ihr Auto parkten, rannte ein aufgeregter Mitarbeiter des Musicals zu ihnen und fragte, ob etwas passiert sei. Kluftinger, der damit nicht gerechnet hatte, fiel auf die Schnelle keine Ausrede ein. »Ich darf Ihnen dazu nichts sagen«, blaffte er den Mann scharf an, der augenblicklich schwieg. »Und Sie reden darüber auch nicht. Zu niemandem, hören Sie?« Er warf ihm noch ein paar unverständlich gemurmelte Sätze mit Worten wie »inkognito« und »Beschattung« hin und ließ den verstört wirkenden Mann dann auf dem Parkplatz stehen.

»Zieh dich am besten gleich mal um«, schlug Erika ihrem Mann vor, nachdem sie mit einem ehrfürchtigen »Oh« die helle Empfangshalle betreten hatte. Selbst Kluftinger war von der schlichten Eleganz angetan. Dann drückte Erika ihm eine Tüte mit den von ihm am Telefon georderten Kleidungsstücken in die Hand. »Da drüben«, fügte sie an, als er sich ratlos umsah, und zeigte auf ein Toilettenschild.

»Komm mal mit«, flüsterte Kluftinger seinem Sohn zu und ging in die gewiesene Richtung. Vor der Tür zum WC angekommen, sah sich der Kommissar verschwörerisch um und sagte: »Bleib bitte hier stehen und pass auf, dass keiner reinkommt.«

Mit großen Augen blickte Markus ihn an. »Spinnst du? Was soll ich denn machen, wenn jemand mal biseln muss? Sagen, dass da drin gerade eine geheime Polizeiaktion läuft?«

Kluftinger verzog das Gesicht. »Sehr komisch. Sag halt, dass das Klo geschlossen ist.«

»Sicher nicht. Zieh dich doch in einer Kabine um.«

»Die sind viel zu eng. Und soll ich meine Sachen dann so lange in die Kloschüssel legen?«

»Jetzt stell dich doch nicht so an.«

»Herrgottnochmal, tu halt auch mal was für deinen Vatter. Ich hab früher auch immer …«

»Jetzt geht die Leier wieder los. Also gut, geh schon rein.«

Mit einem zufriedenen »Na also« betrat Kluftinger das WC. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, tippte sich Markus mit dem Zeigefinger an die Stirn, schüttelte den Kopf und ging zu den beiden Frauen, die sich gerade im Souvenirladen umsahen.

In der Toilette hatte Kluftinger inzwischen seine Kleidung im gesamten Raum verteilt: Sein Sakko, seine Anzughose, das Hemd und die Krawatte hingen an der Türklinke einer jeweils anderen Kabine; seine gebrauchte Kleidung legte er ins Waschbecken, das er vorher mit der Tüte ausgekleidet hatte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er noch eine lange Unterhose anhatte. Da er keine kürzere bei seiner Frau bestellt hatte, er aber befürchtete, dass es ihm im Musical damit zu heiß werden könnte, begann er, das lange Modell über seine Knie nach oben zu krempeln. Genau in diesem Moment öffnete sich die Tür und ein Mann in dunklem Anzug mit samtroter Fliege betrat das Klo.

Ein paar Sekunden blieb der Mann entsetzt stehen, dann machte er auf dem Absatz kehrt und verließ die Toilette. Kluftinger stand wie erstarrt da und schluckte. Erst jetzt, nachdem der Mann das stille Örtchen bereits wieder verlassen hatte, kam die Scham in heißen Wellen und ließ seinen Kopf knallrot anlaufen. Er ging zur Tür und rief heiser flüsternd durch sie hindurch: »Markus?«

Keine Antwort.

»Markus, hörst du mich?« Draußen blieb es still. In Kluftinger keimte ein Verdacht auf. Hektisch sammelte er seine Sachen zusammen, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und zog sich in dieser Stellung heftig schnaufend um. Als er fertig war, stellte er sich ans Waschbecken und sah in den Spiegel: Um seine Augen lagen tiefe Schatten, seine Nase war vom vielen Schnäuzen gerötet. Er wusch sich das schweißnasse Gesicht, trocknete es mit einigen kratzigen Papierhandtüchern, band sich seine Krawatte und verließ die Toilette.

Als er die anderen wieder fand, die gerade in einem Bildband über Schloss Neuschwanstein blätterten, zischte er Markus zu: »Kreuzkruzifix! Wo warst du denn?«

»Du hast doch nicht im Ernst geglaubt, dass ich draußen stehen bleibe und für dich den Toilettenboy mache!«

»Wenn man einmal was von dir will …«

Erika unterbrach ihr wütendes Gezischel: »Wie schaust du denn aus? Bei der Krawatte muss das dicke Teil länger sein als das dünne, das ist dir schon klar, oder?« Mit diesen Worten löste sie seinen Knoten und band ihm mitten im Geschenkeladen die Krawatte neu. Er kam sich vor wie als Kind, wenn seine Mutter ihn mit einem mit Spucke angefeuchtetem Taschentuch das Gesicht abgewischt hatte. Genau genommen tat sie das heute immer noch manchmal.

Anschließend nahmen sie an einer »Backstage-Führung« durch das Theater teil. Alles war stilvoll und zurückhaltend gestaltet, um den Brunnen am Eingang waren elegant wirkende Marmorplatten verlegt und nur die Türgriffe und ein paar andere Details waren mit stilisierten Schwänen und silbernen Ornamenten verziert. Schon neulich, als er mit Günther Steinle vom Wasserwirtschaftsamt hier gewesen war, hatte ihn diese Schlichtheit beeindruckt.

Voller Stolz berichtete der ältere Herr, der die Führung leitete, von den technischen Möglichkeiten im Theater. Er klang dabei so, als gehöre ihm der Bau, fand Kluftinger.

Unter anderem gab es eine riesige, echte Wasserfläche auf der Bühne, die man öffnen und schließen konnte. Früher sei der Ludwig-Darsteller am Ende des Stückes in das Bassin gestiegen, das den Starnberger See darstellen sollte. Das Publikum habe immer gemutmaßt, er sei dann durch einen unterirdischen Gang am Seegrund wieder aus dem Becken gekommen. Sofort fühlte sich der Kommissar an seinen Fall erinnert. König Ludwig hatte in den dunklen Fluten seinen Tod gefunden – worauf würde er noch stoßen?

»Möchte jemand den Engel machen?«

Ehe Kluftinger die Frage ihres Führers verstanden hatte, hatte Markus bereits auf ihn gezeigt und alle anderen hatten zustimmend mit dem Kopf genickt. Schon wurde er in Richtung einer riesigen kreisrunden Scheibe geschoben, die von der hohen Decke im Bühnenturm hing.

»Das ist der Mond, in dem erscheint dem König während des Stückes mehrmals ein Engel«, erklärte der Führer und fuhr zu Kluftinger gewandt fort: »Wenn Sie bitte hier hineingehen wollen.« Dann zögerte er, taxierte den Kommissar und fragte vernehmlich: »Sie wiegen ja sicher nicht mehr als hundert Kilo, oder?«

Kluftinger blickte in die Runde und es schien ihm als warteten alle ungeduldig auf seine Antwort. »Sicher nicht«, log Kluftinger eilfertig.

Auf der Rückseite des Mondes befand sich der Einstieg in die Scheibe. Kluftinger konnte kaum etwas sehen, so dunkel war es hier hinten.

»Halten Sie sich gut fest«, rief der Mann. Da fing die Holzkonstruktion schon gefährlich an zu schwanken. Es dauerte einige Sekunden, bis Kluftinger begriff, dass er nach oben gezogen wurde.

»He!«, rief er. »Was soll das?«

»Ganz ruhig, gleich haben wir’s«, antwortete der Führer und fügte etwas leiser an seine Gruppe gerichtet hinzu: »Hoffentlich halten unsere Seile.«

»Das hab ich gehört«, schrie Kluftinger und löste damit glucksendes Gelächter aus. Bevor er noch etwas anderes sagen konnte, gingen die Scheinwerfer an. Erst jetzt sah der Kommissar, wo er war: Er schwebte mittlerweile etwa fünf Meter über dem Bühnenboden in der Scheibe. Vor ihm stand ein Gestell, das ihm bis zur Hüfte reichte. Erst wusste er nicht, wozu es gut sein sollte, dann erkannte er, dass es ein wallendes Kleid war. Seine Wangen leuchteten. Er sah auf die Bühne und blickte in die schadenfroh grinsenden Gesichter seiner Familie. Prima.

»Ich will sofort hier runter«, schrie er und begann, derart heftig hin und her zu schaukeln, dass es ein Bühnenarbeiter mit der Angst zu tun bekam: »Aufhören! Sie machen mir ja die ganze Deko kaputt. Ich lass Sie ja runter!«, brüllte er.

Unten angekommen wurde ihm von ihrem Führer ein kleines Foto in die Hand gedrückt. Es zeigte ihn mit verzerrtem Gesicht und berüschtem Kleid in der Scheibe. »Das große Bild kommt an unsere Fotowand«, sagte der Mann und klopfte dem völlig konsternierten Kommissar auf die Schulter.

»Das Zeug könnten wir gut fürs Freilichtspiel gebrauchen«, sagte Kluftinger, als sie beim Essen im so genannten Biergarten saßen, einem rustikal eingerichteten Lokal im Musicalbau. Das Freilichtspiel war ein Open-Air-Theater, das alle paar Jahre in Altusried aufgeführt wurde und in dem auch Kluftinger mit seiner Familie von Kindesbeinen an immer dabei war. Das nächste würde im kommenden Sommer stattfinden, die ersten Vorbereitungen hatten bereits begonnen.

»Ja, vor allem den Mond sollten sie bei uns auch einführen«, flachste Markus und handelte sich dafür einen strengen Blick seines Vaters ein.

Der Biergarten war trotz viel Beton und ein paar Hirschgeweihen eigentlich nett anzuschauen. Nur beim Blick auf die Wände an der Stirnseite schüttelte Kluftinger den Kopf: Sie bestanden aus Brennholzscheiten in Glasvitrinen. Für Kluftinger, den passionierten Kachelofenheizer, erschloss sich zwar der Heizwert des heimischen Fichtenholzes, nicht aber dessen dekorative Qualität.

Dann rieb er sich die Hände, denn endlich wurde das Essen gebracht. Er hatte sich für ein deftiges Gericht entschieden: Linsen mit Spätzle und Ripple. An die Nachteile von Hülsenfrüchten bei einem nachfolgenden Theaterbesuch dachte er erst, als der Eintopf bereits dampfend vor ihm stand. Eigentlich verwunderlich, dass hier so etwas überhaupt angeboten wurde. Kluftinger goss vorsorglich noch etwas Essig aus einer bereitstehenden Karaffe über die Linsen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass diese nie sauer genug waren.

Das weitere Essen verlief weitgehend wortlos. Bis zum Beginn der Vorstellung waren nur noch wenige Minuten Zeit und so war jeder damit beschäftigt, sein Essen möglichst schnell in sich hineinzuschaufeln. Als sie sich schließlich erhoben, verspürte Kluftinger ein unangenehmes Magendrücken und wollte sich noch einen Schnaps bestellen.

»Dafür haben wir jetzt keine Zeit mehr. Sonst fangen die noch ohne uns an«, hielt ihn seine Frau davon ab.

»Na hoffentlich haben die wenigstens bequeme Sitze, wenn ich mir die Schmonzette schon anschauen muss«, sagte Kluftinger leise zu Erika, als sie die meterhohen Eingangsportale zum Zuschauerraum durchschritten und nach ihren Plätzen suchten. Auch dieser Raum war schnörkellos gestaltet und wären nicht die weißen Gipsbüsten des ehemaligen Königs gewesen, hätte man sich eher an einen modernen Kinosaal erinnert gefühlt.

»Es ist ein Geschenk von deinem Sohn, außerdem sind wir im Theater, also benimm dich entsprechend«, zischte seine Frau und als Markus sich umdrehte, setzte sie übergangslos ein sonniges Lächeln auf.

Kluftinger nahm sich vor, lieber nichts mehr zu sagen. Er plante, sobald das Licht ausgegangen war, eine bequeme Sitzposition einzunehmen und bis zur Pause durchzuschlafen.

Doch er tat kein Auge zu. Nicht etwa, weil die Sitze zu unbequem waren oder die Musik zu laut: Das Spektakel auf der Bühne nahm ihn tatsächlich von der ersten Minute an so gefangen, dass er gar keinen Gedanken mehr an ein Nickerchen verschwendete. Riesige Aufbauten und spektakuläre Effekte ließen ihn staunend auf die Bühne blicken und sogar das Singen störte ihn nicht so sehr, wie er es befürchtet hatte.

Er war eigentlich kein Freund von Musiktheatern, ging nie in Musicals oder Opern und drückte sich, wenn das alljährliche Weihnachtssingen des Kirchenchors anstand. So wusste er auch nicht, ob es Kunst war, was sich da um den Märchenkönig auf der Bühne abspielte. Vermutlich nicht, denn dafür waren wohl zu viele Leute hier. Eigentlich war es ihm auch egal. Es gefiel ihm, das war die Hauptsache. Er stimmte ein rasselndes Lachen an, als Ludwigs Vater Max den Familiendespoten gab und als der seinen missratenen Sohn zurechtwies, stieß er Markus freundschaftlich in die Seite. Max war ihm von Anfang an sympathisch. Außerdem hatte er einen Bierkrug in der Hand, worum ihn Kluftinger in diesem Moment beneidete: Die trockene Luft im Zuschauerraum trocknete seine Schleimhäute restlos aus und seine Erkältung schien dadurch noch schlimmer; außerdem meldeten sich nun die Linsen und ließen ihn unruhig auf seinem Sitz hin und her rutschen.

Das Stück aber genoss er trotzdem. Nur einmal fiel sein Stimmungsbarometer rapide, als der Engel in der großen Kugel auf die Bühne herabgelassen wurde und sich Yumiko zu ihm herüberbeugte und sicher sehr nett gemeint – sagte: »Da waren Sie aber viel besser, Herr Kluftinger.«

Als sich nach etwa anderthalb Stunden der Vorhang zur Pause senkte, schaute er ungläubig auf die Uhr: »Schon so spät? Ich hab gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergeht.«

Seine Frau schien überrascht, aber zufrieden über seinen Kommentar. Als sie ihren Mann zärtlich anlächelte, schob er nach: »Ein bissle viel Gesinge halt.«

Als sie mit einem Glas Sekt im oberen Foyer an der Balustrade lehnten und durch die riesigen verglasten Fenster auf das gegenüberliegende Ufer des Forggensees blickten, seufzten sie allesamt.

»Schön, gell, Yumiko?«, stellte Erika mehr fest, als dass sie fragte. »Wie es so hell leuchtet!«

Yumiko nickte nur. Sie schien von dem Anblick tatsächlich ergriffen.

»Ja, ein Traum, da müsste man glatt mal hin, nachts«, stimmte Kluftinger zu.

Erika schüttelte den Kopf: »Da ist doch nachts zu.«

»Schmarrn. Was glaubst du, warum sie die beleuchten?«

»Die?«

»Na, die Piste halt.« Kluftinger zeigte auf die in gleißendes Licht getauchten Hänge der Tegelbergbahn.

Markus und Yumiko grinsten, seine Frau atmete tief aus: »Das hätte ich mir ja denken können: Wir stehen hier und bewundern ein Märchenschloss und du denkst nur ans Skifahren.«

Erst jetzt fiel dem Kommissar auf, dass auch das Schloss beleuchtet war, allerdings sehr viel schwächer als die Abfahrt. Das Schloss konnte man unter diesen Umständen schon mal übersehen, fand er. Unter Neuschwanstein sah man in gelblichem Licht die Umrisse von Hohenschwangau, dem kleinen, wie Kluftinger aber fand, schöneren Sommerschloss der Wittelsbacher.

Missmutig nahm er einen Schluck aus seinem Sektglas – und verschluckte sich beinahe daran. Sein Blick wurde starr und er fixierte das untere Foyer.

»Ist dir nicht gut?«, wollte seine Frau besorgt wissen.

»Hast du was,Vatter?«, fragte auch Markus.

Doch Kluftinger rührte sich nicht. War er blind gewesen? Zwei Stunden war er unten durch die Halle gewandert und es war ihm nichts aufgefallen. Doch jetzt lag es so klar und deutlich vor ihm, dass er anfing, an seinen Sinnen zu zweifeln. In der Mitte der Empfangshalle stand ein Brunnen, um diesen war mit marmornen Platten ein Kreis gelegt. Wie Strahlen führten drei Reihen Marmorplatten von diesem Kreis weg, um dann einen Knick zu machen. Vor ihm, daran gab es keinen Zweifel, lag das Zeichen, das der junge Mann mit der roten Flüssigkeit in den Schnee am Alatsee gemalt hatte.

»Vatter? Geht’s dir nicht gut?«

»Das … das Zeichen …«, war alles, was Kluftinger hervorbrachte.

»Was ist damit?« Markus sah es sich an. Dann weiteten sich auch seine Augen. »Sag bloß, das ist …«

»Genau.«

Sie schwiegen und starrten hinunter ins Foyer.

»Was ist denn los?«, wollte nun auch Erika wissen.

Kluftinger schüttelte den Kopf.

Markus grinste. »Du bist mir ja ein Polizist. Das ist doch hier überall.« Mit einer ausladenden Handbewegung deutete er in den Raum.

Kluftingers Kiefer klappte herunter:Tatsächlich, überall, in die Treppengeländer, in die verschnörkelten Türgriffe, in die Stuhllehnen war das Zeichen wie ein Ornament eingearbeitet. Wie hatte er das nur übersehen können?

»Was bedeutet das?«, wollte Markus wissen.

Der Kommissar zuckte die Schultern: »Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es Zufall.« Doch daran mochte er selbst nicht glauben.

Es fiel ihm schwer, sich nach der Pause noch auf die Aufführung zu konzentrieren. Sogar auf der Bühne sah er ab und zu das Symbol auf Kostümen und Kulissen. Und als dann noch der König von den »Zwergen überm See« sang und der »Suche nach dem heiligen Gral in Füssen«, da war Kluftinger mit seinen Gedanken schon weit weg, plante den nächsten Tag, überlegte, wie das alles zusammenhängen könnte und wen er deswegen anrufen würde.

Erst gegen Schluss der Inszenierung, als er sich das Hirn lange genug zermartert hatte und sich erschöpft zurücklehnte, nahm ihn das Stück noch einmal gefangen. Und als Ludwig II. einsam nach draußen ging, Schüsse fielen und der Chor mit den Worten »Unser König ist nicht tot« zum großen Finale anhob, da wusste er selbst nicht, wie ihm geschah: Ein Träne kullerte ihm über die Wange. Im selben Moment ging das Licht an und die Schauspieler verbeugten sich. Blitzschnell wischte sich Kluftinger die Träne aus dem Gesicht. Es war ihm furchtbar peinlich, dass er sich so hatte gehen lassen. Er schob dies auf seine Übermüdung und den Schnupfen, der ihn seit Tagen plagte.

»Hast du was?«, fragte Erika.

Vor der kann man aber auch gar nichts verheimlichen, fluchte Kluftinger innerlich. »Nein, nix. Ich hab mir nur grad gedacht, das waren schon ein paar Vorhänge zu viel. So betteln sie in Altusried auch immer um Applaus: Wenn das Klatschen abebbt, dann schickt man alle noch mal raus. Provinziell so was!«

»Weinst du?«, ließ Erika aber nicht locker.

Jetzt bekam er einen roten Kopf: »Weinen? Spinnst jetzt du? Ich werd wegen so einem Schmarrn weinen.«

»Schon gut«, antwortete Erika mit einem wissenden und zufriedenen Lächeln.

Kluftinger dachte wieder über das unvermutete Auftauchen des Zeichens nach, als er den Mercedes des Doktors zurücksetzte. Er hatte Markus den Schlüssel abgenommen und die anderen aufgefordert, am Eingang zu warten.

Er drückte auf den »Tür-Auf-Knopf« auf der Fernbedienung des Mercedes. Festbeleuchtung empfing ihn, und als er auf dem beigefarbenen Ledersessel Platz genommen hatte, kam von hinten der Gurt angefahren.

Kluftinger steckte den Schlüssel ins Zündschloss und startete den Motor, der durch ein dumpfes Brummen Aufschluss über seine Kraft zuließ. Nicht schlecht eigentlich, dachte sich Kluftinger.

Als er den Rückwärtsgang einlegte, erschrak er: Ein lautes »Pling« erklang. Nachdem Kluftinger alle wichtigen Punkte wie Licht, Sicherheitsgurt und Blinker überprüft hatte, beschloss er, das Geräusch einfach zu ignorieren.

Er überlegte gerade, wer ihm im Musical wohl über die überall eingearbeiteten Ornamente Auskunft geben könnte, da wurde er von einem lauten Knirschen aus seinen Gedanken gerissen. Er bremste instinktiv, dann wurde ihm heiß und kalt zu gleich. Er kannte dieses Geräusch – es entstand, wenn lackierte Oberflächen über Stein schabten.

Er stieg schnell aus, woraufhin das Plingen in einem einzigen Dauerton kulminierte, lief um den Wagen herum und ging in die Hocke: Um Gottes willen! Er hatte beim Zurücksetzten einen großen Stein hinter dem Auto übersehen. Auf dem in Wagenfarbe lackierten Stoßfänger prangte nun ein hässlicher Kratzer. Er schluckte. Wie um alles in der Welt sollte er aus dieser Sache unbeschadet herauskommen? Nun war ihm auch klar, was das Klingeln zu bedeuten hatte, das er so beharrlich ignoriert hatte: Es war die Einparkhilfe gewesen.

Kluftinger wog die doppelte Blamage vor dem Doktor und seinem Sohn gegen die Tatsache ab, Unfallflucht zu begehen. Aber konnte man das überhaupt Unfallflucht nennen? Er flüchtete ja gar nicht, im Gegenteil, er fuhr den Wagen ja sogar noch zum Besitzer nach Hause. Und was, wenn der Kratzer vielleicht doch schon vorher da gewesen war? Da würde er sich ja schön lächerlich machen. Am Ende hatte der Doktor ihnen nur deswegen sein Auto geliehen, weil er sich von ihrer Versicherung den Schaden bezahlen lassen wollte. Er blickte noch einmal auf den Stein, der wie ein Puzzleteil genau zu dem Kratzer passte. Und wenn schon: Das sagte rein gar nichts. Es gab schließlich viele Steine, und so, wie der Doktor fuhr, war er sicher auch schon oft gegen welche gerummst. Kopfnickend stieg er wieder in den Wagen und fuhr los.

»Ludwig hoch zwei, der Mythos lebt, schönen guten Tag?«

»Hier Kluftinger, Kripo Kempten. Mit wem spreche ich?«

Kluftinger hatte seine Gedanken nicht so recht geordnet. Er war noch reichlich unausgeschlafen an diesem Morgen, waren sie doch erst um Viertel vor zwei ins Bett gekommen.

»Hier ist die Jessie. Ich bin Assistentin des persönlichen Referenten unseres Geschäftsführers.«

»Aha … ja, Jessie, dann hätte ich gern mal den Geschäftsführer«, antwortete Kluftinger und klang dabei so, als rede er mit einem kleinen Kind, dessen Eltern er sprechen wollte.

»Wen darf ich gleich noch einmal melden?«

Oh je! Wenn »Jessie« so weitermachte, würde sie wohl nie selbst zur persönlichen Referentin aufsteigen.

»Kluftinger, Kripo Kempten«, brummte der Kommissar. Wortlos legte ihn Jessie daraufhin »auf Schleife« und er hörte die Krönungsmelodie aus dem Musical. Nach gut zwei Minuten hatte er den Geschäftsführer tatsächlich am Apparat und brachte in Erfahrung, dass für die Innenausstattung wie für das ganze Ensemble des Festspielhauses der Architekt zuständig sei. Der sei übrigens ein Kemptener, der Kluftinger sogar vom Namen her geläufig war: Tassilo Wagner, einer der bekanntesten Architekten der ganzen Region. Seine Häuser und Bauwerke spalteten die Menschen – ebenso wie sein etwas exzentrischer Kleidungsstil: Man sah ihn in der Stadt nur mit breitkrempigem, schwarzem Hut und einem weiten, dunklen Umhang. Der Geschäftsführer versäumte nicht hinzuzufügen, dass er eher an Zahlen als an der Entschlüsselung irgendwelcher Kunstwerke und Zeichen interessiert sei.

Vor der ehemaligen »Spinnerei und Weberei Kempten« parkte Kluftinger vor einem kleinen Schneehügel. Hier hatte offenbar noch niemand geräumt. Die ganze Nacht über hatte es weiter geschneit und jetzt fing es erneut an. Kluftinger schlug seinen Mantelkragen hoch, ging los und erstarrte.

Im dichten Schneegestöber zeichnete sich unmittelbar vor dem Haus eine Gestalt ab. Es war Friedel Marx.

Sie war am Morgen noch nicht im Büro gewesen und er hatte gehofft, sie für den Rest des Tages vom Hals zu haben. Bei ihr hätte er sogar Blaumachen toleriert. Nun fühlte er sich ein wenig wie der Hase, der nach zahllosen geschlagenen Haken von einem fröhlichen »Ich bin schon da!« des Igels begrüßt wird.

Er grüßte sie lediglich mit einem Kopfnicken und ohne dass er fragte, erzählte sie ihm stolz, wie sie vor ihm hierher gekommen sei. Die Geschichte war kurz und wenig aufregend, doch ihr schien sie große Freude zu bereiten: Sie sei heute mit dem Zug gekommen, weil ihr Wagen gestreikt habe. Als man ihr telefonisch mitgeteilt habe, dass er bereits unterwegs sei, habe sie sich einfach ein Taxi genommen und sei hergefahren. Kluftinger nickte nur und ging auf das Gebäude zu. Von Wagners Büro hatte er die Auskunft erhalten, dass der Architekt wohl zu Hause anzutreffen sei; da der schon Mitte siebzig sei, komme er längst nicht mehr jeden Tag ins Büro, das mittlerweile seine Tochter und sein Schwiegersohn führten.

Nun stand Kluftinger am Ufer der Iller vor einer ehemaligen Industrieanlage und sah seiner Kollegin beim Rauchen zu. Wie um alles in der Welt konnte man hier wohnen? Einladend sah dieses Gemäuer nicht aus. Der Kommissar hatte zwar einmal in der Zeitung gelesen, dass Wagner das Areal zu einem Spottpreis von der Stadt gekauft hatte, mit der Auflage, das Industriedenkmal äußerlich nicht wesentlich zu verändern und für die Instandhaltung Sorge zu tragen. Es war geplant, den Backsteinbau aus dem späten neunzehnten Jahrhundert, in dem bis in die achtziger Jahre vor allem italienische Gastarbeiter Baumwollstoffe gewebt und gesponnen hatten, in Luxuswohnungen umzubauen. Noch aber sah es gar nicht danach aus. Nur ein zerfetztes Transparent wies auf den baldigen Baubeginn hin und verhieß, dass »bereits über sechzig Prozent der Fläche« verkauft seien. Wagner hatte sich hier aber offenbar bereits eine Wohnung eingerichtet. Nun galt es, den richtigen Eingang zu finden.

»Ich wär so weit, gehen wir!«, meldete sich Friedel Marx nach einer Weile und setzte zu einem Husten an, bei dem man ohne Weiteres auf offene Tuberkulose hätte tippen können. Kluftinger hatte in der Zwischenzeit eine massive, graue Stahltür mit zwei Flügeln ausgemacht, über der eine Überwachungskamera hing. Der Eingang zu Tassilo Wagners Privatwohnung, wie ein Messingschild verriet.

»Einen Moment, ich lasse Ihnen den Aufzug hinunter! Wenn es summt, können Sie die Tür öffnen!«, quäkte eine Frauenstimme aus einem Lautsprecher, nachdem sie geläutet hatten. Dann hörten sie, wie sich von oben quietschend ein Fahrstuhl in Bewegung setzte.

Sie stiegen ein und als sich die Tür wieder öffnete, verschlug es Kluftinger den Atem: Der Aufzug war offenbar die Eingangstür zu Wagners Wohnung. Er blickte nun direkt in ihr Wohnzimmer, wobei die Bezeichnung »Zimmer« der Halle, die vor ihm lag, nicht gerecht wurde. Der riesige Raum wurde nur von einigen gusseisernen Säulen durchbrochen.

Rechts stand verloren ein Kleiderständer, danach kam in der Mitte des etwa zehn Meter breiten Schlauches ein riesiges, kreisrundes Sofa, dessen Lehnen Medizinbälle waren. In der Mitte des Kreises fand sich ein hölzernes Gebilde, das Kluftinger als eine der riesigen Kabelrollen identifizierte, die beim Straßenbau zum Einsatz kamen. Hier diente diese offenbar als Couchtisch.

An den beiden Wänden entlang, unter den Fenstern, wechselten sich niedrige Regale mit alten Kirchenbänken ab. Hinter dem Sofa schließlich ein Esstisch, der nicht am Boden stand, sondern an seinen vier Ecken mit Stahlstangen von der Decke herabhing.

Kluftinger blickte nach oben. Die Halle war gut und gern sieben Meter hoch und der Giebel hatte auf beiden Seiten jeweils eine riesige Fensterfront. So etwas kannte er höchstens aus Filmen. Zudem hätte er ein solches Domizil allenfalls einem vierzigjährigen Porschefahrer zugetraut, nicht aber einem Mann in den Siebzigern. Die mussten seiner Vorstellung nach doch wenigstens ein bisschen wie seine eigenen Eltern wohnen: mit weichen Berberteppichen, Eckbänken und Eiche-Rustikal-Schrankwänden, neben denen die Hochzeitsbilder der Kinder und Fotografien der Enkel mit Schlitten oder Schultüten aufgehängt waren.

Die beiden Kriminaler hatten zunächst gar nicht wahrgenommen, dass an der gegenüberliegenden Wand des Raumes, an die futuristisch wirkende Küchenzeile aus Aluminium und Glas gelehnt, eine Frau mit kurzen, grauen Haaren stand. Sie trug einen Bademantel, der Ähnlichkeit mit Erikas zukünftigem Modell hatte. Der Kommissar dachte daran, wie die Frau wohl frieren musste, hier in dieser Halle, im Morgenmantel.

»Grüß Gott«, brüllte Kluftinger. Erschrocken zuckte die ältere Dame zusammen und antwortete, allerdings in Zimmerlautstärke: »Bitte, kommen Sie näher! Aber ziehen Sie Ihre Schuhe aus, das Salz ist Gift für den Zebrano-Boden. Keine Sorge, wir haben Fußbodenheizung.«

Friedel Marx und Kluftinger sahen sich an und dann auf den Boden. Dort, wo sie standen, war nur grau gestrichener Estrichboden, weiter hinten aber erkannten sie tatsächlich Schwarz-weiß gemustertes Holzparkett.

»Wenn Sie möchten, können Sie ablegen«, schob die Frau nach, als sie Marx und Kluftinger mit Mänteln auf sich zukommen sah. »Glauben Sie mir, es ist geheizt hier! Nehmen Sie auf der Couch Platz, ich gehe mich kurz anziehen«, fügte sie an und verschwand in einem kleinen Gang rechts von der Küche.

»Reizende Fabrikhalle, was?«, brummte Friedel Marx, nachdem sie und Kluftinger sich in der Sitzlandschaft platziert hatten, die gar nicht so unbequem war, wie sie aussah.

»Mhm.«

»Schauen Sie, Herr Kluftinger, das … Kunstwerk – das hätte meine Großnichte mit drei Jahren auch hingebracht«, fügte die Beamtin an, ihren Blick auf ein riesiges Tableau gerichtet, das über ihnen an der Decke hing. Auf dem schwarzen Grund waren von der unteren rechten zur oberen linken Ecke weinrote Fußabdrücke zu sehen.

»Ich sag Ihnen eins – und das ist noch bezeichnender: Das könnte sogar ich!«

Seine Kollegin antwortete mit einem kehligen, fauchenden Lachen.

»So, meine Dame, mein Herr, ich muss mich entschuldigen. Wagner, was kann ich für Sie tun?« Die Frau war unbemerkt neben sie getreten und Kluftinger hoffte, dass sie von ihren Kommentaren über ihre Einrichtung nichts mitbekommen hatte.

»Meine Kollegin, Frau Marx. Mein Name ist Kluftinger. Kripo Kempten und Füssen, wie gesagt. Sie wundern sich sicher, warum wir Sie behelligen.«

»Gibt es wieder einen Selbstmord von der Illerbrücke? Das wenn ich früher gewusst hätte … Das schränkt die Lebensqualität ein, wissen Sie.«

Kluftinger und Marx sahen sich verwundert an.

»Ich weiß nicht, worauf Sie anspielen, Frau Wagner.«

»Sind Sie nicht da, um uns zu befragen, ob wir einen Selbstmörder gesehen haben? Das war in den letzten zwei Jahren bereits zwei Mal der Fall. Wir haben hier ja unsere eigene Brücke. Wenn man dort ins Wasser geht, kommt man unweigerlich in die großen Turbinen, die das Elektrizitätswerk hier auf dem Gelände unterhält. Es geht nicht darum?«

Kluftinger war irritiert. Brachte man seinen Beruf denn nur noch mit Toten in Verbindung? Dabei ging es in diesem Fall ja nicht einmal um Mord.

»Nein, Frau Wagner. Es geht lediglich um eine Auskunft, die wir von Ihrem Mann bräuchten. Ist der denn da?«, fragte Friedel Marx.

»Nein, der ist gerade bei der Krankengymnastik. Sein Rücken. Er müsste aber jeden Moment hier sein.«

Kluftinger fiel auf, dass Frau Wagners Stimme nicht zu ihr passte. Trotz ihrer guten Figur und ihres vitalen Aussehens musste die Frau gut und gerne Mitte sechzig sein. Ihre Stimme aber klang wesentlich jünger.

»Sie waren schon mehrmals in der Zeitung, nicht wahr, Herr Kluftinger? Ich habe Sie auch schon mal im dritten Programm gesehen, als Sie diese mysteriösen Sagenmorde aufgeklärt hatten.«

»Ja, das kann schon sein«, versetzte Kluftinger leise und senkte dabei verlegen den Kopf. Er legte keinen besonderen Wert auf solche Publizität. Seiner Meinung nach erschwerte es seine Arbeit nur unnötig, wenn er von jedem auf Anhieb erkannt wurde.

»Und Sie, Frau Marx … auch Sie kommen mir bekannt vor«, wandte sich Frau Wagner nun an Kluftingers Kollegin. »Lassen Sie mich überlegen … warten Sie … ich hab’s: ›Entdecken Sie Ihre Weiblichkeit‹, Sommerakademie letztes Jahr in Pfronten, nicht wahr?«

Kluftinger konnte nur mit Mühe ein Grinsen unterdrücken.

»Sehen Sie, ich vergesse Leute, die ich einmal gesehen habe, kaum mehr!«, brüstete sich die Wagner. »Ich wäre bestimmt auch eine gute Polizistin geworden.«

Als Kluftinger das hörte, kam ihm eine Idee. Er langte eilends in seine Tasche und zog das Foto des Mannes heraus, den er am Alatsee gefunden hatte.

»Frau Wagner, es geht um einen Mann, dessen Identität nicht geklärt ist. Vielleicht kennen Sie ihn ja auch …«

Er beugte sich vor und gab ihr das Foto. Sie sah es kurz an, runzelte dann die Stirn und sagte: »Um Gottes willen, das ist ja der Christoph. Christoph Röck! Ihm ist doch hoffentlich nichts zugestoßen?«

Kluftingers Kiefer klappte nach unten. Er konnte nicht fassen, dass er einen solchen Zufallstreffer gelandet hatte.


16. Oktober 1980


Zwei der vier jungen Männer sahen sich grinsend an und schüttelten die Köpfe. Wo waren sie hier denn nur hingeraten? Einer von ihnen, Matthias, traute seinen Augen nicht. Sein Vater war immer ein so ernsthafter Mann gewesen. Hatte sich nie Zeit für seinen Sohn genommen. War nie mit ihm zum Angeln gegangen oder zum Bergsteigen. In den fünfundzwanzig Jahren seines Lebens hatte Matthias nur »keine Zeit« von seinem Vater gehört und gesagt bekommen, dass er zu viel Arbeit habe für solche Scherze. Schließlich sei das Leben kein Spielplatz, sondern harte Arbeit und Entbehrung. Zum Lachen ging sein Vater noch nicht einmal in den Keller, er tat es gar nicht, war Matthias überzeugt.

Und nun so etwas. Er wusste, dass sich sein Vater regelmäßig mit den alten Kameraden traf. Zum Gedankenaustausch. Vor ein paar Wochen nun war er zu ihm gekommen und hatte gesagt, für den heutigen Tag solle er sich nichts vornehmen. Da brauche er ihn. Als es soweit war, hatte sein alter Herr den Mercedes aus der Garage geholt und sie waren hierher gefahren. Als sie in das Kellergewölbe des alten Gasthofes hinuntergestiegen waren, hatte er gedacht, sie würden vielleicht in die Kegelstube gehen, doch der Vater öffnete die Tür daneben. »Privat« stand darauf. Die Tür führte in ein altes Kellergewölbe. Einige Männer waren bereits da, teilweise mit ihren Söhnen. Matthias kannte sie von Besuchen bei seinen Eltern. Die Wände des fensterlosen Raumes wurden von brennenden Kerzen beleuchtet.

Wie bei den Rittern der Tafelrunde, dachte der junge Mann.

Dann begann ein Mann zu sprechen, den er als Onkel Hans kannte, obwohl sie eigentlich gar nicht verwandt waren. Schwafelte etwas von Ehre und Treue. Lächerlich, fand Matthias.

Alles, was hier gesprochen werde, dürfe nie den Raum verlassen, sagte der Mann. Niemals. Das müssten die jungen Leute wissen. Wenn sie diesem Druck nicht standhielten, dann sollten sie jetzt besser gehen.

Als ihn sein Vater lächeln sah, wurde er wütend: Da gebe es nichts, weshalb man dumm lachen müsste. Eine ehrenhafte und todernste Sache sei das. Auch die anderen stimmten ihm zu und redeten ihren Söhnen ins Gewissen. Da änderte sich die Stimmung. Sie merkten, wie ernst es ihren Vätern wirklich war. Und dann senkten die Alten plötzlich die Stimmen und sprachen von einem Geheimnis. Ein Geheimnis, das sie heute erfahren sollten. Doch zuvor müssten sie schwören, wie sie es einst getan hatten.

Die Jungen schluckten, als die Alten sich erhoben.

Aufstehen, befahlen ihre Väter. Sie würden nun etwas Großes erfahren, jetzt, da sie endlich alt genug waren. Etwas, das größer war als sie, größer als sie alle, größer als sie es sich vorstellen könnten.

Matthias zitterten die Knie, als er sich langsam aus dem Stuhl erhob.

»Wie … wirklich, Sie … Sie wissen …«, stammelte er ungläubig.

»Ganz sicher! Der junge Mann ist der Sohn eines der besten Freunde meines Mannes. Christoph Röck aus Füssen. Sein Vater war Bankier mit eigenem Bankgeschäft und die letzten Jahre Vorstandsvorsitzender der Sparkasse Ostallgäu. Er ist nach wie vor im Aufsichtsrat. Christoph ist sein einziger Sohn und er hängt sehr an ihm. Wissen Sie, er ist erst sehr spät Vater geworden. Sagen Sie, ist ihm etwas zugestoßen?«

»Er ist verletzt. Wir haben ihn gefunden und wussten nun lange nicht, wer …« Der Kommissar unterbrach seinen Satz, als der Aufzug sich knarrend in Bewegung setzte.

»Das wird mein Mann sein«, sagte Frau Wagner.

»Also, wir wussten lange nicht, wer er war«, vollendete Kluftinger seinen Satz. »Er liegt im Koma. Eigentlich ging es mir aber um das Musicaltheater in Füssen, das Ihr Mann entworfen hat. Kennen Sie sich damit auch aus?«

»Nein, da muss ich Sie enttäuschen. Für diese Projekte habe ich mich nie interessiert.«

In diesem Moment öffnete sich die Aufzugtür. Aus dem Fahrstuhl trat Tassilo Wagner, wie ihn ganz Kempten kannte, mit dunklem Cape und Hut.

»So, Besuch?«, hallte Wagners tiefe Stimme durch den Raum.

»Ja, zwei Herren von der Polizei. Sie wollen eine Auskunft von dir wegen des Musicals.« Frau Wagner erhob sich eilig: »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Ich habe Sie in der Aufregung gar nicht gefragt! Möchten Sie Tee, Kaffee, Wasser …«

Kluftinger, der sich in den letzten Tagen wegen seiner Erkältung regelrecht ans Teetrinken gewöhnt hatte, orderte einen solchen mit Kräutern. Frau Marx und Herr Wagner schlossen sich an und die Hausherrin verschwand in die Küche.

Nachdem sie sich bekannt gemacht hatten, setzten sich Wagner und die Polizisten wieder. Auf der Glasplatte des Tisches lag nach wie vor das Bild des Opfers. Völlig unvermittelt nahm Wagner es an sich und sagte: »Ich kenne diesen Mann nicht. Nie gesehen.«

Kluftinger stutzte. Weder hatte Wagner mitbekommen, dass sie über das Bild gesprochen hatten, noch hatte er ihn danach gefragt. Ein solch massiver, vorauseilender Gehorsam war seltsam.

»Ach was? Sehen Sie es sich bitte genau an. Denken Sie nach!«, forderte Kluftinger ihn auf.

»Guter Mann. Ich sagte Ihnen, ich weiß es nicht. Ich sagte es Ihnen, noch bevor Sie mich fragten.«

Eben das war es, was Kluftinger stutzig gemacht hatte.

»Eben. Wie kommen Sie denn darauf, dass ich Sie diesbezüglich etwas fragen will?« Das Gespräch hatte eine völlig andere Wendung genommen, als gedacht.

»Herr Polizist«, setzte der Architekt erneut an, mit einer Anrede, die der Kommissar sonst nur von alten, resoluten Damen kannte, die mit ihrer Handtasche drohten. »Ich dachte zu wissen, die Frage nach der Identität des Mannes sei die erste, die Sie mir stellen würden.«

Der Kommissar brauchte eine Weile, um die vielen komplizierten Verbkonstruktionen, Konjunktive und Imperfekte zu entwirren. In diese Pause polterte Frau Marx in rüdem Ton: »So, jetzt mal Karten auf den Tisch, Wagner! Wer ist das?«

Unvermittelt erklang die Stimme von Frau Wagner, die mit einem runden Silbertablett mit vier Teegläsern und einer Kanne wieder völlig geräuschlos zu ihnen getreten war: »Schlimm mit dem Christoph, nicht wahr, Tassilo?«

Ihr Mann sah mit geschürzten Lippen zu ihr auf.

»Hm?« Wagner schien zu überlegen, wie er ihr antworten solle.

»Mit dem Christoph!«

»Käthe! Ich weiß nicht, worauf du anspielst!«

Kluftinger sah nur zu. Er wusste, dass er jetzt nicht eingreifen musste, dass sich die Situation von allein in die gewünschte Richtung entwickeln würde.

»Also Tassilo. Hat dir der Kommissar denn noch nichts erzählt? Der Junge auf dem Foto, das ist doch der Christoph Röck! Hans’ Sohn!«

In Wagners Gesicht konnte Kluftinger deutlich lesen, dass er seine Taktik geändert hatte.

»Ja! Jetzt als du es sagtest, kam es mir auch in den Sinn!« Der Tonfall des Architekten war jetzt viel freundlicher, offener. »Natürlich, das ist der Christoph! Was ist denn mit ihm, Herr Kluftinger?«

Sieh mal an! Ist ihm der Name also doch noch eingefallen. Auf einmal war Kluftinger nicht mehr der »Herr Polizist«.

»Verletzt ist er, Herr Architekt. Halb totgeschlagen.«

»Ist das nicht schrecklich, Tassilo?«, fragte Käthe Wagner mit sorgenvoller Miene.

»Ja, schlimm, schlimm. Ich sah ihn schon sehr lange nicht mehr, deswegen erkannte ich ihn nicht gleich.«

»Aber wir haben ihn doch erst neulich getroffen, als wir beim Hans waren«, protestierte dessen Frau.

Kluftinger lehnte sich genüsslich zurück. Das lief ja wie von selbst hier.

Herr Wagner begann zu stottern. »Ach wissen Sie, ich … ich sehe so viele Leute, also beruflich, ich … habe ein schlechtes Personengedächtnis.« Dabei blickte er seine Frau streng an, die bestätigend nickte.

Kluftinger musterte ihn eine Weile, dann fuhr er unvermittelt fort:

»So, und nun zu einem weiteren Grund für unseren Besuch: Sie haben das Musicaltheater in Füssen gebaut, stimmt das?«

Friedel Marx hielt sich aus dem Gespräch heraus und nippte an ihrem Tee. Wagner kehrte zu seinem sachlichen und distanziert klingenden Ton zurück: »Ich konzipierte es und führte die Bauaufsicht, richtig.«

»Sie waren auch für die … Inneneinrichtung zuständig?«

»In der Tat.«

»Auch für den Brunnen?«

Wagners Augen verengten sich für den Bruchteil einer Sekunde.

»Ja, auch für den Brunnen.«

»Mir ist da etwas aufgefallen.«

Marx sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen von der Seite her an. Sie hatte keine Ahnung, worauf er hinaus wollte. Schließlich hatten sie heute noch keine Gelegenheit gehabt, über seine gestrige Entdeckung zu sprechen. Interessiert folgte sie dem Gespräch, das sich immer mehr wie ein Verhör ausnahm.

»Also, dieses Zeichen«, fuhr der Kommissar fort, »das da in den Boden eingelassen ist: Worum handelt es sich da?«

»Zeichen?«, fragte Wagner und schien angestrengt nachzudenken.

»Zeichen!«, antwortete Kluftinger kurz.

»Ach das, jetzt weiß ich, was Sie meinen. Sie müssen entschuldigen, das ist schon ein paar Jahre her. Ja, das war einfach so ein Ornament. Sie werden es noch öfter finden im Theater. Man braucht einfach ein paar Grundthemen, wenn man so einen Bau ausschmückt, Sie verstehen.«

»Hm. Finden Sie es nicht seltsam, dass wir ausgerechnet dieses Zeichen im Schnee neben dem halb erfrorenen Christoph Röck gefunden haben?«

Wagner schluckte. »Ja, das ist seltsam.«

»Haben Sie eine Erklärung dafür?«

»Leider nicht.«

»Natürlich nicht«, sagte Kluftinger in säuerlichem Tonfall. »Können Sie mir wenigstens sagen, was es bedeutet?«

»Das Zeichen?«

»Das Zeichen!« Der Kommissar reagierte zunehmend genervt auf Wagners Ausflüchte.

»Nichts Bestimmtes. Es ist eine Variation auf eine Rune, die, glaube ich etwas mit Wasser zu tun hat. Meine Mitarbeiter suchten das damals aus. Ich fand es sehr … passend.«

»Aha. Für heute reicht uns das, wobei ich mir vorstellen könnte, dass wir uns bald wieder sehen!«, schloss Kluftinger und nippte im Aufstehen noch einmal kurz an seinem Kräutertee, bevor er sich von Frau Wagner herzlich und von ihrem Mann gar nicht verabschiedete.

Als Kluftinger und Marx bereits im Aufzug standen, fügte der Kommissar noch an: »Sie sollten Ihre Tür streichen, Herr Wagner. Die rostet!«

»Edelrost!«, hörten die Beamten ihn durch die Türe rufen, während sie sich angrinsten und der Fahrstuhl losruckelte.

»Der hat nicht die Wahrheit gesagt, da verwett ich meinen Arsch drauf!« Friedel Marx hatte interessiert Kluftingers Bericht von seiner Entdeckung im Musicaltheater gelauscht und sprach nun das aus, was er dachte – wenn auch etwas drastischer formuliert.

»Ja, da bin ich ganz Ihrer Meinung. Wie er gleich auf das Foto zu sprechen kam, noch bevor er überhaupt wusste, was wir wollten. Und wie er dann immer versucht hat, sich rauszureden. Dass er ihn schon lange nicht mehr gesehen hätte und so.«

»Tja, da hat ihm seine Frau aber ganz schön einen Strich durch die Rechnung gemacht. Man sollte eben immer aufpassen, was die Weiber so alles ausplaudern.«

Sie lachten. Zum ersten Mal verstanden sie sich richtig gut, fand Kluftinger und spürte so etwas wie Sympathie für seine Füssener Kollegin aufkommen. Die verflog allerdings schnell wieder, als sie sich einen Zigarillo in den Mund steckte.

»Bitte, bei mir im Auto wird nicht geraucht, erst recht nicht, wenn ich erkältet bin«, sagte der Kommissar ein wenig beleidigt.

»Ja, ja, jetzt seien Sie mal nicht so ein Blärhafen. Ich will sie ja gar nicht anzünden. Nur ein bisschen kalt daran ziehen.«

Sich einen Zigarillo einfach so in den Mund zu stecken, fand Kluftinger bis jetzt die befremdlichste von Marx’ zahlreichen Macken.

»Wie machen wir denn jetzt weiter?«, lenkte er ihr Gespräch zurück auf den Fall.

»Wegen dem Alten?«

»Ja. Ich meine, festnehmen können wir ihn ja nicht, wegen was denn auch? Aber er hätte uns sicher mehr sagen können.«

»Beauftragen wir doch unsere Kollegen, sich hier vor dem Haus zu postieren. Mal sehen, was passiert. Und dann sollten wir mal diesem Johann Röck in Füssen einen Besuch abstatten.«

Kluftinger hielt das für eine ausgezeichnete Idee. Er ärgerte sich nur darüber, dass er sie nicht selbst und vor allem etwas früher gehabt hatte – dann hätte er seine Kollegin dort stehen lassen können. Stattdessen gab er nun Maier und Hefele Bescheid. Anschließend fuhr er in die Direktion, um Strobl abzuholen, den er nach Füssen mitnehmen wollte.

»Und? Bist du schon ein bissle schlauer geworden?«, fragte Kluftinger Strobl neugierig, als sie auf die Autobahn fuhren. Sein Kollege hatte sich mit dem Eisen aus dem See beschäftigt und der Kommissar war gespannt auf seine ersten Ergebnisse.

»Wie man’s nimmt.«

»Was soll das denn heißen?«

»Ein bisschen mehr weiß ich schon, aber manchmal birgt ja auch Nichtwissen eine gewisse Information.«

Kluftinger verstand kein Wort. »Jetzt drück dich mal nicht so geschwollen aus und sag, was du rausgefunden hast.«

»Also, die … die Brechstange hat eine Seriennummer. Wie alle Dinge, die in der Rüstungsindustrie des Dritten Reiches benutzt wurden. Soweit, so gut. Die Seriennummer sagt nämlich eine ganze Menge aus: nicht nur, wo das Ding hergestellt worden ist, sondern auch, wo es verwendet wurde. Es gibt detaillierte Aufstellungen, wo wann was wofür gebraucht wurde. Die Nazis waren da sehr gründlich. Typisch deutsch, könnte man sagen. Jedenfalls hat auch dieses Werkzeug eine Seriennummer. Die weist eindeutig darauf hin, dass das Gerät erst Mitte der vierziger Jahre produziert worden ist. Und zwar für …«

Strobl machte eine Pause und sah seine Kollegen vom Rücksitz aus an. Kluftinger hob neugierig die Augenbrauen.

»Für …?«, hakte er ungeduldig nach.

»Tja, das ist genau der Punkt. Hier klafft eine Lücke. Ich habe bei allen zur Verfügung stehenden Archiven nachgehakt: Es ist klar, dass das Ding in der Endfertigung der militärischen Luftfahrt benutzt worden ist. Doch wo und bei welcher Produktionsstätte – darüber schweigen sich die Unterlagen aus. Seltsam, oder?«

Das war in der Tat seltsam, fand Kluftinger. Aber es passte ins Bild: In diesem Fall war nicht nur alles anders, als es auf den ersten Blick schien; immer, wenn sie Fortschritte machten, rannten sie plötzlich gegen eine Mauer.

Als sie den Namen des Opfers herausgefunden hatten, war es plötzlich ein anderer; dann hatten sie endlich einen Hinweis auf den möglichen Grund für seinen Tauchgang gefunden, und darüber schwiegen sich die Archive aus.

»Was denkst du?«

»Nichts Bestimmtes. Ich habe nur das Gefühl, dass wir noch die eine oder andere Überraschung erleben werden.«

»Eine hab ich schon«, grinste sein Kollege.

Erschrocken fixierte ihn Kluftinger im Spiegel.

»Nein, keine Angst, nix Schlimmes«, beruhigte der seinen Chef. »Es ist nur so: Alle haben mir bestätigt, dass es ungewöhnlich ist, dass ausgerechnet ein solches Nageleisen das Siegel der Luftwaffe trägt. Das sei aufgrund seiner Krallen nämlich eigentlich eher ein Zimmermannswerkzeug. Dient einzig und allein der Holzbearbeitung. Schlosser benützen völlig andere Werkzeuge.«

»Hm, wieder so ein Rätsel«, knurrte der Kommissar. »Wär ich an diesem Sonntag doch bloß nach Neuschwanstein gegangen … Kruzifix!«

Etwas oberhalb des Weißensees bei Füssen bogen sie auf Friedel Marx’ Geheiß rechts ab in eine kleine Siedlung mit großen, villenartigen Häusern.

»Noble Gegend«, kommentierte Kluftinger und schürzte die Lippen.

»Scheint, dass wir uns zur Zeit im Derrick-Milieu bewegen«, entgegnete Marx, worauf der Kommissar einen Lachhustenanfall bekam. Es war tatsächlich eine Siedlung, wie man sie aus Freitagabendkrimis kannte. In solchen Vierteln trieben sich »Derrick« und »Der Alte« immer herum. Es waren Häuser, die oben abgerundete Butzenglasfenster mit schmiedeeisernen Gittern und große Empfangshallen mit marmornen Treppenaufgängen hatten, und wenn die Kommissare eintraten, kam immer gerade die Hausherrin herunter, die einen Angorapulli und eine ausladende Perlenkette trug und an deren Ohren riesige Klunker herunterhingen. Obwohl Derrick immer in München spielte, redeten alle akzentfreies Hochdeutsch und warfen sich misstrauische Blicke zu. Kluftinger hatte einmal gewettet, an bestimmten Schlüsselstellen den nächsten Satz vorhersagen zu können und es beinahe auch geschafft. Es war aber auch nicht allzu schwer, denn beispielsweise sagte die Frau in der Empfangshallenszene immer Worte wie »Sie schon wieder? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich meinen Mann seit Tagen nicht mehr gesehen habe!«, worauf die Kommissare sich viel sagend ansahen und dann fragten: »Wo waren Sie Samstagabend?«

Wenn er es sich recht überlegte, hatte er kaum jemals diese »klassische« Frage nach dem Alibi gestellt. Sie war meist im Gespräch ohnehin beantwortet oder von einem Kollegen bei der Protokollaufnahme geklärt worden. Wer weiß, vielleicht hatten die Fernsehkommissare ja keine Kollegen, die Protokolle aufnahmen. Schließlich hatten sie ja auch weder Frauen, noch Kinder, geschweige denn Hunger, Durst oder Blähungen. Jedenfalls ging es von der Empfangshalle dann immer in ein Zimmer mit weißer Ledercouch, in der ein junger, absolut verdächtig aussehender, Jura oder BWL studierender, strohblonder Sohn saß, der mit seinem Cabrio gerade wahlweise vom Golfen oder vom Tennisspielen kam, einen weißen Pullover um die Schultern geschlungen hatte und seine Mutter, die eigentlich die Stiefmutter war, weil die leibliche Mutter kurz nach der Geburt bei einem Reitunfall ums Leben gekommen war, begehrlich anschaute. Dieser Sohn wurde übrigens immer vom selben Schauspieler gespielt und war eigentlich auch immer der Mörder, weil ihn seine Stiefmutter dazu angestiftet hatte, in die er heimlich verliebt war. Das erkannten die Kommissare daran, dass der Sohn sie unfreundlich behandelte und ihnen unwirsch zu verstehen gab, sie sollten doch endlich seine Familie, also seine Mutter, in Ruhe lassen. Wenn sie ihn dann am Schluss mitnahmen, freuten sie sich eigentlich nie richtig darüber, dass sie endlich Feierabend hatten, dachte Kluftinger und wunderte sich darüber, dass ihm das alles gerade jetzt einfiel, wo er doch eigentlich über Wichtigeres nachzudenken hatte.

Sie standen vor dem Elternhaus des Opfers, von dessen Vater Friedel Marx den Kollegen gerade berichtet hatte, dass er ein honoriges Mitglied der Füssener Gesellschaft sei. Er habe sich in den Fünfziger- und Sechzigerjahren mit einem eigenen Bankgeschäft in Füssen, das Filialen in Memmingen, Kaufbeuren und Kempten hatte, einen Namen gemacht. Als sein kleines Unternehmen nicht mehr rentabel gewesen war, verpflichtete ihn die Ostallgäuer Sparkasse kurz darauf als Vorstandsvorsitzenden.

Als sie an der Tür des Hauses, das im Grunde mehr ein Anwesen war, geklingelt hatten und eine Frau öffnete, war er fast ein bisschen enttäuscht, dass sie keinen Angorapulli trug.

»Sie wünschen?«, fragte die etwa Fünfzigjährige, die sich als die Haushälterin vorstellte.

»Wir möchten zu Herrn Röck.«

»Sind Sie angemeldet?«

»Ich denke schon«, sagte Kluftinger und hielt ihr seinen Ausweis unter die Nase.

»Natürlich, ja dann … einen Moment«, antwortete sie etwas weniger kühl, bat sie herein und huschte ins Wohnzimmer. Wenige Sekunden später öffnete sich die Tür und die Haushälterin forderte sie mit einem »Bitteschön!« auf, hineinzugehen.

Als sie das Zimmer betraten, dachte Kluftinger sofort, dass dies ein wesentlich angenehmerer Platz zum Leben sein musste, als die kalte Fabrikhalle, in der sie sich noch vor einer Stunde befunden hatten. Alles war gediegen eingerichtet, dicke Teppiche und ehrwürdige Gründerzeitmöbel aus Nussbaumholz sorgten für eine warme Atmosphäre. Ihnen gegenüber an der Terrassenschiebetür saß ein Mann, den Kluftinger auf Ende siebzig schätzte. Erst als sie auf ihn zugingen, erkannte Kluftinger, dass er in einem Rollstuhl saß. Er war in einen brokatenen Hausmantel gehüllt, der nun wieder ein bisschen an Derrick erinnerte, auch wenn das seidene Halstuch dazu fehlte. Um seine Beine hatte er eine beige Decke geschlagen und in seinen Händen hielt er eine Tasse dampfenden Kaffees. Leider bot er den Beamten keinen an. Kluftinger hätte jetzt einen vertragen können.

Die Besucher stellten sich vor und setzten sich einfach hin, da sie der Alte nicht von sich aus dazu aufgefordert hatte. Eine Weile blieb es still. Es schien Kluftinger, als taxierten sich die beiden Parteien gegenseitig. Dann ergriff er das Wort.

»Wir kommen wegen Ihres Sohnes«, sagte er und machte eine Pause. Als keine Reaktion erfolgte, fuhr er fort »Er liegt im Krankenhaus.«

Auch auf diese Nachricht hin blieb das Gesicht des alten Mannes abweisend und kühl. Selbst als Kluftinger ihm das Foto reichte, das den jungen Mann auf der Bahre zeigte, blieb eine erkennbare Gefühlsregung aus.

»Ja Herrschaft, wollen Sie nicht wenigstens wissen, was er hat?«, platzte es aus Friedel Marx heraus.

»Ich nehme an, dass Sie es mir sagen werden, sonst wären Sie ja wohl kaum gekommen.«

Die Beamten blickten sich geschockt an. Mit einer solchen Reaktion hatten sie nun wirklich nicht gerechnet.

»Ich bin alt, wissen Sie, ich habe schon viel Schlimmes gesehen«, erklärte Röck. »Ich war im Krieg, da wird man hart und bleibt es für den Rest des Lebens.«

Da war er wieder, der Krieg. Plötzlich schien dieses Thema allgegenwärtig zu sein.

»Unsere Nachricht scheint Sie nicht sonderlich überrascht zu haben«, schaltete sich Marx noch einmal ins Gespräch ein.

»Überrascht? Nun ja, es ist nicht so, dass ich täglich mit meinem Sohn Kontakt habe. Und er ist jung, liebt das Risiko, da muss man mit Unfällen rechnen.«

»Wer hat etwas von einem Unfall gesagt?«

»War es denn keiner?«

Kluftinger ging gar nicht auf die Frage ein. »Wussten Sie, dass Ihr Sohn taucht?«

»Natürlich.«

»Wussten Sie, dass er an gefährlichen Stellen taucht?«

»Wie gesagt: Mein Sohn liebt das Risiko. Aber darüber hinaus weiß ich nichts vom Tauchen und kann mir deswegen auch keine Gedanken darüber machen.«

»Ihr Sohn ist beim Tauchen verunglückt.«

»Das dachte ich mir.«

»Wieso?«

»Na, weil Sie vom Tauchen angefangen haben.«

Strobl grinste.

»Er liegt im Koma im Klinikum Kempten«, blaffte Kluftinger. Es schien ihm, als wollte der Alte ein Spiel mit ihnen spielen. »Vielleicht wacht er nicht mehr auf …«

»Das will ich nicht hoffen.«

»Hätten Sie ihn am Tauchen gehindert, wenn Sie gewusst hätten, was passieren kann?«

Friedel Marx und Eugen Strobl blickten sich an und nickten. Ihnen war klar, was Kluftinger vorhatte: Er wollte den Alten aus der Reserve locken, indem er ihm unterschwellig Vorwürfe machte und er darauf eingehen würde.

»Mein Sohn lebt sein eigenes Leben. Auch ich habe früher das Risiko nicht gescheut.«

»Möglicherweise ist Ihr Sohn auch gar nicht verunglückt.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Es könnte sein, dass jemand bei dem vermeintlichen Unfall nachgeholfen hat.«

»Das glauben Sie doch selbst nicht.«

»Ich glaube nicht, ich weiß.«

»Unsinn.«

»Nein, im Ernst, Herr Röck. Es gibt Hinweise darauf.«

Jetzt erhob sich der Alte zu aller Überraschung aus seinem Stuhl und schlurfte auf die Couch zu, auf der auch Kluftinger saß.

»Was soll denn das jetzt? Wollten Sie mir sagen, wie es meinem Sohn geht, oder wollten Sie irgendwelche abstrusen Theorien aufstellen?«

»Ich will gar keine Theorien aufstellen. Ich sage nur, dass es nach unseren Erkenntnissen kein Unfall war.«

Röck wurde ungehalten: »So? Und was wollen Sie damit andeuten? Dass mein Sohn in irgendwelche Machenschaften verwickelt ist? Ich würde mich hüten, solche Andeutungen zu machen. Und vor allem, wenn sie auf bloßen Vermutungen basieren. Mein Sohn liebt eben die Gefahr, das habe ich bereits gesagt. Und der Alatsee ist nun mal ein teuflisches Gewässer.«

»Das schon, aber der See haut keinem stumpfe Gegenstände über den Schädel.«

»Aber wenn man ungeschickt hineinspringt kann so einiges passieren, er wäre da nicht der Erste.«

»Was macht Ihr Sohn denn beruflich?«, wechselte Kluftinger unvermittelt das Thema.

»Er hat studiert, jetzt orientiert er sich gerade neu. Wieso fragen Sie?«

»Nun, weil er bei einer wissenschaftlichen Exkursion dabei war.«

»Und?«

»Unter dem Namen Jochen Bühler.«

Kluftingers Gegenüber schwieg. Erst nach einer Weile sagte er: »Sie scheinen mehr über meinen Sohn zu wissen als ich.« Beinahe tat dem Kommissar der alte Mann leid. Vielleicht war er etwas zu hart rangegangen. Aber er hatte ihn regelrecht herausgefordert.

In diesem Moment öffnete sich die Tür und die Haushälterin kam herein: »Herr Röck, es wird Zeit für Ihre Spritze.«

Wieder ein Satz, der auch in Derrick hätte fallen können, dachte der Kommissar. Er überlegte, ob er sich erheben oder schon zum Ausgang gehen sollte, bevor er noch eine Frage stellen würde, mit der er den alten Mann überrumpeln wollte. Er entschied sich dafür, sitzen zu bleiben.

»Wir gehen gleich. Oder brauchen Sie diese Spritze sofort? Ich hätte nämlich noch eine Frage.« Kluftinger bemühte sich, dem Satz einen möglichst beiläufigen Klang zu verleihen.

»Nein, nein, so sehr eilt es nicht. Nur eine Insulinspritze. Der Zucker, Sie verstehen.«

Kluftinger nickte. Die anderen waren bereits aufgestanden, als der Kommissar noch einmal ansetzte: »Diese eine Frage, die mich noch beschäftigt, ist folgende: Ich habe Ihnen gerade alles Mögliche über Ihren Sohn erzählt. Eine Sache jedoch nicht.«

Seine Kollegen starrten ihn ein paar Sekunden an, dann ließen sie sich mit offenen Mündern auf die Couch sinken. Gut, dachte er, sie hatten verstanden. Ganz im Gegensatz zu Johann Röck, der ihn fragend ansah und den Kopf schüttelte.

»Ich habe Ihnen nichts vom Alatsee gesagt.«

Kluftinger beobachtete die Reaktion des Mannes ganz genau: Er konnte förmlich dabei zusehen, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich. Seine Falten schienen noch tiefer als vorher. Nur das Ticken der großen Wanduhr erfüllte nun den Raum. Dann verengten sich Röcks Augen und er räusperte sich: »Natürlich haben Sie mir das gesagt, woher sollte ich es sonst wissen?«

»Genau das ist die Frage.«

Röck blickte nun zum ersten Mal Kluftingers Kollegen an. Unsicher wanderte sein Blick von einem zum anderen.

»Ich hab’s auf dem Foto erkannt, das Sie mir gezeigt haben.«

»Unmöglich«, antwortete Kluftinger ungerührt.

Der alte Mann wirkte nun schwer angeschlagen. Eine Weile sagte er gar nichts, dann brachte er leise hervor: »Gut, es hat wohl keinen Sinn mehr. Ich kann ihn nicht länger decken.«

Die Beamten setzten sich kerzengerade hin.

»Er hat da illegal getaucht. Am Alatsee. Ich hab ihm gesagt, dass er es besser lassen sollte, aber welcher Sohn hört schon auf seinen Vater? Aber ich hatte Recht, das sehen Sie ja.« Röck atmete hörbar aus und ließ dann seinen Kopf auf die Brust sinken.

Da er nach einer Minute des Schweigens keine Anstalten machte, weiter zu sprechen, ergriff Friedel Marx das Wort »Das war’s? Mehr haben Sie nicht dazu zu sagen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Na, wie wär’s zum Beispiel damit: Warum ist Ihr Sohn dieses ach so große Risiko denn eingegangen? Wo es sogar illegal ist. Da muss es doch einen Grund geben, kruzifixnochmal!«

Seine Kollegin hatte sich sichtlich in Rage geredet, doch Kluftinger bremste sie nicht. Sein Schmusekurs hatte schließlich zu keinem Ergebnis geführt.

»Na gut«, seufzte Johann Röck, »ich muss es Ihnen wohl sagen. In dem See befinden sich Überreste von Anlagen aus dem Zweiten Weltkrieg. Ich nehme an, er hat vermutet, dass sich das irgendwie zu Geld machen lässt.«

Die Beamten sanken zurück. Sie waren also auf der richtigen Spur.

»Was sind das für Anlagen?«, fragte Strobl, und man merkte ihm seine Aufregung an.

»Ich weiß es nicht. Das war wohl militärisches Sperrgebiet. Keine Ahnung, was die da getrieben haben. Alte Geschichten.«

»Sie haben doch vorher selbst mit dem Krieg angefangen«, protestierte der Kommissar.

»Ja, aber ich weiß darüber nichts. Ich war noch jung damals. Aber spielt das eine Rolle? Solang irgendwelche Spinner Geld für so ein Zeug bezahlen, wird es andere geben, die danach suchen. Für die meisten ist es wertloser Müll. Wenn es wirklich wertvoll wäre oder auch nur historisch bedeutend, meinen Sie nicht, dass schon längst alles gehoben wäre? Von der Stadt oder was weiß ich wem?«

Mit diesen Worten stand er auf und humpelte zur Tür. »Ich brauche jetzt meine Spritze, Sie müssen entschuldigen.«

Kluftinger erhob sich und seine Kollegen taten es ihm gleich. »Eine Frage hätte ich schon noch«, sagte der Kommissar. »Warum, meinen Sie, ist Ihr Sohn an seinem Vorhaben gehindert worden?«

»Das müssen Sie schon selbst rausfinden«, antwortete Röck und öffnete die Tür.

»Wir sind ganz nah dran, was meinst du?« Eugen Strobls Stimme war voller Euphorie.

»Ja, Kollege, es scheint, Sie hatten den richtigen Riecher«, pflichtete ihm die Marx bei.

Der Kommissar konnte ihre Freude nicht ganz teilen. »Ich weiß nicht so recht. Er hat uns noch nicht alles erzählt, ich hab ein ungutes Gefühl.«

»Ach, neulich wollten Sie von Gefühlen noch gar nix wissen. Ich denke, wir …«

Marx brach mitten im Satz ab. Ihr Blick fiel auf ein Auto, das wenige Meter von ihnen entfernt stoppte. Es war der Wagen von Maier und Hefele.

»Ja sag mal … wo kommen die jetzt her? Die sollten doch den Wagner beschatten!«, staunte auch Kluftinger. »Bestimmt hat der Maier wieder etwas ganz Wichtiges zu erzählen …«

Kluftinger ging über den Garagenvorplatz zu dem dunkelgrünen Kombi, von dessen Beifahrersitz aus ihn ein völlig entgeisterter Richard Maier anstarrte.

Als Kluftinger am Auto war, ließ Maier die Scheibe herunter.

»Sagt mal, was macht jetzt ihr da? Ihr solltet doch den Wagner beschatten.«

»Das tun wir ja!«

»Ja von wegen!«

»Wirklich! Aber woher habt ihr gewusst, wohin der fährt?«

»Was?« Kluftinger verstand gar nichts mehr. »Wieso sollen wir das gewusst haben?«

»Na, weil ihr doch da seid!«

Kluftinger blickte Maier kopfschüttelnd und verständnislos an.

Friedel Marx mischte sich ein: »Ich glaube, ich ahne, was passiert ist. Darf ich mal?« Sie schob sich an Kluftinger vorbei und beugte sich zu Maier hinunter. »Wo ist Herr Wagner denn hingefahren?«

»Er war erst in einem Souvenirladen unterhalb von Neuschwanstein. Furchtbar, was die da verkaufen! Stell dir vor, da gibt es zum Beispiel eine Büste von König Ludwig, die das Wetter vorhersagt.«

»Egal jetzt. Das muss der Laden von diesem Appel gewesen sein«, lenkte der Kommissar das Gespräch wieder auf ihre Beschattung.

»Genau«, bestätigte Hefele vom Fahrersitz aus. »Dann sind wir ihm hierher gefolgt. Er hat kurz gestoppt und dann hinter der Ecke gehalten. Wir sind an ihm vorbeigefahren, damit er nicht merkt, dass er beschattet wird und wollten jetzt hier warten. Und da steht ihr plötzlich vor dem Haus.«

»Wie auch immer: Für uns ist jetzt wichtig zu erfahren, was der Wagner hier will und warum er vorher bei Appel war. Scheinbar kennen die sich alle. Also, wir machen das folgendermaßen …«

Fünf Minuten später saßen Hefele und Maier noch immer im Auto, das nun etwas weiter von Röcks Garageneinfahrt entfernt stand, so dass es von dort nicht gesehen werden konnte. Kluftinger und Friedel Marx saßen auf der Rückbank. Strobl war, so hatte es Kluftingers Plan vorgesehen, mit dem Passat auffällig und schnell davongebraust, um Wagner glauben zu lassen, er könne nun ungestört ins Haus.

Tatsächlich sah Kluftinger Tassilo Wagner kurze Zeit darauf durch Röcks schmiedeeisernes Gartentor verschwinden.

Die Beamten beschlossen, noch einige Minuten zu warten, um die beiden Herren »in flagranti« zu überraschen. Während sie so dasaßen und Kluftinger über das Gespräch mit dem Bankier nachdachte, breitete sich plötzlich ein stechender, fauliger Geruch im Wagen aus.

Erst glaubte er, seine verstopfte Nase spiele ihm einen Streich, doch dann wurde der Gestank so durchdringend, dass es keinen Zweifel mehr gab: Irgendjemand hatte der Natur ihren Lauf gelassen – in einem voll besetzten Auto, bei dem wegen der Kälte alle Fenster bis zum Anschlag hochgekurbelt waren.

Kluftinger wurde unruhig: Der Fäulnisgeruch wurde so stark, dass er es nicht wagte, tief Luft zu holen. Normalerweise wäre er jetzt aus dem Auto gesprungen und hätte laut schimpfend nach dem Schuldigen gerufen. Doch Wagner war noch nicht in der Wohnung verschwunden und außerdem hatten sie eine Frau in ihrem Wagen sitzen, auch wenn es sich dabei nur um Friedel Marx drehte. Offenbar ging es seinen Kollegen ähnlich wie ihm, denn alle rutschten unruhig auf den Sitzen hin und her, wobei ihr Atem merklich flacher ging.

Argwöhnisch belauerten sie sich. Schließlich kurbelten sie alle kommentarlos ihre Scheiben einen Spalt nach unten. Fast alle.

»Ich geh noch eine rauchen!«, durchbrach Friedel Marx nämlich die Stille und lieferte sich somit geradezu aus. Genauso gut hätte sie offen gestehen können, dachte Kluftinger. Sie vergewisserte sich erst noch mit einem Blick durch die angelaufene Scheibe, dass Wagner inzwischen im Haus war, und stieg dann aus. Sie war noch keine fünf Schritte vom Wagen entfernt, da überschlugen sich die im Auto sitzenden Männer mit ihren Kommentaren.

»Also die ist schon eine Marke. So was, noch dazu für eine Frau, ja pfui Teufel!«, schimpfte Hefele und Kluftinger stimmte kopfnickend zu.

»Das sind die gleichen Leute, die noch schnell den Aufzug verpesten, bevor sie aussteigen«, merkte Kluftinger an und erntete dafür ein »Mhm« von Hefele. Nur Maier verhielt sich auffällig still.

Keine zwei Minuten später wurde es ihnen zu kalt im Auto. Sie stiegen aus und winkten ihrer Kollegin, als sie erneut auf die Tür von Röcks Haus zugingen.

»Hoffentlich reißt sie sich da drin wenigstens zusammen«, flüsterte Hefele seinem Chef zu, der als Antwort lediglich die Augen verdrehte.

Sie klingelten, und als die Haushälterin mit einem überraschten Gesichtsausdruck die Tür öffnete, drängten sie sich einfach an ihr vorbei.

»Sie hier, Herr Wagner?«, platzte Kluftinger in das Gespräch der beiden Männer. »Warum wir uns so schnell wiedersehen, müssen Sie mir schon erklären.«


12. Februar 1971


Die Männer schüttelten ihre eng anliegenden Anoraks ab. Hans war von der Straße abgekommen, als sie nach Füssen gefahren waren. Die Straße war vereist gewesen und der Wagen im Wald zum Stehen gekommen. Nun waren sie froh, hier zu sein. Es hatte sich so eingebürgert, dass sie nach den Treffen in diesen kleinen Raum unten in dem alten Gasthof gingen. Immer am gleichen Tag des Jahres. An ihrem Jahrestag.

Nur heute war es anders. Einer von ihnen fehlte. Beim Gedanken an ihn versetzte es einigen von ihnen einen Stich ins Herz. War ihre Sache all das wert? War es Leichtsinn, der ihn das Leben gekostet hatte? Wer könnte es je mit Sicherheit sagen? Lange Zeit schien sie die Trauer zu übermannen, doch dann mischte sich ein anderes Gefühl hinzu.

Damit bliebe mehr für sie, sagte einer.

Erst empörten sich einige über diesen Satz, doch je länger sie darüber nachdachten, desto klarer wurde ihnen, dass er damit Recht hatte. Mehr für sie. Mehr – wovon?

In Amerika habe man es geschafft, ein unbemanntes, kleines U-Boot fernzusteuern. Ein Prototyp zwar noch. Aber man könne hoffen.

Nach wie vor sei ein Zugang nicht möglich, das hätten sie nun wieder gesehen.

Sie müssten weiter warten, wie schon so viele Jahre. Warten und wachsam sein. Wie vor sechs Jahren. Die Aktion mit dem Mönch damals habe ihre Wirkung nicht verfehlt, sagte einer grinsend. Man spreche noch immer darüber und viele mieden den Ort.

Das Pärchen im VW habe man aber wohl zu Tode erschreckt. Die würden sicher keinen Fuß mehr an den See setzen, lachte Tassilo heiser, bevor er die letzte Fackel in ihre Wandhalterung zurücksteckte.