Punkt achtzehn Uhr waren alle wieder um den großen Tisch im Besprechungsraum versammelt. Jeder saß auf demselben Platz wie am Morgen.
»Also«, begann Kluftinger zögerlich, »wer möchte anfangen?«
Marx meldete sich als Erste. »Also, ich hab wohl Glück gehabt mit meiner Zuteilung«, fing sie an und grinste in die Männerrunde.
»Meine vier sind alle schon tot. Zwei haben im Krieg das Zeitliche gesegnet, einer ist Anfang der Siebziger abgekratzt, einer ist vor etwa drei Jahren im Alter von achtundsiebzig Jahren gestorben.«
Der Kommissar musterte sie missbilligend. Ihr unbeschwertes Verhältnis zum Ableben anderer Menschen störte ihn dabei weniger als der Gedanke, was sie eigentlich den ganzen Tag über getrieben hatte.
Er ließ den anderen keine Zeit, etwas zu erwidern, und fuhr fort »Irgendjemand, dessen Nachforschungen mehr ergeben haben?«
»Ich hatte es ja zu drei Vierteln mit den uns schon bekannten Personen zu tun«, begann Maier, ohne eine Aufforderung seines Chefs abzuwarten. »Wenn ich einmal bei Michael Appel beginnen darf, dem Mann mit dem Souvenirladen.« Als die anderen zu schnaufen begannen, fügte er in beleidigtem Tonfall hinzu: »Ich werde mich wiederum kurz fassen. Inzwischen habe ich ja mitgekriegt, dass ihr es gern etwas oberflächlich habt. Also: Der Appel hat nicht nur einen Souvenirladen, ihm gehören gleich fünf, eine kleine Kette sozusagen. Drei in Schwangau bei den Schlössern, einer in Füssen und einer in Nesselwang. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne, der eine hat inzwischen die Geschäftsführung übernommen, der andere macht irgendwas mit Aktien. Broker oder so.«
Ohne einmal von seinen Unterlagen aufzusehen, fuhr Maier fort.
»Als nächstes hätten wir Tassilo Wagner, den Architekten. Lebt mit seiner Frau hier in Kempten, das wisst ihr ja. Hat einige prestigeträchtige Objekte im Allgäu gestaltet, darunter das Glashaus in der Kemptener Fußgängerzone und natürlich das Musicaltheater. Er plant den Umbau der Industrieanlagen in Kottern und an der Füssener Straße. Er hat seine Firma eigentlich an seine Tochter und deren Mann übergeben, mischt aber wohl ab und zu noch ein bisschen mit. Zum Leidwesen der Mitarbeiter, wie man so hört. Dann wäre da noch …«
»Richard, jetzt hol doch mal Luft«, bremste Kluftinger seinen Kollegen. »Wir kommen ja gar nicht mehr mit hier.«
»Keine Angst, alle meine Ergebnisse druckt Sandy gerade aus und wird sie …«
Wie auf Stichwort öffnete sich die Tür und Frau Henske kam mit ein paar Blättern herein. Sie verteilte sie wortlos an die Kollegen und ging dann hüftwackelnd wieder nach draußen.
Die Blätter waren ohne die Pfeile, Grafiken und schnörkeligen Schriftarten, die Maiers Recherchematerial sonst zierten. Stattdessen waren stichpunktartig die Ergebnisse aufgereiht. Es war deutlich zu spüren, dass er ihnen zeigen wollte, dass er auch anders konnte.
»Ihr habt jetzt ja alle das Blatt, dann kann ich wohl weitermachen. Wie gesagt, wäre da noch Johann Röck, aber über den haben wir ja eigentlich schon alles gesagt: Bankier, erfolgreich, Witwer, ein Sohn, der jetzt in Kempten im Krankenhaus liegt. Die vierte Person, der ich nachgehen sollte, ist verstorben, vor genau zwölf Jahren. Theo Lehner hat bei der Stadt Füssen gearbeitet und es da bis zum Kämmerer gebracht. Sehr angesehener Mann. Das war’s von mir.«
Maier nahm einen Schluck Wasser und lehnte sich zurück, als schien er auf eine Reaktion der anderen zu warten. Die blieb allerdings aus, denn Hefele ließ erst gar keine Pause aufkommen.
»Meine erfreuen sich bis auf einen bester Gesundheit«, begann er. »Ich habe da einmal einen Ex-Anwalt aus Füssen, Alfons Karg, der inzwischen in einem noblen Altenheim in Hopfen lebt. Allerdings keines, wie man es normalerweise kennt. Eines für Betuchte«, sagte Hefele. »Das Interessante daran ist, dass er keine Angehörigen mehr hat. Zudem war er an Immobiliengeschäften in der Ex-DDR beteiligt, die alle den Bach runtergegangen sind. Bis auf eine kleine Rente ist er beinahe mittellos. Und wisst ihr, von wessen Konten seine monatliche Miete und Pflege dort im Nobelheim bezahlt wird? Abwechselnd wird überwiesen von den Konten von Werner Ulbricht, Erwin Gmeinder und Josef Blank!«
Die anderen blickten sich ratlos an.
»Ihr erinnert euch, die standen doch auch auf der Namensliste.«
Jetzt nickten einige der Kollegen.
»Dieser Ulbricht hatte einen Bauladen in Füssen, oder?«, merkte Maier an.
»Einen Bauladen?«, hakte Hefele nach.
»Ja. Einen Bauladen.«
»Du meinst, man ist bei ihm ins Geschäft gegangen und hat gesagt: Grüß Gott, ich hätt gern ein Haus, haben Sie da was für mich da?«
Glucksendes Lachen machte sich breit.
»Genau«, pflichtete ihm Friedel Marx bei. »Und der hat dann bestimmt gesagt: Gerne, soll ich’s Ihnen gleich einpacken? Und wie wär’s mit dieser netten Garage dazu?«
Maier erwiderte nichts und blickte wieder in seine Notizen.
»Also«, fuhr Hefele fort, »er hatte ein Bauunternehmen. Neben Hochbauprojekten waren die auch im Tiefbau tätig, lebten also unter anderem von Aufträgen aus öffentlicher Hand. Mittlerweile hat sein Schwiegersohn den Laden übernommen. Er verlagert sich noch mehr auf den Straßenbau. Die Firma war unter anderem auch beim Grenztunnel von Füssen nach Reutte beteiligt und baut jetzt auch die B19 nach Oberstdorf mit.«
Die Türe ging auf und Sandy kam mit einem Tablett herein, auf dem zwei Thermoskannen und ein paar Tassen standen.
»Hast du das gewusst, Sandy?«, rief Strobl und zwinkerte seinen Kollegen zu. »Der Ulbricht war beteiligt am Bau eines Grenztunnels.«
Die Sekretärin stellte das Tablett ab und blickte mit zusammengekniffenen Augen in die Runde. »Der Ulbrischt? Nee, sischer nisch. Der hat doch die Mauer erst bauen lassen.«
»Nicht nur eine, viele Mauern hat der gebaut«, ergänzte Hefele. Die Beamten hatten nun alle Mühe, nicht laut loszulachen.
»Viele Mauern? Wie meinste denn jetzt das? Es gab doch nur die eine. Und die hat der Walter Ulbrischt gebaut, ja.«
»Werner«, sagte Strobl und prustete los.
Sandy verstand gar nichts mehr. Aber sie hatte den Verdacht, dass man wieder einmal ihre DDR-Vergangenheit benutzte, um sich einen Spaß mit ihr zu machen. »Der hieß Walter, das werd isch wohl wissen«, erwiderte sie gereizt.
Kluftinger unterbrach ihr Geplänkel: »Haben Sie für mich vielleicht einen Tee, Fräulein Henske?«
»Klar, isch hol sofort einen. Bin sowieso froh, wenn isch die Herren hier nisch mehr sehen muss.« Als sie das Zimmer wieder verlassen hatte, fuhr Hefele fort: »Wie gesagt, der Ulbricht hatte einige große Aufträge. Und er hat oft mit einem Architekten aus Kempten zusammengearbeitet. Jetzt ratet mal, mit wem!«
»Tassilo Wagner, nehme ich an«, sagte Kluftinger.
»Genau der«, nickte Hefele. »So, auf meiner Liste wären noch zwei Namen. Einer ist bereits tot, neunzehnhundertachtzig bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Der andere ist wieder interessant: Er heißt Pius Ackermann. Stammt aus Marktoberdorf, ist nach dem Krieg aber in russische Gefangenschaft geraten und in der DDR geblieben. In Rostock.«
Sandy war wieder ins Zimmer gekommen und stellte nun eine Kanne mit Tee vor Kluftinger auf den Tisch. Als sie das Wort »DDR« vernahm, blickte sie misstrauisch in die Runde.
»Sagen Sie mal Sandy, kennen Sie einen Pius Ackermann? Der war auch in der DDR«, hob Friedel Marx an.
Sandy war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. »Ach, und da haben wir uns wohl alle gekannt, oder wie? Lassen Sie misch doch zufrieden«, keifte sie.
Strobl ließ nicht locker: »Ich wart doch alle ein Volk von Brüdern und Schwestern.«
Sandy Henske machte auf dem Absatz kehrt und lief zur Tür. Bevor sie diese hinter sich schloss, drehte sie sich noch einmal um und polterte: »Fragen Sie doch die Frau … Marx!«
Es dauerte ein, zwei Sekunden, bis alle ihren Witz begriffen hatten. Dann brachen sie in schallendes Gelächter aus. Sogar Friedel Marx.
Als sie sich wieder beruhigt hatten, wandte sich Kluftinger an Strobl: »So, Eugen, jetzt fehlen nur noch deine vier.«
»Eher nur zwei, aber dazu komme ich gleich. Einmal hätte ich da Erwin Gmeinder anzubieten,Verleger aus Füssen. Der war dort bis vor kurzem noch an der Zeitung beteiligt. Ein recht wohlhabender Mann, der sich wohl gerne auch in die Berichterstattung eingemischt hat. Seine Frauen und seine drei Kinder leben ebenfalls in Füssen. Und dann wäre da noch Josef Blank, dem gehören die BMW-Autohäuser in Füssen und in Pfronten. Aber Gmeinder und Blank sind bei weitem nicht so interessant wie die beiden letzten.«
Strobl machte eine Kunstpause, mit der er die Neugier der Kollegen anheizte. Als er merkte, dass ihn alle gespannt anblickten, fuhr er fort:
»Nun gut, also … beide sind tot, das kann ich gleich mal vorwegschicken.« Die Kollegen entspannten sich wieder etwas, sie hatten offenbar mit einer außergewöhnlicheren Nachricht gerechnet.
»Moment! Sie sind nicht einfach an Altersschwäche verschieden. Da haben wir Nummer eins, Gerald Mang. Es war Mitte der fünfziger Jahre, dass sie ihn gefunden haben. Als jungen Mann damals.«
»Gefunden?«, fragte Friedel Marx.
»Ja, gefunden. Und zwar in seiner Wohnung. Er baumelte an einem Strick. Na ja, eigentlich war es kein Strick. Es war eine große, zusammengerollte Flagge. Die US-Flagge, um genau zu sein.«
»Die US-Flagge?« Kluftinger konnte sich darauf keinen Reim machen. »Was hat das denn mit den USA zu tun?«
»Nichts«, antwortete Strobl. »Offiziell jedenfalls. Aber ist es nicht ein seltsamer Zufall, dass ausgerechnet in dieser Zeit die US-Army den Alatsee zum Sperrgebiet erklärt hat?«
Die anderen blieben stumm, was Strobl zufrieden zur Kenntnis nahm. »Also Nummer zwei. Auch Günter Ott weilt nicht mehr unter uns. Er ist Ende der fünfziger Jahre gestorben. Keinen schönen Tod: Er ist ertrunken. Jetzt ratet mal, wo.«
Keiner sagte etwas.
»Genau«, nickte Strobl und packte seine Notizen weg.
Eine Weile blieb es still, dann schlug Kluftinger so heftig auf die Tischplatte, dass einige der Kollegen erschrocken zusammenzuckten.
»Ja Herrgottsakrament, immer wieder der See. Egal, was wir machen, welche Spur wir verfolgen, am Ende versickert sie immer im Alatsee.«
Die Beamten blickten sich mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Unbehagen an. Sie waren dem Geheimnis des Gewässers auf der Spur, das spürten sie deutlich, aber noch lag es im Dunkeln.
»Ich will morgen alle, die auf dieser Liste stehen, in meinem Büro haben.«
»Alle?«, fragte seine Füssener Kollegin mit einem spöttischen Grinsen.
»Alle, die noch am Leben sind halt«, erwiderte Kluftinger sachlich. Ihm war im Moment nicht nach irgendwelchen Spielchen zumute.
»Das dürften sie sein! Eine schwarze Limousine, Ostallgäuer Kennzeichen, mit fünf Senioren drin! Scheinbar haben sie eine Fahrgemeinschaft gebildet. Interessant. Hol die anderen, Eugen, es geht los!«
Kluftinger schloss den Lammellenvorhang in seinem Büro wieder. Er hatte diesem Treffen den ganzen Vormittag entgegengefiebert. Unten stiegen die fünf Männer aus dem großen BMW. Alle trugen schwarze oder dunkelblaue Mäntel. Alle außer Tassilo Wagner, der gerade aus einem Sportwagen stieg und die anderen mit großem Hallo begrüßte. Der Architekt trug wie immer sein Cape und seinen Hut. Ruhig gingen die sechs in Richtung Eingang.
Kluftinger trat zum Waschbecken und kämmte sich. Er kam sich vor wie in einem dieser Mafiafilme, wenn der »Große Rat der Familie« zusammentritt, um eine Entscheidung zu fällen. »Die Mauer des Schweigens« hatte Bartenschlager, der ehemalige Hütebub, es genannt. Und je mehr Kluftinger mit den alten Männern zu tun hatte, desto klarer wurde ihm, was der alte Martl damit gemeint hatte. Bisher war der Kommissar bei keinem von ihnen weitergekommen. Er atmete tief durch und machte sich auf den Weg zur Vernehmung.
»Ich weiß nicht, was daran sonderbar sein sollte, Herr Kluftinger! Wir haben eine Fahrgemeinschaft gebildet, na und?« Hans Röck lief von der ersten Frage Kluftingers nach ihren Gemeinsamkeiten zu Hochform auf. Er wirkte überlegener denn je.
Kluftinger warf Strobl, Maier und Marx, die ebenfalls mit im Vernehmungszimmer saßen, einen Blick zu. Es würde mindestens so schwer werden, wie erwartet. Seine Kollegen sagten nichts; sie hatten vereinbart, dass er die Unterredung leiten würde.
»Diese Frage hätten wir also geklärt«, versuchte Kluftinger ruhig zu entgegnen, auch wenn es in ihm brodelte. »Ihre gemeinsame Vergangenheit werden Sie aber nicht abstreiten, oder?«
»Keineswegs«, antwortete nun Tassilo Wagner. »Wie Sie sicher bereits wissen, waren wir Kriegskameraden. Das verbindet. Können Sie nicht nachvollziehen, junger Mann!« Auch in Wagners Worten lagen Hochmut und Arroganz. Er hatte noch vor wenigen Tagen anders auf seine Fragen reagiert. Sicher hatten sie ihr Vorgehen abgesprochen.
Aber auch Kluftinger hatte sich für dieses Verhör eine Strategie zurechtgelegt. So explizit tat er das nur selten. Heute jedoch hatte er bereits kurz nach dem Aufwachen einige Szenarien im Geiste durchgespielt. Dass es eine harte Nuss werden würde, die es da zu knacken galt, lag auf der Hand. Deshalb hatte er beschlossen, vorzugehen wie beim Schafkopf, seinem Lieblings-Kartenspiel: Er wollte nicht alle guten Trümpfe gleich am Anfang vergeuden. Immer abwechselnd, erst hoch, dann tief.
»Wir wissen, dass Sie einem Ihrer Kameraden das Altersheim bezahlen. Warum tun Sie das?«, spielte der Kommissar seinen ersten Trumpf aus.
Der Mann, der sich Kluftinger als Josef Blank vorgestellt hatte, antwortete ohne Umschweife: »Haben Sie eine Ahnung, was Kameradschaft bedeutet? Wahrscheinlich nicht, sonst würde Ihnen diese Frage gar nicht in den Sinn kommen. Alfons ist unverschuldet in Not geraten – ist es da eine Frage, dass wir als seine Freunde, denen es gut geht, helfen? So etwas schwört man sich, wenn man zusammen dem Tod mehr als einmal ins Auge gesehen hat. Wir sind wie Brüder!« Blank, ein bulliger Riese mit Schweinsäuglein, sah hinüber zu Wagner, der nickte. Josef Gmeinder, der Verleger, wie sich Kluftinger erinnerte, zuckte nur mit den Achseln. Sie machten den Eindruck, als würden sie nicht den geringsten Sinn in Kluftingers Fragen sehen, geschweige denn in der ganzen kollektiven Vernehmung.
Kluftinger aber war es nicht entgangen, dass einer der sechs in seinem Auftreten ein klein wenig von den anderen abwich: Appel blinzelte nervös, wusste nicht recht, wohin mit seinen Händen. Schweißtropfen hatte sich auf seiner Oberlippe gebildet.
Nun war es Zeit für einen hohen Trumpf. Nicht gerade den Eichel-Ober. Der Herz-Unter sollte fürs Erste genügen: Kluftinger zog unter dem Tisch das Nageleisen hervor, das der Tauchroboter vom Seegrund geholt hatte und legte es vor den Alten auf den Tisch.
»Herr Appel, was ist das? Hat es mit Ihrer Tätigkeit im Krieg irgendwas zu tun?«
Appel wurde kreidebleich und setzte dann zur Antwort an: »Gut, wir … wir haben dort oben …«
»Wir haben dort oben nie etwas zu tun gehabt, richtig«, fiel ihm blitzschnell Blank ins Wort und ließ Appel damit schlagartig verstummen.
»Und selbst wenn wir das gehabt hätten, hätte es heute keine Relevanz mehr. Das ist über sechzig Jahre her, was wollen Sie denn?«
Der Kommissar ließ nicht locker: »Herr Appel, Sie wollten gerade etwas sagen. Lassen Sie sich nur nicht unter Druck setzen. Was wollten Sie uns erzählen?«
Appel sah nervös zu seinen Begleitern, die ihn mit grimmiger Miene fixierten. Dann blickte er zu Boden und sagte leise: »Wissen Sie … wir alle sind seit den Jahren enge Freunde. Aber …«
Kluftingers Nerven waren aufs Äußerste gespannt. Hatte er ihn so weit? Würde er sagen, was er wusste?
»Wie dem auch sei: Josef hat völlig Recht.« Die letzten Worte begleitete er mit einem kaum merklichen Kopfschütteln, das Kluftinger klar machte, dass nun auch bei Appel, der eine Weile geschwankt hatte, nichts mehr zu holen sein würde.
Dem Kommissar blieb nichts anderes übrig: Er versuchte es mit einem Bluff. »Gut, Sie wissen wahrscheinlich, meine Herren, dass oben am See gerade ein Forscherteam aus München zu Gange ist. Dabei sind schon einige Fakten ans Licht gekommen, die Sie uns jetzt noch vehement zu verschweigen versuchen …«
Die Alten blieben ungerührt.
»Wissen Sie, selbst wenn es da etwas gäbe, was herauskommen könnte – dieser Wunsch, den Seegrund zu erforschen, existiert seit Jahrzehnten«, sagte Werner Ulbricht in ruhigem Ton. »Und immer ist etwas dazwischengekommen. Warum also nicht jetzt auch wieder? Die Wahrscheinlichkeit, dass es diesmal klappt, ist denkbar gering, meine ich.«
Der Bauunternehmer, über dessen Namen sie gestern noch gescherzt hatten, hatte seit der Begrüßung nichts mehr gesagt. Seine großen schwieligen Hände lagen ruhig auf dem Tisch.
»Verkaufen Sie uns mal nicht für dumm hier! Meinen Sie, wir wissen nicht, was hier gespielt wird?«, brach es nun trotz der Abmachung, dass Kluftinger das Wort führen sollte, aus Friedel Marx heraus. Dem Kommissar war klar, dass sie mit dieser zwar nachvollziehbaren, taktisch aber völlig unangebrachten Emotionalität genau das Gegenteil dessen erreichte, was sie eigentlich wollte.
Jetzt der Laub-Ober, der zweithöchste Trumpf, dachte er sich. »Ist Ihnen klar, dass der echte Jochen Bühler gerade unterwegs nach Deutschland ist, Herr Röck? Es würde mich sehr wundern, wenn uns der nicht einige interessante Details über Sie und Ihren Sohn verraten könnte.« Er ließ einen kurzen Augenblick verstreichen, bevor er dem alten Röck direkt in die Augen sah.
Der aber blickte ungerührt zurück. Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, fragte er: »Wer bitte ist Jochen Bühler?«
Kluftinger entging nicht, dass Appel leicht zusammengezuckt war und nun wieder deutlich nervöser auf seinem Stuhl herumrutschte.
Die anderen schwiegen. Aalglatte Typen waren das, dachte Kluftinger, so harmlos und integer sie auch aussehen mochten. Nirgends bekam er sie zu fassen. Er musste nun seinen höchsten Trumpf ziehen. Er griff in eine schwarze Eckspannermappe, zog ein Foto heraus und legte es wortlos den Alten vor. Appel fingerte als Erster danach, da riss es ihm Gmeinder bereits aus der Hand.
Die Beamten sahen schweigend zu, wie das Bild des ominösen Zeichens die Runde machte und Tassilo Wagner es wortlos wieder auf den Tisch legte.
Keiner sprach. Keiner verzog eine Miene. Die Kontrahenten taxierten sich wie beim Pokerspiel. Wer zuerst die Karten auf den Tisch legte, hatte verloren. Die einzige Möglichkeit, weiter zu kommen, schien ihm, dass die Allianz der Alten an ihrer schwächsten Stelle auseinanderbrach. Appel würde der Erste sein, der zu reden anfing.
»Also, jetzt sagen Sie endlich was dazu!«, sagte Maier.
Ruckartig gingen die Blicke der Polizisten zu ihm.
»Nun?«, fragte Gmeinder mit einer fast väterlichen Milde, »was möchten Sie uns denn sagen, Herr Kommissar?«
Bevor Maier antworten konnte, kam ihm Kluftinger zuvor: »Es ist doch kein Zufall, dass dieses Zeichen immer im Zusammenhang mit einem von Ihnen auftaucht! Bei Ihrem Laden, Herr Appel, Herr Wagner, in Ihrem Festspielhaus. Was bedeutet es? Und vor allem: Wollte uns das Opfer durch das Zeichen die Täter verraten? Eine Handvoll alter Männer, die im Krieg Gott weiß was zusammen getrieben haben?«
»Ach Gott, verfolgen Sie jetzt eine Verschwörungstheorie?« Röcks Lippen umspielte ein Lächeln. »Haben Sie schon mal an einen Zufall gedacht?«
»Was ganz anderes: Die meisten Ihrer damaligen Kameraden weilen heute nicht mehr unter uns. Einige Todesumstände werfen zumindest Fragen auf. Ich denke da an Gerald Mang, der sich an einer US-Flagge erhängt haben soll …«
»Erhängt hat!«, ließ Ulbricht den Kommissar gar nicht ausreden. »Falls Sie irgendetwas anderes andeuten wollen: nur zu. Unsere Anwälte werden sich freuen.«
Kluftinger fühlte, wie ihm die Sache entglitt. »Und was ist mit Günter Ott? Der Tauchunfall im Alatsee.«
»Das war aber wirklich ein Unfall«, rief Appel aufgeregt.
»Wirklich ein Unfall? Im Gegensatz zu was?«
Appel verstummte.
»Na gut. Eine Frage noch, meine Herren: Was macht Pius Ackermann eigentlich heute? Er war ja auch in Ihrer Truppe und ist der Einzige, der offenbar nicht mehr mit Ihnen in Kontakt steht.« Kluftinger hatte die Frage ohne Hoffnung auf eine aufschlussreiche Antwort gestellt. Und nun, völlig unerwartet, geschah etwas: Zum ersten Mal sah er in ihren Augen Unsicherheit aufflackern. Die Fassade schien für einen Moment zu bröckeln. Da musste er also ansetzen. Aber nicht mehr mit allen auf einmal. Als Erstes wollte er sich Appel vornehmen. Allein.
In diesem Moment ging die Tür auf. Sandy Henske kam aufgeregt herein. Sie hatte nicht angeklopft, zumindest hatte Kluftinger es nicht gehört. Alle im Raum blickten sie an. Sie kam zu Kluftinger und flüsterte ihm aufgeregt ins Ohr, dass er unbedingt ans Telefon kommen müsse.
»Jetzt nicht, Fräulein Henske! Sie sehen doch, dass ich …«
»Sie werden sehen, es ist wichtig!«
»Legen Sie es hier auf den Apparat«, brummte Kluftinger schließlich. Schweigend nahm er den Hörer ab und sah dabei die Männer an. Vielleicht rief gerade sein Telefonjoker an. »Ja, Kluftinger … ja … ach was … interessant. Auf keinen Fall, nein! Wir sind so bald wie möglich bei Ihnen!«
Mit ausdrucksloser Miene legte der Kommissar auf und sagte ruhig: »Meine Herren, die Zeugenvernehmung ist für heute beendet. Eine neue Sachlage hat sich ergeben. Sie können gehen, ich brauche Sie nicht mehr.«
Die Männer schienen konsterniert. Ungläubig sahen sie sich an, keiner erhob sich.
»Gehen Sie jetzt bitte, wir haben zu tun. Halten Sie sich zu Hause zu unserer Verfügung.«