»Vielleicht verstehen sie sie nicht.«
Der Dobro-Designierte schüttelte den Kopf. »Sie sind ihnen gleichgültig.«
Im Lager kümmerten sich menschliche Familiengruppen um Gärten, wenn sie nicht für die Arbeit eingeteilt waren. Mit kleinen Fahrzeugen brachten Wächter und Aufseher Gefangene zu den Erosionsschluchten und Felstälern, wo alle, die nicht direkt fürs Zuchtprogramm gebraucht wurden, nach Opalknochenfossilien suchten, die als Raritäten überall im Ildiranischen Reich verkauft wurden.
Daro’h beobachtete die Aktivitäten im Lager und nahm alle Einzelheiten in sich auf. »Den Gefangenen ist eine gewisse Freiheit gestattet? Sie bilden ihre eigenen sozialen Gruppen und Familien? Sie entscheiden, wo sie wohnen und schlafen, ohne dass ihnen bestimmte Gebäude und Räume zugewiesen werden?«
»Wir üben genug Kontrolle für unsere Zwecke aus, aber wir kennen auch die Nachteile unnötiger Restriktionen. Ein kleines Maß an Freiheit führt zu mehr Kooperation. Einer der Männer, ein kräftig gebauter Bursche namens Benn Stoner, ist zurzeit der Repräsentant des Lagers. Du wirst ihn kennen lernen.«
Daro’h schien nicht zu verstehen. »Wie führt er das Kommando über die Menschen?«
»Normalerweise greifen sie seine Vorschläge auf. Vor hundertfünfundachtzig Jahren terranischer Zeit brachten Ildiraner das beschädigt im All treibende Generationenschiff der Menschen nach Dobro. Für eine Weile lebten Menschen und Ildiraner Seite an Seite, aber… gewisse unangenehme Ereignisse veränderten die Situation.
Einer meiner Vorgänger sah sich gezwungen, die überlebenden menschlichen Kolonisten gefangen zu nehmen, und der Weise Imperator Yura’h hielt es für angebracht, sie in unser langfristiges Zuchtprogramm einzugliedern. Zunächst reagierten die Menschen mit Trotz und hofften auf eine Veränderung ihrer Situation. Aber mein Vorgänger wusste, dass solche Überzeugungen und die so genannten menschlichen Freiheiten, die sie für selbstverständlich hielten, nach ein oder zwei Generationen weggezüchtet werden konnten.«
»Wenn die Menschen Widerstand leisteten… Hätten wir es nicht mit künstlicher Befruchtung und Embryo-Implantation versuchen können?«
»Vielleicht, ja, aber das wäre schwieriger und weniger effizient gewesen. Wir haben auch festgestellt, dass künstlich gezeugte Halbblutkinder häufig ohne oder mit einer nur geringen Thism-Verbindung geboren werden. Das widerspricht unseren Plänen. Letztendlich ergaben sich kaum Probleme. Es gelang uns, den Widerstand der Menschen zu brechen, und deshalb brauchten wir nicht auf andere Mittel zurückzugreifen
– was aber noch immer möglich ist, wenn uns nichts anderes übrig bleibt.«
Daro’h trat näher an den Zaun heran. Auf dem zentralen offenen Platz mit Duschen und Sitzbänken reinigten Angehörige des Mediziner-Geschlechts menschliche Frauen, die von der Arbeit heimkehrten. Sie identifizierten jedes Individuum mit Namen und genetischem Kode. Ihre Unterlagen enthielten graphische Darstellungen, die über den Fruchtbarkeitszyklus jeder Frau Auskunft gaben.
»Die Verbindung mit menschlichen Blutlinien verstärkt gewisse ildiranische Eigenschaften. Ein Kind mit nur einem Achtel menschlichem Gen-Material wird zu einem kräftigeren Arbeiter, einem talentierteren Sänger oder einem einfallsreicheren Wissenschaftler. In vielen Fällen haben die betreffenden Personen große Ähnlichkeit mit Ildiranern, und wir ziehen sie als solche auf. Andere sind so anders, dass wir sie hier auf Dobro behalten, bis sie erwachsen sind, und dann setzen wir sie erneut im Zuchtprogramm ein, in der Hoffnung auf eine Nachkommenschaft mit normaler physischer Struktur.«
Daro’h und Udru’h beobachteten, wie Ärzte vier nackte menschliche Frauen riefen und sie anwiesen, die langen Zuchtbaracken zu betreten. Dort würden sie sich mit sorgfältig ausgewählten Angehörigen verschiedener ildiranischer Geschlechter paaren. Es wurde auch Sperma von männlichen Menschen verwendet, aber ildiranische Frauen wurden nicht so leicht schwanger. »Menschliche Frauen sind fruchtbarer als Ildiranerinnen. Die Terraner vermehren sich wie Nagetiere –zum Glück für uns.«
Daro’h zeigte großes Interesse. »Sind sie deshalb so versessen darauf, viele Welten zu besiedeln? Weil ihr Volk wächst und sie Lebensraum benötigen?«
Udru’h schüttelte den Kopf. »Nein, sie brauchen keinen Lebensraum. Sie wollen nur mehr und immer mehr. So sind sie eben.«
Udru’h erinnerte sich an seine eigenen Fragen und Reaktionen, als er der Designierte-in-Bereitschaft für Dobro gewesen war und all diese Informationen bekommen hatte.
Damals war er so unschuldig gewesen wie Daro’h, ohne zu wissen, was wirklich auf Dobro geschah. Doch nach und nach war die Wahrheit durchgesickert, und Udru’h hatte sein Leben dieser Arbeit gewidmet.
Seinem Nachfolger Daro’h würde es ebenso ergehen.
»Mein Vater verbrachte viel Zeit mit einer menschlichen Frau, einer grünen Priester in«, sagte der junge Designierte-in-Bereitschaft. »Er spricht noch immer von ihr.«
Udru’h wahrte einen neutralen Gesichtsausdruck. »Sie schwächte sowohl sein Herz als auch seinen Verstand. Aber jetzt hat er die Macht und das Thism übernommen, und ich glaube – ich muss es glauben –, dass er als Weiser Imperator weiß, was für das Reich richtig ist.«
»Ich habe vor, das Richtige zu tun«, sagte Daro’h, und Udru’h spürte, wie die Sorge aus ihm wich.
In einem hell erleuchteten, aber schlicht eingerichteten Ausbildungszentrum versammelte der Dobro-Designierte alle fünf Halbblutkinder von Nira Khali. Rod’h, das Zweitälteste –von Udru’h selbst gezeugt –, verbeugte sich vor seinem Vater.
Rod’h war sechs Jahre alt, aber viel weiter entwickelt, als es sein Alter vermuten ließ. Der Designierte sah großes Potenzial in dem Jungen, wenn auch kein so großes wie in Osira’h.
Die anderen drei Kinder – Gale’nh, Tamo’l und Muree’n –verbrachten ihre Tage mit Unterricht durch Angehörige des Mediziner- und Wissenschaftler-Geschlechts. Sie lernten, ihre geistigen Möglichkeiten zu entfalten, und manchmal schlüpfte auch Udru’h selbst in die Rolle des Lehrers. Ildiraner des Linsen-Geschlechts nutzten ihre schwachen geistigen Kräfte, um den Kindern dabei zu helfen, ihre telepathischen Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Niras Kinder konnten bereits mit den Leistungen erwachsener Angehöriger des Linsen-Geschlechts mithalten.
»Diese fünf Kinder sind das Herz unseres Plans, Daro’h«, erklärte Udru’h. »Selbst den Wächtern und Beamten hier ist nicht das volle Ausmaß unserer Absichten bekannt. Bis er zum Weisen Imperator wurde, wusste auch dein Vater nichts davon.
Ab du musst Bescheid wissen, Daro’h, denn du wirst diese Arbeit einmal weiterführen… obwohl ich hoffe, dass wir unsere Ziele bald erreichen. Wenn das der Fall ist, wenn sich der Sinn dieses Projekts erfüllt, kann Dobro eine normale Splitter-Kolonie werden, ein stolzer Teil des Ildiranischen Reiches, ohne Geheimnisse.«
»Ich bin bereit zuzuhören, Designierter.«
Udru’h zögerte und fragte sich kurz, wo er beginnen sollte.
»Vor zehntausend Jahren tobte ein titanischer Krieg im Spiralarm, wie ein Sturm im All. Die Hydroger verbündeten sich mit den Faeros gegen die Wentals und Verdani.«
»Kämpften Ildiraner in jenem Krieg? In der Saga der Sieben Sonnen gibt es keine Aufzeichnungen.«
»Ja, wir nahmen an dem Krieg teil… aber nur so, wie Aasfresser an einer Schlacht beteiligt sind. Wir waren unwichtig, und die Zerstörung betraf uns nicht – bis die Klikiss in den Krieg verwickelt wurden. Sie entwickelten die Fackel und vernichteten viele Gasriesen, was den Zorn der Hydroger auf feste Welten richtete, darunter auch unsere. Sie verstanden uns nicht, bemühten sich auch gar nicht, uns zu verstehen. Die Hydroger schlugen einfach zurück und zerstörten alles.
Dann wandten sich die Klikiss-Roboter gegen ihre Schöpfer und versuchten, sie auszulöschen und sich zu befreien. Mit ihrer Maschinensprache und der gemeinsamen, koordinierten Datenverarbeitungskapazität gelang es ihnen, einen Kontakt mit den Hydrogern herzustellen. Sie fanden Gemeinsamkeiten und lernten eine Art der Kommunikation, die weitaus komplexer ist als alles, das wir als Sprache verstehen. Die Roboter erklärten den Hydrogern, wer sie waren, und gewannen sie als Verbündete im Kampf gegen das Volk der Klikiss.«
»Und wie wurden wir in den Krieg verwickelt?«, fragte Daro’h. Die Halbblutkinder hörten ebenfalls interessiert zu. Sie wussten, dass es bei dieser Geschichte um Dinge ging, die ihr Schicksal bestimmten.
»Nachdem die Hydroger Dutzende unserer Welten zerstört hatten, traf der damalige Weise Imperator eine Vereinbarung mit den Klikiss-Robotern, die sich bereit erklärten, als Mittler zwischen uns und den Hydrogern zu fungieren. Die Roboter nutzten ihre Kommunikationsfähigkeiten, um die Hydroger dazu zu bringen, unsere Splitter-Kolonien nicht mehr anzugreifen. Im Gegenzug halfen Ildiraner den Robotern bei der Auslöschung ihrer Schöpfer.«
Daro’h runzelte die Stirn. »Das klingt… unehrenhaft.«
Udru’h atmete tief durch. »Wie dem auch sei: Das Ildiranische Reich überlebte – und die Klikiss verschwanden.«
Das Gesicht des jungen Designierten-in-Bereitschaft zeigte eine Mischung aus Faszination und Entsetzen.
»Aber wir haben den Robotern nie ganz getraut«, fuhr Udru’h fort. »Sie sind Maschinen und fast so fremdartig wie die Hydroger. In den damaligen Vereinbarungen haben wir vielen Dingen zugestimmt, wie auch die Roboter, doch wir wussten, dass wir uns nicht auf sie verlassen konnten. Ebenso klar war uns, dass die Hydroger nicht für immer Ruhe geben würden.
Deshalb, zu unserem Schutz, suchten wir nach anderen Möglichkeiten, eine Brücke zwischen Ildiranern und Hydrogern zu bauen, eine Kommunikationsmöglichkeit zu entwickeln, die über einfache Worte und Gedanken hinausgeht. Vor tausenden von Jahren begannen wir mit diesem Programm und verbanden Geschlechter und Blutlinien in dem Versuch, unsere eigene Telepathie zu verstärken. Aber selbst die besten Angehörigen jeder Generation erweiterten unser Potenzial nur um einen Bruchteil.
Nach einigen Jahrtausenden entwickelten wir das Linsen-Geschlecht, dessen Angehörige mit besseren mentalen Fähigkeiten ausgestattet sind. Sie können das Thism leichter berühren als die anderen Geschlechter, wenn auch nicht so gut wie der Weise Imperator und seine direkte Blutlinie. Zwar wird das Linsen-Geschlecht mit jeder neuen Generation ein wenig stärker, aber wir befürchteten, dass es zu langsam ging, dass die Zeit nicht ausreichte.«
Daro’h erriet den nächsten Teil. »Und dann fanden wir die Menschen.«
Udru’h lächelte sardonisch. »Ja. Sie boten eine genetische Vielfalt, die uns einen Sprung um mindestens hundert Generationen gestattete. Ihre mentalen Fähigkeiten wirkten wie ein starker Katalysator, als wir sie den ildiranischen Blutlinien hinzufügten. Und dieser Erfolg kam keinen Moment zu früh. Den Klikiss-Robotern ist es nicht gelungen, die Hydroger von ildiranischen Welten fern zu halten. Vielleicht waren sie nicht dazu imstande – oder es steckt Verrat dahinter.
Was auch immer der Fall sein mag: Wir brauchen eine eigene Brücke, um direkt mit den Hydrogern zu verhandeln.«
»Hassen uns die Klikiss-Roboter?«
Udru’h sah seinen Nachfolger an. »Die Gedanken der Klikiss-Roboter bleiben uns verborgen, aber wir wissen, dass sie zu Täuschung und Verrat fähig sind. Es ist jedoch klar, dass ihre Furcht vor uns wächst, während sie an Einfluss verlieren und der Krieg eskaliert. Wir wissen viele Dinge, die sie vor anderen verbergen möchten.«
Auf der anderen Seite des Raums beendete Osira’h eine Übung und lief mit funkelnden Augen zu ihnen. Der Dobro-
Designierte lächelte und streckte dem telepathischen Halbblutmädchen die Hand entgegen, während Daro’h einen neugierigen Blick auf seine Halbschwester richtete. »Und so muss Osira’h zu unserer Mittlerin werden. Wir hoffen, dass sie uns eine Verständigung mit den Hydrogern ermöglicht.«
Osira’h erwiderte das Lächeln, doch ihre Stimme klang ernst.
»Ich werde bereit sein, Designierter. Das verspreche ich.«
47
CELLI
Als sie mit dem leichten Gleiter über den leidenden Weltwald flogen, schlang Celli die Arme um die Taille des grünen Priesters. Inzwischen war sie oft mit Solimar geflogen und hatte sich an das instabile Vehikel mit den schlagenden Kondorfliegenschwingen gewöhnt. Doch es gefiel ihr, einen Vorwand dafür zu haben, sich an den Rücken des jungen Mannes zu schmiegen. Und Solimar hatte offenbar nichts dagegen.
Der kleine Motor summte, als der grüne Priester beschleunigte und über einem anderen verbrannten Bereich kreiste. »Und so geht es weiter und weiter«, sagte Solimar.
»Wir sind stundenlang geflogen, und die Wunde reicht so weit, wie mein Gleiter uns tragen kann.«
Celli spürte den Kummer ihres Freundes und fühlte ihn auch im eigenen Herzen. Sie wollte Solimar trösten und ihm sagen, dass sich der Weltwald erholen würde. Zwar glaubte sie fest daran, aber dazu war immens viel Arbeit nötig, mehr als sie sich vorstellen konnte.
»Der Weltwald ist schwer verletzt«, sagte Celli. »Unsere größte Hilfe für ihn besteht vielleicht darin, an ihn zu glauben.
Gib den Bäumen Optimismus, Solimar. Du bist ein grüner Priester. Vielleicht brauchen die Weltbäume Hoffnung ebenso sehr wie Zeit zum Heilen.«
Sie fühlte, wie sich die Schultern des jungen Mannes lockerten. Er sah zu ihr zurück. »Du hast Recht, Celli.
Während des ersten Kriegs gegen die Hydroger, vor langer Zeit, musste der Weltwald eine noch größere Niederlage hinnehmen und erholte sich trotzdem…«
»Pass auf, wohin du fliegst!«
Solimar wich nur knapp einer nach oben gereckten Klaue aus dunklen Zweigen aus. »Ich würde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht. Es war schwer genug, dich beim ersten Mal zu retten.« Sie klopfte ihm neckisch auf den Arm und hielt sich auch weiterhin an Solimar fest. Er war immer für sie da gewesen, wenn sie ihn gebraucht hatte.
Während des Angriffs der Hydroger auf den Wald hatte Celli in einer brennenden Pilzriff-Stadt festgesessen und zu lange ausgeharrt – sie war so dumm gewesen zu glauben, nicht wirklich in Gefahr zu sein. Dann hatte sie versucht, dem Feuer auszuweichen, indem sie auf periphere Klumpen der Pilzriff-Stadt kletterte und von dort aus mit akrobatischem Baumtänzergeschick von einem Ast zum nächsten sprang.
Doch das Feuer hatte sich schnell ausgebreitet und alle Fluchtwege abgeschnitten. Celli hatte in der Falle gesessen, hilflos und voller Furcht – bis sie den summenden Motor eines Gleiters hörte. Sie hatte aufgesehen und die Arme gehoben, erfüllt von jäher Hoffnung, und Solimar hatte sie den Klauen des Todes entrissen. Aus Furcht war Erleichterung geworden, als sie fortflogen.
Vor der Rettung hatte Celli Solimar kaum Beachtung geschenkt. War sie so reserviert und egozentrisch gewesen?
Estarra hätte diese Frage vermutlich mit Ja beantwortet, aber seit dem Angriff der Hydroger hatte sich Celli sehr verändert.
Inzwischen brachen Solimar und sie jeden Tag mit dem Gleiter auf, um einen Eindruck vom angerichteten Schaden zu gewinnen, während auf dem Boden grüne Priester das verbrannte Dickicht durchstreiften, Trümmer beseitigten und Schösslinge retteten. Kinder und Akolythen durchsuchten die Asche nach gepanzerten schwarzen Samenkapseln. Andere bereiteten Gewächshäuser vor und ließen neue Bäume aus den Kapseln wachsen.
»Wenn wir doch nur mehr Hilfe hätten«, sagte Solimar.
Das Interesse der Hanse an den Resten des Kugelschiffs überraschte Celli nicht. Ihre Wissenschaftler und Waffentechniker waren nach Theroc gekommen und hatten Hilfsgüter mitgebracht, wie ein Trostpreis als Gegenleistung für das Wrack. Doch die TVF-Spezialisten waren nicht geblieben, um bei der wichtigen Arbeit zu helfen, sondern hatten die Trümmerteile zur Erde gebracht, wo sie untersucht werden sollten. Nur darum ging es ihnen.
Der Motor des Gleiters stotterte; ein Kondorfliegenflügel war blockiert. Solimar löste den klemmenden Flügel ruhig und hantierte an den Kontrollen. Der Flug des Gleiters stabilisierte sich wieder, und sie stiegen höher, zogen weitere Kreise.
Für einen grünen Priester war es eigentlich seltsam, dass Solimar gern mit technischen Dingen herumspielte – mit Maschinenteilen und Instrumenten der Caillie und auch mit neuen Apparaten, die von Händlern der Hanse stammten. Er fand Gefallen daran, mit selbst gebauten Gleitern hoch über dem Weltwald Schmetterlingen nachzujagen. Einmal war er von einem hungrigen Wyver verfolgt worden und ihm nur knapp entronnen.
Die Weltbäume fanden Solimars Konstruktionen interessant.
Der Wald verwendete nur biologische Energie und wusste kaum etwas von Zahnrädern, Kolben und Flaschenzügen. Als Akolyth hatte Solimar ihm geduldig die Funktionsweise verschiedener Motoren und Fahrzeuge erklärt. Der Weltwald nahm alle Daten in sich auf und stellte sie Solimar zur Verfügung. Wenn der junge Mann für eine Reparatur Informationen brauchte, verband er sich durch den Telkontakt mit den Bäumen und griff auf die von ihm selbst geschaffene Datenbank zu.
Solimar flog in einem noch weiteren Kreis, doch der verbrannte Bereich schien endlos zu sein. »Ich fürchte, es wird noch eine Weile dauern, bis wir beide in den Bäumen tanzen können.« Ihnen beiden gefiel der Baumtanz, und sie hatten über die Bewegungsmuster gesprochen, die sie kannten. Doch unter den gegenwärtigen Umständen blieb keine Zeit für ein derartiges Vergnügen.
Umgestürzte Bäume hatten einen Flusslauf blockiert – eine Wiese war überschwemmt worden, und Pflanzen, die das Feuer überlebt hatten, drohten dort zu ertrinken. »Wir müssen jemanden hierher schicken, der die Stämme beiseite schafft.
Das Wasser muss wieder fließen und das trockene Land flussabwärts erreichen.«
Celli blickte nach unten. »Ist das nicht ein Zulauf der Spiegelseen? Es gab dort ein Dorf…«
»Es wurde vollständig zerstört. Ich bin dort gewesen.«
Solimar hob und senkte die breiten Schultern. »Die Wurmkokons wurden pulverisiert. Ich habe keinen einzigen Überlebenden gesehen.«
Celli schlang die Arme noch fester um ihn. Brandgeruch hing in der Luft. Dichte Wolken zogen über den Himmel, und sie hoffte, dass Regen den grässlichen Geruch verschwinden ließ, dem Wald wieder das Gefühl von Frische und Sauberkeit gab.
Aber bis dahin würde es noch lange dauern.
»Genug für heute«, sagte Solimar. »Wir sollten besser zurückkehren und Bericht erstatten.« Er flog in Richtung der fernen Pilzriff-Stadt hinter dem dunstigen Horizont.
48
RLINDA KETT
Es bereitete Rlinda Kett große Freude, die Unersättliche Neugier zu fliegen, und sie hätte jedes Ziel angesteuert, das die Hanse ihr nannte. BeBob und sie bekamen all das Ekti, das sie benötigten, solange sie Ausrüstungsmaterial und Kolonisten zu den neu besiedelten Welten brachten.
Rlinda hatte ihr Schiff bereits voll beladen, aber diesmal bestimmte ein einzelner Passagier ihren Kurs, aufgrund einer ausdrücklichen Bitte des Vorsitzenden Wenzeslas höchstpersönlich. Sie sah den Mann im Sessel des Kopiloten an und lächelte. »Schön, Sie wieder an Bord zu haben, Davlin.«
Sein Gesichtsausdruck blieb neutral. »Ich muss zugeben, dass es auch mich freut, Sie wieder zu sehen, Rlinda. Seltsam, nicht wahr?«
»Haben Sie sonst keine Freunde?«
»Es sind nicht mehr viele, seit ich für die Hanse arbeite.«
Rlinda schaltete den Autopiloten ein und lehnte sich in ihrem verstärkten Sessel zurück. »Dann wird es Zeit, dass Sie Gelegenheit finden, wieder ein richtiges Leben zu führen. Wie wär’s, wenn wir uns die Zeit mit einem Spiel vertreiben, während wir unterwegs sind? Ich kann Ihnen ein breites Spektrum an Unterhaltungsmöglichkeiten anbieten.«
»Nein.« Es klang nicht unhöflich, nur desinteressiert.
Rlinda lächelte weiterhin – sie wusste, dass Davlin Lotze eine harte Nuss war. »Möchten Sie, dass ich etwas Besonderes für Sie koche? Ich kenne viele Rezepte.«
»Nein.«
Sie rieb sich die Hände. »Ihr Wunsch besteht also allein darin, ein angenehmes Gespräch zu führen?«
»Nein.«
Es funkelte in Rlindas Augen. »Ich ziehe Sie nur auf, Davlin.
Das wissen Sie doch, oder?«
»Ja.«
»Ich dachte, Spione sollten zuvorkommend sein und sich jeder Situation anpassen können.«
»Ich bin kein Spion, sondern Spezialist für obskure Details und exosoziologischer Forscher.«
»Mit anderen Worten: Sie sind ein Spion ohne feine Lebensart.«
»Ich schätze, darauf läuft es hinaus.« Davlin überraschte Rlinda mit einem Lächeln, dem allerersten überhaupt.
»Ihr Lächeln ist bezaubernd, Davlin. Sie sollten es öfter zeigen.«
»Genau darum zeige ich es nicht. Zu viele Leute würden es bemerken.«
Rlinda seufzte und gab ihm einen mütterlichen Klaps auf die Hand. Ein Gespräch mit Davlin Lotze war wie ein Besuch beim Zahnarzt, aber sie fand trotzdem Gefallen daran.
Davlin war still, ordentlich und unaufdringlich. Er hatte kurz geschnittenes Haar und ein Gesicht, dessen Alter man kaum bestimmen konnte. Er war groß und gut gebaut. An seinen Zügen fiel nur auf, dass sie durch nichts auffielen. Kein Wunder, dass die anderen Kolonisten so wenig auf ihn geachtet hatten.
»Crenna ist sehr nett. Ich bin nur einige Male dort gewesen, aber die Welt machte einen recht guten Eindruck auf mich.«
»Ja. Voller Stille und Normalität. Mir gefielen die Leute dort.« Davlin sah aus dem Fenster und beobachtete die dahinziehenden Sterne. »Was ganz anderes, als durch Transportale der Klikiss zu gehen und den Bestimmungsort unbekannter Koordinatenkacheln zu erforschen. Ich habe genug für die Hanse getan, von Spionage bis zum direkten Kampf. Einige meiner frühen Missionen als Träger einer Silbermütze waren… ziemlich scheußlich.«
Das überraschte Rlinda. »Sie waren bei den Silbermützen?
Davon haben Sie mir nichts erzählt. Und ich dachte, Sie hätten mir Ihre ganze Lebensgeschichte anvertraut.«
Davlin musterte sie mit ausdrucksloser Miene. »Gewisse Teile habe ich ausgelassen.«
»Ich weiß nie, wann ich Ihnen glauben kann, Davlin.«
Daraufhin lächelte er erneut. »Gut.«
Nach einer Weile wuchs Crennas Sonne inmitten der Sterne vor dem Schiff. Als der gleißende Ball die Bildschirme füllte, aktivierte Rlinda die Filter. »Noch immer starke Sonnenfleckenaktivität, aber nichts Gefährliches. Als ich das letzte Mal ins Crenna-System kam, um Sie abzuholen, trieben sich einige Hydroger in der Nähe der Sonne herum. Ich weiß nicht, wonach sie gesucht haben. Die ungewöhnliche Sonnenaktivität schien sie zu interessieren.«
»Haben die Hydroger Sie angegriffen?«
»Nein. Ich habe alle Systeme deaktiviert und mich tot gestellt. Entweder bemerkten sie die Neugier nicht, oder sie scherten sich nicht um mich.«
»Ich habe die letzten Berichte von der Kolonie gelesen«, sagte Davlin. »Von irgendwelchen Hydroger-Sichtungen war darin nicht die Rede.«
»Umso besser. Auch BeBob hat es auf Crenna gefallen.«
Rlinda hob die Brauen. »Erinnern Sie sich an Branson Roberts?«
»Ja, ich erinnere mich an Captain Roberts.«
»Er fliegt jetzt wieder mit mir und transportiert Fracht mit der Blinder Glaube. Aber das ist alles inoffiziell. Eigentlich hat er sich unerlaubt von der Truppe entfernt, wegen zu gefährlicher Erkundungsmissionen für die TVF.«
»Das dürfte General Lanyan gar nicht gefallen.«
»Das Gefühlsleben des Generals ist sein Problem. Wir machen uns deshalb keine Sorgen.«
In letzter Zeit waren Rlinda und BeBob damit beschäftigt gewesen, Baumaterial und schweres Gerät zu transportieren.
Auf Crenna sollte Rlinda zehn oder mehr Freiwillige für die Kolonisierungsinitiative aufnehmen, obwohl es ihr ein Rätsel blieb, warum jemandem daran gelegen sein sollte, eine so friedliche Welt zu verlassen und ins Unbekannte aufzubrechen.
Manche Leute suchten immer woanders nach einem besseren Leben. Andere stellten sich der Herausforderung, eine eigene Gesellschaft zu gründen und auf einer ungezähmten Welt zu überleben. Rlinda wusste nicht, wo ein Mann wie Davlin in dieses Bild passte.
»Ich wette, nach einem Jahr langweilen Sie sich.«
»Langeweile wäre etwas ganz Neues für mich. Ich freue mich darauf.« Davlin seufzte, und es klang zufrieden.
Rlinda behielt eine recht hohe Geschwindigkeit bei, als sie in die Umlaufbahn des Planeten Crenna einschwenkte und ihm auf seinem Weg ums Zentralgestirn folgte. Kurze Zeit später erschien die Kolonialwelt vor ihnen, wie ein Juwel im All. »Da sind wir, Davlin. Jetzt kommt der schwere Teil für Sie. Vor Ihrem Verschwinden hielten all die Leute dort unten Sie für einen ganz normalen Kolonisten mit ein wenig technischem Geschick. Man wird Ihnen viele Fragen stellen. Sind Sie bereit, sich als Spion zu erkennen zu geben?«
»Als Spezialist für obskure Details«, korrigierte er.
»Was auch immer.«
Davlin sah Rlinda mit stoischem Gesicht an. »Ich bin durchaus imstande, mit schwierigen Situationen fertig zu werden. Die Siedler auf Crenna sind gutherzige Menschen. Sie werden mich akzeptieren.«
Rlinda veränderte den Kurs, senkte die Geschwindigkeit und steuerte die Unersättliche Neugier in die Atmosphäre des Planeten. Dann beugte sie sich zur Seite und klopfte Davlin kameradschaftlich aufs Knie. »Es war mir eine Freude, Sie wieder an Bord gehabt zu haben. Denken Sie daran: Ich helfe gern, wenn Sie etwas brauchen.«
Es war eine dahingeworfene Bemerkung, die sie schon oft gemacht hatte. Der Mann an ihrer Seite wirkte überrascht.
»Das ist ein gefährliches Angebot.«
»Und Sie haben versucht, sich als gefährlichen Mann darzustellen.« Rlinda zuckte mit den Schultern, sah auf die Kontrollen und konzentrierte sich auf die Landung. »Aber ich schätze, ich riskiere es.«
49
ERSTDESIGNIERTER THOR’H
Zwar waren noch nicht alle Spuren des Hydroger-Angriffs verschwunden, aber Hyrillka erholte sich schnell. Der Erstdesignierte Thor’h freute sich darüber, wieder auf dieser Welt zu sein, wo er glücklich gewesen war und die Privilegien seines hohen Rangs ohne unangenehme Verantwortung genossen hatte. Er empfand Hyrillka als sein Zuhause, noch mehr als den Prismapalast in Mijistra.
Die helle primäre Sonne war bereits untergegangen, und die sekundäre hing tief am Himmel, der orangefarben glühte und wie verbrannt wirkte – er zeigte nicht die Helligkeit, die sich Thor’h wünschte. Das Diadem der hellen Sterne des nahen Horizont-Clusters ging auf und schmückte das Zwielicht. Auf dem Hügel des Zitadellenpalastes schien das Licht von Glänzern durch Straßen und in Zimmer, spendete den Ildiranern Trost. Der fleißige Pery’h befasste sich mit Aufzeichnungen und Berichten, die Hyrillkas Vergangenheit und Produktivität betrafen. Der junge Designierte-in-Bereitschaft war ein guter Verwalter, der sich pflichtbewusst um seine Arbeit kümmerte.
Doch Thor’h genoss jeden Moment, den er allein mit seinem Onkel verbringen konnte.
Er und Rusa’h wanderten durch die Nialia-Felder, weit von den hellen Lichtern entfernt. Beim Wiederaufbau von Hyrillka hatte Thor’h große Mühe auf die Restaurierung des Zitadellenpalastes verwendet, der von den Hydrogern in einen Trümmerhaufen verwandelt worden war. Er wollte, dass Hyrillka wieder so wurde wie während seiner glücklichsten Jahre, und deshalb hatte Thor’h unverhältnismäßig viel Zeit und Anstrengung in die Wiederherstellung von Skulpturen, Friesen, Kacheln, Brunnen und Mobiliar investiert und dabei nicht einmal die Kletterpflanzen vergessen, die einst an den Wänden des offenen Gebäudes emporgewachsen waren. Die Arbeit hatte ihm dabei geholfen, den hilflosen Schrecken während des Angriffs zu überwinden. Thor’h konnte jetzt voller Stolz von sich behaupten, etwas geleistet zu haben.
Er wollte diese schöne Welt nicht für die Pflichten im Prismapalast aufgeben, wusste jedoch, dass ihm eines Tages keine andere Wahl bleiben würde. Aber noch war es nicht so weit…
Rusa’h ging ein kleines Stück vor ihm. Der sich erholende Designierte blieb seltsam stumm, während er im Schatten der langen Reihen aus dicken Nialia-Reben schritt. Die männlichen Nialias flatterten aufgeregt hin und her, als sie an ihnen vorbeikamen. Die im Boden verwurzelten weiblichen Rebenbündel zuckten, neigten sich erregt von einer Seite zur anderen.
»Die Schiing-Produktion hat wieder das Niveau wie vor dem Angriff der Hydroger erreicht, Onkel«, sagte Thor’h und schloss zu Rusa’h auf. Die Droge war überall im Ildiranischen Reich beliebt und bewirkte ein euphorisches Gefühl von entrückter Klarheit und hellem Leuchten, so als könnte die unter dem Einfluss von Schiing stehende Person die Lichtquelle deutlicher erkennen. »Die Nialias wachsen schnell, und ich habe keine Kosten gescheut, um genug Dünger und Lockstoffe zu beschaffen. Die Eiswellen der Hydroger haben die Felder erfrieren lassen, doch in diesem Jahr wird die Ernte fast wieder normal sein. Schiing ist nach wie vor unser wichtigster Exportartikel.«
Rusa’h ging weiter, still und gleichgültig. Der Designierte schien an Gesprächen nicht mehr so großen Gefallen zu finden wie sonst. Früher hatten Thor’h und Rusa’h voller Begeisterung Tänzern, Erinnerern, Künstlern und Sängern zugeschaut und sich über die Himmelsparaden gefreut, die immer dann stattfanden, wenn Schiffe der Solaren Marine nach Hyrillka kamen. Der Designierte Rusa’h hatte die Gesellschaft seiner Vergnügungsgefährtinnen genossen und wäre fast bei dem Versuch gestorben, sie zu retten.
Doch jetzt veranstaltete Rusa’h keine großen Feiern mehr. Er war still und in sich gekehrt, als hätte nur ein Teil von ihm die Rückkehr aus der lichtüberfluteten Sphäre geschafft, in der sein Geist während der langen Bewusstlosigkeit gefangen gewesen war. Vergnügungsgefährtinnen umgaben ihn im wieder aufgebauten Zitadellenpalast, doch Rusa’h schien nicht mehr an ihren sexuellen Verlockungen interessiert zu sein, obgleich er ihre Gesellschaft akzeptierte.
Angesichts der Verschlossenheit des Designierten runzelte Thor’h besorgt die Stirn. »Was… was ist mit dir, Onkel?«
Rusa’h strich mit dem Finger über die fleischigen Blätter der Nialias. »Ich lausche den Pflanzenmotten. Schiing ist mehr als nur eine Droge, Thor’h – es beinhaltet eine wichtige Komponente der Lichtquelle, wie kraftvolles, fließendes Blut.«
Seine Stimme schien aus der Ferne zu kommen.
Thor’h betrachtete die vertrauten Gewächse an den silbrigen Bewässerungskanälen. Selbst im matten orangefarbenen Sonnenschein herrschte Unruhe in den langen Reihen der Nialias: Frisch geschlüpfte Pflanzenmotten flatterten von Rebe zu Rebe, auf der Suche nach einer geeigneten Partnerin.
Nialias waren halb Pflanze und halb Tier. Der hölzerne Hauptkörper wurzelte im Boden, während die mobile männliche Komponente sich in Form einer weißgrauen Motte manifestierte. Im Anfangsstadium öffnete sich eine knollenartige Knospe, und die männliche Pflanzenmotte der Nialia flog los, erfreute sich am Licht und tanzte in der Luft.
Die weibliche Nialia-Blume war mit den dicken, gewundenen Stängeln verbunden und etwa so breit wie eine Hand. Sie wies lavendelfarbene und blaue Blätter auf. In ihrer Mitte gab es einen weißen Ring aus fedrigen, mit Pollen bedeckten Staubgefäßen, die nach oben ragten und die Motten mit ihrem süßen Duft anlockten, sodass sie sich auf die Stiele setzten und sie befruchteten.
Thor’h beobachtete, wie eine Pflanzenmotte eine stark duftende Blume umkreiste. Der Hyrillka-Designierte starrte mit besonderer Intensität darauf, als wollte er die Motte mit seiner geistigen Kraft zur Landung zwingen. Schließlich landete das kleine silberweiße Geschöpf auf den Blumenblättern und schob die Beine tief in den Pollenring.
Langsam und sanft wölbten sich die Blumenblätter nach oben und umgaben die Motte, fügten das männliche dem weiblichen Element hinzu. Die fleischigen Seiten der Blume und ihr Stängel pumpten mehrmals, als sich männliche und weibliche Nialia vereinten, ihre Flüssigkeiten miteinander vermischten.
Nach kurzer Zeit würden die Flügel der Motte abfallen, und später wuchs dann eine reife Nialia-Frucht aus der vereinten Form.
Mit einer plötzlichen, raubtierhaften Bewegung riss Rusa’h die Blume mit der männlichen und weiblichen Komponente ab und zerdrückte das sich hin und her windende Gebilde. Er hob die zur Faust geballte Hand, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Finger noch fester um die Blume. Silbrig blauer Saft tropfte in den offenen Mund des Designierten, rann ihm über Lippen, Wangen und Kinn. Rusa’hs Augen glänzten, und sein Blick reichte in die Ferne.
Als er getrunken hatte, sah er Thor’h an, ohne sich den Blutsaft vom Mund zu wischen. »Frisches Schiing ist das beste und stärkste. Es wirkt… intensiver als die verarbeitete Form und bringt mich näher zur Lichtquelle.«
Thor’h hatte bisher nur verarbeitetes Schiing zu sich genommen. In größeren Dosen trübte es die Verbindung mit dem Thism-Netzwerk. Manche fanden das vorübergehende Gefühl entspannend; Thor’h empfand es als befreiend. Lichter waren heller, Gedanken klarer. Unter dem Einfluss von Schiing fühlte er sich schwungvoll, wie in einem Zustand geistiger Schwerelosigkeit. Aber frisches Schiing hatte Thor’h noch nie probiert.
Die tiefe, raschelnde Stille der Nialia-Felder beunruhigte Thor’h. Er sehnte sich nach einem Gespräch, um das Unbehagen zu überwinden, das Rusa’h mit seinem Verhalten in ihm geweckt hatte. »Zwar bin ich der Erstdesignierte, aber ich wünschte, ich könnte hier bei dir bleiben, Onkel. Pery’h wäre im Prismapalast besser aufgehoben, aber er ist der Designierte-in-Bereitschaft.«
Rusa’h bedachte ihn mit einem sonderbaren Blick und wischte sich klebrige Tropfen vom Kinn. Er ließ die zerquetschte Pflanzenmotte fallen und leckte sich die Finger.
»Du musst tun, was für das ildiranische Volk am besten ist.
Darin besteht dein Schicksal.«
Thor’h wusste, welche Antwort man von ihm erwartete, doch er gab sie nicht gern. »Ja, ich werde dem Weisen Imperator, meinem Vater, gehorchen. Ich werde meine Pflicht erfüllen…
und das Reich stark machen.«
Sein Onkel überraschte ihn. »Vielleicht ist es nicht das Beste für dich, dem Weisen Imperator zu gehorchen, Thor’h.
Manchmal ist die Lichtquelle nicht für jeden klar. Jeder Ildiraner kann geblendet oder getäuscht werden, selbst dein Vater.«
Thor’h wusste nicht, was er sagen sollte. »Aber er ist der Weise Imperator.«
»Er ist… Jora’h.«
Thor’h runzelte die Stirn, und sein Unbehagen nahm zu.
»Sollen wir zum Zitadellenpalast zurückkehren, Onkel? Wo es heller ist?«
»Kehr zurück, wenn du möchtest. Ich bleibe lieber hier allein.«
»Allein?« Es erschien Thor’h überaus seltsam, dass sich ein Ildiraner so etwas wünschen konnte.
»Allein.«
»Sind die Schatten hier nicht zu bedrückend für dich? In einigen Stunden geht die primäre Sonne wieder auf, und wir können diesen Ort erneut aufsuchen, wenn es heller ist…«
Rusa’h drehte den Kopf und sah ihn an, überhaupt nicht beunruhigt von den Schatten. »Wenn ich das Licht in mir trage, fürchte ich die Dunkelheit nie.«
Thor’h schauderte. »Du bist in der Sphäre der Lichtquelle gewesen und weißt daher von Dingen, die ich nicht verstehe.«
»Oh, du wirst verstehen, Thor’h.« Das trocknende Schiing in Rusa’hs Gesicht glitzerte im Licht. »Ich werde dafür sorgen, dass du verstehst.«
50
BASIL WENZESLAS
Es war eine inoffizielle Besichtigungstour durch die Fabrik, in der Soldaten-Kompis produziert wurden, und der Lärm gab Basil Gelegenheit, mit dem Kommandeur der Terranischen Verteidigungsflotte zu sprechen, ohne dass jemand mithörte.
»Wonach halten Sie Ausschau, Vorsitzender?« General Lanyan stand neben ihm, als sie die militärischen Roboter auf den Fließbändern beobachteten.
Basil lächelte sarkastisch. »Manchmal schaue ich einfach nur zu, General. Offiziellen Inspektionen misst man zu große Bedeutung bei. Heute brauche ich weder König Peter noch Admiral Stromo oder Mr. Pellidor oder einen der hundert Protokoll- oder Hanse-Assistenten. Ich wollte die Kompis sehen – und mit Ihnen sprechen.«
Lanyan versteifte sich so, als wollte er sich auf den Empfang einer Medaille vorbereiten. »Haben Sie die Berichte von heute Morgen erhalten? Alle drei zusätzlichen Klikiss-Fackeln sind mit Erfolg eingesetzt worden. Drei weitere Hydroger-Welten brennen. Wir haben einen uneingeschränkten Sieg errungen.«
»Hm. Wenigstens können wir ihn für weitere
Jubelpropaganda verwenden.« Basil mied Lanyans Blick und beobachtete weiterhin die Soldaten-Kompis. Die Maschinen marschierten im perfekten Gleichschritt, ihrer Programmierung gemäß. Es war atemberaubend. Soldaten-Kompis würden nie zögern. Sie folgten ihren Anweisungen, ohne die Moral irgendeines Befehls infrage zu stellen. Sie benahmen sich nicht wie Kinder. In dieser Hinsicht hatte Basil während der vergangenen Monate genug erlebt, vonseiten Prinz Daniels, Peters, der grünen Priester und Roamer.
»Es freut mich zu sehen, dass sich jemand genau so verhält, wie ich es von ihm erwarte«, sagte Basil Wenzeslas. »Wenn es doch nur möglich wäre, menschliche Rekruten so auszubilden, dass sie ebenso effizient sind.« Er wusste, dass König Peter in Hinsicht auf die neuen Kompis noch immer starke Bedenken hatte, aber der Vorsitzende hielt ihn an der kurzen Leine, um weiteren Ausbrüchen von Irrationalität vorzubeugen.
Der technische Spezialist Swendsen und der
Chefwissenschaftler Palawu hatten ausgezeichnete Arbeit geleistet – die Produktion der neuen Kompis lief reibungslos.
Nachdem Palawu mit der Absicht aufgebrochen war, auf Rheindic Co die Transportale der Klikiss zu untersuchen, hatte Basil Swendsen angewiesen, sich den von Theroc stammenden Trümmern des Hydroger-Schiffes zu widmen. Die Kompi-Fabriken funktionierten auch ohne die beiden Männer.
»Vielleicht sollten wir die Soldaten-Kompis auch für Erkundungsflüge bei Gasriesen der Hydroger einsetzen«, sagte Lanyan. »Sie sind zweifellos zuverlässiger als die zwangsverpflichteten Piloten. Zwei weitere eingezogene Scouts sind verschwunden. Damit sind es insgesamt dreißig Drückeberger, und bisher haben wir nicht einen einzigen von ihnen gefunden.« Die Miene des Generals verfinsterte sich.
»Jeder Deserteur ist für mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich weiß beim besten Willen nicht, was jene Leute für wichtiger halten, als bei diesem Krieg der Terranischen Verteidigungsflotte zu dienen.«
»Die Roamer scheinen ähnliche Ideen zu haben.« Basil richtete den Blick auf Lanyan. »Da wir gerade bei verlorenen Schiffen sind und uns hier niemand hört, General… Was ist mit dem zerstörten Roamer-Schiff, über das sich Sprecherin Peroni so aufgeregt hat? Stimmen ihre Angaben?«
»Ich bin sicher, dass die Roamer zu heftig reagieren, Vorsitzender. Sie geben lieber der TVF die Schuld als zuzugeben, dass einer ihrer Piloten inkompetent ist.«
»Ja, General, so heißt es in der von König Peter herausgegebenen Verlautbarung«, sagte Basil ernst. »Aber ich glaube nicht daran, ebenso wenig wie Sie. Ohne eindeutige Beweise würde Sprecherin Peroni keine derartigen Vorwürfe gegen uns erheben. Was für mich bedeutet, dass Sie etwas ohne mein Wissen und ohne meine Zustimmung unternommen haben.« Er kniff die grauen Augen zusammen. »Sagen Sie mir, was geschehen ist, damit ich mit diesem Durcheinander fertig werden kann.«
Diesmal war es Lanyan, der dem Blick des Vorsitzenden auswich und zu den Soldaten-Kompis sah. »Soweit ich weiß, Sir, ist es nur einmal passiert… eine Unüberlegtheit, für die ich die volle Verantwortung übernehme.« Mit knappen Worten beschrieb er, wie sein Moloch während eines Patrouillenflugs auf einer der fast leeren Handelsrouten einem Roamer-Frachter begegnet war. Als sich herausstellte, dass die Ekti-Ladung nicht an die TVF geliefert werden sollte, hatte General Lanyan sie beschlagnahmt. Der zornige Roamer-Captain hatte geschworen, offiziellen Protest dagegen einzulegen.
»Er hätte uns große Probleme bereiten können, Vorsitzender.
Deshalb verließ ich die Brücke, und einer der Offiziere –
Patrick Fitzpatrick III. – beschloss in meiner Abwesenheit, den Roamer einem… Unglück zum Opfer fallen zu lassen. Ich habe nicht damit gerechnet, dass jemand die Trümmer findet und Strahlungsrückstände von Jazern entdeckt.«
Ärger brodelte in Basil. »Das war Ihr zweiter Fehler, General. Ihr erster bestand darin, nicht an die möglichen Konsequenzen gedacht zu haben. Wo ist Fitzpatrick jetzt?«
»Er starb als Held bei Osquivel, Vorsitzender.« Lanyan runzelte die Stirn, als gefiele ihm nicht, was er vorschlagen wollte. »Wir könnten vielleicht einräumen, dass Fitzpatrick ohne Befehl handelte und wir seine Aktion nicht billigen. Wäre das Entschuldigung genug, um die Roamer zu veranlassen, die Handelsbeziehungen mit uns wieder aufzunehmen? Ich mag es nicht, einen meiner tapferen Soldaten anzuschwärzen, aber in diesem Fall heiligt der Zweck die Mittel. Er ist ohnehin tot.«
»Ausgeschlossen, General. Wenn ich mich recht entsinne, war der junge Mann ein Enkel von Maureen Fitzpatrick, die zu meinen Vorgängern im Amt des Vorsitzenden der Hanse zählt und ein besonders strenges Regiment führte. Sie lebt noch und hat großen Einfluss. Ich möchte sie nicht vor den Kopf stoßen, indem ich ihren Enkel zum Sündenbock mache.«
»Lassen Sie es vom König erledigen«, sagte Lanyan. »Er kennt die Hintergründe nicht und klingt glaubwürdig.«
»Mag sein. Aber leider ist König Peter intelligent und würde den Plan sofort durchschauen. Wie dem auch sei: Wenn die Bürger oder Sprecherin Peroni auch nur vermuten, dass Peter lügt, ist unsere Glaubwürdigkeit dahin. Doch darum geht es gar nicht, General. Ganz gleich, was wirklich geschehen ist: Wir können keine Schuld eingestehen. Während dieser Phase des Krieges käme das politischem Selbstmord gleich.
Sie wollen das Problem lösen, indem Sie die Clans zufrieden stellen, aber davon will ich nichts wissen. Ich möchte klarstellen, dass die Roamer hier die Bösen sind. Ich verurteile, was Sie getan haben, aber ich weise auch darauf hin, dass die Roamer derart verzweifelte Maßnahmen provoziert haben, weil sie das Ekti so knapp hielten.«
Der General nickte. »Die Clans haben uns immer Probleme bereitet, Vorsitzender. Hat ihnen die Hanse jemals offiziell Unabhängigkeit gewährt?«
»Nein. Sie erklärten sich einfach für frei, und entsprechend verhalten sie sich seit Jahrhunderten. Das unvernünftige Embargo könnte uns Gelegenheit geben, die Sache mit den Clans ein für alle Mal zu regeln.«
Soldaten-Kompis marschierten durch den Korridor und warteten auf ihren Transport zu den Kampfschiffen der TVF.
Sechzig Manta-Rammschiffe wurden in den Werften des Asteroidengürtels gebaut, und viele dieser Kompis sollten ihren Dienst an Bord jener Schiffe verrichten. Die Vorbereitungen kamen gut voran, aber der Umstand, dass die Roamer ihre Handelsbeziehungen mit der Hanse abgebrochen hatten, führte zu ganz neuen Problemen, die energische Gegenmaßnahmen erforderten.
»Bei diesem Krieg kam es immer wieder zu Niederlagen und Tragödien. Wir sollten eine zweite Front eröffnen, an der wir leicht siegen können. Man schaffe einen Feind, den man bezwingen kann, und anschließend vernichte man ihn. Das Volk wird darin einen Fortschritt sehen – obwohl der Sieg kaum eine Rolle spielt.«
»Aber die Hydroger…«
»Die Hydroger mussten drei weitere Klikiss-Fackeln hinnehmen. Wenn wir jetzt über die verschlagenen Roamer siegen, beginnt ein neuer strahlender Tag für die Hanse, meinen Sie nicht, General?«
Lanyan schien nicht ganz überzeugt zu sein. »Vielleicht, Sir.
Dies ist eine große Veränderung in unserer Politik. Früher haben Sie sich gegen offensive Maßnahmen in Hinsicht auf die Roamer ausgesprochen.«
»Früher hat die Maschinerie des Spiralarms so gut funktioniert, dass wir Zurückhaltung üben konnten. Jetzt klemmen ihre Zahnräder, und wir benötigen ein Brecheisen, um sie wieder in Bewegung zu setzen.« Basil bedachte den TVF-Kommandeur mit einem dünnen Lächeln.
»Ja, Vorsitzender.«
Basil faltete die Hände. »Wir beginnen mit einer Kampagne, die die Roamer verteufelt und zeigt, dass sie immer wieder die Menschheit im Stich gelassen haben. Das Embargo ist nur das krasseste Beispiel dafür. Wir haben die moralische Überlegenheit, und jedes Mittel ist gerechtfertigt, um die Clans in die große Familie des menschlichen Volkes zurückzuholen.
Lassen Sie sich etwas einfallen. Seien Sie von mir aus rücksichtslos, aber entwickeln Sie einen Plan.«
Als Lanyan nickte, entließ ihn Basil. »Sie können gehen, General. Ich bleibe hier und sehe mir noch eine Zeit lang die Kompis an.«
51
PATRICK FITZPATRICK III.
Oben wölbten sich die Ringe von Osquivel, als Fitzpatrick sich vorbeugte und einen skeptischen Blick ins Innere der Roamer-Greifkapsel warf.
Zhett Kellum nahm im Pilotensessel Platz und legte mit einer fließenden Bewegung die Sicherheitsgurte an. Ihre Finger huschten über die Kontrollen und aktivierten die Bordsysteme.
Die junge Frau warf einen ungeduldigen Blick über die Schulter. »Wollen Sie nun einsteigen oder nicht, Fitzie? Hat man euch TVF-Jungs nicht beigebracht, wie man sich anschnallt?«
»Vielleicht kann ich nicht glauben, dass Sie mich hinausbringen ins All.«
»Sehen Sie eine lehrreiche Erfahrung darin. Wir haben es satt, dass ihr Tiwis so ahnungslos seid.« Während Fitzpatrick nach einer passenden Antwort suchte, löste Zhett ihre Gurte und legte sie erneut an, demonstrativ langsam. »Schauen Sie mir zu, wenn Sie Schwierigkeiten haben. Schieben Sie dies dort hinein, bis es klickt. Und ziehen Sie hier, um die Gurte zu straffen.«
Fitzpatrick sank in den Sessel des Kopiloten. »Wir TVF-Piloten sind so kompetent, dass wir keine Zeit mit unnötigen Sicherheitsvorkehrungen verschwenden.«
»Vermutlich sind Sie bei harten Landungen zu oft mit dem Kopf angestoßen. Zu viele unvorhergesehene Dinge können schief gehen; man sollte sich besser auf die vorbereiten, die man vorhersehen kann.«
Zhett drückte eine Taste, und die Luke schloss sich mit einem leisen Zischen. Sie erinnerte Fitzpatrick an einen Sargdeckel…
und an die Rettungskapsel, in der er eingeschlossen gewesen war, bis Zhett ihn gerettet hatte. »Furchten Sie nicht, dass ich Sie überwältige und mit diesem Schiff verschwinde?«
Zhett Kellum wölbte die Brauen. »Sie wollen mit einer Greifkapsel fliehen? Das ist ziemlich ehrgeizig von Ihnen. Wie viele Jahrhunderte brauchen Sie, um den nächsten Hanse-Planeten zu erreichen?«
Fitzpatrick biss sich auf die Lippe und schnitt eine finstere Miene.
»Und wenn Sie es für so einfach halten, mich zu überwältigen…«, fügte die junge Frau hinzu. »Versuchen Sie es nur.«
Sie ließ die Kapsel aufsteigen und steuerte sie aus dem Hangar. Dort drehte sie das kleine Gefährt und flog dann lässig durchs schwebende Geröll von Osquivels Ringen.
Fitzpatrick sah aus dem Fenster. »Wohin sind wir unterwegs?«
»Ich möchte Ihnen unsere Anlagen zeigen, damit Sie eine Vorstellung davon gewinnen, wie viel Arbeit wir in sie investiert haben – obgleich ich spüre, dass Sie nicht leicht zu beeindrucken sind.«
»Bestimmt nicht von dem, was Kakerlaken leisten können.«
In Zhetts dunklen Augen blitzte es zornig. »Sie neigen auch nicht dazu, übermäßig viel Respekt oder Dank zu zeigen.« Sie begann mit gewagten Manövern, ließ die Greifkapsel rotieren, sodass Fitzpatrick die Orientierung zu verlieren drohte.
Er hielt sich fest und wollte Zhett nicht die Befriedigung geben, ihn stöhnen zu hören. Während der TVF-Ausbildung hatte er schlimmere Dinge – ein wenig schlimmere – erlebt.
Als sie die Ringebene des Planeten verließen, sah Fitzpatrick zahlreiche helle Punkte, Abgasfahnen, die sich in der Leere des Alls verloren, und Abraumwolken. Alles deutete auf große Produktionsanlagen hin.
Die Werften der Roamer boten sich seinen Blicken dar, und einige von ihnen enthielten fast fertig gestellte Schiffe.
Die Ausdehnung der Raumdocks ging weit über das hinaus, was Fitzpatrick für möglich gehalten hätte. »Eine ganze Flotte kam hierher, um die Hydroger anzugreifen. Warum haben wir hiervon nichts bemerkt?«
»Weil Tiwis nicht besonders aufmerksam sind. Und weil wir uns rechtzeitig getarnt haben.«
»All diese Stationen und Habitatkomplexe und Industrieanlagen… Ich habe mit einigen alten Frachtbehältern und ein oder zwei Shuttles gerechnet.«
»Sie haben noch längst nicht alles gesehen, Fitzie. Die Große Gans unterschätzt uns immer.«
»Nennen Sie mich nicht Fitzie.«
»Wir haben fünf primäre Raumdocks und Montagegerüste, vier Haupthabitatkomplexe, siebzehn
Verwaltungsaußenposten, dreiundzwanzig mobile Schmelzer und acht stationäre Fabriken, die Rohmaterialien zu Komponenten verarbeiten. Hinzu kommen viele Lager, Depots, Lebensmittelspeicher und Ersatzteilhangars, ganz zu schweigen von den Treibhauskuppeln und hydroponischen Anlagen.«
Fitzpatrick beugte sich zum Fenster vor und zählte die hellen Punkte in Osquivels Ringen, die eindeutig nicht natürlichen Ursprungs waren. Wie konnten wir das alles übersehen? »Wie viele Roamer leben hier? Ich habe mir euch immer als…
Familien vorgestellt, nicht mehr als jeweils eine Hand voll Leute.«
Zhett löste eine Hand von den Kontrollen. »Ein weiterer Irrtum, Fitzie. Wir haben Prospektoren und Geologen, die in den Ringen nach Ressourcen suchen, und wenn sie fündig werden, machen sich Erzabbauspezialisten ans Werk. Und dann die Arbeiter in den Schmelzern und Fabriken. Und die Abraumschlepper, bei den Tiwis ›Müllmänner‹ genannt.
Spediteure, die Material transportieren. Wartungsarbeiter, Schiffsbauer, Entwicklungsingenieure, auf
Lebenserhaltungssysteme spezialisierte Techniker, Computerspezialisten, Raumdockverwalter, Elektriker und Kompi-Experten, die sich um unsere Roboter kümmern.«
Fitzpatrick glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können. »Es ist wie ein Bienenstock.«
»Und damit meine ich nur die Personen, die direkt am Bau neuer Schiffe beteiligt sind. Die anderen Leute habe ich noch gar nicht erwähnt: Köche, Buchhalter, Händler, Leute auf der Lohnliste.«
»Lohnliste?«
»Ja, Fitzie, wir werden bezahlt. Wir haben
Reinigungsgruppen, obwohl wir normalerweise von den einzelnen Personen erwarten, dass sie sich selbst um diese Dinge kümmern. Sprechen Sie einmal darüber mit den anderen Tiwis. Dies ist kein Hotel, und sie sollten nicht erwarten, dass wir alles für sie erledigen. Bisher seid ihr armselige Gäste gewesen.«
»Dann lasst uns gehen.«
»Nach all dem, was Sie gesehen haben? Von wegen.« Zhett flog erneut durch den Ring, näher an den Gasriesen heran.
»Außer dem, was Sie hier bewundern durften, gibt es auch noch Anlagen im Kuiper-Gürtel. Dort sind Gruppen von uns damit beschäftigt, aus Kometen Wasserstoff und Ekti zu gewinnen.«
»Und Sie haben vergessen, der hiesigen Bevölkerung einunddreißig Angehörige der TVF hinzuzufügen, die Sie gegen ihren Willen hier festhalten.«
»Guter Hinweis. Sie belasten unsere Ressourcen – und Sie stellen unsere Geduld auf eine harte Probe. Zumindest ein wenig Dankbarkeit für die Rettung sollten wir eigentlich von Ihnen erwarten können.« Als hätte sie damit das Stichwort gegeben, blieben die Ringe hinter ihnen zurück; weiter vorn zeigten sich andere Objekte, die das Glühen des Planeten reflektierten. »Sehen Sie nur. Das ist von den großen, schwerfälligen Tiwi-Schiffen nach dem Kampf gegen die Hydroger übrig geblieben.«
Fitzpatrick spürte, wie sich etwas in ihm verkrampfte, als er plötzlich an das Massaker erinnert wurde. Er entsann sich an die Schreie… an das Gefühl schrecklicher Hilflosigkeit.
Er war Teil des Durcheinanders gewesen und hatte beobachtet, wie ein Remora-Geschwader nach dem anderen vernichtet worden war, wie Manta-Kreuzer und selbst die riesigen Moloch-Schlachtschiffe auseinander platzten. Die Hydroger hatten seinen eigenen Kreuzer schwer beschädigt.
Fitzpatrick hatte den Evakuierungsbefehl gegeben und gesehen, wie sich ein Kugelschiff näherte und mit blauen Energieblitzen angriff…
Ihm war es gerade noch rechtzeitig gelungen, die Rettungskapsel zu erreichen und sich auszuschleusen. Hinter ihm hatte eine Explosion das Schiff zerstört und Trümmer in alle Richtungen geschleudert. Der Notrufsender der Kapsel und die Lebenserhaltungssysteme waren beschädigt worden.
Mit gnadenloser Genauigkeit erinnerte sich Fitzpatrick daran, wie er verletzt durchs All getrieben war, langsam das Bewusstsein verloren hatte… bis ihn dieser dämonische Engel rettete.
»Danke«, sagte er leise.
Zhett sah ihn überrascht an und verzichtete auf eine spöttische Bemerkung.
Fitzpatrick schauderte, als er die Geisterschiffe sah, die von der TVF-Kampfgruppe zurückgelassen worden waren. Der Schiffsfriedhof erfüllte ihn mit Ehrfurcht und weckte gleichzeitig den Wunsch in ihm, sich irgendwo zu verstecken.
Als er die vielen Wracks sah, begriff er schließlich: Er und die anderen Geretteten wären hier gestorben. Sie alle. Die Reste der Flotte hatten sich in aller Hast vom Ringplaneten zurückgezogen. Selbst jetzt, Monate später, war kein Scout zurückgekehrt, um nach Rettungskapseln Ausschau zu halten.
Fitzpatrick verdankte Zhett Kellum und ihren Roamern sein Leben.
Verdammt, er hasste es, ihr verpflichtet zu sein!
Zhett erahnte seine Stimmung, und in ihrer Stimme erklang kein Sarkasmus, sondern Mitgefühl. Dieser Tonfall gefiel ihm viel besser als ihr Spott. »Ich weiß, wie es ist… in gewisser Weise. Meine Mutter und mein kleiner Bruder kamen durch ein Kuppelleck ums Leben. Ich war damals erst acht. Wir lebten in einer Asteroidenbeobachtungsstation. Roamer hatten die Umlaufbahnen der Hauptkomponenten des Gürtels berechnet, aber es ist sehr schwer, die Flugbahnen von Einzelgängern unter den Meteoriten vorherzusagen. Der Brocken durchschlug die Kuppel. Die Luft entwich in kurzer Zeit. Dreißig Menschen fielen der explosiven Dekompression zum Opfer; fast die Hälfte der Leichen verschwand im All.«
»Das… tut mir Leid, Zett.«
»Ich war erst acht, aber ich erinnere mich an die Totenfeier.
Wir wickelten die Leichen in Tücher, mit unseren Clansymbolen bestickt. Dann übergab mein Vater sie außerhalb der Ekliptik dem Weltraum, mit so hoher Geschwindigkeit, dass sie das Sonnensystem verlassen würden. Auf diese Weise sollten sie immer durchs All treiben und ihrem Leitstern folgen, von den Launen der Gravitation getragen.«
»Kommt es bei Ihnen oft zu solchen… Unfällen?«
Zhett konzentrierte sich wieder aufs Fliegen und sah Fitzpatrick nicht an, aber er glaubte, einen feuchten Glanz in ihren großen Augen zu bemerken. »Roamer leben und arbeiten in Bereichen mit hohen Risiken. Das wissen alle. Es kommt immer wieder zu Unfällen, aber wir lassen nicht zu, dass die gleiche Katastrophe zweimal passiert.« Fitzpatrick sah, wie sie schluckte. »Der Kuppelbruch, durch den meine Mutter und mein Bruder starben, führte zu einer erstaunlichen Innovation.
Wir wären bereit gewesen, die Idee der Großen Gans zu verkaufen, wenn wir nicht befürchtet hätten, von ihr betrogen zu werden.«
Fitzpatrick schluckte den Köder nicht. »Wie haben Sie das Problem gelöst?«
»Wir füllen eine Zwischenschicht der Kuppelwand mit seimigem Aerogel. Wenn es zu einem Bruch kommt, wird das zähflüssige Aerogel zuerst zum Loch gesaugt und verstopft es.
Dem Vakuum ausgesetzt, härtet es schnell und versiegelt die Öffnung. Auf ähnliche Weise formen die Blutplättchen Schorf über einer Wunde.«
Fitzpatrick erinnerte sich an die Roamerin Tasia Tamblyn und ihren ungewöhnlichen Einfall, aus taktischem Panzerschaum Flöße für die Flüchtlinge auf Boone’s Crossing zu formen. »Eine sehr gute Idee.«
»Man lernt, einfallsreich zu sein, wenn man nicht alles auf einem silbernen Teller präsentiert bekommt«, sagte Zhett.
»Wie gewisse Leute, die ich kenne.«
Fitzpatrick glaubte, sich verteidigen zu müssen, zumindest ein wenig. »Ja, es war leicht, mit einem berühmten Namen aufzuwachsen. Manchmal habe ich mir gewünscht, ein normales, unauffälliges Leben führen zu können.«
»Wir wissen, dass Ihre Eltern Botschafter sind«, sagte Zhett.
»Und Ihre Großmutter ist die frühere Vorsitzende der Hanse, Maureen Fitzpatrick. Frau Streitaxt höchstpersönlich.«
Fitzpatrick lachte so plötzlich, dass es wie erstickt klang.
»Das ist ein guter Name für sie.« Er stellte sich seine strenge Großmutter vor und dachte an die Zeit, die er als Kind bei ihr verbracht hatte. Maureen besaß ein porzellanartiges Gesicht und verfügte über eine eisige Schönheit – so stellte sich kaum jemand eine Streitaxt vor. Aber der Spitzname passte trotzdem zu ihr, fand Fitzpatrick. »Ich habe sie erst kennen gelernt, nachdem sie in den Ruhestand gegangen und angeblich sanfter geworden ist. Es muss sehr unangenehm gewesen sein, ihren Unwillen zu erregen, als sie die Vorsitzende war.«
Als Zhett die Greifkapsel zur anderen Seite des Schlachtfelds flog, bemerkte Fitzpatrick weitere Kapseln und kleine Schlepper, mit denen sich Bergungsspezialisten der Roamer den Wracks näherten und sie auf der Suche nach verwertbarem Material auseinander nahmen: elektronische Systeme, Schlafmodule, Lebensmittel, Lufttanks, Metalle. Fitzpatrick vermutete, dass alles zu den Werften und Montagegerüsten gebracht wurde, wo es beim Bau von Roamer-Schiffen verwendet werden konnte.
»Wer war Ihr Großvater?«, fragte Zhett. »Wie kam er mit ihr zurecht?«
Patrick Fitzpatrick zuckte mit den Schultern und beobachtete, wie eine Arbeitsgruppe ein großes Segment aus der von Hydroger-Blitzen geschwärzten Außenhülle eines Moloch löste. Er wollte den vom Feind angerichteten Schaden nicht sehen und wandte sich ab.
»Oh, ich bin ihm nie begegnet. Als ihre Ehe in einer bitteren Scheidung endete, nutzte die gute alte Frau Streitaxt ihren politischen Einfluss, um den armen Mann zu ruinieren. Sie trieb ihn in den Bankrott und sorgte dafür, dass er mittellos wurde. In die Säle der Macht kehrte er nie zurück. Ich habe mich immer gefragt, was so schlecht an ihm war.« Fitzpatrick strich sich übers dunkle Haar, das bereits länger war als bei der TVF erlaubt.
Zhett flog an einem zerstörten Remora vorbei: Das Cockpit war aufgerissen, und ein tollwütiger Hund schien die Innereien herausgezerrt zu haben. Ein Teil des Triebwerks hing neben dem kleinen Schiff im All, und Fitzpatrick glaubte, einen Raumanzug gesehen zu haben, aus dem die Luft entwichen war. Er schloss die Augen. »Könnten wir bitte… woanders hinfliegen?«
Auch diesmal gab Zhett keine spöttische Antwort und steuerte die Greifkapsel fort vom Schlachtfeld, ließ sie den weiten Ringen des Planeten folgen. Osquivels Wolken tief unten wirkten friedlich und gaben durch nichts zu erkennen, dass Ungeheuer in ihren Tiefen lauerten.
»Weil sie Fitzpatricks waren, ernannte man meine Eltern zu Botschaftern und entsandte sie zu mehreren Kolonialwelten.
Sie ließen sich von einem Planeten zum nächsten versetzen, weil sie sich schnell langweilten. Ich wuchs bei Privatlehrern und in Internaten auf. Die anderen blaublütigen Schüler und ich mischten uns regelmäßig unters gemeine Volk: Wir nahmen an vorbereiteten Wohlfahrtsveranstaltungen teil und pflegten den Kontakt mit all den kleinen Leuten, an die wir denken sollten.«
»Wie Roamer, meinen Sie?«, fragte Zhett mit einem defensiven Unterton.
»O nein! Meine Großmutter wäre entsetzt gewesen, hätte sie mich jemals mit einem Roamer zusammen gesehen. Ich arbeitete bei ambientalen Säuberungsaktionen mit und besuchte heruntergekommene Familien. Ich verteilte Kleidung und Suppe, half bei der Dekontamination von Sumpfland und dergleichen. Den Wert der Arbeit sah ich ein, aber ich verabscheute sie jedes Mal. Und die Gründe, aus denen mich meine Familie zu solchen Aktivitäten zwang, waren alles andere als altruistisch.«
»Sie haben anderen Menschen geholfen, Fitzie. Das ist doch was. Waren Sie nicht stolz darauf?«
»Ich habe es nie auf diese Weise gesehen… zumindest damals nicht. Ich habe nur gelernt, immer zu lächeln, wenn sich eine Kamera auf mich richtete. Denn wenn ich so dumm gewesen wäre, mich in der Öffentlichkeit zu blamieren, hätte mir meine Großmutter das Fell über die Ohren gezogen.«
Zhett schüttelte den Kopf und bediente die Kontrollen der Greifkapsel. »Ach, Patrick Fitzpatrick der Dritte, Ihr Leitstern ist nicht heller als ein Fingerlicht.«
»Was soll das denn heißen? Ist das irgendein religiöser Unsinn der Roamer?«
»An Ihrer Stelle würde ich anderen Leuten nicht so leichtfertig Unsinn vorwerfen. Haben Sie keine engen Freunde?«
»Nein, eigentlich nicht. Das gehörte nicht zum Programm.
Mein Leben war bis ins letzte Detail verplant; für Spontaneität blieb da kein Platz.«
Zhett bedachte ihn mit einem warmen Lächeln. »Aha!
Deshalb haben Sie nicht richtig verstanden, wie Menschen miteinander umgehen. Deshalb kommt die Zusammenarbeit bei den Roamern für Sie einem Schock gleich. Es ist eine ganz und gar ungewohnte Umgebung. Ihr Leben auf der Erde war immer behütet und vorherbestimmt. Sie mussten sich nie um irgendetwas bemühen. Deshalb sind Sie nicht fähig, den Leistungen anderer mit Anerkennung zu begegnen.«
Fitzpatrick verzog das Gesicht und wandte sich ab. »Das ist wieder die Zhett Kellum, die ich kenne. Mir sind schon Zweifel gekommen, da es eine Viertelstunde her ist, dass Sie mich zum letzten Mal kritisiert haben.«
»Eins zu null für Sie«, sagte die junge Frau. »Tut mir Leid.«
Fitzpatrick saß schweigend da und dachte nach. »Es ist mir nie in den Sinn gekommen, dass andere Leute – wie die Roamer – anders leben, weil sie es so wollen. Dass sie mit dem zufrieden sind, was sie haben. Ich dachte, ihre einfache Existenz wäre das Ergebnis ihres Versagens und nicht einer bewussten Wahl. Ich habe die Menschen in zwei Gruppen eingeteilt: die Reichen und die Notleidenden. Ich war froh, zu den Reichen zu gehören, und davon überzeugt, dass die Notleidenden mir alles wegnehmen wollten.«
»Entschuldige, Fitzie, nicht einmal für das ganze Geld der Hanse würde ich mein Leben gegen das Ihre eintauschen wollen.« Zhett sah ihn nicht an, als sie sich zur Seite beugte und Fitzpatrick mit einer Andeutung von Mitgefühl am Arm berührte. Als sie begriff, was sie machte, zuckte die Hand so plötzlich zurück, als hätte sie sich die Finger verbrannt.
»Vielleicht brauchen Sie einen Neuanfang, um etwas Nützliches zu tun, anstatt nur ein verwöhnter reicher Bengel zu sein.«
Sie steuerte die Greifkapsel in den ausgehöhlten Hangarasteroiden. Als sie ausstiegen und sich streckten, drehte Fitzpatrick den Kopf und sah, wie Del Kellum durch die Luke kam, die zu den Verwaltungsbüros führte. »Da bist du ja, mein Schatz!« Er richtete einen misstrauischen Blick auf Fitzpatrick.
»Ich hoffe, ihr hattet eine angenehme Zeit – und dass er nichts versucht hat!«
»Du bist zu besorgt, Vater. Ich habe ihn mir um den kleinen Finger gewickelt.«
Fitzpatrick warf der jungen Frau einen beleidigten Blick zu.
»Ich bringe Neuigkeiten von Rendezvous«, sagte Del Kellum. »Die Roamer haben einstimmig beschlossen, der Großen Gans kein Ekti mehr zu liefern. Wir haben alle Handelsbeziehungen zu ihr abgebrochen.«
»Kein Ekti mehr?«, entfuhr es Fitzpatrick. »Wir brauchen den Treibstoff! Während ihr Roamer euch versteckt, kämpft die TVF gegen die Hydroger und schützt eure kleinen Ärsche!«
»Die TVF beschützt uns?« Kellum lachte bitter. »Verdammt, dabei geht ihr Tiwis aber auf eine sehr sonderbare Weise vor –indem ihr Roamer-Frachter angreift und zerstört. Wir haben vor kurzer Zeit die Trümmer eines Transporters entdeckt, mit dem ein guter Freund von mir flog, Raven Kamarow. Die TVF
stahl die Ekti-Fracht und feuerte anschließend mit Jazern auf sein Schiff. Hören Sie bloß auf mit dem Unfug, dass ihr uns
›beschützt‹.«
Zhett wandte sich Fitzpatrick zu. »Es gibt keine Rechtfertigung für das, was die Große Gans getan hat, Fitzie.
Wenn sie Ekti von uns möchte, muss sie ihre Verbrechen eingestehen, die Schuldigen vor Gericht stellen und in aller Form zum Ausdruck bringen, dass sie in Zukunft auf derartige Aktivitäten verzichtet. Ganz einfach.«
Fitzpatrick spürte einen heißen Klumpen in der Magengrube.
Ihm wurden die Knie weich, und er vermutete, dass alle Farbe aus seinem Gesicht wich. Er selbst war für diese Situation verantwortlich. Er hatte den Befehl gegeben, auf Kamarows unbewaffnetes Schiff zu feuern. Er wagte nicht, zu sprechen und seine Schuld einzugestehen, obwohl sie deutlich in seinem Gesicht geschrieben stand.
Zhett bemerkte seine Zurückhaltung, als sie ihn dorthin zurückführte, wo die anderen TVF-Angehörigen untergebracht waren. Fitzpatrick fand nicht den Mut zuzugeben, was er getan hatte. Er fürchtete nicht nur die Strafe der Roamer, sondern auch Zhett Kellums Hass.
52
ORLI COVITZ
Rheindic Co war ganz anders als die wolkenverhangene, feuchte Welt Dremen, doch es handelte sich nur um eine Zwischenstation – hier warteten Kolonisten darauf, durch die Transportale ihre neue Heimat zu erreichen.
Orli war an graue Düsternis und Nieselregen gewöhnt. Sie wusste nicht mehr, wann sie zum letzten Mal warmen Sonnenschein auf den Armen und im Gesicht gefühlt hatte. Zu ihrem großen Kummer bekam sie erstmals in ihrem Leben einen starken Sonnenbrand. Auf Dremen hatte sie sich über solche Dinge nie Gedanken machen müssen, aber jetzt bedeckte juckende Röte jeden Quadratzentimeter von Armen, Wangen und Hals.
Ihr Vater ging zu den anderen Kolonisten und fragte nach Sonnencreme und dergleichen. Nur einige wenige hatten so etwas dabei, und er konnte es sich nicht leisten, den geforderten Preis zu bezahlen. Schließlich wurde er für seine Beharrlichkeit belohnt und fand das Gesuchte bei den Ausrüstungsmaterialien der Hanse. Gut eingeschmiert kehrte er zurück und trug die Creme auch bei seiner Tochter auf.
Immer wieder blinzelte Orli im hellen Licht des Sonnenscheins, den Berge und Felsschluchten reflektierten.
Alles sah so anders auf. Als Jan das Staunen bemerkte, mit dem seine Tochter die fremde Landschaft beobachtete, strich er ihr übers kurze Haar. »Keine Sorge, Mädchen. Unsere neue Heimat wird schöner sein als dies hier, warm und grün, ein Ort, an dem wir es endlich mal ruhig angehen lassen können.«
Orli lächelte, obwohl ihr auch die Wüstenlandschaft gefiel.
»Hast du herausgefunden, wohin man uns schicken wird? Hat man dir den Namen des Zielplaneten genannt?«
»Ich schätze, darüber entscheidet allein das Glück. Beim Aufruf unserer Nummer finden wir es heraus. Die Hanse fürchtet, dass die Kolonisten über Planeten streiten, Zuweisungen tauschen und dadurch die Aufzeichnungen durcheinander bringen.«
Orli nahm vor dem Zelt auf dem Boden Platz. »Man sollte erwarten, dass wir einige Hintergrundinformationen bekommen, um besser planen zu können.«
»Keine Sorge. Die neuen Welten sind erforscht worden. Man schickt uns bestimmt nicht zu einem Ort, auf dem wir kaum überleben können.«
Die Zelte wirkten wie bunte Pilze, die aus dem Boden des Tals wuchsen. Die TVF hatte alles für den Kolonistenstrom vorbereitet und mit hochenergetischen Strahlen den Sand der Wüste geschmolzen. Auf diese Weise war eine glasige Ebene entstanden, auf der Shuttles landen konnten. An jedem Tag trafen neue Schiffe mit Ausrüstungsmaterial und hoffnungsvollen Kolonisten ein, die im hellen Sonnenschein ausstiegen. Vor noch nicht allzu langer Zeit war Rheindic Co ein verlassener Ort gewesen; jetzt herrschte hier rege Betriebsamkeit.
Orlis Vater öffnete zwei Nahrungsrationen, die er bei der Verteilungsstelle bekommen hatte. Sie aßen kreidigen, nach Obst schmeckenden Pudding, angeblich voller Proteine und Vitamine. Orli sah, wie ihr Vater den Geschmack mit einer Grimasse kommentierte, und sie stieß ihn mit dem Ellenbogen an. »Alles ist besser als Pilzeintopf, oder?«
»Da hast du vollkommen Recht.« Jan erweiterte das Vorzelt und stützte die Plane mit Pfählen ab, sodass sie im Schatten sitzen konnten. Als die Abenddämmerung dem Himmel wundervolle Farben gab und die Temperatur sank, ging Orli ins Zelt, kramte in ihrer Habe und holte die Synthesizer-Streifen hervor. Sie spielte leise Musik, improvisierte dabei. Es schenkte ihr Ruhe, und ihr Vater versuchte zu summen, obwohl er diese Melodien jetzt zum ersten Mal hörte.
Jan wirkte gelangweilt, aber er lächelte. »Oh, ich hasse dieses Warten. Vielleicht kann ich morgen irgendwo im Hauptkomplex helfen.« Er drehte den Kopf und richtete einen nachdenklichen Blick auf seine Tochter. »Warum schließt du nicht Freundschaft mit den anderen Kindern? Ich habe etwa ein Dutzend in deinem Alter gesehen.«
Orli hatte selbst daran gedacht, sich aber dagegen entschieden. »Ich warte, bis wir auf unserer Kolonie sind, Vater. Dann kann ich langfristig Freundschaft schließen.«
»Freunde sind Freunde, Mädchen. Einer für einen Tag ist besser als gar keiner.«
Orli hatte nie viele Spielkameraden gehabt, weil sie ständig auf ihren Vater aufpassen musste, damit er nichts Unbesonnenes anstellte. Sie erzählte gern Geschichten und erfand Spiele, doch die Arbeit in den Pilzfeldern auf Dremen hatte den größten Teil ihrer Zeit beansprucht. Vielleicht fand sie in ihrer neuen Heimat jemanden, der ihr Interesse an Musik teilte. »Ich versuche es, wenn wir unser Ziel erreicht haben.
Das verspreche ich, Vater.«
Während der nächsten Tage leistete Jan freiwillige Arbeit im Verteilungszentrum. Den Abend verbrachte er meistens damit, zwischen den Zelten zu wandern, Gespräche zu beginnen, Dremen zu beschreiben und die anderen Kolonisten zu bitten, von den Welten zu erzählen, die sie verlassen hatten. Orli nutzte die Gelegenheit, mit ihren Synthesizer-Streifen zu üben.
Am fünften Abend hallte erneut das akustische Signal durchs Lager, wie mehrmals am Tag. Die Kolonisten sahen aus den Zelten, hörten auf zu kochen und unterbrachen Gespräche.
»Diesmal sind wir dran, Orli«, sagte Jan. »Ich bin ganz sicher.« Das hatte er vor den Durchsagen während der vergangenen drei Tage immer behauptet.
»Kolonisten der Gruppe 3, bitte versammeln Sie sich an der Bereitschaftsrampe. Treffen Sie Vorbereitungen dafür, in zwei Stunden das Transportal zu passieren.«
Der Hinweis wurde mehrere Male wiederholt, obwohl die Kolonisten schon beim ersten Mal jedes Wort in sich aufgesaugt hatten. Orlis Vater gab ihr einen Klaps auf die Schulter. »Na bitte, Mädchen. Man muss nur oft genug raten, um schließlich richtig zu tippen.«
Die Kolonisten in der Nähe hasteten plötzlich umher, als wäre eine Notfallevakuierung angekündigt worden. Zwei Stunden boten mehr als genug Zeit, um die wenigen Sachen zusammenzupacken, die Orli und ihr Vater von Dremen mitgenommen hatten. Orli wickelte die Synthesizer-Streifen vorsichtig in die Kleidung, die sie anschließend in den Rucksack legte. Ihr Vater sammelte seine eigenen Dinge ein: Kleidungsstücke, Speichermodule mit Dateien, Unterlagen mit Ideen für sinnlose Erfindungen und einige wenige Werkzeuge.
Sie alle ließen die Zelte für die nächste Kolonistenwelle zurück. Nach dem Aufbruch ihrer Gruppe würden Kompis die Quartiere reinigen und neu einrichten, damit nur einen Tag später andere Menschen in ihnen wohnen konnten. Auf den jeweiligen Zielplaneten gab es bereits aus Fertigteilen errichtete Gebäude.
Orli und ihr Vater gesellten sich den Kolonisten hinzu, die zu den Rampen an der Klippenwand strebten. Es gab keinen Grund zur Eile. Sie hatten noch anderthalb Stunden Zeit, aber Jan wollte zu den Ersten gehören, die das Transportal durchschritten, als ob einige Minuten einen Unterschied machen und ihm die Möglichkeit geben würden, das beste Haus zu beanspruchen. Vielleicht hatte er Recht.
Einige weitere blasse Siedler von Dremen traten zu denen, die von anderen unwirtlichen Hanse-Kolonien stammten. Sie standen vor der hohen Felswand und sprachen miteinander, bis man ihnen schließlich gestattete, das Labyrinth der alten Klikiss-Stadt zu betreten. Dort wirkten die steinernen Wände verwittert und abgenutzt. Viele der fremden Hieroglyphen und Artefakte waren durch die Menge der Menschen beschädigt worden, die diesen Ort passiert hatte.
Orli wollte stehen bleiben und die Zeichen betrachten, die vor zehntausend Jahren Klikiss-Klauen ins Gestein geritzt hatten, doch ihr Vater zog sie mit sich. »Wir haben reichlich Zeit, die Ruinen der Klikiss zu erforschen, wenn wir unsere neue Kolonie erreichen, Mädchen. Sie existieren auf allen Zielplaneten, denn sonst gäbe es dort keine Transportale.«
Ein Mann mit struppigem grauem Haar und einem mehrere Tage alten Bart wandte sich ihnen zu. »Oh, auf der Welt, zu der wir unterwegs sind, gibt es reichlich Ruinen. Und ein großes Tal mit hohen Granitwänden und fließendem Wasser.
Dort erwartet uns ein angenehmes Leben.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Orli.
»Weil ich schon einmal dort gewesen bin.« Der Mann streckte die Hand aus, bot sie erst dem Mädchen und dann dem Vater an. »Ich bin Hud Steinman und gehöre zu den Transportalforschern. Ich habe Corribus erst vor einem Monat gefunden und beschlossen, mich dort niederzulassen. Eine perfekte Welt, die beste, die ich besucht habe.«
Jan strahlte. »Da hörst du’s, Orli. Ich habe es dir ja gesagt.«
Orli rümpfte die Nase, als der ein wenig verwahrlost wirkende Forscher näher trat. Er roch nach Schweiß und Staub, schien aber recht nett zu sein. Weiter vorn näherten sich schlurfende Kolonisten dem schimmernden Bild auf einem flachen Stein. Laute Stimmen hallten von den Wänden wider.
Verwalter der Hanse forderten die Leute auf, in Bewegung zu bleiben, als eine Gruppe nach der anderen durch das Transportal schritt.
Orli erinnerte sich an einen Tag in ihrer Kindheit, als sie noch klein gewesen war. Ihr Vater hatte sie damals zu einem Vergnügungspark voller Attraktionen mitgenommen, unter ihnen holographische Simulatoren und altmodische Achterbahnen. Das Warten war ihr endlos erschienen, während sie Zentimeter um Zentimeter vorankamen. Sie hatte das Gefühl gehabt, eine Ewigkeit warten zu müssen, bis sie schließlich die Achterbahn erreichte – und die Fahrt damit ging nach wenigen Minuten zu Ende. Doch die Aufregung war die lange Wartezeit wert gewesen.
Orli hoffte, dass sich das Warten auf die ferne Klikiss-Welt –
Corribus? – ebenfalls lohnte.
Als sie näher kamen, das Summen der fremden Apparate, die knappen Wortwechsel der Techniker und die nervösen Stimmen der Kolonisten hörten, sah Orli die Wand. Menschen traten vor und verschwanden einfach, als wären sie über den Rand einer Klippe gesprungen. Schließlich ragte der trapezförmige Stein direkt vor ihr auf, umgeben von hundert Kacheln, jede mit einem anderen Symbol versehen.
Hud Steinman wandte sich ihnen zu, lächelte und zeigte dabei kariöse Zähne. »Los geht’s. Gleich versteht ihr, was ich meine.«
»Die Nächsten!«, rief ein Techniker. »Treten Sie vor. Halten Sie nicht die Leute hinter Ihnen auf. Für dieses Ziel sind noch viele Transfers vorgesehen.«
Orli ergriff die Hand ihres Vaters. Er drückte die ihre kurz, um ihr Mut zu machen, und sie wechselten einen Blick. Dann traten sie gemeinsam durchs Transportal – und fanden sich unter dem sonnigen Himmel von Corribus wieder, in einer ganz neuen Landschaft.
53
CHEFWISSENSCHAFTLER
HOWARD PALAWU
In den Klikiss-Ruinen auf Rheindic Co herrschte große Aktivität, und in einem solchen Chaos fiel es dem Chefwissenschaftler Palawu schwer, vernünftige Arbeit zu leisten.
Er war auf direkten Befehl des Vorsitzenden Wenzeslas hierher gekommen, und ihm standen alle Daten und Geräte zur Verfügung. Er durfte sich sogar über die Techniker hinwegsetzen, die sich mit dem ersten entdeckten Transportal der Klikiss beschäftigt hatten.
Zwar mangelte es Palawu nicht an Befugnis, aber die Kolonisierungsinitiative beanspruchte so viel Zeit und Raum im Transportalbereich, dass der Chefwissenschaftler nur spät in der Nacht Gelegenheit bekam, das Transportsystem zu untersuchen, und dann auch nur für ein oder zwei Stunden.
Abgesehen von ihm schien sich kaum jemand dafür zu interessieren, wie das Transportal funktionierte.
Alle paar Stunden versammelten die Techniker und Verwalter der Hanse Kolonistengruppen und öffneten das Transportal mit einer bestimmten Koordinatenkachel. Die Pioniere bezogen hintereinander Aufstellung, ihre Habe in Rucksäcke verpackt. Kisten mit Ausrüstungsmaterial und überladene Antigravpaletten, die gerade noch durch das trapezförmige Steinfenster passten, passierten das Transportal und verschwanden. Vermutlich erreichten sie den Zielplaneten, aber zu sehen war das nicht. Palawu beobachtete, wie eine Person nach der anderen durch die schimmernde Wand trat, und dabei fragte er sich, ob Margaret Colicos auf die gleiche Weise aus dem Raum entkommen war – und anschließend nicht den Rückweg gefunden hatte.
Einige Kolonisten passierten das Transportal lächelnd und mit Aufregung in den Augen. Anderen war ihr Unbehagen anzusehen, aber das Bewegungsmoment trug sie weiter.
Nachdem sie bis hierher gekommen waren, überlegten es sich nur sehr wenige anders und traten zurück. Wer im letzten Augenblick ablehnte, musste viel Geld für die Rückkehr nach Hause zahlen.
Wenn Palawu jünger und seine Frau noch am Leben gewesen wäre, wenn er noch das Gefühl gehabt hätte, etwas beweisen zu müssen… Dann wäre er vielleicht selbst aufgebrochen.
Stattdessen saß er jetzt als Chefwissenschaftler im Kontrollraum, hörte laute Gespräche und eine an Hysterie grenzende Aufregung.
Verwalter der Hanse leiteten den Exodus, während Transportaltechniker die Maschinen überwachten und sich dabei sorgfältig Notizen machten – auch sie verstanden die Funktionsweise der Portale nicht. Palawu bedauerte, nicht mehr Zeit zu haben, um das Transportsystem der Klikiss zu enträtseln. Nachdem er sich eine Woche lang mit den Klikiss-Artefakten befasst hatte, war er sicher, die Grundprinzipien der Funktion von Transportalen herausfinden zu können.
Doch der Vorsitzende Wenzeslas wollte vor allem die Kolonisierungsinitiative voranbringen, diese interstellare Landnahme, und der Chefwissenschaftler musste seine Arbeit leisten, indem er bruchstückhafte Informationen sammelte. Er nahm auf einem Stuhl Platz und versuchte, niemandem im Weg zu sein, als er Dateien aus dem Speicher seines alten Datenschirms abrief. Derzeit beschäftigte er sich mit Textaufzeichnungen, und dabei verwendete er am liebsten das langsame, längst überholte Gerät, das er seit seiner ersten Arbeit als Laborassistent besaß. Er hatte es von seiner Frau bekommen.
Palawu drückte eine Taste, und von Louis Colicos angefertigte Tagebucheinträge erschienen auf dem Schirm. Es erstaunte ihn sehr, dass es dem alten Archäologen gelungen war, das Transportal zu aktivieren, nur mithilfe von Batterien.
Nach fast zehntausend Jahren befand sich die fremde Technik in einem verblüffend guten Zustand. Bisher waren nur wenige der zahlreichen Koordinatenkacheln schwarz markiert, was auf Planeten hinwies, von denen die Forscher nicht zurückgekehrt waren. Viele der Kacheln warteten noch darauf, getestet zu werden – potenzielle Paradiese oder Todesfallen.
Der Chefwissenschaftler öffnete eine weitere Datei und betrachtete eine detaillierte Sternkarte mit Hinweisen auf bekannte Klikiss-Ruinen und Transportale. Wenn es ihm gelang, die Grundlagen der Technik zu entschlüsseln, so konnte die Hanse auf jedem beliebigen Planeten ein Transportal installieren. Ein enormer wirtschaftlicher Aufschwung wäre die Folge.
Er hatte auch Zugang zu genauen astronomischen Karten, in denen nicht nur die Hanse-Kolonien verzeichnet waren, sondern auch ildiranische Welten und bekannte ehemalige Klikiss-Planeten. Hinzu kamen Informationen über Sterntypen und planetare Positionen. Glühende Punkte kennzeichneten Sonnen, deren nukleares Feuer von den Hydrogern bei ihrem Kampf gegen die Faeros gelöscht worden war. Auf den Karten sahen die Punkte harmlos aus, aber Palawu schauderte innerlich, als er sich Wesen vorstellte, die mächtig genug waren, ganze Sonnen zu vernichten!
Er bemerkte eine weitere Markierung im Ptoro-System, wo eine Klikiss-Fackel den Gasriesen in eine Sonne verwandelt hatte. Jene Waffe war von den Klikiss vor langer Zeit entwickelt worden, vermutlich für den Kampf gegen die Hydroger. Der Planet Corribus, eine der neuen Kolonialwelten, zeigte noch immer die Narben jenes Konflikts.
Einer Intuition folgend verglich Palawu das Spektrum des in eine Sonne verwandelten Gasriesen Ptoro mit dem des ersten Testplaneten. Palawu wusste, dass sein alter Datenschirm nicht die notwendige Verarbeitungskapazität hatte, und deshalb griff er auf einen der großen Hanse-Computer zurück, der derzeit nicht für den Transport neuer Kolonisten gebraucht wurde. Er beauftragte die Maschine mit einem schnellen und gründlichen Vergleich.
Die Klikiss hatten ihre Waffe sicher entwickelt, um Gebrauch davon zu machen. Wenn man kosmische Maßstäbe anlegte, waren die dadurch entstandenen künstlichen Sonnen sehr kurzlebig – ein Gasriese hatte nicht genug nuklearen Treibstoff, um länger als einige tausend Jahre zu brennen –, aber selbst nach zehn Jahrtausenden konnten nicht alle artifiziellen Sonnen erloschen sein.
Zufrieden sah Palawu auf die Ergebnisse hinab. Der Computer hatte einundzwanzig Sterne mit kleinen brennenden Begleitern gefunden, die einmal Gasriesen gewesen sein mochten, vor langer Zeit von einer Klikiss-Fackel entzündet.
Einundzwanzig.
Waren es Schlachtfelder, auf denen die Klikiss gegen die Hydroger gekämpft hatten? Dieser Krieg hatte bisher Oncier, Ptoro und drei andere Gasriesen der Hydroger vernichtet – sie brannten noch immer.
So bemerkenswert und aufregend die Entdeckung auch sein mochte: Palawu gelangte schon bald zu der ernüchternden Erkenntnis, dass die Klikiss zwar mindestens einundzwanzigmal von ihrer Fackel Gebrauch gemacht hatten, aber trotzdem ausgerottet worden waren. Welche Chance konnte die Menschheit haben?
54
ANTON COLICOS
In den hellen Kuppeln von Maratha Prime blickte Anton nach draußen in die monatelange Finsternis und fühlte sich sehr allein.
Die Rückkehr des Designierten Avi’h ins leere Urlaubszentrum gab der kleinen Wartungscrew neue Kraft, obgleich sie den unnötigen Anweisungen, die der oberste Beamte Bhali’l erteilte, häufig keine Beachtung schenkte. Die beiden zusätzlichen Ildiraner verstärkten die Verbindungen des Thism.
Doch Anton blieb davon getrennt. Der egozentrische Designierte hatte den Tod von Antons Vater und das Verschwinden seiner Mutter mit einer Gleichgültigkeit verkündet, als wäre die Sache nicht ernster als ein Wetterbericht. Nach so vielen Jahren ohne eine Nachricht hatte Anton das Schlimmste befürchtet, aber trotzdem fühlte er sich so, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Die Zeit des Kummers und der Reue war gekommen.
Nachdem er losgezogen war, um seinen eigenen Interessen nachzugehen, hatte er seinen Eltern nicht mehr besonders nahe gestanden. Sie waren stolz auf ihn, das wusste er. Margaret und Louis hatten alle seine wissenschaftlichen Artikel gelesen und waren immer zur Stelle gewesen, wenn er Rat und Hilfe brauchte. Eigentlich erstaunlich, wenn er jetzt darüber nachdachte, denn schließlich hatten sie auf fernen Welten Ausgrabungen vorgenommen. Damals hatte er die Präsenz seiner Eltern immer für selbstverständlich gehalten. Er war von ihnen dazu erzogen worden, so unabhängig und selbständig wie sie selbst zu sein.
Vor dem dunklen Hintergrund von Marathas Nacht sah Anton sein geisterhaftes Spiegelbild im gewölbten Glas: schmales Kinn, glattes braunes Haar, tief liegende Augen. Als er ins Ildiranische Reich gekommen war, aufgeregt angesichts der Möglichkeit, mit dem Erinnerer Vao’sh die Saga der Sieben Sonnen zu studieren, hatte er nicht daran gedacht, Fotos seiner Eltern mitzunehmen. In seinem Universitätsbüro hatte Anton viele Bilder von ihnen, aus Fachzeitschriften und in Dokumenten, die eine Biographie von Margaret und Louis Colicos ergeben sollten.
Jetzt war ihre Geschichte traurigerweise zu Ende. Das Stück, das ihm immer gefehlt hatte…
»Ich habe einen weiteren Unterschied zwischen Menschen und Ildiranern entdeckt, Erinnerer Anton.« Vao’shs klangvolle Stimme ertönte hinter ihm. »Wenn der Kummer Ildiraner heimsucht, so streben sie nach Gesellschaft. Sie hingegen sind lieber allein.«
Anton drehte sich um und sah den ildiranischen Historiker in der Tür, vom Licht umgeben. Er rang sich ein mattes Lächeln ab. »Oh, ich versuche nur, damit fertig zu werden, wie sehr sich die Dinge verändert haben. Ich schwimme in Erinnerungen und ertrinke in Erkenntnissen, die ich schon vor Jahren hätte haben sollen.«
Er war acht Jahre alt gewesen, als ihn seine Eltern zum ersten Mal zu einer Ausgrabungsstätte mitgenommen hatten. Der betreffende Planet hieß Pym, eine Welt mit
termitenhügelartigen Ruinen der verschwundenen insektoiden Klikiss. Pyms Luft war trocken und der Himmel in jeder Nacht klar – tausende von Sternen funkelten am Firmament. Das Hilfspersonal und die Kollegen von der Universität verbrachten die Abende damit, historische Fragen zu diskutieren und Notizen zu vergleichen, gelegentlich auch mit dem Erzählen unflätiger Geschichten.
Außer Anton gab es keine anderen Kinder im Lager. Die übrigen Archäologen waren viel älter, ihre Söhne und Töchter bereits erwachsen und berufstätig. Deshalb blieb Anton sich selbst überlassen, ein fünftes Rad am Wagen, froh darüber, bei seinen Eltern zu sein – aber er gehörte nicht ganz dazu.
Er wanderte zwischen den Ruinen umher, kletterte in kleine Felsspalten und Löcher, die Erwachsene nicht erforschen konnten. Einmal entdeckte er dabei einen Raum mit einigen Artefakten, aber die Wissenschaftler schalten ihn und beschwerten sich bei Margaret und Louis darüber, dass er überall in den Ruinen uralten Staub aufwirbelte und seine Fußspuren hinterließ.
»Manchmal saß mein Vater abends bei mir«, wandte sich Anton an Vao’sh. »Wir entzündeten ein eigenes kleines Lagerfeuer bei den Klikiss-Türmen. Er war gutherzig, wusste aber kaum mit jemandem zu reden, der kein Kollege war. Ich weiß noch, wie ich den wie Feenlicht aufstiebenden Funken nachgesehen habe, während mein Vater von Klikiss-Theorien und Universitätspolitik sprach.«
Vao’sh setzte sich neben ihn, und als er sprach, war seine Stimme voller Anteilnahme. »Wussten Sie, dass man Maratha Prime ›Stadt am Rand‹ nannte, zwischen Tageslicht und Dunkelheit gelegen? Wir sind hier, sicher und geschützt unter unseren Kuppeln, mit all dem Licht, das die Glänzer uns schenken können. Ich erzähle meine Geschichten einem aufmerksamen Publikum – kein Erinnerer kann sich mehr wünschen.« Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, und die Hautlappen zeigten unterschiedliche Farben. »Aber ganz gleich, wie viel Licht wir jeden Tag aufnehmen und in uns behalten, die Nacht dort draußen bleibt schwarz und unergründlich.«
Anton wandte sich von seinem Spiegelbild ab. »Draußen im Dunkeln gibt es eigentlich gar nichts zu fürchten, Vao’sh.
Angesichts der Hydroger und all der verheerten Planeten existieren genug tatsächliche Gefahren, über die wir uns Sorgen machen können.«
»Mag sein, Erinnerer Anton, aber Furcht ist nicht nur das Ergebnis einer logischen Analyse.« Vao’sh berührte Anton an der Schulter, eine Geste, die er dem Menschen abgeschaut hatte. »Kommen Sie. Der Designierte Avi’h veranstaltet ein weiteres Bankett und möchte, dass ihm alle Gesellschaft leisten.«
»Schon wieder?«
»Schon wieder.«
»Dann sollten wir besser unsere Pflicht tun. Könnten Sie heute Abend eine Geschichte erzählen, die mich… ablenkt?
Wie wär’s mit einer Geistergeschichte? Das würde mir gefallen.«
Vao’sh überlegte. »Ich bin mir nicht sicher, ob es den anderen ebenso sehr gefällt wie Ihnen, aber ich werde eine solche Geschichte für Sie erzählen, Anton.«
Im zentralen Speisesaal, der während des langen Tages tausende aufnahm, standen einige kleine Tische für die siebenunddreißig Personen, die sich noch in der Stadt aufhielten. Der Designierte hielt den Saal für einen angenehmen Ort, aber seine Größe schien die Gruppe noch kleiner zu machen, als sie es ohnehin schon war.
Anton aß frisches Gemüse und konserviertes Fleisch. Mhas’k und Syl’k, die beiden Ildiraner des Bauern-Geschlechts, waren stolz auf ihre gute Produktion, doch der zurückgekehrte Designierte konsumierte die frischen Lebensmittel so schnell, dass sie bald zur Neige gehen würden.
Der Ingenieur Nur’of berichtete voller Enthusiasmus von den neuen Turbinen, die er in den alten Tunneln unter Maratha Prime installiert hatte, doch der Designierte wirkte weder beeindruckt noch interessiert. Avi’h hob die Hände. »Zeit für ein wenig Unterhaltung! Mein Vater hat seinen besten Erinnerer hierher geschickt, damit er uns in Maratha Prime Gesellschaft leistet. Also los, Vao’sh, erzählen Sie uns Ihre beste Geschichte.«
Der neben dem Designierten sitzende Bhali’v wiederholte die Anweisung offiziell. Vao’sh wandte sich Anton zu. »Zu Ehren unseres menschlichen Gastes erzähle ich
eine…
Schauergeschichte.« Der Designierte Avi’h runzelte die Stirn, schien sich eine heldenhafte oder ein wenig anstößige Geschichte erhofft zu haben. Doch er erhob keine Einwände, lehnte sich zurück und hörte zu.
»Im Spiralarm gibt es viel Geheimnisvolles. In einem früheren Zeitalter, als das Reich wuchs, legten unsere unerschrockenen Forscher weite Strecken zurück und versuchten, den bedeutendsten Fragen des Universums auf den Grund zu gehen. Unser Thism reichte weit; seine Fäden erstreckten sich über viele Sonnensysteme. Der Weise Imperator wollte das Universum kennen lernen und seinem Volk die Möglichkeit geben, es zu berühren.
So brach eine Septa aus Forschungsschiffen auf, um den dunklen Nebel zu ergründen, den wir Schlund des Alls nennen
– ein schwarzes Rätsel, das den Analyseversuchen unserer besten Astronomen widerstanden hatte. Der Weise Imperator wollte die Geheimnisse dieses mysteriösen Orts zwischen den Sternen lüften. Ildiraner fürchten die Dunkelheit, und deshalb wurden die Schiffe mit zusätzlichen Glänzern ausgestattet, innen und außen, und dann flogen sie in die Schwärze hinaus.«
Vao’sh zögerte, und die Hauptlappen in seinem Gesicht zeigten rasch wechselnde Farben und Emotionen. Er veränderte die Stimme, um seine Zuhörer zu überraschen, und sagte leise: »Sie verschwanden.«
Anton hörte dem Erinnerer zu und erkannte einige der Techniken wieder, die er Vao’sh selbst gelehrt hatte.
Der ildiranische Historiker beugte sich vor.
»Jahrhundertelang blieb die ganze Septa verschollen. Niemand wusste, was mit den sieben Schiffen und ihren tapferen Besatzungsmitgliedern geschehen war, doch durch das Thism spürte der Weise Imperator, dass sich etwas Schreckliches ereignet hatte. Etwas Kaltes, Finsteres und Unheilvolles.
Niemand wagte sich mehr in den Schlund des Alls, um nach der Antwort zu suchen. Der schwarze Nebel hing dort wie ein Fleck vor den Sternen, das Gegenteil der Lichtquelle.« Die Hautlappen des Erinnerers zeigten erst ominöse Farben und dann Schattierungen der Furcht.
»Jahrhunderte später fand eine Forschungsgruppe die sieben Schiffe, ohne Energie und ohne Leben. Sie trieben im All, weit vom nächsten Sonnensystem entfernt. Als sich Bergungsarbeiter einen Weg durch den Rumpf schnitten, stellten sie fest, dass alle Ildiraner an Bord tot waren. Sie hatten alle gleichzeitig das Leben verloren, von einem Augenblick zum anderen, und doch auf eine schreckliche Weise! Sie schienen mit ihren größten Ängsten konfrontiert worden zu sein, wirkten wie die Opfer einer Waffe, die immensen Schmerz und unendliches Entsetzen bescherte.«
Vao’sh hob einen Finger. »Aber sie waren nicht nur getötet worden. Jede Leiche war völlig weiß, als wäre sie gebleicht worden. Und vom einfachsten Angehörigen des Soldaten-Geschlechts bis hin zum Septar: Die Gesichter waren Fratzen, als hätten sie etwas Unerträgliches gesehen, das die Lichtquelle erlöschen ließ, die Seele verdunkelte und jeden Funken Leben aus ihrem Selbst stahl.«
Vao’sh sah die Zuhörer der Reihe nach an. Leise und in einem fröstelnden Tonfall fuhr er fort:
»Heute wissen wir, dass die Schiffe tief im Schlund des Alls auf die Shana Rei getroffen waren, auf Kreaturen, die von Schatten umgeben in der Nähe toter Sterne leben. Uns ist nicht bekannt, auf welche Weise die Forscher den Zorn der Shana Rei weckten.
Nicht lange danach kamen die Geschöpfe der Dunkelheit zum Vorschein und verbreiteten ihre Schatten. Damit begann eine Zeit von Geschichten, die zu grässlich sind, dass ich sie hier erzählen könnte. Es war der schrecklichste Konflikt unseres Reiches – bis zur Auseinandersetzung mit den Hydrogern heute.«
Anton musterte die Ildiraner, die auf ihn einen sehr beunruhigten Eindruck machten. Vao’sh hatte von einigen erzählerischen Tricks Gebrauch gemacht, doch seine klangvolle Stimme und die emotionale Ausdruckskraft der Hautlappen sorgten für eine Atmosphäre der Furcht, obgleich es eigentlich gar keinen Plot gegeben hatte – Ildiraner waren nicht besonders gut, wenn es um solche Geschichten ging.
Anton begriff, dass er als Einziger lächelte. Den anderen bereitete es offenbar Unbehagen, diesen Teil der Saga der Sieben Sonnen zu hören. Menschen konnten sich am Lagerfeuer erzählte Geistergeschichten mit dem Wissen anhören, dass alles erfunden war, aber Ildiraner glaubten fest daran, dass jeder Teil ihres großen Epos der Wahrheit entsprach.
»Danke, Vao’sh. Eine sehr gut erzählte Geschichte«, sagte Anton, und seine Stimme schien die Anspannung zu vertreiben. Der alte Erinnerer sah ihn an und nickte anerkennend.
Die anderen Ildiraner seufzten nervös und wandten sich wieder ihrem Essen zu, als ein dumpfes Donnern aus der Ferne kam. Wenige Sekunden später krachte eine weitere Explosion, diesmal direkt unter der Kuppelstadt.
Der Designierte Avi’h stand auf. »Was hat das zu bedeuten?«
Die Generatoren versagten; es gab plötzlich keine Energie mehr. Alle Lichter gingen aus, und Finsternis verschlang ganz Maratha Prime.
55
DAVLIN LOTZE
Als Rlinda Kett Ausrüstungsmaterial entlud und sieben Freiwillige an Bord nahm, die ihr Glück auf einer ungezähmten Klikiss-Welt versuchen wollten, ging Davlin mit hoch erhobenem Kopf zur Hauptsiedlung der Kolonie. Es wurde Zeit zuzugeben, wer er war und was er getan hatte, in der Hoffnung, dass ihn seine früheren Nachbarn in ihrer Mitte akzeptierten.
Während seiner früheren Jahre auf Crenna hatten ihn die Siedler gemocht, und er hatte den Anschein erweckt, ihre Sympathie zu erwidern. Niemand von ihnen wäre jemals auf den Gedanken gekommen, einen »Spezialisten für obskure Details« in ihm zu sehen, damit beauftragt, die aufgegebene Siedlung der Ildiraner zu untersuchen. Davlin hatte festgestellt, dass die Ildiraner nichts Wichtiges zurückgelassen hatten, und dann war er vom Vorsitzenden zurückbeordert worden. Sein Verschwinden hatte die Siedler sicher sehr überrascht.
Wenn die Leute nun wussten, dass er ein Spion der Hanse war, so fragten sie sich bestimmt, ob er Informationen über sie und ihr Privatleben gesammelt hatte. Ein Spion war ein Spion.
Davlin bereitete sich auf berechtigte Kritik vor. Wenn er wirklich wieder auf Crenna leben wollte, musste er ehrlich sein. Würden ihm die Siedler verzeihen?
Er betrat das Gebäude mit dem kleinen Versammlungssaal und den Verwaltungsbüros der Kolonie, legte sich dabei die Worte zurecht, die er an den Bürgermeister richten wollte. Der rundliche und sonnengebräunte frühere Bauer Lupe Ruis hatte zu Anfang nur wenige Stunden pro Woche den administrativen Angelegenheiten gewidmet, doch das gute Gedeihen der Kolonie führte bald dazu, dass die Verwaltung von Crenna zu einem Fulltimejob wurde.
Als Bürgermeister Ruis ihn sah, erschien ein breites Lächeln in seinem pausbäckigen Gesicht. »Davlin Lotze! Willkommen daheim. Wir haben uns alle Ihre Rückkehr erhofft.« Er breitete die Arme aus, trat vor und wirkte sehr erfreut. »Ist Ihre geheime Mission jetzt beendet?«, fragte er in einem verschwörerischen Tonfall. »Wir haben von der wichtigen Arbeit gehört, die Sie für die Hanse leisten. Wenn ich daran denke, dass wir Sie für einen ganz normalen Kolonisten gehalten haben, für einen von uns… Aber Sie sind eine Berühmtheit!«
»Woher… woher wissen Sie davon?«
Der Bürgermeister winkte ab. »Ach, woher wohl? Captain Kett ist bei uns gewesen. Sie und Branson Roberts waren früher verheiratet. Sie hat uns erzählt, dass Sie ein Fachmann für ildiranische Soziologie sind – und dass Sie es waren, der das Netz aus Klikiss-Transportalen entdeckt hat.«
»Captain Kett war dabei. Sie half mir bei der Entdeckung…«
Ruis legte ihm den Arm um die Schultern. »Sie sind ein Held, Davlin! Wir sind ja so stolz auf Sie. Einer aus unserer Gemeinschaft… Sie haben sich nur nicht zu erkennen gegeben.«
Der verwirrte Davlin brachte nur ein »Danke« hervor.
Mit einer abrupten Geste schob Ruis die Unterlagen auf seinem Schreibtisch beiseite, als wollte er damit zeigen, wie unwichtig sie waren. »Und jetzt kehren Sie zurück, um sich für eine Weile bei uns niederzulassen? Bis erneut die Pflicht ruft?
Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr wir uns freuen.
Captain Roberts ist gerade mit seinem Schiff aufgebrochen, um Shuttledienste für die Kolonisierungsinitiative zu leisten, und einige von uns haben beschlossen, auf Klikiss-Welten ein neues Leben zu beginnen. Wir können jemanden gebrauchen, der so vielseitig und… kompetent ist.«
»Ich… weiß Ihr Vertrauen und Ihren Enthusiasmus sehr zu schätzen, Bürgermeister Ruis. Ich wusste nicht recht, welcher Empfang mich hier erwartet. Steht meine alte Unterkunft noch zur Verfügung, oder hat inzwischen jemand anders Anspruch darauf erhoben?«
Der Bürgermeister wirkte überrascht. »Sie wartet natürlich auf Sie. Eine wesentliche Expansion hat bei uns nicht stattgefunden. Wir versuchen nur, uns hier zu behaupten.«
»Kam es zu einem weiteren Ausbruch der Orangefarbenen Flecken?«
»Nein, Sir. Das von Ihnen in den Trinkwasserleitungen installierte Amöbenfiltersystem hält uns alle gesund.« Wieder erschien ein strahlendes Lächeln im runden, rötlichen Gesicht des Bürgermeisters. »Ich hoffe, dass Sie wieder arbeiten wollen. Wir könnten Ihre Hilfe bei der Infrastruktur gebrauchen, insbesondere bei Stromversorgung und Kanalisation. Anschließend könnten Sie sich vielleicht um unsere Kommunikationssysteme und Sendetürme kümmern.
Seit einem Jahr haben wir immer wieder Schwierigkeiten, verursacht von starker solarer Aktivität und Ionenstürmen.«
»Das ist nicht unbedingt mein Fachgebiet, aber ich sehe mir alles an.«
Ruis zwinkerte ihm zu. »Captain Kett meinte, dass Sie sich praktisch mit allem auskennen.« Der Bürgermeister führte Davlin aus seinem Büro. »Wir sind wirklich froh, Sie wieder bei uns zu haben.«
An jenem Abend, zufrieden und doch voller Unruhe, wanderte Davlin zwischen den Hügeln außerhalb des Ortes. Es fühlte sich seltsam gut an, wieder auf Crenna zu sein. Am Himmel leuchtete der Mond und tauchte die Landschaft in silbriges Licht. Die Helligkeit des Mondes war einer der Faktoren gewesen, die Crenna für Ildiraner attraktiv gemacht hatten, denn dunkle Nächte gefielen ihnen ganz und gar nicht.
Die Hügel waren felsig und niedrig, bewachsen von knorrigen, hohlen Bäumen, Flötenholzbäume genannt. Die leeren Zweige enthielten winzige Löcher, und wehender Wind verwandelte sie in natürliche Holzblasinstrumente. Die pfeifenden, atonalen Melodien klangen wie Schlaflieder: von hohen Flötentönen der dünnen Zweige bis hin zu den tiefen Basstönen der dicken, hohlen Stämme.
Das Licht des Mondes überstrahlte viele Sterne, aber Davlin versuchte trotzdem, Konstellationen zu erkennen, und fragte sich dabei, wie weit er bei seinen Reisen durch den Spiralarm gekommen war. Das Plätschern naher Bäche und das Knistern und Rascheln des hohen Grases begleiteten die Flötenbaumsymphonie.
Dies war viel besser als die albtraumhafte letzte Klikiss-Welt, die er besucht hatte. Hier gab es keine fliegenden Quallenwesen oder riesige Hundertfüßer. Allein stand er da, mit sich selbst in Einklang. Es erfüllte ihn mit tiefer Zufriedenheit, wieder auf Crenna zu sein. Hier fühlte er sich fast wie… zu Hause.
Plötzlich sah Davlin, wie mehrere Sterne in Bewegung gerieten und Meteoren gleich über den Himmel sausten, doch ohne in den oberen Schichten der Atmosphäre zu verbrennen –sie setzten ihren Weg übers Firmament fort. Raumschiffe?
Besucher?
Drei helle Punkte glitten über den Himmel, dann weitere sechs, gefolgt von anderen Gruppen. Davlin kniff die Augen zusammen. Ein solches Phänomen sah er jetzt zum ersten Mal.
Hoch oben rasten zehn weitere Punkte übers dunkle Firmament, wenige Sekunden später glitzerten Lichter am Nachthimmel, wie die Flocken eines Schneesturms.
Davlin fühlte sich von kalter Furcht erfasst.
Mehrere Punkte änderten den Kurs, huschten hin und her.
Geräusche erklangen, ein dumpfes Grollen in der Ferne. Die am Himmel tanzenden sternschnuppenartigen Gebilde kamen tiefer.
Verwunderte Rufe kamen aus der Siedlung. Kolonisten verließen ihre Unterkünfte und sahen nach oben. Davlin blieb auf der Hügelkuppe stehen, von der aus er den besten Blick hatte.
Als er ein Zischen und Fauchen hörte, drehte er sich um und sah zum Horizont. Seine Befürchtungen wurden bestätigt, als er beobachtete, wie vier große Raumschiffe heranrasten.
Schiffe der Hydroger.
Die glühenden Kugeln jagten wie stachelbesetzte Bälle über den Himmel. Blaues Licht flackerte an den Spitzen der pyramidenartigen Vorsprünge. Davlin hatte von den verheerenden Angriffen auf Theroc und Boone’s Crossing gehört. Crenna war von den Fremden bisher noch nicht angegriffen worden.
Die Kolonisten im Ort gerieten in Panik, schrien, liefen umher und suchten nach Schutz. Wenigstens waren sie klug genug, nicht die Alarmsirenen einzuschalten – ihr Heulen hätte vielleicht die Aufmerksamkeit der Hydroger geweckt.
Ein Kugelschiff flog in einem weiten Bogen und verdeckte kurz das Licht des Mondes – der Feind gab durch nichts zu erkennen, die menschliche Siedlung bemerkt zu haben. Fünf weitere Kugeln zogen ihre Bahn am Himmel, ohne das Feuer zu eröffnen. Vermutlich waren diese Hydroger zu einem anderen Ziel unterwegs.
Schließlich verschwanden die Kugelschiffe in der Ferne, ohne der Kolonie irgendeinen Schaden zugefügt zu haben.
Davlin sah weitere helle Punkte vor dem Hintergrund der Sterne – irgendwo im Crenna-System entstand eine riesige Kampfflotte.
Als sich keine Kugeln der Hydroger mehr in der Nähe von Crenna befanden, atmete Davlin tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. Die einfachen Kolonisten des Ortes wussten nicht, womit sie es zu tun hatten und wie sie reagieren sollten.
Ihnen fehlten Erfahrung und Ressourcen.
Davlin lief zur Siedlung zurück. Nachdem Rlinda Kett so viele Geschichten von seinen Heldentaten und großartigen Leistungen erzählt hatte, würden die Leute Antworten von ihm erwarten.
56
WEISER IMPERATOR JORA’H
Als sich das Schiff des Weisen Imperators Dobro näherte, beharrte Jora’h darauf, im Kommando-Nukleus zu stehen, so wie als Erstdesignierter an Bord von Adar Kori’nhs Kriegsschiff. Er beobachtete, wie der Planet auf dem Hauptschirm größer wurde.
Dort lebte seine Tochter. Dort war Nira gestorben.
Den Septar Rhe’nh beunruhigte es zu sehen, dass der Weise Imperator nicht in seinem Chrysalissessel ruhte. Er bot an, von seinen Ingenieuren und Technikern eine Ersatzplattform bauen zu lassen, aber Jora’h bestand darauf zu gehen. »Die Tradition hat sich geändert«, sagte er. »Die Solare Marine kann meine Befehle ohne weitere Sorge ausführen. Ich bleibe hier im Kommando-Nukleus.«
»Ja, Herr.« Rhe’nh grüßte mit auf der Brust gefalteten Händen, drehte sich dann um und widmete sich seinen Kommandoaufgaben. Die Crew reagierte mit Ehrfurcht auf die Präsenz des Weisen Imperators, verstand sein ungewöhnliches Verhalten jedoch nicht.
Trotz der Größe des Ildiranischen Reiches hatte sich Jora’hs korpulenter Vater fast nie außerhalb von Ildira aufgehalten und den Prismapalast nur bei besonderen Gelegenheiten verlassen; die Pilger und Bittsteller waren zu ihm gekommen. Jora’h beabsichtigte, seine Pflichten als Oberhaupt des ildiranischen Volkes auf eine andere Weise wahrzunehmen. Er wollte eine aktive Rolle spielen und keine ständig zur Schau gestellte heilige Reliquie sein.
»Wann schwenken wir in den Orbit, Septar?«
»In einer Stunde, Herr. Der Designierte trifft Vorbereitungen für die Entsendung eines offiziellen Shuttles.«
»Ich habe meinen Bruder nicht um Eskortendienste gebeten.
Meine Absicht besteht darin, mit eigenen Wächtern aufzubrechen und mir den Planeten anzusehen.« Jora’h zögerte und wollte vermeiden, dass der Septar einen zu genauen Eindruck von dem Groll gewann, den er nach wie vor gegen Udru’h hegte. »Aber ich schätze, es ist akzeptabel. Ich möchte möglichst bald sehen… was dort unten geschieht.«
Durch das Thism hatte Jora’h alle Hintergrundinformationen bekommen und verstand die Gründe für das ebenso verzweifelte wie unmoralische Zuchtprogramm. Trotzdem wollte er alles mit eigenen Augen sehen und in die Gesichter der bedauernswerten menschlichen Versuchsobjekte blicken.
So viel schuldete er dem Gedenken an Nira – immerhin war er nicht hier gewesen, als sie ihn am dringendsten gebraucht hatte.
Die sieben Kriegsschiffe erreichten die Umlaufbahn des Planeten. Aus großer Höhe beobachtete Jora’h Kontinente, Seen und Meere, ein Gesprenkel aus Grün und Braun. Dobro schien eine angenehme Welt zu sein, aber auch ein… leerer Ort, wo man sich isoliert fühlte. Bestimmt war Nira sehr einsam gewesen.
Jora’h biss die Zähne zusammen, um sich seine Emotionen nicht ansehen zu lassen. Er war jetzt der Weise Imperator und stand über solchem Elend. Viele Jahre lang hatte er nichts von den Vorgängen auf Dobro gewusst. Jetzt bot sich ihm vielleicht die Möglichkeit, das eine oder andere zu verändern.
Jora’h sah das Glühen feuernder Triebwerke, als ein Shuttle aufstieg und sich den Kriegsschiffen näherte. Er ging zum Ausgang des Kommando-Nukleus, um seinem Bruder zu begegnen.
»Wünschen Sie eine Eskorte, Herr?« Rhe’nh wartete keine Antwort ab und hob die Hand. Mehrere Soldaten der Solaren Marine nahmen Haltung an, dazu bereit, den Weisen Imperator zu begleiten.
»Nein. Gewisse Dinge sollten privat bleiben.«
Als Jora’h durch die Korridore ging, trugen Angehörige des Bediensteten-Geschlechts dort klares Dichtungsmittel auf, wo die Füße des Weisen Imperators den Boden berührt hatten, als wäre das Metall dadurch heilig geworden. Es lag Jora’h nichts an einer derart fanatischen Verehrung, aber er konnte die Einstellungen der Ildiraner nicht ändern.
Als er den Hangar erreichte, sank der Shuttle dort bereits auf die kühlen Metallplatten. Eine Luke schwang auf, und zwei Gestalten wurden sichtbar. Udru’h stand so neben dem Designierten-in-Bereitschaft, als hätte er die Rolle von Daro’hs Vater übernommen. Jora’h fühlte einen Hauch Unmut darüber, dass sich die Denkweise seines Bruders so sehr von seiner eigenen unterschied. Du hast mir meine Tochter gestohlen und willst mir jetzt auch den Sohn nehmen?
Der junge Designierte-in-Bereitschaft trat vor und verbeugte sich. Udru’h folgte seinem Beispiel, ohne dabei irgendwelche Gefühle zu zeigen. »Wir sind bereit, dir das wichtige Projekt zu zeigen, das uns vor den Hydrogern schützen wird, Herr.«
»Ich weiß«, erwiderte Jora’h kühl.
»Eine persönliche Begegnung ermöglicht zweifellos besseres Verstehen.«
Als die drei Ildiraner in den Shuttle zurückkehrten und Platz nahmen, wandte sich Jora’h an seinen jungen Sohn. »Was hältst du von der hiesigen Arbeit, Daro’h? Bald wirst du dafür verantwortlich sein. Ich fürchte, ich habe dich nicht richtig darauf vorbereitet.«
»Ich lerne so schnell und so gut wie möglich. Es ist alles sehr interessant.«
»Er ist sehr begabt, Herr«, fügte Udru’h hinzu. »In der kurzen Zeit, die er hier ist, habe ich ihn als fleißigen und gewissenhaften Schüler kennen gelernt.«
Jora’h bedauerte, dass es notwendig geworden war, seinen Sohn einer solchen Situation auszusetzen. »Aber was hältst du davon, Daro’h? Wie beurteilst du das Projekt? Welche positiven Aspekte hat es? Sollte es trotz aller moralischen Bedenken fortgesetzt werden?«
»Natürlich meint er, dass es fortgesetzt werden soll«, sagte Udru’h, doch der Weise Imperator sah den jungen Mann an und wartete auf eine Antwort von ihm.
»Es gibt noch zu viele Dinge, die ich lernen muss, Vater. Es wäre unangemessen, schon jetzt eine Meinung zu äußern.«
Während des Sinkflugs durch die Atmosphäre erzitterte der Shuttle mehrmals in Turbulenzen. An Bord herrschte unangenehme, angespannte Stille. Durch das Thism spürte Jora’h Hoffnung und Unbehagen. Udru’h schien seine Gedanken absichtlich abzuschirmen, sodass es selbst dem Weisen Imperator schwer fiel, den mentalen Fäden bis zu ihrem Ausgangspunkt zu folgen und Antworten zu finden.
Schließlich sah er den schweigenden Designierten an.
Verbarg Udru’h etwas vor ihm? »Du weißt, dass ich die Grundlagen des gegenwärtigen Zuchtprogramms
verabscheuungswürdig finde, Udru’h.«
»Ich hoffe, dass du aufgeschlossen bleibst und die Zukunft des Reiches im Auge behältst. Wenn wir unser Ziel erreichen, so hat das Reich erheblichen Nutzen davon. Denk daran, dass du der Weise Imperator bist und kein Mann mehr, der ein Recht auf Meinungen hat. Dieses Recht wurde dir genommen, zusammen mit anderen Dingen, als du die Nachfolge unseres Vaters angetreten und das Thism übernommen hast.«
»Dadurch bin ich auch zu deinem Weisen Imperator geworden«, sagte Jora’h und hielt seinen Ärger in Zaum. »Du musst meinen Anweisungen nachkommen.«
Udru’hs Überraschung schien echt zu sein. »Es fiele mir nie ein, deine Befehle infrage zu stellen, Herr. Aber ich hoffe, du überlegst gründlich, bevor du unwiderrufliche Entscheidungen triffst.«
Jora’h überlegte. Daro’h musterte die beiden Brüder und wusste nicht, wie er ihr Verhalten deuten sollte. Am liebsten hätte der Weise Imperator die menschlichen Gefangenen befreit und sie der Terranischen Hanse übergeben. Niemand von ihnen hatte jemals die Erde gesehen, und wahrscheinlich wussten sie nur wenig darüber, aber sie waren Nachkommen einst hoffnungsvoller Kolonisten. Sie verdienten Besseres als… Dobro.
Seit fast zwei Jahrhunderten verbargen die Ildiraner diese Lüge vor der Hanse. Jora’h wusste: Wenn er das schreckliche Geheimnis jetzt enthüllte, kam es dadurch zu einer diplomatischen Katastrophe, vielleicht sogar zu einem Krieg mit den Menschen. Die ildiranische Solare Marine war zwar älter und mächtiger als die Terranische Verteidigungsflotte, aber Jora’h unterschätzte die innovativen Fähigkeiten der forschen Menschen nicht.
»Vielleicht bleibt uns keine Wahl, Udru’h, trotz meiner Vorbehalte. Glaubst du wirklich, dass meine Tochter das Potenzial hat, diesen Konflikt mit den Hydrogern zu beenden?
Die Klikiss-Roboter haben uns im Stich gelassen; ich fürchte sogar, dass wir sie nun zu unseren Feinden rechnen müssen.«
Diese Neuigkeit erzürnte den Dobro-Designierten. »Wenn die Klikiss-Roboter uns im Stich gelassen haben oder sich weigern, als Mittler zu fungieren, so müssen wir Osira’h als Unterhändlerin zu den Hydrogern schicken.«
»Wenn die einzige Hoffnung des Ildiranischen Reiches bei meiner Tochter liegt, so ist es doppelt wichtig, dass ich ihr begegne«, sagte Jora’h mit einem resignierten Seufzen.
Udru’h lächelte. »Ah, jetzt verstehst du, Herr.«
Ja, er verstand. Aber Jora’h hasste auch, was er hier auf Dobro tun musste, um das Reich zu retten.
57
SULLIVAN GOLD
Sullivan Gold stand auf dem Deck der Himmelsfabrik, bereit für das Treffen, das über sein Überleben entscheiden mochte.
Er trug seine beste Kleidung, hatte sich wie für einen wichtigen Geschäftstermin rasiert und das Haar geschnitten. Er wünschte, Lydia wäre zugegen gewesen, um seinen Kragen zurechtzurücken und sein Erscheinungsbild noch einmal zu überprüfen.
Kolker sagte ihm, dass es an seinem Äußeren nichts auszusetzen gab.
Der grüne Priester hatte seinen Kollegen im Telkontakt-Netzwerk bereits mehrere Mitteilungen geschickt, und sie warteten nun darauf, dass die Informationen der Hanse übermittelt wurden. Im Flüsterpalast hatte Nahton sowohl dem König als auch dem Vorsitzenden Bescheid gegeben, aber trotz dieser Kontakte blieb Sullivan auf sich allein gestellt. Die TVF
konnte nicht rechtzeitig militärische Hilfe schicken, und es lag auch nicht in ihrem Interesse, eine direkte Konfrontation mit der Solaren Marine herbeizuführen. Die Regierung auf der Erde würde schweigen, bis sie sah, wie er mit der Situation fertig wurde.
Sullivan räusperte sich und hoffte, dass ihn die Umstände nicht zwangen, die Kavallerie zu rufen. Es war so peinlich, gerettet werden zu müssen.
Ein bunt plattierter ildiranischer Shuttle kam aus dem riesigen Flaggschiff und näherte sich. Sullivan wischte sich die schweißfeuchten Hände an der Hose ab. »Es geht los, Kolker.
Jetzt hängt alles von uns ab. Wir haben die Chance, einen guten Eindruck auf unsere unerwarteten Nachbarn zu machen.«
Der grüne Priester löste zerstreut die Finger von seinem allgegenwärtigen Schössling. »Entschuldigen Sie bitte, Sullivan, was haben Sie gesagt? Ich habe mich auf den Telkontakt konzentriert und allen berichtet, was hier geschieht.«
»Ich dachte, das hätten Sie bereits.«
»Ich habe darauf hingewiesen, dass noch nichts passiert ist.
Auch der Vorsitzende der Hanse hört zu.«
Sullivan seufzte. »Bisher bestand das Leben an Bord dieser Ekti-Fabrik hauptsächlich aus Routine und bot genug Platz für oberflächliche Konversation. Aber das ist jetzt nicht mehr der Fall. Ich brauche Ihre volle Aufmerksamkeit, bis dieses Problem gelöst ist, Kolker. Unsere Memoiren sparen wir uns für später auf.«
Das verlegene Lächeln des grünen Priesters ließ den Ärger aus Sullivan verschwinden. »Ich werde meine Kommunikation auf das… Wesentliche beschränken.«
Schließlich traf der Shuttle ein, fast fünfzehn Minuten früher als geplant – steckte Absicht dahinter? Das kleine ildiranische Raumschiff glitt durch das Luftverdichtungsfeld der Produktionsanlage, begleitet von einigen Böen. Es ließ sich von Markierungslichtern den Weg zum Landeplatz weisen und setzte auf. Sullivans Wangen glühten im frischen Wind, und er lächelte so freundlich, als stünde ihm das wichtigste Einstellungsgespräch seines Lebens bevor.
Die Luke des Shuttles öffnete sich, und Sullivan trat vor, um die beiden Ildiraner zu begrüßen. Einer von ihnen – groß, stolz und nach menschlichen Maßstäben sehr attraktiv – trug eine perfekt sitzende militärische Uniform. Er sprach, bevor Sullivan ein Wort des Willkommens an ihn richten konnte.
»Ich bin Adar Zan’nh, Kommandeur der Solaren Marine. Wie von Ihnen gewünscht habe ich Hroa’x mitgebracht, den Leiter meiner Ekti-Produzenten.« Der zweite Mann hatte breite Schultern, kürzere Arme und ein gröberes Gesicht. Mit unverhohlener Neugier sah er sich auf der terranischen Himmelsfabrik um.
Sullivan streckte die rechte Hand aus. »Dies ist mein erstes Treffen mit Ildiranern. Äh, leider sind mir Ihre Traditionen und die bei Ihnen gebräuchlichen Verhaltensmuster nicht vertraut.
Wir Menschen begrüßen uns, indem wir einander die Hand schütteln. Auf diese Weise.«
Zan’nh reichte Sullivan zögernd die Hand. »Es ist bei uns Brauch, keine Ekti-Fabriken ohne Erlaubnis in Betrieb zu nehmen«, betonte er.
»Ja, ich verstehe… tut mir Leid. Es ist ein Versehen, ein sehr bedauerliches Missverständnis.« Sullivan räusperte sich.
»Sollen wir uns in der Aussichtsgalerie unterhalten, wo es wärmer ist? Bestimmt kann ich uns etwas zu essen und zu trinken besorgen, an dem auch Ildiraner Gefallen finden. Eine Himmelsfabrik der Hanse ist zwar nicht der richtige Ort für die feine Küche, aber wir verzichten hier nicht auf kulinarische Genüsse.« Sullivan glaubte zu plappern und unterbrach sich abrupt.
Fasziniert und besorgt ließ Hroa’x seinen Blick über die industriellen Anlagen schweifen und schien jede Komponente der Fabrik mit der entsprechenden ildiranischen Technik zu vergleichen. Er trat vor, um sich ein Teil aus der Nähe anzusehen. »Wir Ildiraner beabsichtigen, in der Atmosphäre von Qronha 3 mit der Produktion von Ekti zu beginnen. Ich möchte meine eigene Anlage so bald wie möglich in Betrieb nehmen. Es gibt viel zu tun, Adar – wann kann ich mich an die Arbeit machen? Wie lange dauert dieses Gespräch?«
Zan’nh forderte ihn mit einer Geste zur Geduld auf. »Sie können bald beginnen, Hroa’x. Diese Begegnung ist notwendig und wird so lange wie nötig dauern.«
Kolker trug seinen Schössling in der Armbeuge, als er vorausging und ins Innere der Himmelsfabrik trat. Die Produktionsanlage war in aller Eile gebaut worden, und Sullivan hatte nie geplant, hier wichtige Besprechungen stattfinden zu lassen, aber es gab einen Raum mit einem langen Tisch und breiten Fenstern, die Blick auf das Wolkenmeer des Gasriesen gestatteten.
Der grüne Priester stellte den Topf mit dem kleinen Weltbaum ans Ende des Tisches und setzte sich daneben. Ohne auf die anderen zu achten, berührte er den dünnen Stamm, und seine Lippen bewegten sich lautlos, als er einen neuen Bericht durchs Telkontakt-Netz schickte. Der Vorsitzende der Hanse hörte zweifellos mit.
Sullivan konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die beiden Ildiraner. Vor der Ankunft des Adars hatte er das Küchenpersonal gebeten, verschiedene Spezialitäten vorzubereiten und dabei auch einige von Lydias Rezepten zu verwenden. Niemand von ihnen wusste, ob Ildiraner Süßes oder Pikantes bevorzugten. Was würde sie beeindrucken? Es standen auch Spirituosen bereit, eine Kanne mit heißem Tee, ein Krug mit Wasser und eine Flasche mit sirupartigem Passah-Wein, die Sullivan auf Drängen seiner Frau mitgenommen hatte.
»Ich kann Ihnen diese Auswahl anbieten«, wandte er sich an Zan’nh und vollführte eine einladende Geste. »Bitte bedienen Sie sich. Oder möchten Sie vielleicht etwas anderes?«
Sullivan nahm an der Seite des Tisches Platz, doch der Ildiraner aus dem Geschlecht der Ekti-Produzenten blieb auf den Beinen, wanderte unruhig umher und blickte aus dem Fenster. »Ich möchte mit der Produktion von Ekti beginnen«, wiederholte er. »Bald.«
Zan’nh seufzte tief. »Geduld, Hroa’x.« Er sank auf den Stuhl am Kopfende des Tisches.
»Sullivan Gold, mein Vater ist der Weise Imperator, und mein Vorgänger, Adar Kori’nh, hat sich geopfert, um die Hydroger von Qronha 3 zu vertreiben, damit Ildiraner in der Atmosphäre des Gasriesen eine Himmelsmine in Betrieb nehmen können. Ildiraner. Kori’nhs Andenken wird in der Saga der Sieben Sonnen weiterleben. Warum fühlen Sie sich berechtigt, Anspruch auf die Beute jenes Sieges zu erheben?«
Sullivan begriff, was die Worte des Kommandeurs bedeuteten. »Mir ist klar, dass Ihr Vorgänger seinen Sieg nicht erringen wollte, damit Menschen die gute Gelegenheit nutzen.«
»Stellen Sie Ihre hiesigen Aktivitäten ein, nehmen Sie Ihre Sachen und kehren Sie zur Erde zurück. Hier bei Qronha 3
haben Sie nichts zu suchen.«
Sullivan breitete die Hände auf dem Tisch aus. »Bitte lassen Sie uns nichts überstürzen. Die Hanse und das Ildiranische Reich sind doch gute Freunde, oder? Wir haben einen gemeinsamen Feind, die Hydroger. Die Terranische Verteidigungsflotte hat tapfer gekämpft und bei der Auseinandersetzung mit den Hydrogern ähnliche Opfer gebracht wie Ihr heldenhafter Adar. Die Angriffe auf unsere Kolonialwelten haben auch uns viel Leid beschert. Und wir wollten diesen Krieg ebenso wenig wie Sie.«
»Menschen haben die Klikiss-Fackel gezündet und eine Welt der Hydroger zerstört«, antwortete Zan’nh kühl.
»Es war nie unsere Absicht, Feindseligkeiten zu beginnen –und wir haben alles Menschenmögliche versucht, den Fehler wieder gutzumachen. Hören Sie… Ich bin nur ein Ekti-Produzent, der sich bemüht, seine Arbeit zu machen.«
»Genau wie ich – aber ich muss warten«, sagte Hroa’x. »Dies sind alte und unwichtige Angelegenheiten.«
»Da bin ich ganz Ihrer Meinung«, pflichtete Sullivan dem schroffen Ildiraner bei. Er lächelte gewinnend und versuchte, noch mehr Charme zu zeigen. »Niemand von Ihnen hat etwas von den Speisen und Getränken probiert.«
»Wir brauchen keine Gastlichkeit. Und Ihre Lebensmittel vertragen sich vielleicht nicht mit unserer Biochemie.«
Sullivan hätte fast die Stirn gerunzelt. Die Ildiraner lehnten Gastlichkeit ab? Fürchteten sie Gift? Er knabberte an einem Stück Käse. »Es war sicher falsch von der Hanse, eine Himmelsfabrik hierher zu bringen, ohne den Weisen Imperator um Erlaubnis zu fragen. Ich verstehe, dass Sie deshalb verärgert sind. Auch mir wäre es nicht recht, wenn jemand auf dem Hinterhof meiner Familie ein Geschäft eröffnet. Aber dies ist ein sehr großer Planet. Wir wollen niemandem schaden, und wir haben auch niemandem Schaden zugefügt, so wie ich das sehe. Unsere Präsenz hindert Sie in keiner Weise daran, selbst Ekti zu produzieren. Der Himmel dieser Welt ist groß genug für uns beide. Außerdem: Zusammen sind wir vielleicht sicherer. Wir könnten uns gegenseitig helfen, wenn jemand von uns in Schwierigkeiten geraten sollte.«
»Wie stellen Sie sich solche Hilfe vor?« Zan’nh seufzte. »Ob eine Himmelsmine oder zwei: Gegen einen Angriff der Hydroger könnten wir uns nicht verteidigen.«
»Es könnte zu anderen Notfällen kommen, oder?«
Hroa’x wurde immer ungeduldiger. »Wir vergeuden Zeit.
Warum sich über Grenzen streiten, die gar nicht existieren?
Die Aktivitäten der menschlichen Produktionsanlage bewirken keine wesentliche Verringerung der hier zur Verfügung stehenden Wasserstoffmengen. Die Zeit, die wir hier mit Gesprächen verschwenden, könnte ich nutzen, um unsere Himmelsmine vorzubereiten. Das ist meine Priorität.
Diplomatie vergeudet zu viele wertvolle Arbeitsstunden.«
Plötzlich bemerkte Sullivan etwas im Gesicht des jungen Adars und begriff, dass Zan’nh ebenso sehr an einer Lösung dieses Problems gelegen war wie ihm selbst. Er suchte nach einem sauberen, akzeptablen Ende der Krise.
Sullivan lächelte auch weiterhin und hoffte, dass sich die anfängliche Spannung allmählich auflöste. »Bitte, Adar, lassen wir diese Sache nicht zu einem Konflikt werden. Wie wär’s hiermit? Die Ildiraner können hier so viele Ekti-Fabriken in Betrieb nehmen, wie sie wollen, und ich verspreche Ihnen, dass wir nicht im Weg sind. Unsere Arbeit wird Sie nicht behindern.«
Am anderen Ende des Tisches berührte Kolker den Stamm des Schösslings und übermittelte alles.
»Die Hanse braucht ebenso dringend Treibstoff wie Sie«, fuhr Sullivan fort. »Es war ein Ildiraner, ein Adar wie Sie, der uns Menschen die Konstruktionsunterlagen des Sternenantriebs überließ. Niemand hatte ein Problem damit.
Sie wollen uns doch sicher nicht die Möglichkeit nehmen, mit unseren Raumschiffen zu fliegen?«
Zan’nh wollte nicht einfach so nachgeben. »Wenn Sie hier bleiben, über einer Welt, von der wir die Hydroger vertrieben haben, so müssen Sie einen Preis dafür zahlen. Der Weise Imperator würde eine Art Steuer verlangen.«
Sullivan sah eine Möglichkeit für Verhandlungen und ergriff sie. »Ich könnte vielleicht einen kleinen Prozentsatz des von uns produzierten Ektis anbieten.« Er nahm den Krug und schenkte den beiden Ildiranern Wasser ein; die anderen Getränke hielt er für zu bedenklich.
Der Adar war bisher recht wortkarg gewesen und benahm sich ziemlich steif – Sullivan fragte sich, wie viel von seinem Verhalten Maske war. In einem verschwörerischen Tonfall fügte er hinzu: »Bisher haben sich keine Hydroger gezeigt, aber vielleicht bleibt uns nur wenig Zeit, bis sie erscheinen.
Wir sollten alle hart arbeiten, um möglichst viel Ekti zu produzieren, bevor es zu spät ist.«
»Welchen Prozentsatz bieten Sie an?«, fragte Zan’nh. »Ich muss dem Weisen Imperator etwas Akzeptables vorlegen.«
Sullivan hatte nie gehört, dass die Ildiraner besonders habgierig waren, und sie schienen auch kaum Erfahrung im Feilschen zu haben, da es telepathische Verbindungen zwischen ihnen gab. Deshalb riskierte er, einen sehr geringen Teil der Produktion seiner Himmelsfabrik anzubieten, als eine Art Verhandlungsbasis. Zu seiner Überraschung nahm Zan’nh das Angebot sofort an. Dafür konnte Sullivan mit dem Lob der Hanse rechnen! Tief in seinem Innern wusste er, das der Adar mehr an einer ehrenvollen Lösung interessiert gewesen war als an Profit.
»Gut. Ich bin froh, dass dies geregelt ist. Wir sollten wirklich Freunde sein.« Sullivan schüttelte dem Kommandeur der Solaren Marine erneut die Hand. »Ich schätze, jetzt können wir uns alle an die Arbeit machen. Ich lasse einen Teil unserer nächsten Produktion direkt zu Ihrer Ekti-Fabrik bringen.«
Unbewusst strich er mit der Hand über die schweißfeuchte Stirn. »Ich würde unsere neue Zusammenarbeit gern feiern.
Wären Sie interessiert…«
Hroa’x unterbrach ihn und wandte sich an Zan’nh. »Wenn unsere Mission hier beendet ist, möchte ich nicht noch mehr Zeit verlieren, Adar. Wir sollten sofort zu den Kriegsschiffen zurückkehren und uns um die Himmelsmine kümmern. Es gibt noch viel zu tun, bevor sie mit der Ekti-Produktion beginnen kann.« Der Ildiraner aus dem Geschlecht der Ekti-Produzenten sah Sullivan an. »Unsere Vereinbarung verliert ihren Sinn, wenn die Hydroger zurückkehren. Warum auch nur eine einzelne Sekunde verschwenden?«
Zan’nh nickte. »Und eins steht fest: Die Hydroger werden zurückkehren.«
58
TASIA TAMBLYN
Der ehemalige Gasriese der Hydroger war seit Jahrtausenden leblos und nichts weiter als eine ausgebrannte Narbe im All.
»Keine Lebenszeichen«, sagte Subcommander Ramirez.
Nach dem Einsatz der Klikiss-Fackel bei Ptoro hatte Tasia eine Beförderung ihres Navigators und einiger anderer Brückenoffiziere durchgesetzt. »Thermische Restaktivität, molekulare und nukleare Nebenprodukte durch die Fusion.
Dies war einmal ein Super-Gasriese, keine richtige Sonne.
Muss vor langer Zeit einer Fackel zum Opfer gefallen sein.«
Die Untersuchung des Chefwissenschaftlers Palawu hatte einundzwanzig kleine tote Sterne mit anomalen Signaturen identifiziert. Als sich das Erkundungsschiff dem Himmelskörper näherte, stellten die Sensoren fest, dass es sich tatsächlich um eine vernichtete ehemalige Hydroger-Welt handelte. Tasia spürte so etwas wie grimmige Zufriedenheit.
»Es freut mich, dass wir nicht die Einzigen sind, die den verdammten Drogern ein Ding verpasst haben.«
Unmittelbar nach Palawus Entdeckung hatte Admiral Stromo ein Expeditionskorps zusammengestellt, um mehr über die zerstören Hydroger-Planeten herauszufinden. Dies war der vierte ausgebrannte Gasriese, den Tasia und ihre Gefährten besuchten.
Während ihr Manta-Kreuzer den Planeten umkreiste, wurden zahlreiche Aufnahmen angefertigt. Tasia stellte sich vor, wie diese Welt vor dem Einsatz der Fackel ausgesehen haben mochte: ein gewaltiger Ball aus matten Wolken, eine dichte Atmosphäre, in der es möglich gewesen wäre, Himmelsminen zu betreiben. Jetzt, nach Jahrtausenden, war die künstliche Sonne ausgebrannt. Einige der zurückgebliebenen exotischen Materialien und Supermoleküle mochten interessant sein, aber Tasia bezweifelte, dass selbst der exzentrische Kotto Okiah bereit gewesen wäre, an einem solchen Ort herumzustöbern.
Die TVF hoffte, durch die Untersuchung der vor langer Zeit zerstörten Planeten mehr über die langfristigen Wirkungen der Klikiss-Fackel zu erfahren. Tasia hatte den leisen Verdacht, dass sich General Lanyan hämisch über Welten freuen wollte, auf denen die Hydroger vernichtende Niederlagen erlitten hatten.
In einigen tausend Jahren würde Ptoro ebenso aussehen, wenn der nukleare Brennstoff zur Neige gegangen war. Das galt auch für Oncier – wenn die Hydroger das Feuer jener künstlichen Sonne nicht bereits gelöscht hätten, wie Tasia mit eigenen Augen beobachtet hatte.
»Das genügt«, sagte sie nach zwei Stunden. »Wir müssen uns auch noch den Rest der Liste vornehmen.«
Beim nächsten Ziel beobachteten Tasia und ihre Crew voller Ehrfurcht, wie das Zentralgestirn des Sonnensystems angegriffen wurde. Der Gasriese in der Umlaufbahn war dunkel und kalt, längst ausgebrannt. Jetzt hatten es die Hydroger auf die große Sonne abgesehen.
Ein heftiger Kampf tobte. Die Feuerbälle ellipsoider Faeros schwärmten nach oben und stießen auf buchstäblich Millionen Kugelschiffe der Hydroger, die mit aller Entschlossenheit auf sie herabstürzten. Energieblitze zuckten hin und her, als die kristallenen Kugeln der Hydroger durch die Ausläufer der heißen Korona flogen und dabei von titanischen Waffen Gebrauch machten.
Bei Oncier hatte Tasia einen ähnlichen Kampf beobachtet, aber der entzündete Gasriese war nur ein Zwergstern gewesen.
Hier fand die Auseinandersetzung in der Umgebung einer richtigen Sonne statt – das Schlachtfeld war um ein Vielfaches größer. Solares Plasma stieg in gewaltigen Eruptionen auf und fiel in weiten Bögen zurück, wie die tastenden Finger eines gewaltigen, brodelnden Geschöpfs.
Die Kugelschiffe kamen der Sonne noch näher, und die Faeros stellten sich ihnen entgegen. Feuerbälle stürzten sich auf kristallene Kugeln, wodurch beide zerstört wurden. Eine Angriffswelle der Hydroger nach der anderen kam von außerhalb des Sonnensystems und fiel über den Gegner her.
»Sammeln Sie Daten und lassen Sie uns anschließend von hier verschwinden«, sagte Tasia. »Shizz, seht euch nur die Entladungen an!«
Eine Säule aus dichtem ionisiertem Gas wuchs rasend schnell von der Sonnenoberfläche nach oben, traf mehrere Kugelschiffe und ließ sie bersten. Tasia fragte sich, ob die Faeros die innere Physik der Sonne manipulierten, um Protuberanzen als Waffe einzusetzen.
»Zum Teufel auch, was haben wir in diesem Krieg verloren?«, fragte Sergeant Zizu, seine Stimme kaum mehr als ein ehrfürchtiges Flüstern.
Weitere Kugelschiffe trafen ein und begannen mit Vergeltungsschlägen. Vor langer Zeit hatte eine Klikiss-Fackel den Gasriesen der Hydroger in diesem Sonnensystem vernichtet – Tasia fragte sich, ob die Fremden bestrebt waren, sich dafür zu rächen. Konservierten die Hydroger Erinnerung und Rachsucht über zehntausend Jahre hinweg?
Das schien tatsächlich der Fall zu sein.
Neue Protuberanzen entstanden und zerfetzten Kugelschiffe.
Tasia lehnte sich in ihrem Kommandosessel zurück und fühlte sich erneut winzig und hilflos in diesem uralten Konflikt.
»Wenn man es positiv betrachtet…«, murmelte sie. »Solange sich die Faeros und Hydroger gegenseitig an die Gurgel gehen, sind sie zu beschäftigt, um uns anzugreifen.«
59
KÖNIG PETER
»Der Vorsitzende Wenzeslas hat eine weitere geheime Lagebesprechung anberaumt«, teilte OX dem König mit. »Sie haben mich gebeten, von entsprechenden Terminen unterrichtet zu werden.«
»Dank, OX. Ich denke, ich nehme an der Versammlung teil.«
Peter trug nicht die prächtigen Zeremonienumhänge wie bei seinen öffentlichen Auftritten, sondern eine preußischblaue Uniform, die darauf hindeutete, dass es um ernste Angelegenheiten ging, als er das private Konferenzzimmer vor Wenzeslas und den anderen erreichte. Kurze Zeit später trat der Vorsitzende mit seinem blassen, haarlosen Stellvertreter Cain ein und nahm die Präsenz des Königs mit gerunzelter Stirn zur Kenntnis – abgesehen davon reagierte er nicht auf ihn.
General Lanyan kam mit dem Schatten eines Barts auf den Wangen, dichtauf gefolgt von Admiral Stromo, der einen mobilen Datenschirm und die Ausdrucke einer
Zusammenfassung mitbrachte. Cain nahm neben dem Vorsitzenden Platz, und sie alle warteten stumm, warfen Peter dabei gelegentliche Blicke zu. Der König schwieg ebenfalls.
Schließlich ergriff Basil das Wort. »Wenn ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten darf… Ich habe diese Versammlung einberufen, nicht der König. General Lanyan, Ihr Bericht über das Roamer-Problem?«
Lanyan räusperte sich und ordnete seine Gedanken. »Wie Sie wissen, Vorsitzender, sammelt unser Geheimdienst seit geraumer Zeit Informationen über die Bewegungen von Roamer-Schiffen und über verborgene Siedlungen. Ich habe die vor fünf Jahren erstellten Analysen auf den neuesten Stand gebracht.« Er blickte auf seine Unterlagen.
»Leider muss ich darauf hinweisen, dass die Situation schlimmer geworden ist. Ich bin davon überzeugt, dass die rebellischen Clans Ekti und andere Ressourcen horten, die den terranischen Kriegsanstrengungen zur Verfügung stehen sollten. Der Egoismus der Roamer behindert unser Bemühen, die Hanse und ihre Kolonien zu schützen. Ihre Sturheit schadet uns, und das können wir nicht länger zulassen.«
Admiral Stromo konnte seinen Zorn kaum unter Kontrolle halten. »Sie haben den schlechtesten Zeitpunkt für ihr dummes Embargo gewählt. Die ungerechtfertigte Weigerung der Roamer, uns Treibstoff für den Sternenantrieb zu liefern, versetzt uns einen erheblichen Schlag und könnte sich negativ auf die Kolonisierungsinitiative auswirken.«
»Erinnern Sie sich daran, wie vor einigen Jahren, kurz vor dem Erscheinen der Hydroger, der Roamer-Pirat Rand Sorengaard Kolonien der Hanse überfiel?«, fragte Lanyan.
»Denken Sie an den Schaden, den er anrichtete – seine Aktionen spiegeln die Mentalität der gesetzlosen Clans wider.«
Stromo sprach so, als hätten sie den Wechsel vorher einstudiert. »Wenn die Roamer uns Ressourcen vorenthalten, obwohl wir sie dringend benötigen, so machen sie sich dadurch zu unseren Feinden. Es liegt in unserem besten Interesse, den Clans den Krieg zu erklären und sie rasch zu besiegen. Das ließe sich leicht bewerkstelligen und wäre ein Exempel für alle Menschen, die mit dem Gedanken spielen, Vorräte zu horten.«
Peter hatte beabsichtigt, sich alles ruhig anzuhören, aber er fühlte sich von den Umständen gezwungen, auf das Offensichtliche hinzuweisen. »Entschuldigen Sie, Basil, aber die Forderungen von Sprecherin Peroni erscheinen mir vernünftig. Wenn tatsächlich ein Verbrechen verübt wurde…
Warum sollten wir die Schuldigen nicht vor Gericht stellen und versprechen, dass sich solche Aktionen in Zukunft nicht wiederholen werden?«
»Weil es auf Erpressung hinausläuft«, erwiderte Lanyan scharf. »Und wir gehen nicht auf die Forderungen von Erpressern ein.«
»Man hat uns keinen unstrittigen Beweis für die angebliche Piraterie gezeigt«, sagte Basil kühler. »Vermutlich suchen die Roamer nur nach irgendeinem Schuldigen.«
Peter presste die Lippen zusammen. »Ich stelle fest, dass Sie die Vorwürfe nicht direkt zurückweisen. Wollen Sie weitere Angriffe auf Frachter der Roamer genehmigen?«
»Ich bitte Sie!«, entfuhr es Stromo. »Das ist doch lächerlich!«
»Ob die Vorwürfe stimmen oder nicht – es wäre politisch falsch, derartige Aktionen zuzugeben«, sagte Basil. »Es geht nicht an, dass irgendwelche dahergelaufenen
Weltraumzigeuner der Terranischen Hanse Bedingungen stellen. Wir sind im Krieg und dürfen vor der gesetzwidrigen Unabhängigkeit der Roamer nicht länger die Augen verschließen. Stattdessen sollten wir alles in unserer Macht Stehende tun, um die einzelnen Gruppen der Menschheit gegen den gemeinsamen Feind zu vereinen. Die Roamer müssen sich der Stärke der Mehrheit unterwerfen, zum Wohle aller.
Vielleicht ist das unsere einzige Chance.«
Eldred Cain sprach mit einer ruhigen Zuversicht, die das Murmeln am Tisch übertönte. »Vielleicht interessiert es Sie zu hören, dass wir legale Mittel für die legitime Annektierung der Roamer-Clans gefunden haben.« Der blasse Stellvertreter des Vorsitzenden sah Peter an. »Die Sache ist so sauber, dass selbst der König keine Einwände erheben kann.«