»Komm sofort mit, DD. Unser Schiff ist startbereit.«
»Wir müssen die Sicherheit dieser Menschen gewährleisten«, erwiderte der Kompi. »Vielleicht kümmern sich die Hydroger nicht ausreichend um sie.«
»Die Hydroger können sie töten oder retten, wie es ihnen beliebt. Der Transfer dieser Stadtsphäre durch ein Transtor steht bevor, und wir haben nicht die Absicht, an dem Exodus teilzunehmen.«
»Warum nicht?«, fragte DD.
Brindle und die anderen Menschen starrten die beiden Maschinen an und versuchten, der rasenden elektronischen Kommunikation zu folgen.
»Wir haben andere Prioritäten. Hör auf damit, unsere Zeit zu vergeuden.«
DD begleitete den schwarzen Roboter pflichtbewusst durch die Membran, wechselte dabei einen letzten Blick mit Brindle, der besorgt, aber auch entschlossen wirkte.
Oben waren drei weitere Kugelschiffe zu sehen, die die Stadtsphäre verließen.
Sirix hatte es recht eilig, als er DD zum modifizierten Raumschiff führte. Die silberne Lache eines fließenden Hydrogers wuchs vor ihnen empor und nahm dabei menschliche Gestalt an.
Die Sprache des Fremden war viel zu komplex, als dass der Kompi sie verstehen konnte, aber er glaubte zu hören, dass bereits ein Fackel-Wurmloch geöffnet worden war und die Evakuierung der Stadtsphären unmittelbar bevorstand.
Sirix klickte und summte eine Antwort, die sarkastisch, fast ironisch erschien. »Die von unseren brutalen Herren und Schöpfern entwickelte Fackel-Waffe macht die Menschen jetzt so mächtig wie die Faeros, wenn auch nur zeitweise. Die Rückkehr der Faeros veranlasst euch vielleicht dazu, die Menschen bei eurem größeren Konflikt für irrelevant zu halten. Doch wenn sie in der Lage sind, nach Belieben Hydroger-Welten zu vernichten – werden sie dadurch nicht äußerst relevant?« Auf multiplen fingerartigen Beinen näherte sich Sirix dem Schiff. »Die destruktive Natur der Menschen, vor der wir oft gewarnt haben, ist schon mehrfach deutlich geworden.«
Ein Kräuseln huschte über den silbernen Körper des Hydrogers, und diese Antwort verstand DD mit geradezu schmerzhafter Deutlichkeit. »Die Klikiss-Roboter haben unsere Erlaubnis, so viele Menschen zu töten, wie sie wollen.«
Sirix drehte seinen flachen geometrischen Kopf. »Wir wissen, dass der Konflikt mit den Faeros und Verdani derzeit eure ganze Kraft beansprucht. Wir Roboter werden alles in unserer Macht Stehende tun, die Menschheit auszulöschen und ihre Kompis zu befreien.«
Der schwarze Roboter hastete zum modifizierten Schiff, das dem enormen Druck in der Tiefe des Gasriesen standhalten konnte, und geleitete DD an Bord. Mehrere Klikiss-Roboter standen bereits an den Kontrollen. Das Schiff startete sofort, passierte eine Wand der Stadtsphäre, glitt nach oben und entfernte sich schnell von der Hydroger-Metropolis. DD
schwenkte seine optischen Sensoren und sah in die Richtung zurück, aus der sie kamen.
Grelles weißes Licht schien die Luft selbst zu zerreißen – es sah nach einem sich öffnenden vertikalen Maul aus. Riesige Stadtsphären der Hydroger flogen in den immensen Rachen des Transtors. Ein zweiter Transportkanal öffnete sich, und ein weiterer Komplex aus facettierten Kugeln glitt in Sicherheit.
Die schwarzen Roboter beschleunigten ihr Schiff, als es durch die Stürme des Planeten raste. Sie schenkten all den sonderbaren Lebensformen in den bizarren Wohnzonen und stabilen Schichten von Ptoros Atmosphäre keine Beachtung.
Tief unten, wo eben noch viele Stadtsphären geschwebt hatten, gleißte plötzlich das Licht einer neuen Sonne. Die Klikiss-Fackel hatte einen Neutronenstern in den Kern des Gasriesen transferiert und damit einen Gravitationskollaps ausgelöst.
Die letzten Stadtsphären der Hydroger flogen durch Transtore, die sich hinter ihnen schlossen. Sie waren entkommen und ließen nur die Kugelschiffe zurück, die die Aufgabe hatten, an den Menschen Vergeltung zu üben.
DD musste seine Sensoren rejustieren. Die Roboter flohen so schnell von Ptoro, dass ihr Schiff – das enormen Belastungen standhalten konnte – immer heftiger vibrierte und auseinander zu brechen drohte.
Und dann brannte der ganze Planet.
15
TASIA TAMBLYN
Kugelschiffe kamen aus den Wolken von Ptoro. Als der transferierte Neutronenstern den Gasriesen implodieren ließ, blitzte und flackerte in den Tiefen der Atmosphäre das erste nukleare Feuer einer neuen Sonne.
»Shizz, seht nur, was wir aufgescheucht haben«, sagte Tasia mit einem grimmigen Lächeln. »Ich schätze, unser Geschenk gefällt ihnen nicht.«
»Wir können es nicht zurücknehmen. Jetzt bleibt ihnen nur noch die Flucht.« Elly Ramirez lachte leise, aber ihre Haltung deutete auch auf eine gewisse Anspannung hin.
Ensign Terene Mae stöhnte kummervoll, als er die dornigen Kugeln auf den Bildschirmen beobachtete. »Es sieht nicht so aus, als liefen sie fort, Commander. Sie fliegen direkt auf uns zu.«
»Normalerweise würde ich mir nicht herausnehmen, darüber zu spekulieren, was die Droger denken«, sagte Tasia. »Aber ich glaube, derzeit sind sie stocksauer.«
Sergeant Zizu schien die von den Hydrogern ausgehende Gefahr völlig zu ignorieren. Seine Aufmerksamkeit galt den Ortungsschirmen. »Unsere tiefsten Sensorbaken sind zerstört, vermutlich durch die Schockwelle der Zündung. Die Flammenfront steigt höher.« Er drehte den Kopf und lächelte.
Mehrere Manta-Kreuzer der TVF veränderten die Position und wandten sich den feindlichen Schiffen zu. Zu ihrer Bewaffnung gehörten Bruchimpulsdrohnen – besonders geformte Sprengsätze, dafür bestimmt, eine dicke diamantene Panzerung aufzubrechen – und Kohlenstoffknaller, die Kohlenstoffverbindungen in der kristallenen Struktur lösten.
»Gefechtsstationen besetzen!«, wies Tasia ihre Crew über Interkom an.
Sergeant Zizu sah auf die taktischen Anzeigen. »Brecher und Knaller sind in den Startröhren bereit.«
Tasia nickte. »An die Eskorte: ausschwärmen und auf Deckungsfeuer vorbereiten.«
Blaues Feuer flackerte zwischen den Dornen der Kugelschiffe, als sich ihre Waffen entluden. Tödliche Blitze zuckten den Schiffen der TVF entgegen, kochten über dicke Rumpfplatten, zerstörten hier und dort einige Schotten. Die Mantas drehten sich, damit ihre beschädigten Sektionen vom Feind fort zeigten. Eine neue, verbesserte Panzerung verhinderte die sofortige Vernichtung der Kreuzer.
Tasia schloss die Hände fest um die Armlehnen des Kommandosessels. »Shizz, warum förmlich sein? Schießen Sie, wann immer Sie es für angemessen halten. Feuern Sie auch, während wir unsere Sachen packen und von hier verschwinden. Wir sollten uns jetzt besser von hier absetzen und der Klikiss-Fackel den Rest überlassen!«
Die Schlachtschiffe der Eskorte schleuderten dem Feind Jazer-Blitze und Brecher entgegen. Die Hydroger reagierten mit noch größerem Zorn. Entsetzte Schreie erklangen auf Tasias Brücke, als drei Kugelschiffe einen einzelnen Manta angriffen und so lange auf ihn feuerten, bis er explodierte. Eine Wolke aus glühenden Trümmern, entwichener Luft und Leichen breitete sich im All aus.
Ein zweiter Manta-Kreuzer platzte auseinander, während die terranischen Schiffe beschleunigten und sich vom kollabierenden Gasriesen entfernten. Immer mehr Kugelschiffe kamen, umgaben die Flotte und hinderten sie an der Flucht.
Tasias einzige Befriedigung bestand darin zu sehen, wie reinigendes Feuer Ptoro von innen heraus leuchten ließ. Sie hatte genug von den verdammten Drogern.
»Schluss mit der Spritztour. Bringt uns fort von hier.«
»Kugelschiffe der Hydroger verfolgen uns, Commander!«
Ein Streifen aus Feuer raste an Tasias Kreuzer vorbei, ein feuriger Ball so groß wie ein Kugelschiff, und er huschte dem sterbenden Planeten entgegen. Ein zweiter kam, ein dritter, dann zehn weitere.
»Zum Teufel auch, was war das denn?«, fragte Ramirez.
»Meteore?«
Tasia wusste Bescheid. Die glühenden Ellipsoide um sie herum waren wie von einer Flamme angelockte Motten. »Die Faeros«, sagte sie leise. Sie hatte sie schon einmal gesehen, bei ihrer Niederlage im Kampf um die künstliche Sonne Oncier.
Jetzt aber waren die Feuerballentitäten und ihre brennenden Schiffe den Kugeln der Hydroger zahlenmäßig weit überlegen.
Die Hydroger nahmen sofort die Faeros unter Beschuss und schenkten den menschlichen Schiffen keine Beachtung mehr.
Die TVF-Crews reagierten mit einer Mischung aus verblüfftem Schweigen und enthusiastischem Jubel. »Shizz, verschwendet keine Zeit!«, rief Tasia so laut, dass sich ihre Stimme überschlug. »Der Feind ist abgelenkt – weg von hier!«
Eine noch größere Salve aus Jazer-Blitzen, Brechern und Knallern schlug den Hydrogern entgegen, aber Tasia wies die Waffenoffiziere an, das Feuer einzustellen. »Wir sind wie eine kleine Maus bei einem Kampf zwischen zwei Mammuts.
Bringen Sie uns aus dem Kreuzfeuer. Es hat keinen Sinn, noch einige unserer Schiffe zu verlieren.«
Während Ptoro heller wurde, als sein Kern kollabierte und sich das nukleare Feuer in ihm ausbreitete, fielen die Faeros über die Flotte aus Kugelschiffen her. Diamantene Kugeln und brennende Ellipsoide tanzten umeinander herum. Wie Sonneneruptionen aussehende gleißende Bögen trafen auf blaue Energieblitze.
Die terranischen Schiffe beschleunigten weiter und ließen den grauen Gasriesen mit dem Feuer in seinem Innern hinter sich zurück.
Einige der sich noch immer drehenden Ellipsoide der Faeros waren dunkel geworden, wie erloschene Kohlen, von Treffern der Hydroger in Asche verwandelt, aber die meisten Kugelschiffe waren geborsten. Einzelne Fragmente trieben fort vom Scheiterhaufen namens Ptoro. Dutzende, dann hunderte von Feuerbällen flogen zum neu entstehenden Stern und griffen gnadenlos die letzten Hydroger an.
»Na bitte«, brummte Tasia zufrieden. »Sie haben es nicht anders verdient.« Sie unterbrach den Rückzug am Rand des Ptoro-Systems und beobachtete den Kampf aus sicherer Entfernung.
Die Hydroger hatten keine Chance. Innerhalb einer Stunde wurden sie von den Faeros völlig aufgerieben, die jedes einzelne Kugelschiff zerstörten.
Tasia hätte gern selbst die Möglichkeit gehabt, einige Schiffe der Hydroger zu vernichten, aber es erfüllte sie mit tiefer Zufriedenheit zu beobachten, wie der Feind ein so unrühmliches Ende nahm. Mit der Zündung von Ptoro hatte sie ihren Beitrag geleistet. Ihr war es zu verdanken, dass es eine neue Sonne gab, die Jahrtausende leuchten würde, bevor sie erlosch.
»Einige Minuten lang sah die Sache ziemlich schlecht für uns aus, Commander«, sagte Zizu. »Ich bin nie ein großer Jünger des Unisono gewesen, aber ich muss zugeben, dass ich alle Gebete gemurmelt habe, an die ich mich aus meiner Kindheit erinnern konnte.«
»Nennen Sie es von mir aus ein Wunder«, erwiderte Tasia.
»Wir sind den Faeros zu Dank verpflichtet. Sie haben uns die Flucht ermöglicht.«
Doch die brennenden Schiffe reagierten nicht auf die Kommunikationssignale der TVF. Nach der Vernichtung der Hydroger-Schiffe umkreisten sie den heller werdenden Gasriesen Ptoro und sanken dann in die neue Sonne. Ohne eine Antwort sprangen sie mit offensichtlichem Entzücken in die Flammenfront, die die Atmosphäre verschlang.
Überall im Spiralarm waren beim titanischen Kampf zwischen Hydrogern und Faeros Sterne erloschen. Vielleicht, so überlegte Tasia, war Ptoro ein neues Territorium, das die Faeros für die vielen verlorenen Sonnen entschädigte.
16
ANTON COLICOS
Im Lauf von Wochen wich die lange Abenddämmerung auf Maratha einer Nacht, die ein halbes Jahr dauern würde. Anton Colicos beabsichtigte, die ganze Dunkelzeit auf dem Planeten zu verbringen, als einziger Mensch auf Maratha und begleitet nur von einigen wenigen Ildiranern. Er freute sich auf die Einsamkeit.
Die Ildiraner, die zurückbleiben mussten, um über die leere Urlaubsstadt zu wachen, fühlten sich wie zu einer monatelangen Gefängnisstrafe verurteilt.
Zwar war der Maratha-Designierte für diese Welt zuständig, aber er kehrte nach Ildira zurück, um der Kremation seines Vaters und der Machtübernahme durch Jora’h beizuwohnen.
Der Designierte Avi’h hatte kein Geheimnis daraus gemacht, dass er erst dann zurückkehren würde, wenn die Sonne wieder schien und Urlauber kamen.
Anton versuchte, seinem Erinnerer-Freund Trost zuzusprechen. »Lassen Sie uns das Beste daraus machen, Vao’sh. Wenn die Kanonen der Dunkelheit so spektakulär sind, wie ich hörte, so steht uns ein ganz neues Repertoire für das Geschichtenerzählen zur Verfügung. Es geschieht nur einmal pro Jahr, oder?«
Der alte ildiranische Erinnerer hatte sich zunächst über den Auftrag gefreut, der Wartungscrew auf Maratha Gesellschaft zu leisten und dafür zu sorgen, dass sich die Zurückbleibenden nicht zu einsam fühlten. Doch mit dem Beginn der langen Nacht kamen Vao’sh Zweifel. Anton plante, mehr Unterhaltungsarbeit zu leisten, indem er irdische Legenden erzählte.
Die Hautlappen im Gesicht des ildiranischen Historikers veränderten die Farbe und boten damit Hinweis auf unterschiedliche Emotionen. Erheiterung? Resignation? Anton war noch immer nicht imstande, alle Farben und Nuancen zu interpretieren. »Na schön, Erinnerer Anton. Sehen wir uns die Kanonen der Dunkelheit an, wie von Ihnen vorgeschlagen.«
Anton folgte ihm, und sein Interesse wuchs, als sie an einem Ausgang der Kuppeln von Maratha Prime Schutzkleidung überstreiften. Draußen fiel die Temperatur bereits dramatisch.
Die Kleidung verwendete die thermische Technik der Ildiraner, war dünn und flexibel, aber warm.
Der Planet rotierte so langsam im majestätischen Schein seiner Sonne, dass Maratha Prime fast ein halbes Jahr lang strahlende Helligkeit genoss. Es folgte eine Abenddämmerung, die einen Monat dauerte, und dann kam die endlose Nacht. Die meisten Bewohner Marathas verließen den Planeten, wenn die Dämmerung einsetzte.
Nach fast zwei Jahrhunderten des Erfolgs als Urlaubswelt sollte bald eine zweite Stadt auf Maratha eröffnet werden, auf der anderen Seite des Planeten. Klikiss-Roboter arbeiteten dort
– derzeit im Sonnenschein –, um Secda zu errichten, eine neue große Stadt, die ildiranischen Urlaubern jeden Luxus bieten würde. Nacht für Maratha Prime bedeutete Tag für Secda.
Die beiden in Schutzkleidung gehüllten Männer traten ins matter werdende Zwielicht. Zwar war der Himmel noch längst nicht dunkel, aber Vao’sh aktivierte trotzdem sofort alle Glühstreifen an seinen Schultern.
Bevor Anton und Vao’sh in einem kleinen Bodenfahrzeug Platz nehmen konnten, das sie zu den Kanonen bringen sollte, rief ein anderer ildiranischer Mann: »Bitte warten Sie, ich möchte Sie begleiten!« Anton erkannte Ilure’l aus dem Linsen-
Geschlecht, der als Betreuer und Berater für die Wartungscrew auf Maratha geblieben war. »Die Kanonen der Dunkelheit sind faszinierend. Ich fühle mich immer… inspiriert, wenn ich sie sehe.«
Ildiraner des Linsen-Geschlechts verfügten über schwache telepathische Kräfte, mit denen sie angeblich die Sphäre der Lichtquelle interpretieren konnten. Unter den Wartungstechnikern herrschten Schwermut und
Niedergeschlagenheit – Anton hoffte, dass Ilure’l für die letzten Ildiraner auf Maratha sowohl Priester als auch Psychologe sein konnte.
»Bitte kommen Sie.« In Vao’shs Stimme erklang ein Hauch von Furcht davor, sich zu weit von seinen Artgenossen zu entfernen. »Bitte.«
Anton bot sich an, das einfache Vehikel zum schattigen Horizont zu fahren. »Sollen wir Mhask’k und Syl’k fragen, ob sie ebenfalls mitkommen möchten? Vielleicht freuen sie sich über die Möglichkeit, ihre landwirtschaftlichen Kuppeln einmal zu verlassen.«
Der Ildiraner des Linsen-Geschlechts sah ihn kurz an. »Sie haben zu arbeiten.«
Hinter ihnen leuchteten und glitzerten die Kuppeln von Prime, ein Schrei aus Photonen vor der heranrückenden Finsternis der Nacht. Drei wabenartige Konstruktionen hockten wie Satelliten am Rand der Stadt, und in ihrem hellen Innern wuchsen Pflanzen.
Die beiden Ildiraner des Bauern-Geschlechts bauten im strahlenden Schein von Lampen Getreide in Düngetrögen und hydroponischen Kanälen an. Das Bauern-Geschlecht produzierte Nahrungsmittel; darauf war es spezialisiert, und alle anderen Dinge interessierten es nicht. Anton war immer bestrebt, mehr über die ildiranische Kultur zu erfahren, und er hatte versucht, einen Eindruck von der Lebensweise der Bauern zu gewinnen, von ihrem speziellen Dienst für den Weisen Imperator. Doch sein Bemühen, mit Mhask’k und Syl’k zu sprechen, blieb praktisch auf einen Monolog seinerseits beschränkt. Wenn sie überhaupt etwas sagten, hielten sie den Blick dabei gesenkt. Ihre Finger blieben in Bewegung, berührten Blätter und Stängel, maßen den Feuchtigkeitsgehalt. Mhask’k und seine Partnerin Syl’k schienen mit wachsenden Dingen besser kommunizieren zu können als mit Personen.
Sie bildeten ein perfektes Paar und erinnerten Anton an seine vermissten Eltern. Margaret und Louis waren wie zwei Seiten der gleichen Medaille gewesen, hatten immer perfekt zusammengearbeitet, die gleichen Leidenschaften und Interessen geteilt. Anton bedauerte zutiefst, nicht zu wissen, was aus ihnen geworden war.
»Die meisten ildiranischen Geschlechter teilen Ihre Neugier nicht, Erinnerer Anton«, erklärte Vao’sh. »Mhask’k und Syl’k kümmern sich um die Treibhauskuppeln und bauen unsere Nahrung an. Das bereitet ihnen Freude und Genugtuung. Für andere Dinge interessieren sie sich nicht.«
Während der Fahrt wurde es dunkler, und Ilure’l schaltete die Innenbeleuchtung ein, sodass Anton Mühe hatte, draußen noch etwas zu erkennen. Weiter vorn sah er weiße Rauchfahnen, wie Abgase aus den Schloten einer Industrieanlage.
»Ich sehe mir dieses Spektakel jedes Jahr an«, sagte Ilure’l.
In Vao’shs Gesicht kam es zu einer Symphonie aus Farben, die etwas zum Ausdruck brachten, wofür ihm die Worte fehlten.
Anton stoppte das Bodenfahrzeug an einer Stelle, die Ausblick auf emporsteigenden Dampf gab. Er verließ den Wagen als Erster und trat in die klirrende Kälte, hörte ein dumpfes Grollen, von einer Vibration im Boden begleitet.
»Hören Sie das?«
Der Dampf bildete Nebel in der Dunkelheit. Feuchtigkeit gefror zu Schneeflocken, die langsam zu Boden sanken. Eis sammelte sich am Rand der Fumarolen an.
Seismische Untersuchungen hatten ergeben, dass der Boden unter Maratha Prime viele Aquiferen und thermische Kanäle enthielt. In der Stadt gab es zahlreiche heiße Quellen, zur Freude der ildiranischen Besucher. Wenn bei Einbruch der Dunkelperiode die Temperatur sank, kondensierte aufsteigendes Gas, das während der heißen Jahreszeit unsichtbar blieb, zu deutlich sichtbaren Rauchfahnen. Im Verlauf der nächsten Wochen wurde es immer kälter, wodurch der Dampf gefror, und schließlich entstand eine Eiskappe über den Geysiren, brachte sie zum Schweigen – bis sie zu Beginn der nächsten Lichtperiode explosionsartig zu neuem Leben erwachten.
Vao’sh und Ilure’l blieben im Lichtkreis des Fahrzeugs, während Anton furchtlos in die Schatten trat, um die perlweißen Wolken besser zu sehen. »Ich bin immer an Naturwundern interessiert gewesen, aber vorübergehende Phänomene wie dies sind viel… ergreifender.«
»Eine verwelkende Blume ist schöner als eine dauerhafte Statue unseres Weisen Imperators?« Ilure’l klang skeptisch.
»In gewisser Weise… ja. Zu wissen, dass man etwas verliert… Das zwingt einen, es zu schätzen, bevor es verschwindet.«
»Da hat Erinnerer Anton durchaus Recht«, sagte Vao’sh.
Der Ildiraner des Linsen-Geschlechts schien beunruhigt zu sein. »Das Thism ist schön, weil es sich nie verändert und für immer besteht. Seine perfekte Zuverlässigkeit inspiriert unseren Glauben. Zwar kann ich die natürliche Einzigartigkeit dieser Formationen bewundern, aber ich finde sie weniger schön als die Lichtquelle, wegen ihrer Vergänglichkeit.«
»Menschen glauben, dass es zwei und mehr Möglichkeiten gibt, eine Geschichte zu interpretieren«, sagte Vao’sh.
Anton lächelte. »Die Diskussion über solche Dinge hat meine… esoterischen Kollegen, die an Universitäten arbeiten, während ihrer ganzen beruflichen Laufbahn beschäftigt – und schon Generationen ihrer Vorgänger.«
Das Gespräch beunruhigte Ilure’l offenbar. »Wenn ich das Thism interpretiere, Erinnerer Anton, möchte ich nicht, dass andere ildiranische Geschlechter ihre eigenen Schlüsse ziehen.
Zu viele Diskussionen bringen Fragen, keine Antworten. Wenn ich eine Antwort gebe, ist die Angelegenheit erledigt.« Nach einem weiteren kurzen Blick auf die Kanonen der Dunkelheit drehte sich Ilure’l um und stieg wieder in den Bodenwagen.
»Wenn Sie so weit sind… Ich würde jetzt gern zur Stadt zurückkehren.«
Anton nahm wieder an den Kontrollen Platz, und als sie sich den hellen Kuppeln von Maratha Prime näherten, versuchte er, den erregten Ildiraner des Linsen-Geschlechts zu besänftigen.
»Alle Ildiraner sind durch das Thism miteinander verbunden, und deshalb können Sie vielleicht absolute Antworten geben.
Aber wenn ich eine unserer Legenden erzähle, so ist das… nur eine Geschichte.«
Daraufhin huschten die Farben höchster Besorgnis durch Vao’shs Gesicht. »Erinnerer Anton, nichts ist nur eine Geschichte.«
17
WEISER IMPERATOR JORA’H
Jora’h saß in seiner privaten Kontemplationskammer, einem Raum mit glatten Wänden aus blutrotem Kristall. Sieben eifrige Bedienstete kämmten und ölten sein goldenes Haar, zogen die zuckenden Strähnen dann zusammen. Trotz des Durcheinanders aus Händen gelang es ihnen, das Haar zu einem Zopf zu flechten. Er reichte nur bis zum Nacken, aber im Lauf der Jahre würde er zu einem langen Seil wachsen, wie beim früheren Weisen Imperator.
Sein korpulenter Vater hatte den Chrysalissessel nie verlassen, aber Jora’h fühlte sich darin wie gefangen und isoliert, in seiner Fähigkeit beschränkt, über das ildiranische Volk zu regieren. Die Tradition verlangte, dass er Verfügungen erließ und das Volk führte, ohne jemals den Boden zu berühren, doch darin sah Jora’h eine absurde Einschränkung für einen Herrscher.
Als Erstdesignierter hatte er immer gewusst, dass dies letztendlich sein Schicksal sein würde. Unglücklicherweise hatte er die Bedeutung seiner Freiheit und der vielen Gelegenheiten erst erkannt, als es zu spät war.
Regierung, Solare Marine, die Designierten und ihre Nachfolger – sie alle mussten jetzt das Chaos des Machtwechsels hinter sich bringen. Jora’h musste seine Söhne mit ihren neuen Aufgaben betrauen, Anweisungen erteilen, sich mit Proklamationen ans Volk wenden und den Ildiranern versichern, dass seine Vision der Lichtquelle richtig war und das Thism stark.
Wie sollte er nach Dobro fliegen, um Nira und die anderen gefangenen Menschen zu befreien, wenn so viele Krisen und Verpflichtungen seine Aufmerksamkeit erforderten? Er hoffte, in einigen Tagen die Möglichkeit zu bekommen, sich auf den Weg nach Dobro zu machen, zu Nira. Seit vielen Jahren befand sie sich dort und glaubte sicher, dass er sie aufgegeben hatte…
Doch zuerst musste er seine Rolle als Weiser Imperator ausfüllen.
Sein Sohn Thor’h schob sich an den Türwachen vorbei, obwohl Jora’h seinen Kindern befohlen hatte, draußen zu warten. »Vater, die neuen Designierten haben sich versammelt und sind für dich bereit.«
Jora’h sah den Erstdesignierten an und versuchte, nicht verärgert die Stirn zu runzeln. Er bemerkte den glasigen Glanz in den Saphiraugen des jungen Mannes. Für die Sinne des Weisen Imperators war Thor’h ein Fleck im Thism, ein undeutlicher Schemen. »Wenn du weniger Schiing nehmen würdest, Thor’h, fiele es dir vielleicht leichter, mich Entscheidungen treffen und Anweisungen erteilen zu lassen.«
Sein Sohn hatte nicht einmal den Anstand, sich vom Tadel getroffen zu zeigen. »Schiing erlaubt mir, mich zu konzentrieren. Ich bekomme dadurch mehr Kraft für meine wichtigen Pflichten.« Schiing, auf Hyrillka eine beliebte Droge, war kaum mehr zu bekommen, seit die Hydroger jene Welt zerstört hatten. Doch Thor’h verfügte noch immer über Nachschub, und Jora’h fürchtete, dass er süchtig war.
Der Mangel an Disziplin und Verständnis seines Sohns weckte Zorn in Jora’h, und unter dem weichen Tuch im Chrysalissessel ballte er die Fäuste. Der Erstdesignierte war noch jung und schlecht ausgebildet. Durch die Jahre auf Hyrillka war er verweichlicht, obwohl es Jora’h damals für gut gehalten hatte, seinen Sohn dorthin zu schicken. Jetzt fragte er sich, ob es besser gewesen wäre, etwas strenger mit seinem Erstgeborenen zu sein, um ihn darauf vorzubereiten, Erstdesignierter zu werden. Er hoffte, dass Thor’h reifte und lernte, seinen neuen Aufgaben auf angemessene Weise gerecht zu werden. Er selbst musste ebenfalls lernen – der vorherige Weise Imperator hatte Jora’h erst während der letzten Monate auf die Nachfolge vorbereitet.
»Geh und hol meine anderen Söhne herein«, sagte Jora’h abrupt. »Ich möchte nicht länger warten.«
Der Erstdesignierte drehte sich sofort um, eilte hinaus und kehrte kurze Zeit später mit seinen beiden nächsten Brüdern Daro’h und Pery’h zurück. Pery’h würde die Rolle des Hyrillka-Designierten übernehmen, obwohl Thor’h dort mehr Zeit verbracht hatte.
Niemand bekommt genau das, was er möchte… nicht einmal der Weise Imperator.
Hinter den drei jungen Männern kam unaufgefordert Yazra’h herein, die älteste Tochter des Weisen Imperators. Sie war schlank und muskulös, und ihre Bewegungen deuteten auf Selbstbewusstsein und Entschlossenheit hin. Kupferfarbenes Haar umgab ihren Kopf wie eine Mähne, lang und extravagant im Vergleich mit dem ihrer Brüder – alle ildiranischen Männer hatten ihr Haar abgeschnitten, als Zeichen der Trauer nach dem Tod des früheren Weisen Imperators.
Thor’h sah seine Schwester an und schniefte verächtlich. »Du wirst hier nicht gebraucht, Yazra’h.« Die Blutlinie des Weisen Imperators bestand hauptsächlich aus männlichen Nachkommen. Jora’h hatte viele Nachkommen
unterschiedlicher Geschlechter, aber nur wenige von ihnen waren Töchter, darunter eine von Nira…
Zwar hatte er Yazra’h nicht aufgefordert, an dieser Versammlung teilzunehmen, aber Jora’h beschloss, die Arroganz des Erstdesignierten nicht zu ignorieren. »Der Weise Imperator trifft solche Entscheidungen, Thor’h«, sagte er mit einem warnenden Ton in der Stimme. »Insbesondere in seiner eigenen Kontemplationskammer.«
Yazra’hs Augen glänzten und forderten ihre älteren Brüder heraus. Der Weise Imperator zweifelte nicht daran, dass sie in der Lage gewesen wäre, jeden seiner Söhne im Nahkampf zu besiegen. Sanfter fügte er hinzu: »Ich habe nur meine ersten Designierten-Kandidaten zu mir bestellt, Yazra’h.«
Sie zuckte wie beiläufig mit den Achseln und warf dem Erstdesignierten einen geringschätzigen Blick zu. »Deine Türwächter scheinen keine besonders gute Arbeit dabei zu leisten, unerwünschte Personen fern zu halten. Ich wollte nur meine Hilfe anbieten, falls du sie brauchst.«
»Ich werde das in Betracht ziehen. Vielleicht kannst du dazu beitragen, die Leistungsfähigkeit unserer Wächter zu verbessern.«
Yazra’h strahlte und verbeugte sich. »Es ist mir eine Ehre, auf jede Weise zu dienen, die mein Vater für mich wählt.« Sie verließ den Raum und ging an den grimmig wirkenden Wächtern vorbei.
Jora’h sah die jungen Designierten an. »In den nächsten Stunden spreche ich mit allen meinen adlig geborenen Söhnen und werde ihren Transfer an Bord von Schiffen der Solaren Marine veranlassen. Während der fünfjährigen Übergangsperiode wird jeder von euch von einem meiner Brüder ausgebildet. Nur du, Pery’h, musst allein zurechtkommen.«
Der junge Mann neigte traurig den Kopf. Sein verletzter Onkel wurde noch immer im medizinischen Zentrum des Prismapalastes behandelt; Rusa’hs Zustand schien hoffnungslos zu sein. Pery’h musste der neue Hyrillka-Designierte werden, ohne auf die Hilfe eines Mentors zurückgreifen zu können, aber er war intelligent und hatte Bereitschaft gezeigt, Rat anzunehmen. Jora’h glaubte, dass er gute Arbeit leisten würde.
Der Wechsel vom Designierten zum Nachfolger hatte immer nach und nach stattgefunden. Viele von Jora’hs Brüdern waren absolut kompetent in ihren Rollen, aber weil die Thism-Verbindung zwischen Vater und Sohn am stärksten war, wurden die Kinder des Weisen Imperators traditionell als Regenten der ildiranischen Kolonien eingesetzt, weil er sie geistig besser wahrnehmen konnte.
Die Designierten-in-Bereitschaft würden die besonderen Erfordernisse und Aspekte der jeweiligen Splitter-Kolonien kennen lernen. Durch das Thism konnte Jora’h die Loyalität seiner Söhne fühlen und wissen, dass sie ihre Verantwortung akzeptierten. Der plötzliche Tod des Weisen Imperators Cyroc’h war ein schwerer Schock für das Ildiranische Reich gewesen, aber es würde weiterhin so stark sein wie bisher.
Wenn Jora’hs Söhne die ihnen zugewiesenen Welten erreicht hatten, war wieder alles in Ordnung.
Dann kann ich zu Nira.
Als er Thor’h, Daro’h und Pery’h fortschickte, hörte Jora’h Aufruhr im Korridor und sah schattenhafte Gestalten hinter den transparenten Wänden. Jemand näherte sich rasch.
Yazra’hs frühere Kritik veranlasste die Wächter des Krieger-Geschlechts, aufmerksamer und grimmiger zu agieren. Sie knurrten Warnungen und wiesen die eingetroffene Person zurück.
»Aber ich bringe wichtige Neuigkeiten!«, ertönte eine Stimme.
Durch das Thism spürte Jora’h einen Ildiraner des Mediziner-Geschlechts und begriff, dass es sich tatsächlich um eine bedeutende Angelegenheit handelte. »Lasst ihn eintreten. Ich möchte erfahren, was…«
Der Arzt platzte herein, noch bevor der Weise Imperator den Satz beenden konnte. »Der Hyrillka-Designierte, Herr!« Die gewandten Hände des Doktors zitterten vor Aufregung. »Nach all der Zeit im Subthism-Schlaf ist Ihr Bruder Rusa’h endlich erwacht!«
18
YARROD
Als die triumphierende Kampfgruppe der TVF von Ptoro heimkehrte, hielt Yarrod den Zeitpunkt für gekommen, seinen Dienst in der Terranischen Verteidigungsflotte zu beenden. Er sah keine Gründe, die ihn veranlassen konnten, noch länger zu bleiben, wohl aber andere, die ihn zur Rückkehr nach Theroc drängten.
Ja, die Hydroger griffen auch weiterhin Kolonialwelten an, von Menschen bewohnte ebenso wie ildiranische, aber inzwischen schien klar zu sein, dass die Fremden nach dem Weltwald gesucht hatten. Wenn man die Maßstäbe der Logik anlegte, mochte es einen Sinn ergeben, beim terranischen Militär zu bleiben und ihm bei seinem Bemühen zu helfen, gegen den Feind zu kämpfen. Andererseits: Jedes Mal, wenn er den Schössling berührte, riefen die verletzten Weltbäume nach ihm!
Eigentlich hatte Yarrod gar nicht beabsichtigt, für das Militär der Erde tätig zu werden. Er war nur widerstrebend dazu bereit gewesen, ohne sich jemals für einen echten TVF-Soldaten zu halten. Im Gegensatz zu seinem geschwätzigen und abenteuerlustigen Freund Kolker lag ihm nichts daran, andere Welten außer Theroc zu sehen. Der Weltwald enthielt genug faszinierende Dinge, um ihn für den Rest seines Lebens zu beschäftigen.
Seine Nichte Sarein, die als Therocs Botschafterin auf der Erde weilte, hatte um Hilfe beim Krieg gegen die Hydroger gebeten, und die Bäume gaben ihre Zustimmung. Zusammen mit achtzehn anderen grünen Priestern hatte Yarrod Theroc verlassen, und sie waren auf verschiedene Raumschiffe verteilt worden, die in weit voneinander entfernten Sektoren zum Einsatz gelangten.
Doch jetzt konnte er den größeren Erfordernissen der verletzten Bäume gegenüber nicht mehr taub bleiben. Durch den Telkontakt hatte er das Entsetzen miterlebt, den Kampf, die schrecklichen Schmerzen – anschließend hatten ihn wochenlang Albträume gequält. Er hätte nicht an Bord eines Schiffes mit metallenen Wänden sein sollen, sondern auf Theroc, um mit seiner Kraft zu helfen. Vielleicht hätte ihn wie viele andere der Tod ereilt, aber er wäre wenigstens dort gewesen.
Yarrod ballte die Fäuste, als ihn Erinnerungen an Flammen, Kälte und Agonie durchströmten. Niemand hatte geahnt, dass die Hydroger Theroc angreifen würden. Er war auf der Brücke eines TVF-Schiffes gewesen, das auf neue Anweisungen wartete, als ihn plötzlich das Wehklagen des Weltwaldes durchzuckt hatte. Mit den Augen von tausend Bäumen hatte er den Tod seines Neffen Reynald und vieler anderer gesehen. Es war einfach unerträglich gewesen.
Jetzt war es zu spät, an jenem Kampf teilzunehmen, aber nicht zu spät dafür, Ordnung zu schaffen, neue Bäume zu pflanzen, die Schösslinge zu pflegen… und dafür zu sorgen, dass sich so etwas nie wiederholte.
Durch den Telkontakt hatte Yarrod mit anderen grünen Priestern darüber gesprochen, auch mit Kolker, der sich jetzt an Bord einer Himmelsmine über Qronha 3 befand. Kolker und Yarrod waren vor langer Zeit zusammen Akolythen gewesen und hatten am gleichen Tag das Grün bekommen. »Bei Ptoro hast du mitgeholfen, Rache zu nehmen«, teilte ihm Kolker durch den Telkontakt mit. »Das war deine Art und Weise des Kampfes gegen die Hydroger, und du hast mehr erreicht als wir anderen.«
Seine Aufgabe bei der TVF bestand einfach nur darin, Informationen und Anweisungen von Commander Tamblyn weiterzugeben, aber Yarrod hatte Rossia und alle anderen grünen Priester an den Ereignissen teilhaben lassen. Er hatte beobachtet, wie sich der gewaltige Rachen des Wurmlochs öffnete, den Neutronenstern verschlang und nach Ptoro schickte.
Ja, er hatte dabei geholfen, Vergeltung zu üben. Aber es reichte nicht, und es war nicht das, was sein Herz verlangte.
Siegesmeldungen über Ptoro waren mithilfe des Netzwerks der grünen Priester durch den ganzen Spiralarm geschickt worden. Als die Flotte jetzt mit Höchstgeschwindigkeit zur Erde flog, saß Yarrod allein in seiner Kabine an Bord von Tasia Tamblyns Manta-Kreuzer. Er wollte weder mit Rossia noch mit irgendeinem TVF-Offizier sprechen. Sein Entschluss stand fest. Er sah keine andere Wahl, als den Dienst zu quittieren und seine – eher vagen, wie er meinte –
Verpflichtungen dem Militär gegenüber als erledigt zu betrachten.
Wenn er schließlich auf dem Friedhof der Weltbäume stand, Asche und Ruß roch wie das Blut der verbrannten Bäume…
Der Schmerz würde wie mit Rasiermessern durch seine Seele schneiden. Trotzdem wusste Yarrod, was es zu tun galt.
Allein in seiner kleinen Kabine schöpfte er Kraft aus der stummen Kommunikation mit dem Schössling. Bevor der Manta-Kreuzer die Erde erreichte, ging Yarrod mit zielstrebigen Schritten zur Brücke, um Commander Tamblyn seine Entscheidung mitzuteilen.
19
BASIL WENZESLAS
Die Neuigkeiten über Ptoro sollten erst am nächsten Tag offiziell bekannt gegeben werden, aber Basil hatte bereits eine Meldung von den grünen Priestern der Kampfgruppe erhalten.
Hier auf der Erde musste er dafür sorgen, dass jene Leistung eine möglichst große Wirkung erzielte. Der Vorsitzende konnte nicht alles allein schaffen, obwohl er nie Schwäche zeigte, nicht einmal seinem Stellvertreter gegenüber.
Seit einem Jahr bereitete er Eldred Cain darauf vor, einmal zu seinem Nachfolger und Erben zu werden. Cain war kurz vor Beginn der Hydroger-Krise in die Pyramide des Hanse-Hauptquartiers gekommen, doch Basil hatte ihn noch nie privat, außerhalb der Geschäftsstunden besucht. Es ging Basil nicht darum, eine freundschaftliche Beziehung zu seinem Stellvertreter zu schaffen, aber er wollte Einzelheiten aus Cains Leben kennen lernen. Seine Untergebenen durften keine Geheimnisse vor ihm haben.
Zwar war es schon spät, doch Basil rief Cain nicht zu sich ins Penthouse, sondern brach auf, um ihn in seinem eigenen Revier zu besuchen. Natürlich trug er makellose Kleidung, wie bei einer Tagung des Handelsrats der Hanse. Für den Vorsitzenden gab es nur offizielle Anlässe.
Sein blasser Stellvertreter empfing ihn an der Tür und trug ein bequemes Hemd aus glattem Stoff. Eldred Cain war achtunddreißig Jahre alt, schlank und schmächtig. Er hatte völlig haarlose Haut, was entweder auf eine sorgfältige Depilation oder eine Form von Alopezie hindeutete.
Cain wirkte nicht überrascht, als er Basil hereinwinkte.
»Willkommen bei mir zu Hause, Vorsitzender. Wünschen Sie ein geschäftliches Essen – ich könnte uns etwas bestellen –, oder beschränken wir uns auf Drinks?«
»Ich trinke keinen Alkohol, wenn geschäftliche Dinge besprochen werden.«
Cain bedachte ihn mit einem unerträglichen glückseligen Lächeln. »Ich habe immer ein wenig Kardamomkaffee, für den Fall, dass Sie einmal zu Besuch kommen.«
In Basils Penthouse gewährten Fenster einen prächtigen Blick auf die Skyline, aber Cain hatte eine interne Wohnung gewählt, ohne Fenster. Basil erinnerte sich an ein absurdes Gerücht, das ihm einmal zu Ohren gekommen war und seinen sonderbaren Stellvertreter als Vampir bezeichnet hatte. Auf die Frage nach seiner seltsamen Vorliebe hatte Cain geheimnisvoll geantwortet: »Räume ohne Fenster bieten mehr Platz an den Wänden.«
Als Basil nun Cains Wohnung betrat, sah er den Grund.
Kunst bedeckte die Wände, von kleinen Skizzen bis hin zu großen Gemälden: Porträts von inzüchtig wirkenden Adligen, zwei fast identische Darstellungen der Kreuzigung, Bilder der klassischen Mythologie, einfache Darstellungen des bäuerlichen Lebens im Mittelalter. Jedes einzelne Werk wurde liebevoll präsentiert, perfekt mit indirekter Beleuchtung und mit einem Sitzplatz in der optimalen Betrachtungsdistanz.
»Kennen Sie die Werke von Velazquez, Vorsitzender? Dies sind Originale aus dem siebzehnten Jahrhundert. Von unschätzbarem Wert.«
»Kunstgeschichte gehörte nie zu meinen besonderen Interessen.«
Basils Stellvertreter zeigte für ihn untypischen Überschwang.
»Ein Meister des Realismus und der Täuschung. Velazquez hatte einen ausgeprägten Sinn für Ironie und verspottete die von ihm verabscheuten banalen Adligen, ohne dass sie es merkten.« Im Lauf der Jahre hatte Cain den größten Teil seiner Einkünfte dafür verwendet, Velazquez’ Skizzen und Gemälde zu erwerben, die meisten vom Prado in Madrid. »Ich kann sie mir stundenlang ansehen. Ich werde nicht müde, die Gestaltung zu betrachten, die Farben.«
Basil wusste Qualitätsarbeit zu schätzen, aber er hatte ein einzelnes Bild nie länger als einige wenige Momente betrachtet. »Interessant, Mr. Cain – aber deswegen bin ich heute Abend nicht hierher gekommen.« Er trat weiter in den Raum. »Da die Sache mit Ptoro so gut geklappt hat, habe ich vor, den Einsatz einer weiteren Klikiss-Fackel zu genehmigen.
Vielleicht sogar von mehreren.«
Er wollte nicht schwach oder unentschlossen erscheinen, brauchte aber die Möglichkeit, Ideen zu testen. Er hatte bereits mit Sarein darüber gesprochen. Es ging um eine neue Perspektive, darum, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu sehen – solange er dabei nicht den Eindruck erweckte, mit dem Hut in der Hand an seinen Stellvertreter heranzutreten.
Bisher war Cain immer korrekt gewesen.
Der blasse Mann nahm auf einer der Betrachtungsbänke Platz und deutete für Basil auf eine andere. »Ah, und Sie befürchten, dass es die Hydroger zu einem massiven Gegenschlag veranlassen könnte anstatt zu Zugeständnissen.«
Basil gab nicht zu, dass er Hilfe suchte. Er wartete einfach nur.
»Die ersten Berichte deuten darauf hin, dass unser Angriff auf Ptoro ein Erfolg war«, fuhr Cain fort. »Aber es hätte auch ein Debakel daraus werden können. Und es ist noch zu früh für die Feststellung, dass die Hydroger keine Vergeltung üben.«
»Wie dem auch sei…«, sagte Basil. »Die Hydroger wissen jetzt, dass wir ihnen schaden können.«
»Was wäre ohne das Eingreifen der Faeros geschehen? Sie scheinen Feinde der Hydroger zu sein, aber weder kennen wir ihre Motive, noch ist es uns gelungen, mit ihnen zu kommunizieren.«
Basil presste die Fingerspitzen aneinander. »Vielleicht sollten wir selbst ein Ultimatum stellen, vor dem Einsatz jeder neuen Fackel. Vielleicht sollten wir fordern, dass uns die Hydroger Zugang zu den Gasriesen gestatten und versichern, dass es keine weiteren Angriffe geben wird. Wenn sie sich weigern oder keine Antwort geben, zünden wir eine Fackel, und dann noch eine. Es gibt einen historischen Präzedenzfall: In dieser Manier setzte Präsident Truman im Zweiten Weltkrieg Atomwaffen gegen Japan ein.«
»Es ist keine geeignete Analogie, Vorsitzender.« Hier, unter vier Augen, hielt sich der Stellvertreter nicht damit zurück, Basil zu widersprechen. »Präsident Truman hatte den Oberbefehl über eine der größten Streitkräfte im Zweiten Weltkrieg, und die Vereinigten Staaten waren bereits eine wichtige Macht. Bei diesem Konflikt sind wir relativ unbedeutend für den Feind. Mit ziemlicher Sicherheit könnten uns die Hydroger jederzeit auslöschen. Ein Ultimatum unsererseits ließe sich mit der Drohung vergleichen, dass Luxemburg in den Zweiten Weltkrieg eintritt. Ja, wir können Warnungen senden und schwören, die Hydroger zu vernichten, wenn sie nicht auf unsere Forderungen eingehen. Aber was, wenn sie mit einem Großangriff auf uns beginnen? Wir könnten keinen nennenswerten Widerstand leisten, wie unsere Erfahrungen auf Boone’s Crossing, Corvus Landing und Theroc zeigen.«
»Es besteht immer die Möglichkeit, dass die Hydroger auch weiterhin menschliche Kolonien angreifen, ob wir nun Klikiss-Fackeln einsetzen oder nicht, Eldred.«
Cain stützte das Kinn auf die Hand. »In der Atmosphäre von Qronha 3 haben wir eine Himmelsmine in Betrieb genommen, und ich würde es sehr begrüßen, wenn wir ungehinderten Zugang zu mehr Gasriesen hätten. Leider zerstören wir mit dem Einsatz der Fackel wertvolle Ressourcen. Die Ekti-Produktion kommt dadurch nicht voran.«
»Haben Sie eine andere Lösung?«, knurrte Basil.
»Lassen Sie mich darüber nachdenken. Übrigens: Ich habe gehört, dass mehrere Transporter die auf Theroc entdeckten Trümmer eines Kugelschiffes hierher bringen. Treffen sie rechtzeitig zur Ptoro-Siegesfeier ein?«
»So ist es geplant.« Basil Wenzeslas stand auf. »Die Präsentation der Trümmer sollte die allgemeine Moral weiter verbessern.«
»Sie ist nur Schau, Vorsitzender.«
Ein zynisches Lächeln umspielte Basils Lippen.
»Unterschätzen Sie nicht die Wirkung einer gut in Szene gesetzten Schau, Eldred. Wofür, glauben Sie, haben wir den König?«
20
KÖNIG PETER
Es war gut, nach so vielen Tragödien einen echten Grund fürs Feiern zu haben. Auf einem hohen Balkon stand König Peter neben seiner Königin und sah, wie die Abenddämmerung Schatten auf dem Festplatz schuf. Obwohl sie in der Öffentlichkeit waren, und teilweise deswegen, wechselten sie rasche, mitteilsame Blicke und berührten sich nur kurz – sie fühlten sich wohl angesichts der Nähe des anderen.
Jubel hieß das königliche Paar willkommen, und Peters Gesicht zeigte das erste aufrichtige Lächeln seit langer Zeit.
Estarra und er fassten sich an den Händen und hoben sie gemeinsam, um das Volk zu grüßen.
Musik ertönte auf dem großen Platz. Straßensänger und Musikanten tanzten umher und zeigten ihre Freude. Feiernde ließen phosphoreszierende Ballons los, die aufstiegen, platzten und Wolken aus schimmernden Funken freisetzten. Boote glitten durch den Königlichen Kanal, und Touristenzeppeline schwebten am Himmel.
Der Erzvater der offiziellen Religion Unisono stand wie ein freundlicher alter Heiliger unten auf dem Platz, gekleidet in weite bunte Umhänge. Er sprach Ritualgebete und ließ Gläubige Dankgesänge anstimmen. Der junge Prinz Daniel, Peters angeblicher Bruder, war »aus Sicherheitsgründen« nicht zugegen, und der König freute sich darüber, dass keine unausgesprochene Drohung, ihn zu ersetzen, ihm den Abend verdarb. Der Vorsitzende Wenzeslas glaubte, er hätte den König eingeschüchtert und ihn dazu gebracht, sich mit seiner untergeordneten Rolle abzufinden. In Wirklichkeit versuchte Peter, Zeit zu gewinnen, und er blieb die ganze Zeit über wachsam.
»Ich habe fast vergessen, wie es sich anfühlt, Estarra. Es war notwendig, die Hydroger daran zu erinnern, dass wir nicht hilflos sind, dass wir uns nicht einfach von ihnen niedermetzeln lassen.«
Sie umarmte ihn kurz. »Das dürfte ihnen jetzt klar geworden sein.«
Peter strich ihr über die Schulter und fand großen Gefallen daran, ihre weiche Haut zu berühren. Dass ihm viel an Estarra lag, gab der Hanse ein hervorragendes Druckmittel an die Hand. Das wusste Peter ebenso gut wie Basil.
Der Vorsitzende trat von hinten an sie heran, so leise wie sich ansammelnder Staub. »Die Transporter haben mit dem Anflug begonnen. In zehn Minuten sollten sie am Himmel sichtbar sein. Es wird also Zeit für Sie, zum Volk zu sprechen.«
»Sie und Ihre Zeitpläne, Basil«, sagte Peter und lächelte schief. »Sind Sie nervös, weil Sie diesmal selbst eine kleine Rede halten wollen?« Zwar trat der Vorsitzende nur selten in der Öffentlichkeit auf, aber er hatte beschlossen, sich bei dieser besonderen Gelegenheit selbst ans Volk zu wenden. Vielleicht ging es ihm darum, sich in den optimistischen Neuigkeiten zu sonnen. Spielte so etwas wie Stolz eine Rolle?
»Nervös? Nein.«
Eine laute Fanfare sorgte dafür, dass das Murmeln der Menge Stille wich. Das Licht der Scheinwerfer richtete sich auf den Balkon und blendete ihn so sehr, dass er die herabkommenden Raumschiffe nicht sah – aber er wusste, wo sie sich befinden sollten. »Seht nur!«, rief Peter und deutete nach oben. »Das beweist: Unsere Feinde können vernichtet werden!«
Sechs TVF-Transporter sanken aus dem Orbit herab. Unter ihnen baumelten riesige kristallene Wrackteile an Traktorstrahlen. Zwei Schiffe beförderten gemeinsam das größte Fragment des auf Theroc zerstörten Kugelschiffs, während die anderen Transporter jeweils ein Teil zum Königlichen Platz trugen.
Estarra drückte Peters Hand, voller grimmiger Zufriedenheit darüber, Trümmer des Schiffes zu sehen, das ihre Schwester Celli gefunden hatte. Neben seiner Frau zu stehen… Allein dadurch fühlte sich Peter stärker und fähig, der Menschheit dabei zu helfen, diese Krise zu überwinden.
General Lanyan hatte die Wrackteile zur TVF-Basis auf dem Mars bringen wollen, damit sie dort gründlich untersucht wurden, doch Basil Wenzeslas hatte sich dagegen ausgesprochen. »Sie können sich die Trümmer später vornehmen, General. Es gibt hierbei Dinge zu berücksichtigen, die über die militärische Notwendigkeit hinausgehen. Ich möchte die Wrackteile der Öffentlichkeit zeigen, anstatt sie in einem militärischen Forschungslabor verschwinden zu lassen.«
Lanyan hatte sich über den Widerspruch des Vorsitzenden geärgert und auf militärischer Sicherheit bestanden.
»Sicherheit?«, hatte Peter erwidert. »Wenn Ihre Wissenschaftler einen schwachen Punkt bei den Schiffen der Hydroger finden – vor wem sollten wir ihn geheim halten?«
Vom Balkon aus beobachteten Peter und Estarra, wie die Transporter die Wrackteile des Kugelschiffes auf dem Platz absetzten – wie ein Ritter, der seinem König den abgeschlagenen Kopf des Drachen präsentierte. Als das erste große Trümmerstück mit einem dumpfen Pochen auf den Steinplatten aufsetzte, wichen das Publikum und selbst die königlichen Wächter voller Ehrfurcht zurück.
Der nächste Teil von König Peters Rede war voller warmer Zuversicht. »Unsere Wissenschaftler werden die Komponenten des Kugelschiffs untersuchen und nach schwachen Stellen suchen, die wir beim Kampf gegen die Hydroger ausnutzen können.«
Unten auf dem Platz war der hoch gewachsene und blonde technische Spezialist Swendsen der Erste, der an das Wrackteil herantrat und es berührte. Als er zum Flüsterpalast aufblickte, sah Peter, dass der Mann lächelte. Ohrenbetäubender Jubel erklang.
Basil klopfte auf sein Chronometer. »Zeit für Sie beide, zur Brücke zu gehen«, sagte er leise. »Seien Sie pünktlich.«
König und Königin verließen den Flüsterpalast und betraten den Platz. Wenn sie nebeneinander gingen, in die Präsenz des jeweils anderen vertieft, konnten sie den Pomp, die Wächter und das Publikum fast vergessen. Die königlichen Wächter nahmen Haltung an. Hofmusiker, die genau auf diesen Augenblick gewartet hatten, ließen eine neue Fanfare erklingen.
Weiter vorn glänzte das metallene Maschenwerk der Brücke über dem Königlichen Kanal im reflektierten Licht. Die Hauptpfeiler waren dunkel, obgleich auf anderen Brückentürmen und allen Kuppeln des Flüsterpalastes Fackeln brannten – jede von ihnen symbolisierte eine Welt, die die Charta der Hanse unterzeichnet hatte.
Vor acht Jahren war der alte König Frederick gezwungen gewesen, vier neu entzündete Fackeln zu löschen, nachdem die Hydroger vier für Terraforming und Kolonisation vorgesehene Monde vernichtet hatten. Zwar war Ptoro zu einer neuen Sonne geworden, die sich gewiss nicht für die Besiedlung durch Menschen eignete, aber die Hanse wollte trotzdem Anspruch darauf erheben, als moralischen Sieg. Auch wenn sich Menschen dort nicht niederlassen konnten – wenigstens waren die Hydroger vertrieben.
Estarras ältere Schwester Sarein, die offizielle theronische Botschafterin auf der Erde, stand bei den Repräsentanten und wichtigen Gästen. Die Königin lächelte und nickte ihr kurz zu.
Pyrotechnische Experten der Hanse beobachteten das Geschehen auf Monitoren im Flüsterpalast. Es war eine spektakuläre Show. Peter stand vor dem hohen Pfeiler, wie ein Priester, der Feuer vom Himmel herabbeschwor. »Bei Ptoro haben wir den Hydrogern das Verderben gebracht, das sie so oft zu unseren Kolonien trugen.« Die Menge jubelte. »Im Namen der Terranischen Hanse symbolisiert diese Fackel das von uns Erreichte. Soll sie auch als ewige Flamme an die Soldaten und Zivilisten erinnern, die in einem achtjährigen Krieg, den wir nicht wollten, ihr Leben verloren.«
Peter vollführte eine dramatische Geste, und die pyrotechnischen Experten zündeten die große Fackel auf dem Brückenpfeiler, die heller brannte als alle anderen. Die Treibstoffventile wurden ein wenig weiter geöffnet, und alle Flammen auf den Türmen und Kuppeln des Flüsterpalastes schwollen an, wie genährt vom Licht des Sieges.
Die Menge schnappte nach Luft und applaudierte dann.
Sarein wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit ihrer Schwester, als sich beide an den auf Theroc angerichteten Schaden erinnerten. Spontane Musik wehte gen Himmel.
Peter legte den Arm um seine Königin. Sie fühlte sich so warm und real neben ihm an. Freude zeigte sich auf seinem Gesicht. »Ich bin froh, endlich einmal etwas Positives zu tun«, flüsterte er Estarra zu.
Er genoss das Gefühl einige Sekunden lang, kündigte dann Basil Wenzeslas an und trat beiseite. Applaus erklang. Das Lächeln des Vorsitzenden wirkte fast echt, als er neben Peter stand. Die meisten Leute glaubten den falschen Berichten, wonach die beiden Männer gute Freunde waren.
Basil wartete, bis er die volle Aufmerksamkeit des Publikums hatte. »Die Hanse bietet Ihnen mit unserer neuen Kolonisierungsinitiative eine gute Gelegenheit«, sagte er dann.
»Die Klikiss-Technik hat uns eine mächtige Waffe im Kampf gegen die Hydroger gegeben, wie Ptoro zeigt. Das Transportsystem der Klikiss ermöglicht uns, viele unberührte Welten zu besiedeln. Es ist ein neuer Anfang für uns, für die Hanse ebenso wie für Sie. Denken Sie über die Chance nach.«
Basil brauchte keine Details zu nennen. Seit der Entdeckung der funktionsfähigen Klikiss-Transportale war in den Nachrichten oft über die Kolonisierungsinitiative berichtet worden. Doch es geschah jetzt zum ersten Mal, dass man sie offiziell der Öffentlichkeit präsentierte.
»Ich bin stolz darauf, Ihnen im Namen der Terranischen Hanse ein bemerkenswertes Angebot zu unterbreiten. Sind Sie tapfer und ehrgeizig genug, die gute Gelegenheit zu nutzen?
Sind Sie bereit für den Versuch, eine leere Klikiss-Welt zu kolonisieren? Ihre Sachen zu packen und mit Ihrer Familie aufzubrechen, um auf einem jungfräulichen Planeten ein neues Leben zu beginnen? Denken Sie an die Herausforderung!
Seien Sie Pioniere! Wenn Sie sich der Herausforderung stellen, bietet Ihnen die Hanse Land, gewisse Dienstleistungen und Vorräte, sogar den Erlass bestimmter Schulden.«
Basil klang so, als spräche er vor einem Aufsichtsrat und als ginge es darum, eine Präsentation zu erläutern. Peter erinnerte sich an all die Motivierungskünste, die der Vorsitzende ihn gelehrt hatte, und er fragte sich plötzlich, ob Basil sein rhetorisches Geschick absichtlich nicht voll ausspielte, um den König nicht in den Hintergrund zu drängen.
Fachleute der Hanse, Wirtschaftsanalytiker und soziologische Simulatoren hatten diesen Plan als eine Methode entwickelt, der Hanse frisches Kapital zu geben und beim Volk eine neue Aufbruchstimmung zu wecken. Andernfalls hätten der Hanse durch die begrenzte interstellare Raumfahrt Stagnation und ein langsamer Tod gedroht.
Basil lächelte und fuhr fort: »Die Hydroger drücken uns vielleicht in eine Richtung, aber wir wachsen in eine andere.
Sind Sie bereit, dieses Angebot anzunehmen? Können Sie es sich leisten, es nicht zu beachten? Weitere Details erfahren Sie in den lokalen Informationszentren.«
Während der erwartete Applaus erklang, warf Peter dem Vorsitzenden einen sarkastischen Blick zu. »Wenn Sie am Rampenlicht derart Gefallen finden, Basil«, sagte er, zu leise für die Verstärker, »werde ich bald nicht mehr gebraucht.«
Das falsche Lächeln blieb auf den Lippen des Vorsitzenden, als er antwortete: »Geben Sie mir keinen Grund, auf Sie zu verzichten – dann ist alles in bester Ordnung.«
21
ORLI COVITZ
Die graue und wolkige Welt Dremen war schon vor dem Hydroger-Krieg ihre Heimat gewesen, aber Orli Covitz hielt jeden anderen Planeten für besser, obwohl sie mit ihren vierzehn Jahren kaum Vergleichsmöglichkeiten hatte.
Ihr Vater hatte sie damals hierher gebracht, als sie erst sechs gewesen war, in der Absicht, einen Traum zu verwirklichen.
Jan Covitz hielt die ganze Zeit über an einem unerschütterlichen Optimismus fest, doch Orli wusste inzwischen, dass die Anstrengungen ihres Vaters trotz seiner guten Absichten nie zu großen Ergebnissen führten. Sie liebte ihn trotzdem, denn sie wusste auch: Er glaubte fest daran, irgendwann den Topf Gold am Ende des Regenbogens zu finden, wenn er nur lange genug suchte.
Orli behauchte ihre kalten Finger, um sie zu wärmen, als sie mit ihrem Vater auf den schlammigen Feldern stand, die sie für sich in Anspruch genommen hatten. All dieses Land war verfügbar gewesen, weil sich die anderen Bauern auf Dremen nicht dafür interessierten. Das hätte der erste Hinweis sein sollen, aber Orlis Vater war sicher gewesen, dass sie beide etwas damit anfangen konnten. Jan und seine Tochter bildeten ein Team.
Sie waren als Nachzügler auf Dremen eingetroffen. Die ersten Familien hatten sich vor hundertzehn Jahren auf diesem Planeten niedergelassen und ihre Ansprüche angemeldet. Viele von ihnen führten sich bereits wie Snobs auf und hielten sich nach nur wenigen Generationen für echten Adel. Orlis Vater hatte dem hochmütigen Getue keine Beachtung geschenkt, das zur Verfügung stehende Land akzeptiert und versucht, das Beste daraus zu machen. Er ging mit großem Fleiß und viel Überschwang vor, aber ohne einen Plan. Achteinhalb Jahre lang hatte er hart gearbeitet und immer wieder gesagt: »Im nächsten Jahr wird es besser. Dann schaffen wir es bestimmt, Orli.«
Doch in diesem Jahr kam das Pilzfeld einer Katastrophe gleich.
Der Boden war feucht und matschig; hier und dort gab es Pfützen aus torfbraunem Wasser. Viele der Riesenpilze waren gefällt, die zarten Kappen geerntet, aber bei den meisten hatten sich die Lamellen geöffnet – die darin enthaltenen Sporen verdunkelten das Pilzfleisch mit tintenartigen Rückständen und gaben ihm einen unangenehmen Geschmack.
Jan schob seinen Spaten in den weichen, kalten Schlamm und lächelte zuversichtlich. »Wir retten einen Teil hiervon, Orli.
Mindestens fünfzehn Prozent.«
Sie erwiderte das Lächeln. »Vielleicht sogar zwanzig Prozent, wenn das Wetter hält.«
Aber auf Dremen hielt das Wetter nie.
Orli wischte sich die Stirn ab und strich das dunkle Haar zurück. Sie hätte ihr braunes Haar gern so lang wachsen lassen wie einige der hochnäsigen Kolonistentöchter, aber mit ihrem spitzen Kinn, der kecken Nase und den großen Augen hätte langes Haar sie genauso aussehen lassen wie ihre Mutter auf den Bildern. Jan sprach nie über seine Frau in der Ferne – sie hatte sie vor langer Zeit verlassen, nachdem ein weiteres Projekt ihres Mannes gescheitert war. Orli wollte ihren Vater nicht an sie erinnern, und deshalb hielt sie ihr Haar kurz.
Sie wusste nicht, warum ihr Vater beschlossen hatte, sich ausgerechnet auf Dremen niederzulassen. Es war eine kalte Welt mit grauem Himmel. Die Leuchtkraft der veränderlichen Sonne hatte im Lauf von Jahrzehnten zugenommen und das Leben fast angenehm gemacht. An Wasser mangelte es Dremen nicht. Auf den Kontinenten gab es viele seichte Seen, deren Feuchtigkeit schnell und leicht verdunstete, wodurch sich oft Nebel und Regen bildeten. Holzpflanzen hatten sich hier nie entwickelt. Moose und ledrige Flechten bedeckten den Boden dort, wo sich keine kalten Sümpfe erstreckten.
Doch als Orli und ihr Vater eingetroffen waren, nahm die Leuchtkraft der veränderlichen Sonne ab. Jahr um Jahr war es kälter geworden, mit immer eisigeren Wintern. Während früherer abnehmender Phasen hatten sich Dremens Siedler auf Hilfslieferungen der Hanse verlassen können. Doch diesmal war wegen des Hydroger-Embargos alles anders.
Mit großen Hoffnungen hatte sich Jan mit Dremens Klima und Meteorologie befasst und einige Investoren davon überzeugt, dass sich in der feuchten, trüben Umgebung gentechnisch veränderte Pilze besser anbauen ließen als Getreide. Aus den importierten Sporen wuchsen große Blätterpilze, die essbares Fleisch lieferten, das zwar zäh und fad war, aber reich an Nährstoffen. Nach der Vorbereitung der Felder machte sich Jan mit allem Eifer ans Pflanzen. Wieder zeigte er zügellosen Optimismus.
Die erste Ernte ging weit über seine kühnsten Erwartungen hinaus, aber unglücklicherweise hatte er sich nicht darauf vorbereitet. Es gab nicht genug Arbeitskräfte oder automatische Maschinen, um die Pilze zu fällen, ihr Fleisch zu ernten und zu konservieren. Die Pilze wuchsen rasch, aber sie verwelkten ebenso schnell. Es kam auf das richtige Timing an.
Jan und Orli hatten rund um die Uhr geschuftet, bis zur Erschöpfung, doch die halbe Ernte war verfault. Jan war in die Stadt geeilt und hatte um Hilfe gebeten, konnte aber niemanden für die Arbeit auf den Feldern bezahlen.
Schließlich war ihm nichts anderes übrig geblieben, als sein Land zu öffnen und allen Leuten die Möglichkeit zu geben, sich so viel zu nehmen, wie sie wollten – in der Hoffnung, wenigstens das Wohlwollen der anderen Kolonisten zu gewinnen, wenn er schon kein Geld bekam.
Die nicht geernteten Pilze auf den Feldern gaben ihre Sporen frei und sanken in den Morast. Während der nächsten Saison wuchsen noch mehr Pilze, reiften… und verfaulten.
Für Jan und Orli gab es zwar viel zu essen, aber sie hatten Dremens Nachfrage nach essbaren Pilzen überschätzt. Den Geschmack mochte eigentlich niemand, und nur wenige waren bereit, dafür zu bezahlen.
Dann brachte die abnehmende Phase immer kältere Winter, und aus dem bereits kalten Nebel wurde Graupel, und die Sümpfe verwandelten sich allmählich in Schneefelder.
Während der letzten beiden Jahre war Orlis Welt ein frostiges, schmutziges Durcheinander gewesen. Als sie und ihr Vater jetzt über die Pilzfelder stapften, bedeckte eine dünne Eisschicht die Pfützen.
Orli blieb stehen und sah zu den Transportbehältern mit dem Pilzfleisch, das sie geschnitten und gestapelt hatten. »Wenn es wieder warm wird, sollten wir etwas anderes anbauen, Vater.«
»Ich habe schon darüber nachgedacht. Die traurige Tatsache ist: Wir werden diese Pilze nie wieder los. Wir müssten alles anzünden, um den Boden vorzubereiten und alle ruhenden Sporen abzutöten. Ich fürchte, wir sitzen auf den Pilzen fest.«
»Dann werde ich versuchen, neue Rezepte zu entwickeln.«
»Lass dich aber nicht zu lange von deiner Musik abhalten.«
Jan wölbte die Brauen. »Eines Tages wirst du eine berühmte Konzertmusikerin sein, das weiß ich.« Sein Kompliment wärmte Orli das Herz, obwohl sie nicht wusste, wie sie auf Dremen den großen Durchbruch erzielen sollte.
Sie wollte seiner Fröhlichkeit jedoch keinen Dämpfer versetzen. »Eines Tages.«
Sie gingen zu den vollen Behältern und schlossen sie, um sie vor dem Wetter zu schützen. »Genug für heute, Mädchen. Lass uns heimkehren. Du verdienst eine Pause.«
»Und ich muss die Hausaufgaben erledigen.«
»Nach dem Essen nehme ich an einer Versammlung in der Stadt teil. Die hohen Tiere entscheiden dort darüber, wie die Probleme dieser Welt zu lösen sind.«
»Ich dachte, du hättest bereits alle Probleme gelöst.«
»Das habe ich, aber man hört nie auf mich. Das hat sich bei der letzten Wahl herausgestellt.« Jan zerzauste ihr so das Haar, als wäre sie noch ein kleines Kind.
In ihrem kleinen Haus am Rand des kalten Sumpfs fehlte Luxus, aber dafür gab es zahlreiche gemütliche Dinge. Orli war in den größeren Häusern von Kolonisten gewesen, die seit langem auf Dremen lebten, und sie hielt ihr eigenes Zuhause für wohnlicher. Sie nahmen die Rucksäcke ab, Jan schaltete die Heizung ein, und Orli machte sich daran, das Essen zuzubereiten.
Eine gedruckte Werbemitteilung über die neue Transportal-Kolonisierungsinitiative der Hanse erwartete sie. Jan Covitz gab vor, sie nicht zu bemerken, aber Orli sah, wie es in seinen Augen aufleuchtete.
22
RLINDA KETT
Voller Aufregung angesichts der vielen
Geschäftsmöglichkeiten, die die neue Kolonisierungsinitiative der Hanse mit sich brachte, flog Rlinda Kett mit ihrer Unersättlichen Neugier zur stillen Welt Crenna. Es wurde Zeit, Reichtum und Erfolg zu teilen. Und die Arbeit. Sie begab sich auf direktem Wege zu ihrem besten früheren Piloten und Lieblings-Exmann Branson Roberts.
Vor fast zwei Jahren hatte sich BeBob mit Erfolg von seinem beschwerlichen Dienst in der TVF verabschiedet – er war zu gefährlichen Erkundungsmissionen gezwungen gewesen. Da sein Ausscheiden aus dem Dienst keineswegs mit amtlichem Segen erfolgt war, führte er seitdem ein einfaches und vor allem unauffälliges Leben auf Crenna. Inzwischen langweilte er sich vermutlich so sehr, dass er den Tränen nahe war.
An Bord ihres Schiffes trug Rlinda normalerweise eine hautenge schwarze Hose über ihren breiten Hüften und dicken Beinen, weil sie praktisch war. Aber da eine Begegnung mit BeBob bevorstand, streifte sie einen langen, violetten und mit irisierenden Fäden durchwirkten Kaftan über, der aus ihrer ersten theronischen Fracht stammte. Die Farbe gefiel ihr, und außerdem glaubte sie, dass sie durch die Streifen und Muster besonders attraktiv wirkte.
Bebob begrüßte sie mit seinem wundervollen, aber nichts verratenden Lächeln. Wie üblich trug er einfarbige Kleidung: eine Arbeitshose der Kolonie und ein weites, langärmeliges Hemd, das nicht modisch war und ihm auch nicht gut stand.
Rlinda nahm seinen schlanken Arm, führte ihn zurück zum Koloniehaus und machte ihm dann ein Angebot, von dem sie wusste, dass er es nicht ablehnen konnte. »Hättest du Lust, wieder die Blinder Glaube zu fliegen?«
»Aber… ich habe keinen Treibstoff, und das Schiff muss repariert werden.« Die großen runden Augen wirkten so unschuldig und hinreißend in seinem ledrigen Gesicht.
Rlinda beugte sich vor und küsste sein großes Ohr, was dazu führte, dass er errötete. »Hör auf, nur an die Probleme zu denken, und beantworte meine Frage.«
»Musst du überhaupt fragen? Ich hasse es, hier festzusitzen.
Ich fürchte, eines Morgens zu erwachen und Wurzeln geschlagen zu haben. Gib mir Metallwände und ordentlich wieder aufbereitete Luft anstatt den Geruch von Regen und Düngemitteln; solange ich nicht mit Kugelschiffen der Hydroger Katz und Maus spielen muss, wie es General Lanyan von mir verlangte, ist mir alles recht.«
»Keine Sorge.« Rlinda zerzauste BeBob das rauchgraue Haar und betrat mit ihm das Haus. »Außerdem ist der Job völlig legitim.«
»Das ist mal was anderes.«
»Für dich vielleicht. Ich bin immer eine respektable Geschäftsfrau gewesen.«
»Du hast immer gewusst, wann es besser ist, die Augen zu schließen.«
»Das gehört dazu, eine respektable Geschäftsfrau zu sein, BeBob.« Sie schloss die Tür seines Hauses und schnupperte.
»Wer kocht für dich? Das riecht nach dutzendweise Fertiggerichten. Schäm dich.«
»Ich habe mich an die Nahrungsrationen gewöhnt. Es ist erstaunlich, wie sehr man sie mit ein wenig heißer Soße verbessern kann.« Rlinda verzog so sehr das Gesicht, dass BeBob schallend lachte. Ohne zu fragen öffnete er eine Flasche Rotwein für sie beide.
»Ich hoffe, das ist eine Flasche für besondere Gelegenheiten«, sagte Rlinda. »Es wäre den Umständen angemessen.«
»Es ist immer eine besondere Gelegenheit, wenn du mich besuchst, Rlinda.«
»Und erst recht, wenn ich dir einen guten Job anbiete.«
»Oder Sex.« BeBob reichte ihr ein Glas und nahm für sich selbst ein kleineres.
Rlinda drehte es und trank einen Schluck. »Gegen dein Weinsortiment hatte ich nie etwas einzuwenden, BeBob.«
»Eins der wenigen Dinge.«
Sie gab ihm einen spielerischen Klaps an den Hinterkopf.
»Dank meiner Arbeit mit Davlin Lotze haben wir Zugang zu einem ganz neuen Transportalnetz. Die Hanse hat genug Rechtsverdreher, um dafür zu sorgen, dass ich keine Patentrechte anmelden kann, aber der Vorsitzende hat seine Dankbarkeit auf andere Weise gezeigt. Ich kann auf einen unerschöpflichen Vorrat an Ekti zurückgreifen und bekomme lukrative Lieferverträge als Teil der neuen Klikiss-Kolonisierungsinitiative. Möchtest du ein Stück von diesem Kuchen?«
»Ich dachte, Transportale erfordern kein Ekti. Sind sie nicht gerade deshalb so bedeutsam?«
»Transportale eignen sich bestens für den Transfer von Personen und kleinen Objekten, aber die Hanse braucht Schiffe wie die Neugier – und die Blinder Glaube – für den Transport schwerer Ausrüstung und großer Komponenten, die nicht zerlegt werden können, um durch ein Transportal zu passen.
Und um Gruppen abenteuerlustiger Siedler von bereits existierenden Kolonien zum nächsten funktionstüchtigen Klikiss-Transportal zu bringen.«
»Ah, die typischen Verteilungsengpässe.«
BeBob sank auf den Stuhl vor dem Sofa, auf dem Rlinda Platz genommen hatte, aber als sie ihm einen überraschten und vorwurfsvollen Blick zuwarf, setzte er sich neben sie. »Schon besser«, sagte Rlinda.
»Vergiss nicht, dass ich mich unerlaubt von der Truppe entfernt habe, Rlinda. Ich kann nicht einfach so herumfliegen und geschäftlich für die Hanse tätig werden. Irgendwann fällt jemandem was auf.«
»Um das Problem habe ich mich bereits gekümmert, BeBob.«
Nach Erhalt ihres neuen Auftrags hatte Rlinda um ein Gespräch mit dem Vorsitzenden Wenzeslas gebeten. Selbst nach der Entdeckung des Transportalnetzes fiel es ihr schwer, alle bürokratischen Hindernisse zu überwinden.
Ihre alte Bekannte Sarein hatte ihr geholfen und es Rlinda ermöglicht, an den Sicherheitskräften vorbei in die obersten Etagen des Hanse-Hauptquartiers zu gelangen. Die ehrgeizige junge Theronin hielt sich offenbar häufig in den privaten Räumen des Vorsitzenden auf. Gut für dich, Mädchen, dachte Rlinda. Eine junge Frau von einem Provinzplaneten musste jedes Mittel nutzen, um mit jenen zu konkurrieren, die ihren Weg mit größeren politischen Vorteilen und besseren Beziehungen begonnen hatten.
Als Sarein und sie schließlich vor dem Schreibtisch des Vorsitzenden standen, wirkte Wenzeslas ein wenig zerstreut.
Mit einer Mischung aus Erheiterung und Wachsamkeit in den Augen sah er zu ihr auf. »Wenn Sie so weit gehende Zugeständnisse wie beim letzten Mal erwarten, muss ich Sie enttäuschen, Ms. Kett. Außer Ihnen gibt es noch viele andere Piloten, die es gar nicht abwarten können, wieder zu fliegen.
Die Schlange der Freiwilligen reicht von hier bis Ganymed.«
»Hm, und einige von ihnen sind vielleicht sogar kompetent.
Dass ich eine gute Pilotin bin, wissen Sie. Und außerdem: Sind Sie mir nicht zu Dank verpflichtet?«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie so altmodisch sind.«
»Es ist einer meiner Fehler. Aber ich verlange nicht zu viel.
Ich möchte nur einen meiner früheren Piloten zurückholen. Er ist jemand, auf den ich nur sehr ungern verzichten würde.«
Früher, als sie noch miteinander verheiratet gewesen waren, hatte es viele Dinge gegeben, bei denen sie gern auf Branson Roberts verzichtet hätte. Doch das war alles Schnee von gestern. Sie blieb entschlossen, BeBob an den neuen lukrativen Geschäften zu beteiligen.
Der Vorsitzende Wenzeslas lehnte sich zurück und richtete einen fragenden Blick auf Sarein, aber die junge Botschafterin hob und senkte nur die schmalen Schultern. »Ist der Mann, von dem Sie sprechen, ein guter Pilot?«, fragte er.
»Der beste. Er ist so gut, dass General Lanyan ihn zwang, gefährliche Erkundungsmissionen für ihn zu fliegen.
Besonders gut versteht er es, sein Schiff aus schwierigen Situationen herauszubringen.«
Der Vorsitzende klopfte mit den Fingern auf den Schreibtisch. »Ich verstehe. Sie möchten also, dass ich eingreife und ihn aus der Terranischen Verteidigungsflotte heraushole, damit er wieder geschäftlich fliegt?«
Rlinda lachte leise. »Oh, das ist nicht unbedingt das Problem.
BeBob hat das schon selbst erledigt. Er eignete sich nicht für den militärischen Dienst, und deshalb entschied er, von seinem letzten Einsatz nicht zurückzukehren.«
»Soll das heißen, er gehört zu den Piloten, die sich unerlaubt von der Truppe entfernten?«, fragte Sarein überrascht.
Der Vorsitzende runzelte die Stirn. »Ms. Kett, General Lanyan schimpft praktisch jeden Tag über diese ›Deserteure‹.«
Rlinda strahlte. »Wäre es nicht eine gute Idee, Captain Roberts eine neue sinnvolle Aufgabe zuzuweisen? Auf diese Weise könnte er seine Unüberlegtheiten wieder gutmachen.«
»Der General kriegt einen Wutanfall, wenn er davon erfährt, Basil«, sagte Sarein leise.
»Und es würde andere unzufriedene Piloten ermutigen, ihren Befehlen keine Beachtung zu schenken und zu desertieren. Ich fürchte, das können wir nicht zulassen, Ms. Kett.«
»Oh, ich bitte Sie. Der Vorsitzende der Terranischen Hanse kann sicher eine Möglichkeit finden, eine Ausnahme zu machen.« Rlinda verschränkte die dicken Arme und stand wie ein Weltbaum da, der im Büro des Vorsitzenden Wurzeln geschlagen hatte. »Ich hätte mit einem wesentlich unvernünftigeren Wunsch an Sie herantreten können.«
»Was nicht bedeutet, dass ich ihn erfüllt hätte.« Wenzeslas seufzte, als weitere Mitteilungen in den vielen Darstellungsfenstern seines Bildschirm-Schreibtischs erschienen. »Das beste Angebot, das ich Ihnen machen kann, sieht so aus: Wir erlauben Ihrem Freund, sein Schiff bei unseren Missionen zu fliegen. Niemand wird nach seinem Hintergrund fragen, und der Mann sollte so klug sein, nichts über sich zu verraten.« Wenzeslas hob einen warnenden Finger. »Wenn er gefasst wird, kann ich ihm nicht helfen.
General Lanyan wird jede Gelegenheit nutzen, sich an jenen Piloten zu rächen.«
»Wenn BeBob dumm genug ist, sich schnappen zu lassen, will ich nichts mehr mit ihm zu tun haben, Vorsitzender.«
Rlinda leerte ihr Glas Wein in einem Zug. Crenna erschien ihr so… idyllisch. »Während der Wartungsarbeiten an der Blinder Glaube solltest du Namen und Seriennummern ändern, damit du bei der Arbeit für die Hanse keine Aufmerksamkeit erregst.« Sie schlang einen dicken Arm um BeBob und zog ihn auf dem Sofa näher zu sich heran. »Ich bleibe und helfe dir, das Schiff in Ordnung zu bringen.«
Er lächelte. »Es gibt nicht viele Leute, die ich an der Glaube herumwerkeln lassen würde, aber wenn du dadurch länger hier bleibst… Einverstanden.«
»Da musste ich dich nicht lange überreden.« Rlinda griff nach der Flasche Wein und füllte ihre Gläser erneut. »Wenn du die Blinder Glaube wieder ins All gebracht hast, kannst du eine Ladung nach der anderen transportieren. Der Vorsitzende Wenzeslas will das neue Kolonisierungsprogramm im großen Stil durchführen, und es gibt bereits einen großen Nachholbedarf.«
»Wenigstens sind wir beide wieder Partner und machen das, was wir am besten können.« BeBob stellte sein Glas ab.
»Sollen wir die Vereinbarung mit einem Kuss besiegeln?«
»Mit einem Kuss für den Anfang. Nur für den Anfang.«
23
DAVLIN LOTZE
Diese Welt war anders – das spürte Davlin Lotze sofort, als er durch das Transportal trat. Zwar fühlte er drohende Gefahr, aber er wollte trotzdem einen zumindest oberflächlichen Eindruck von diesem Planeten gewinnen, bevor er zurückkehrte. Der Vorsitzende erwartete einen Bericht über jeden neuen Klikiss-Planeten, den ein Forscher besuchte. Jede Koordinatenkachel musste irgendwie dokumentiert werden.
Der Himmel war violett und rot, und ein wichtiges Element der Atmosphäre schien aus kondensierten Schatten zu bestehen. Davlin trat fort vom trapezförmigen Steinfenster des Transportals und atmete tief ein – der schweflige Geruch in der Luft ließ ihn husten. Die Klikiss hatten ähnliche Atemluft benötigt wie Menschen, aber der Gestank machte diese Welt unangenehm. Er griff in die Taschen seines Overalls, holte eine Atemmaske hervor und setzte sie auf.
Als er zum Transportal zurücksah, stellte er überrascht fest, dass die flache Steinwand sich direkt am Rand einer Schlucht befand. Für die Rückkehr musste er so durch das Steinfenster treten, als wollte er in den Abgrund springen. Unbehagen regte sich in ihm.
Im Pfeifen des Windes ließ sich ein seltsames, dumpfes Stöhnen vernehmen. Auf einem langen Steilhang aus Geröll bemerkte er die vertrauten konischen Buckel von Klikiss-Gebäuden. Einige alte Türme ragten weit gen Himmel, und vermutlich gab es viele Höhlen und unterirdische Gänge.
Davlin setzte sich in Bewegung, ging über den Hang und näherte sich der leeren Stadt. In den Jahrtausenden nach dem Verschwinden der Klikiss waren ihre Straßen erodiert. Selbst wenn sich diese Welt nicht für die Kolonisierungsinitiative eignete – er konnte wenigstens Bilder für die Archäologen anfertigen.
Die Gravitation war höher auf dieser Welt und machte Davlins Schritte schwer. Zwar versorgte ihn die Atemmaske mit zusätzlichem Sauerstoff, doch beim Weg den Hang hinauf dauerte es nicht lange, bis er zu schnaufen begann.
Als er stehen blieb, um zu sehen, wie weit er sich vom Transportal am Rand der Schlucht entfernt hatte, fielen ihm sonderbare Geschöpfe am Himmel auf. Gezackte Schwingen umgaben einen Körperkern mit zuckenden Tentakeln, wie die bizarre Kreuzung zwischen einer Riesenqualle und einem Pterodaktylus mit breiten Flügeln.
Davlin erkannte sofort die Gefahr. Von der anderen Seite der Schlucht her näherten sich Dutzende jener Wesen dem Transportal, als hätte seine Aktivierung sie auf eine mögliche Beute hingewiesen. Als die fliegenden Quallenkreaturen näher kamen, sah Davlin, dass der knollenartige Zentralleib eigentlich nur ein Beutel mit einem Mundring war, groß genug, um ein gelähmtes Opfer zu verschlingen.
Die Geschöpfe würden das Transportal erreichen, bevor er dorthin zurückkehren konnte.
Plötzlich wurde der Wind heftiger, und es begann zu regnen.
Die ölige Feuchtigkeit fühlte sich unangenehm auf der Haut an, die nach einigen Sekunden zu brennen begann.
Als die Quallenwesen Davlin entdeckten, änderten sie sofort die Flugrichtung und hielten auf ihn zu. Vom Transportal abgeschnitten, floh er zu einigen Felsen am Rand der Ruinenstadt. Die Quallengeschöpfe nahmen seine Flucht zum Anlass, noch schneller zu fliegen.
Er zwängte sich in eine dunkle Spalte zwischen den Felsen, wo ihn zumindest der Säureregen nicht erreichen konnte.
Unglücklicherweise hatte auch anderes Leben an diesem Ort Unterschlupf gesucht. Davlin sah einen bläulichen, metallisch glänzenden Rückenschild, einen segmentierten Körper so breit wie sein Oberschenkel, spitze Beine und klackende Klauen.
Das an einen Hundertfüßer erinnernde Wesen sprang wie ein Schachtelmännchen vor. Davlin wich gerade noch rechtzeitig beiseite, um den scherenartigen Klauen zu entgehen – sie schnitten nicht in seine Haut, sondern in den Rucksack.
Er versuchte, den Rucksack abzustreifen, als ein zweiter großer Hundertfüßer aus einem anderen Spalt zwischen den Felsen kroch. Gifttropfen glänzten am Ende der gehobenen, mit kleinen Krallen ausgestatteten Füße. Davlin schwang den Rucksack und stieß das zweite Geschöpf damit zur Seite, während das erste seine Klauen tiefer in ihn hineinbohrte und durch den Stoff schnitt. Medo-Pakete, Nahrungsrationen und Kleidungsstücke fielen auf den Boden der kleinen Höhle. Das Waffenhalfter an der Seite des Rucksacks baumelte außerhalb von Davlins Reichweite.
Lotze hörte lauteres Klicken und Kratzen. Offenbar war er in ein Nest dieser Geschöpfe geraten. Zwei weitere Hundertfüßer griffen an, und Davlin warf ihnen den nutzlos gewordenen Ausrüstungsbeutel entgegen, um sie abzulenken – die Waffe fiel dabei zu Boden. Rasch schob er sich durch den Spalt nach draußen und lief durch den Regen, der ihm auf der Haut brannte.
Weiter unten am Hang umgaben zahlreiche Quallenwesen das Transportal. Fünf weitere flogen übers Geröll und tasteten mit ihren langen, wie gläsernen Tentakeln nach der verschwundenen Beute.
Nur die Klikiss-Ruinen boten Davlin Sicherheit – er nahm seine ganze Kraft zusammen und lief los. Kaum hatte er sich in Bewegung gesetzt, entdeckten ihn die fliegenden Quallen, schlugen mit ihren Flügeln und näherten sich. Ohne den Rucksack kam er leichter voran, und ein Adrenalinschub befähigte ihn, der hohen Schwerkraft zu trotzen. Er hatte seine einzige Waffe verloren – wie dumm von ihm, einen fremden Planeten ohne die Waffe in der Hand betreten zu haben! Jetzt musste er sich allein auf seinen Verstand verlassen.
Er keuchte und erhöhte die Sauerstoffzufuhr der Atemmaske.
Der Hang war steil, und der ölige Regen machte das Geröll schlüpfrig. Er lief und kletterte im Zickzack, um kein leichtes Ziel abzugeben. Das hatte er beim militärischen Überlebenstraining gelernt, vor langer Zeit…
Seine Augen schienen in Flammen zu stehen, aber er achtete jetzt nicht mehr auf den brennenden Säureregen, hielt in den Ruinen nach Öffnungen Ausschau, nach niedrigen Klikiss-Türen oder Fenstern.
Kein Laut kam von den gespenstischen Quallenwesen, aber Davlin wusste, dass sie immer näher kamen. Als ihn einer der glasartigen und mit winzigen Nadeln besetzten Tentakel an der Schulter berührte, brannte heißer Schmerz in ihm.
Er rutschte aus, fiel und sah zu dem Quallenwesen auf, das direkt über ihm schwebte – der hungrige Mundring suchte nach ihm. Augen schien das Geschöpf nicht zu haben, aber trotzdem wusste es, wo sich Davlin befand.
Er kam wieder auf die Beine und sprang zur ersten Öffnung, die er entdeckte. Sein brennender Arm war fast nutzlos, aber es gelang ihm, sich mit der anderen Hand ins Innere der Ruine zu ziehen. Tentakel folgten ihm, glitten über die Wände und hinterließen ein Gift, das auf dem harten Gestein dampfte.
Davlin kroch weiter, bis er einen größeren Tunnel erreichte, in dem er aufstehen konnte. Als er zurücksah, drängten sich Quallenwesen an dem Fenster zusammen, durch das er hereingekommen war. Sie legten ihre Pterodaktylusschwingen an, streckten die Tentakel und versuchten, ebenfalls ins Innere der Ruine zu gelangen.
Davlin floh tiefer in die verlassene Stadt. Viele Jahre lang hatte er als kultureller Spion für die Hanse gearbeitet, Siedlungen infiltriert und ildiranische Relikte untersucht, aber es war sehr lange her, dass ihm zum letzten Mal so große Gefahr gedroht hatte. Zum Glück konnte er auf eine jahrelange Ausbildung zurückgreifen. Komplexe militärische Übungen hatten ihn auf alle Möglichkeiten vorbereitet, doch wenn er dies überstand, konnte er dem entsprechenden Ausbildungsprogramm einen weiteren Punkt hinzufügen.
Die Klikiss-Ruinen waren dunkel und die Tunnel bedrückend. Zwar hatte er den Rucksack bei den hundertfüßer-artigen Wesen zurückgelassen, aber eine Tasche seines Overalls enthielt eine kleine Lampe. Das wenige Licht genügte ihm.
Er leuchtete mit der Lampe über die gewölbten Tunnelwände, obwohl er wusste, dass das Licht vielleicht weitere, noch schlimmere Geschöpfe anlockte.
Am Ende eines abzweigenden Tunnels sah er eine Tür, an der sich noch mehr Quallenwesen drängten und ihm den Fluchtweg abschnitten. Mit ihrer Fähigkeit, ihn in den Ruinen zu lokalisieren, zeigten die Kreaturen eine unheilvolle Intelligenz und eine Entschlossenheit, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Derzeit gab es keine Möglichkeit für ihn, zum Transportal zurückzukehren.
Auf diese Weise hatte sich Davlin sein Ende nicht vorgestellt.
Ein Eintrag in einer Statistik. Ein weiterer verschwundener Forscher. Man würde die Koordinatenkachel für diese Welt schwarz markieren, was auf einen gefährlichen Ort hindeutete.
Viel Zeit würde vergehen, bevor ein anderer Mensch diesen Planeten besuchte, wenn das überhaupt jemals geschah.
Zwar standen seine Chancen nicht besonders gut, aber Davlin gab sich keineswegs der Verzweiflung hin. Aufgeben lag nicht in seiner Natur, und deshalb setzte er den Weg fort, suchte nach einem Ausgang. Fürs Sterben war später noch genug Zeit.
Geräusche kamen aus einem Seitentunnel, und es hörte sich an, als hätte er weitere Wesen auf sich aufmerksam gemacht.
Selbst mit der Sauerstoffmaske fiel ihm das Atmen schwer.
Erneut leuchtete er mit der Lampe, suchte nach einem leeren Tunnel und achtete darauf, nicht in eine Falle zu geraten.
Plötzlich stolperte er über etwas, das auf dem Boden lag, und im Schein der Lampe sah Davlin dunkles Metall. Er entdeckte eine eckige Platte, die seltsam vertraut wirkte. Er bückte sich, sah genauer hin… und erkannte die zerkratzten und verbeulten Komponenten eines Klikiss-Roboters.
Etwas hatte die Maschine regelrecht zerfetzt.
Davlin verharrte erstaunt und dachte daran, was dieser Fund bedeutete. Die großen, käferartigen Maschinen waren praktisch unverwüstlich. Das fremde Volk, das sie geschaffen hatte, war vor Jahrtausenden verschwunden, aber bisher hatte niemand einen beschädigten oder zerstörten Roboter gesehen. Ihre schwarze Panzerung war so stabil, dass die Maschinen mehr als zehntausend Jahre ohne Schäden überstanden hatten.
Aber hier war etwas – etwas – stark und gefährlich genug gewesen, einen Klikiss-Roboter in Stücke zu reißen.
Davlin schluckte. Gefräßige Ungeheuer verfolgten ihn bereits in der Dunkelheit, und jetzt kam auch noch der Anblick des zerstörten Roboters hinzu. Ein weiterer Adrenalinschub veranlasste ihn, erneut loszulaufen.
Dicht hinter sich hörte er das Knacken von Gestein; ein Teil der Wand gab nach. Dünne, haarige Spinnenbeine kamen zum Vorschein, tasteten und erweiterten die Öffnung.
Davlin lief durch die nächste Öffnung und versuchte, die Distanz zu seinen Verfolgern zu vergrößern. Bestürzt musste er feststellen, dass der Raum, den er gerade erreicht hatte, keinen anderen Ausgang aufwies.
Er blieb stehen und drehte sich um, konnte jedoch nicht in die Richtung zurückkehren, aus der er gekommen war.
Aus einem nahen Tunnel drangen die sonderbaren scharrenden und pochenden Geräusche von Quallenwesen, die sich über den Boden zogen. Weitere Geschöpfe klapperten und zischten in der Finsternis.
Davlin leuchtete mit der Lampe durch den Raum und suchte nach einer Öffnung in den Wänden. Es gab keine.
Dann, wie ein überraschender Zaubertrick, erschien ein flacher Stein im Lampenlicht, umgeben von einem trapezförmigen Ring aus Kontrollen. Ein zweites Transportal!
Viele Klikiss-Städte enthielten mehr als nur eins dieser Transporttore. Davlin hoffte, dass dieses noch immer voll funktionsfähig war.
Mit großer Eile brachte er die Aktivierungssequenz hinter sich. Sein Blick huschte über die Koordinatenkacheln und fand jene, die mit Rheindic Co in Verbindung stand.
Die alte Klikiss-Maschinerie reagierte langsam, erwachte wie aus einem langen Schlaf. Davlin versuchte, sich zu konzentrieren.
Eins der Quallenwesen erreichte den Zugang des Raums, schob sich mit angewinkelten Flügeln vor und streckte die glasartigen Tentakel aus.
Davlin hörte das vertraute Summen der Transportal-Apparatur, und vor Erleichterung wurden ihm die Knie weich, als der flache Stein zu verschwimmen schien. Inzwischen waren vier Quallenwesen in den Raum gekrochen und hinterließen eine Schleimspur. Peitschenartige Tentakel tasteten über den steinernen Boden.
Davlin warf einen letzten Blick auf sie, bevor er durch das Transportal trat und zu einer Welt zurückkehrte, die er verstand.
24
ANTON COLICOS
In seiner freien Zeit entzifferte Anton die epischen ildiranischen Erzählungen für eine spätere Veröffentlichung auf der Erde. Immer wieder las er Geschichten, von denen vor ihm noch kein Mensch erfahren hatte. Was konnte er sich mehr wünschen?
Doch die ständige Beschäftigung mit der Saga der Sieben Sonnen ließ ihn ruhelos werden. Anton vertrat sich gern die Beine, indem er durch die Boulevards der Urlaubsstadt ging.
Die seltsam schrägen Gebäude mit ihren bunten Kristallen reflektierten das Licht der Glänzer, die von den Kuppeln herabhingen. Die Farben, Lichter und exotischen Gerüche erinnerten ihn an Tausendundeine Nacht. Hier agierten Vao’sh und er während der Dunkelzeit wie Scheherazade: Abends erzählten sie auf dem zentralen Platz Geschichten für jene Arbeiter, die ihre Arbeit beendet hatten und Zeit fanden, ihnen zuzuhören. Der Rest von Maratha Prime war praktisch leer.
Anton pfiff leise vor sich hin, als er weiterschlenderte und mit einer Hand über sein glattes braunes Haar strich, als wollte er es vor einer Begegnung in Ordnung bringen. Er war unmusikalisch, versuchte aber, die Melodie des alten Volkslieds »Greensleeves« zu summen, das seiner Mutter so sehr gefallen hatte. Er erinnerte sich an ihre große Freude, als er ihr einmal eine aufziehbare Spieldose geschenkt hatte, die jene Melodie wiedergab, obgleich Margaret nie sehr an solchen Objekten interessiert gewesen war…
Anton ging in die unteren Bereiche hinab, wo sich die Generatoren, Lüftungspumpen und energetischen Versorgungssysteme von Maratha Prime befanden. Lärm hallte durch die Räume unter der Kuppelstadt. Unordnung herrschte hier, und Anton empfand sie als erfrischend nach der majestätischen Erhabenheit in den oberen Bereichen. Große Geräte und Kisten mit Material standen neben dem gewölbten Zugang eines nach unten führenden Tunnels. Aus der Tiefe kamen die mahlenden Geräusche schwerer grabender Maschinen und Stimmen, die Anweisungen riefen.
Nur’of, Marathas leitender Ingenieur, hatte zu Beginn der langen Nacht, wenn er keine ildiranischen Urlauber störte, mit einem ehrgeizigen Projekt begonnen. Nach dem Start des letzten Shuttles hatten seine stämmigen Arbeiter angefangen, Schächte in die Kruste des Planeten zu treiben. Nur’ofs Bemühungen beruhten nicht auf einer Direktive des abwesenden Maratha-Designierten. Er wurde aus eigener Initiative aktiv, mit der Absicht, einige Verbesserungen zu entwickeln. Der Designierte Avi’h würde sicher keine Einwände gegen eine Erhöhung der energetischen Effizienz erheben; vermutlich bemerkte er nicht einmal etwas davon.
Anton duckte sich durch den Bogen und trat in den steilen Schacht. Mobile Glänzer waren in Abständen von einigen Metern installiert, und helles Licht ging von ihnen aus. »Hallo?
Haben Sie etwas dagegen, wenn ich hier eintrete?«
Er begegnete einem muskulösen ildiranischen Arbeiter mit dicken Armen, breiten Schultern und einem Hals so dick wie der Kopf. Die Ildiraner des Arbeiter-Geschlechts zählten nicht zu den intelligentesten und agilsten ildiranischen Subspezies, aber sie waren fleißig und zuverlässig. Der Arbeiter hob einen schweren Felsen vor einer Erdbewegungsmaschine und stöhnte leise angesichts der Anstrengung, obgleich sein Gesichtsausdruck unverändert blieb.
Da nur wenige Ildiraner in Maratha Prime zurückgeblieben waren, hatte Anton es sich nicht nehmen lassen, sie alle kennen zu lernen. »Hallo, Vik’k. Wo ist Nur’of?«
Als der Arbeiter ihn erkannte, lächelte er wie ein Kind. Vik’k fand großen Gefallen an irdischen Märchen. Seine geringe Intelligenz mochte dabei von Vorteil sein, denn das Konzept erfundener Ereignisse beunruhigte kultiviertere Ildiraner: Fiktion war kein Teil ihrer grandiosen Saga.
Der Arbeiter legte den Felsen neben einem Haufen in der Nähe ab und deutete tiefer in den Tunnel. »Nur’of ist dort. Er repariert etwas.«
Anton dankte ihm und ging munter weiter. Weiter vorn sah er ein unerwartetes Netzwerk aus Tunneln mit glatten Wänden –sie wirkten wie von Säure in den Boden geätzt und nicht von Maschinen gegraben. Außerdem vermittelten sie den Eindruck, viel älter zu sein als der Haupttunnel.
Die Ingenieure sprachen am Ende des neuen Schachtes miteinander, wo die warme, feuchte Luft nach Felsstaub und Schlamm roch. Im hellen Licht der Glänzer stand Nur’of vor einem breiten Wanddiagramm, das eine Skizze der neuen Tunnel unter Maratha Prime zeigte.
Der leitende Ingenieur sah auf, als Anton näher trat. »Der menschliche Erinnerer! Sie müssen Ihrem Volk die Geschichte von dieser überraschenden Entdeckung erzählen. Bei einer unserer Bohrungen stießen wir auf diese bereits existierenden Tunnel. Niemand wusste etwas von ihrer Existenz.«
Nur’of hatte weit auseinander stehende Augen und einen großen Kopf, auch wenn dieser nicht so groß war wie bei den reinblütigen Ildiranern des Wissenschaftler-Geschlechts. Als Kreuzung zwischen Wissenschaftler und Techniker war ein ildiranischer Ingenieur besonders schnell im Kopfrechnen und konnte sich große Datenmengen merken, zum Beispiel in Bezug auf Legierungskomponenten, Schmelztemperaturen und Belastungsgrenzen.
Anton deutete auf die Wandkarte. »Woher kommen all die Tunnel?«
»Das ist nicht wichtig. Diese Schächte bringen uns direkt zu den thermischen Strömen. Wir können sie nutzen!« Der Ingenieur betrachtete wieder das Diagramm. »Wir verlegen Transferleitungen in diesen Tunneln, bis hin zu den kochenden Aquiferen. Maratha Prime wird so viel Energie und Wärme bekommen, wie sich die Bewohner der Stadt wünschen.«
Anton klopfte dem Ingenieur auf die Schulter. Vor einigen Wochen hatte er die Bedeutung dieser Geste noch erklären müssen. »Ich weiß, dass Sie hart daran gearbeitet und sich dies lange erträumt haben.«
Während des langen Tages von Maratha verwendeten die Ingenieure Sonnenkollektoren, um Energie in großen Anlagen außerhalb der Kuppelstadt zu speichern. Aber während der halbjährigen Dunkelheit musste die zurückbleibende Wartungscrew den Energieverbrauch rationieren.
Die meisten Ildiraner des Ingenieur-Geschlechts gaben sich damit zufrieden, die volle Funktionsbereitschaft der Systeme zu erhalten, aber Nur’of liebte eine Herausforderung. Da Marathas Kruste die während des Tages empfangene Wärme bis tief in die Nacht speicherte, hatte er ein System entwickelt, um heißes Wasser aus den tiefen Aquiferen durch Turbinen zu leiten und auf diese Weise Energie zu erzeugen. Nur’of war ganz versessen darauf gewesen, seinen Plan in die Tat umzusetzen, aber mit der Entdeckung dieses Labyrinths aus bereits existierenden Tunneln hatte er nicht gerechnet.
Anton blickte fasziniert in einen der Kanäle. »Wir sollten losgehen und die Tunnel erforschen.« Er nahm einen mobilen Glänzer und bemerkte sofort, wie sehr es dem Ingenieur widerstrebte, sich in die Dunkelheit vorzuwagen. »Möchten Sie nicht herausfinden, wer diese Schächte gegraben hat?«
»Das würde mich nur interessieren, wenn es Bedeutung für mein Projekt hätte.« Nur’of presste kurz die Lippen zusammen. »Aber gut… Es wäre nicht schlecht, die Funktionalität meiner neuen Entwürfe für den Transport thermischer Energie zu überprüfen.«
Gemeinsam gingen sie durch einen der Tunnel. Anton leuchtete mit dem Glänzer nach rechts und links und zur Decke empor, vertrieb die Schatten. »Seit wann gibt es Maratha Prime? Wann wurde die Stadt gebaut?«
»Vor fast zweihundert Jahren. Von früheren Bewohnern des Planeten wissen wir nichts, aber wir sind zu beschäftigt gewesen, Marathas Geheimnisse zu ergründen.«
Diese Tunnel waren ganz offensichtlich viel älter als Maratha Prime. Wer hatte sie gegraben? Vielleicht die alten Klikiss?
Wer außer ihnen und den Ildiranern kam infrage?
Anton leuchtete mit dem Glänzer in eine weitere Passage, doch die Dunkelheit schluckte das Licht. »Hier unten ist es wie in einem Rattennest. Wohin die vielen Seitentunnel wohl führen?«
»Was ist eine Ratte?«, fragte Nur’of, und dann lächelte er plötzlich. »Oh, ja, in Der Rattenfänger von Hameln haben Sie uns von den terranischen Nagetieren erzählt, die Krankheiten übertragen können.«
Dampfschwaden verdichteten sich, als sie den Weg durch den steil nach unten führenden Tunnel fortsetzten. Es dauerte nicht lange, bis sie das Donnern eines unterirdischen Flusses hörten, in dem heißes Wasser floss.
»Ausgezeichnet. Wir können unsere Turbinen und Generatoren sofort installieren. Weitere Bohrungen sind nicht erforderlich.«
Als die beiden Männer zu den hell erleuchteten Passagen zurückkehrten, wo Arbeiter die Schächte für die Installation von Rohren und Transferleitungen vorbereiteten, spähte Anton immer wieder in die Seitentunnel. »Wir könnten Expeditionen organisieren und herausfinden, wohin all die Tunnel führen.«
»Das ist nicht nötig«, erwiderte Nur’of. »Dieser Schacht führt uns zum thermischen Fluss. Das genügt.«
»Und wenn es am Ende der anderen Tunnel noch bessere Orte gibt?« Antons Eltern hätten einem solchen Geheimnis niemals den Rücken gekehrt, ohne zu versuchen, mehr herauszufinden.
Nur’of sah ihn an. »Dieser erfüllt seinen Zweck.«
»Wie Sie meinen.« Anton wusste, dass er von den anderen zurückgebliebenen Ildiranern ähnliche Antworten bekommen würde, vielleicht sogar von Vao’sh. Sie interessierten sich einfach nicht für Dinge außerhalb ihres Fachgebiets.
Ildiraner sahen wie Menschen aus, aber ihr Verhalten erinnerte Anton oft daran, dass sie eine fremde Spezies waren.
Es blieb ihm unverständlich, warum sie darauf verzichteten, die mysteriösen Tunnel zu erforschen und herauszufinden, von wem sie stammten.
Daraus hätte sich zumindest eine wundervolle Geschichte ergeben.
25
WEISER IMPERATOR JORA’H
Als er vom Erwachen des Hyrillka-Designierten hörte, wäre Jora’h am liebsten aus dem Chrysalissessel gesprungen und zum medizinischen Zentrum des Prismapalastes gelaufen.
Doch ein derart ungestümes Verhalten hätte ebenso viel Aufsehen erregt wie die Nachricht, dass Rusa’h aus dem Subthism-Schlaf erwacht war.
Der Erstdesignierte Thor’h wirkte wie ein überglückliches Kind. Er ergriff den Arm des Arztes und wollte der Erste sein, der seinen Onkel besuchte, aber Jora’h hob die Hand. »Wir machen uns alle auf den Weg, Thor’h. Ich möchte ebenso gern zu Rusa’h wie du.«
Pery’h wirkte vor allem erleichtert. Der Designierte-in-Bereitschaft hatte seiner bevorstehenden neuen Rolle verunsichert gegenübergestanden, obgleich Jora’h glaubte, dass sein stiller und intelligenter Sohn den Anforderungen durchaus gewachsen war.
Bedienstete kamen herein. Sie schnatterten, eilten hin und her, lösten die Ankerbeine des großen Sessels, fügten ihm Decken und bunte Schals hinzu, verpackten den Weisen Imperator so, als wäre er eine ebenso empfindliche wie kostbare Antiquität, die auf eine lange Reise vorbereitet werden musste – obwohl es nur darum ging, ihn in ein anderes Zimmer des Palastes zu bringen.
Schließlich hoben sie den Chrysalissessel an und trugen ihn wie eine Sänfte durch die breite Tür der
Kontemplationskammer. Die Prozession schritt durch helle Säle und gewundene Rampen hinunter. Pilger rissen die Augen auf, so verblüfft, den Weisen Imperator zu sehen, dass sie nur stumm starrten und ihr Glück kaum fassen konnten.
Der Erstdesignierte Thor’h eilte immer wieder voraus, die Augen so groß und glänzend, als hätte er eine hohe Dosis Schiing genommen. Doch diesmal war seine Aufregung echt und ging nicht auf irgendwelche Drogen zurück.
Als sie das medizinische Zentrum erreichten, wurde die Tür weit geöffnet, und Wächter bahnten einen Weg durch die Menge aus Ärzten, die vor dem Weisen Imperator eingetroffen waren. Rusa’hs Erwachen aus dem Subthism- Schlaf hatte sie alle überrascht.
Die Bediensteten trugen den Chrysalissessel in den Medo-Raum, und Jora’h dehnte sich im Thism, folgte den Myriaden silbriger Linien der Seelenfäden. Doch obwohl der Hyrillka-Designierte jetzt wach war, konnte Jora’h ihn nicht spüren.
Sein Bruder schien für das alles umfassende Netz des Thism unsichtbar zu sein. Ein weiterer Teil des größer werdenden Rätsels… Aber an erster Stelle kam die Freude über Rusa’hs Erwachen.
Der Hyrillka-Designierte saß benommen auf seinem Bett und blickte sich um.
Als Jora’h seinen früher so
vergnügungssüchtigen Bruder musterte, sah er das Gesicht eines Fremden. Rusa’h war hohlwangig und blass, wirkte nicht mehr aufgeschwemmt, sondern wie ausgemergelt nach Monaten der Katatonie. Er hatte gern gelacht, sich mit Gespielinnen umgeben und Luxus genossen. Sein pausbäckiges Gesicht war immer fröhlich gewesen, doch jetzt zeigten sich Schatten darin.
Thor’h lief zu Rusa’h und umarmte ihn, ohne auch nur zu versuchen, sich an das Protokoll zu halten oder würdevoll zu sein. »Onkel!« Thor’hs kurzes Haar war struppig, das seines Onkels hingegen voll und lang – er war bewusstlos gewesen, als alle anderen ildiranischen Männer sich nach dem Tod des früheren Weisen Imperators das Haar abgeschnitten hatten.
»Thor’h…?«, fragte der Hyrillka-Designierte und versuchte, sich zu erinnern. »Ja, Thor’h. Sind die Hydroger fort?«
»Ja, Onkel. Die Hydroger haben schreckliche Verwüstungen angerichtet, aber jetzt sind sie fort. Ich habe bei den Wiederaufbauarbeiten geholfen. Wenn du heimkehrst, kannst du meine Leistungen bewundern.«
Pery’h trat neben den Erstdesignierten und neigte förmlich den Kopf. »Ich bin dein neuer Designierter-in-Bereitschaft, Onkel. Es erleichtert mich sehr, dass du mir während der Übergangsjahre mit deinem Rat helfen kannst. Wir hatten schon befürchtet, du würdest nie wieder erwachen.«
Rusa’h schien zu begreifen, was es bedeutete, dass sein Bruder Jora’h im Chrysalissessel saß, wo er den alten Cyroc’h erwartet hatte. Er stellte keine Fragen, schwieg eine Zeit lang und erweckte dann den Eindruck, an der neuen Situation überhaupt nicht interessiert zu sein.
Die Bediensteten brachten Jora’hs Sessel neben das Bett des Designierten, und dort streckte er die Hand aus. »Es freut uns, dich wieder unter den Lebenden zu wissen, Rusa’h. Das Reich braucht dich.«
Rusa’h ergriff sie mit erstaunlicher, fast trotziger Festigkeit.
»Ja… wieder unter den Lebenden.« Er seufzte tief. »Ich bin aus der Sphäre reinen Lichts zurückgekehrt. Ich befand mich auf einer höheren Existenzebene, umgeben von der Lichtquelle, überflutet von ihrem heiligen Schein.« Er schloss die Augen und öffnete sie dann wieder, so als könnte er kaum glauben, wo er jetzt weilte. »Und jetzt bin ich an einem Ort mit vielen Schatten… so vielen.« Wie zutiefst erschöpft ließ er sich aufs Bett sinken. »Aber ich brauche die Schatten oder die Dunkelheit nicht mehr zu fürchten.«
Rusa’h schien wie durch ein Wunder genesen zu sein… doch es beunruhigte Jora’h, dass er seinen Bruder nicht im Netz des Thism spürte. Rusa’h wirkte wie aus dem Thism entfernt und nicht mehr damit verbunden. »Wir müssen dem Hyrillka-Designierten Gelegenheit geben auszuruhen. Lasst uns gehen.
Seine Rückkehr macht dies zu einem großen Tag.«
»Ich bleibe bei ihm«, sagte Thor’h. Der Tonfall des Erstdesignierten wies darauf hin, dass er nicht um Erlaubnis bat.
»Und ich sollte ebenfalls bleiben.« Pery’hs Worte liefen auf eine einfache Schlussfolgerung hinaus.
Bevor Thor’h gegen die Aufdringlichkeit seines jüngeren Bruders protestieren konnte, sagte der Weise Imperator: »Ja, es ist am besten, dass ihr beide bleibt und eurem Onkel helft, wieder zu Kräften zu kommen.« Jora’h forderte die Bediensteten mit einem Wink auf, den Chrysalissessel fortzutragen. »Wir sprechen später miteinander, Rusa’h, wenn du dich besser fühlst.«
26
JESS TAMBLYN
Der abgelegene Wasserplanet fühlte sich nicht mehr wie eine Falle an, denn jetzt wusste Jess, dass er ihn verlassen konnte.
Seine neuen Fähigkeiten und die wieder geborenen Wentals nützten nur etwas, wenn er die Wasserentitäten zu den Roamern bringen konnte… und zu Cesca.
Tag für Tag stand er auf dem Riff und beobachtete, wie das Gerüst seines phantastischen Schiffes im Wasser vor ihm Gestalt annahm. Die Wentals trugen seine Gedanken und halfen dabei, maritime Geschöpfe beim Bau des Schiffes anzuleiten, von Plankton und Garnelen bis hin zu Riesen des Meeres.
Während die weiße Brandung an den Felsen schäumte, fühlte und organisierte Jess die Aktivitäten, die im tiefen Meer ebenso stattfanden wie in einzelnen Gezeitentümpeln.
Mikrozellulare Tiere und winzige Korallenwesen verklebten Millionen von Sandkörnern, eins nach dem anderen, und auf diese Weise entstand eine Art organische Armillarsphäre.
Schalentiere und kriechende wirbellose Geschöpfe sonderten Harz und perlmuttartige Filme ab, bedeckten damit die Knochen des Schiffsskeletts und verstärkten sie mit einer Emaille, die härter war als menschliche Zähne. Anschließend überzogen sie alles mit aus dem Meerwasser gewonnenen Metallen.
Gebogene Rippen kamen aus dem Wasser und wölbten sich nach innen, wie Finger, die sich um einen großen Ball schlossen, das Spielzeug eines Riesen. Korallen wuchsen weiter, kreuz und quer zwischen den Hauptstützen. Immer höher ragte das Schiff aus dem seichten Wasser und wirkte wie das Fossil eines Drachen, die Knochen abgenagt und halb im Riffwasser versunken. Jess beobachtete, wie es Tag für Tag Gestalt annahm und Masse gewann. Er spürte die Wental-Energie in seinem nackten Körper – die Möglichkeiten schienen endlos zu sein.
Roamer verstanden es meisterhaft, funktionsfähige Raumschiffe aus Dingen zu bauen, die andere Leute für Schrott hielten, und ihre Schiffe waren immer zuverlässig. Jess hatte ein Durcheinander aus Konfigurationen gesehen, die aus keinem Standardkatalog stammten, doch dieses Schiff –konstruiert von einer gewaltigen Armee aus
Meeresgeschöpfen, angeleitet von einer Wasser-Entität, die nie menschliche Gestalt angenommen hatte – wirkte seltsamer als alles, was sich je seinen Blicken dargeboten hatte.
Die metallüberzogenen Korallenknochen formten Kurven und Schleifen, wie die Ringe der Breiten- und Längengrade an einem Globus. Rätselhafte Maschinen entstanden im Innern des Gerüsts und nutzten eine Energie, die nicht einmal Jess verstand.
Er bezog die Kraft des Lebens direkt aus dem Ozean, und deshalb verstrich die Zeit für Jess anders. Völlig still stand er beim Wechsel der Gezeiten, der weitere Geschöpfe brachte, noch mehr Arbeiter, noch mehr Material, und er beobachtete, wie das Schiff vor seinen Augen wuchs.
Schließlich, bei der Flut unter zwei Monden, war die runde Form des Gerüsts komplett.
Aus der Tiefe kam ein riesiges Tentakelwesen und brummte dumpf in einer Sprache, älter als die menschliche Zivilisation.
Es richtete sich auf, und Wasser strömte über seine algenbesetzten Flanken. Das Ungeheuer wirkte so gewaltig und kräftig, dass es in der Lage zu sein schien, in seiner Umarmung ein Schiff der Hydroger zu zerdrücken. Mit einem großen milchigen Auge sah der Leviathan Jess an und richtete den Blick dann auf das reglose Wental-Sternenschiff.
Das Geschöpf hob drei Tentakel so dick wie Baumstämme und griff nach der Armillarsphäre. Jess beobachtete den Vorgang besorgt und fürchtete, dass das sorgfältig konstruierte Schiff beschädigt werden könnte. Aber die Wentals leiteten das Tentakelwesen. Mit sonderbar anmutender Vorsicht hob die Kreatur das Gerüst vom Riff, auf dem es entstanden war, und trug es zum tieferen Wasser, wo es versank.
Jess starrte auf das gekräuselte Wasser. »Und jetzt?«
Jetzt ist deine Transportblase komplett.
Da die Kraft der Wentals seinen Körper erfüllte, konnte Jess Wasser atmen. Eigentlich brauchte er gar nicht zu atmen – ein weiteres Zeichen dafür, dass er nun mehr war als ein Mensch.
Kleine Wellen flüssiger Elektrizität flossen wie phosphoreszierendes Plankton unmittelbar unter seiner Haut, wie statische Funken, dazu bereit, auf alles überzuspringen, das er berührte.
Aufsteigende Blasen ließen die Meeresoberfläche brodeln, als die Luft aus dem Gerüst entwich. Dann versiegelten die Wentals das Schiff unter Wasser mit ihrer bindenden Kraft.
Jess trat zurück auf die trockenen Felsen, als sich die Fluten plötzlich donnernd teilten und der gewaltige Ball aufstieg. Das neue Schiff schwebte über dem unruhigen Meer, gefüllt mit dem Wasser des Ozeans, das die Wental-Energie enthielt. Es wirkte wie ein gewaltiger Regentropfen, von der Oberflächenspannung zusammengehalten.
Im Licht der beiden Monde und zahlreicher Sterne glänzte das Wasserschiff silbrig. Korallen und Perlmutt glühten mit kaltem Feuer. Das fragil wirkende Schiff setzte sich in Bewegung, glitt übers Wasser hinweg und verharrte dicht vor Jess. Die Wand aus Wasser vor ihm wirkte wie eine Tür, und er begriff, dass er eintreten musste. Er passierte die Membran ohne eine Kräuselung des Wassers.
Im Innern erschien ihm das Schiff wie ein kugelförmiges Aquarium. Er sah Fische, winzige Meerestiere und dahintreibende Pflanzen, alles berührt von der Essenz der Wentals. Wasser umgab Jess, aber er fühlte nur Wärme und Behaglichkeit. Es war erstaunlich und wundervoll.
Jetzt können wir mit diesem Schiff fliegen.
Jess’ Ehrfurcht wich ungeduldiger Entschlossenheit. Endlich konnte er aufbrechen, und er wusste genau, wohin es ging. Er wollte zu Cesca, um ihr zu erklären, was mit ihm geschehen war, und um alle Roamer zu bitten, ihm bei seiner neuen großen Mission zu helfen.
Jess steuerte das riesige Schiff, ohne zu wissen, wie er es anstellte. Die gewaltige Kugel aus Wasser stieg auf, den Wolken entgegen. Lautlos verließ das Wental-Sternenschiff den namenlosen Planeten, und der lebende Ozean blieb hinter ihm zurück.
Jess kehrte heim nach Rendezvous, wohin er gehörte.
27
CESCA PERONI
Wenn sich herumsprach, dass die TVF Raven Kamarows Schiff angegriffen und zerstört hatte, würden die Roamer zu den Waffen greifen, und dann versuchten die Clans vielleicht, jeder auf seine Art Vergeltung zu üben – wie Jess, als er Golgen mit Kometen bombardiert hatte. Bevor es dazu kam, organisierte Cesca ein privates Treffen mit den Oberhäuptern der wichtigsten Clans. Sie rief jene zu sich, die zu diesem Zeitpunkt in Rendezvous weilten.
Wie üblich vertraten die Roamer-Familien verschiedene Meinungen. Die alte Sprecherin Okiah sagte oft: Die Clans dazu zu bringen, sich auf etwas zu einigen, sei fast so schwer wie die Einrichtung eines Außenpostens auf einem besonders unwirtlichen Planeten.
Cesca würde Bericht erstatten und den Clan-Oberhäuptern dann Gelegenheit geben, ihre Ansicht zu äußern, aber sie fürchtete eine heftige Reaktion. Was angesichts der Umstände durchaus verständlich war. Soldaten der TVF waren wie Verbrecher in der Nacht über Ekti-Schiffe der Roamer hergefallen.
Welche Entscheidung auch immer die Clans trafen: Sie würde langfristige Konsequenzen nach sich ziehen.
Die Versammlung fand in einer Höhle des zentralen Rendezvous-Asteroiden statt. Cesca saß am Kopfende des Tisches und musterte die Männer und Frauen, die nicht wussten, warum sie so kurzfristig hierher bestellt worden waren. »Ich fürchte, ich habe erneut schlechte Nachrichten.«
Der alte Alfred Hosaki stützte das knochige Kinn auf die Hände und stöhnte übertrieben. »Ich sollte aufhören, an solchen Treffen teilzunehmen.« Die anderen lachten leise und warteten gespannt auf das, was Cesca ihnen mitzuteilen hatte.
Es wurde laut in den schmalen Korridoren vor dem Versammlungsraum: Nikko Chan Tylar und drei kräftige Roamer-Männer trugen Wrackteile, Rumpffragmente und Triebwerksspulen herein. Geschwärzte Stellen und Schmelzspuren wiesen darauf hin, was geschehen war. Nikko und seine Begleiter legten die Teile hinten im Raum auf den Boden.
»Das sind die Reste von Raven Kamarows Schiff«, sagte Cesca.
Alle Clan-Oberhäupter erinnerten sich an den bärtigen, sympathischen Captain, der Ekti-Ladungen zu verschiedenen Depots gebracht hatte. Cesca erklärte, wie Nikko die Wrackteile auf Kamarows Route gefunden hatte. Nikko lächelte, als rechnete er mit Belohnung für seinen Fund, aber Cesca sagte: »Wir sprechen uns später.« Dann schickte sie ihn und seine Helfer fort. Überraschung und Zorn ließen seinen am Tisch sitzenden Vater Crim erblassen.
»Alle von uns durchgeführten Untersuchungen und Analysen haben ergeben, dass die TVF dahinter steckt«, fuhr Cesca fort.
»Jazer-Strahlen haben Kamarows Schiff zerstört. Die Große Gans ist verzweifelt genug, unsere Schiffe zu überfallen und Roamer umzubringen.«
Sie gab den Versammelten Gelegenheit, über das gerade Gehörte nachzudenken.
»Arrogante Mistkerle!«, entfuhr es dem dickbäuchigen Roberto Clarin. Er verwaltete das Hurricane-Depot, zu dem Kamarow unterwegs gewesen war.
»Vielleicht ist es die Tat eines einzelnen Hitzkopfs«, sagte Ana Pasternak. »Wir wissen nicht, ob es sich um eine neue Politik der Großen Gans handelt.«
»Glauben Sie etwa, sie wäre nicht dazu fähig?«, fragte Crim Tylar. »Wir können dies nicht einfach hinnehmen!«
»Die Hanse ist für das verantwortlich, was ihr Militär anstellt.« Clarins pausbäckiges Gesicht war fast violett.
»Irgendjemand weiß, was mit Ravens Schiff passiert ist, und niemand hat es für nötig gehalten, uns zu informieren.«
»Glauben Sie, man hat Raven gefangen genommen?«, fragte Alfred Hosaki. »Halten Sie es für möglich, dass er sich in einer der grässlichen Strafkolonien befindet?«
»Ach, warum sollte man ihn dort untergebracht haben?«, entgegnete der immer vorsichtige Fred Maylor.
»Um ihn zu verhören und mehr über uns herauszufinden.
Verdammt, er war mein Freund!«
»Er ist tot!«
Eine Zeit lang ließ Cesca den Kommentaren und Verwünschungen ihren Lauf, ohne ordnend einzugreifen.
Schließlich hob sie die Stimme. »Es wird Zeit, nach unseren Leitsternen zu sehen. Die wichtigste Frage lautet: Was unternehmen wir?«
»Ich bin dafür, der Großen Gans kein Ekti mehr zu verkaufen!«, donnerte Clarin. »Aus meinem Depot bekommen die verdammten Piratenschiffe keinen Treibstoff mehr, das steht fest. Wir haben selbst kaum genug Ekti. Ich schlage vor, dass wir aufhören, mit Dieben und Mördern Geschäfte zu machen.«
Die Roamer riefen und diskutierten – die meisten von ihnen stimmten Clarin zu. Doch Cesca gemahnte zur Vorsicht. »Sie sollten daran denken, dass die Clans auf den Handel mit der Großen Gans angewiesen sind. Die Hälfte unserer Hightech und Industriematerialien stammt von ihr.«
»Ganz zu schweigen vom Einkommen«, fügte Pasternak hinzu. »Die Hanse ist unser bester Ekti-Kunde. Sie beschwert sich über die hohen Preise, die wir verlangen, aber sie bezahlt immer.«
Fred Maylor deutete ruhig auf das Offensichtliche hin.
»Wenn sie nicht gerade unsere Schiffe angreift und Ekti stiehlt.«
Crim Tylar schnitt eine finstere Miene. »Mehr als zehn unserer Schiffe sind seit Beginn des Hydroger-Kriegs verschwunden. Wer glaubt, dass Raven der Erste oder der Einzige ist, den die Tiwis überfielen?«
Cesca blieb gefasst, obgleich sie wusste, dass auch Jess Tamblyns Schiff spurlos verschwunden war. Zählte auch er zu den Opfern der TVF-Angriffe?
»Ich mache keine Geschäfte mit Mördern!«, sagte Maylor und schniefte. Einige der anderen Clan-Oberhäupter brummten zustimmend.
»Shizz, es ist nicht so, dass wir zu viel Treibstoff für den Sternenantrieb hätten.« Clarin verschränkte die Arme über dem Bauch und kochte noch immer vor Zorn. »Wir gehen große Risiken ein, um Ekti zu produzieren; einige von uns haben das mit dem Leben bezahlt. Mein eigener Bruder starb bei Erphano, noch bevor wir wussten, was es mit den Hydrogern auf sich hat. Ich schlage vor, wir stellen uns auf die Hinterbeine, bis uns die Große Gans mit dem Respekt begegnet, den wir verdienen.«
»Wie lange kann es dauern, bis sie angekrochen kommt?«, fragte Hosaki. »Sie hat keine andere Ekti-Quelle.«
»Die Sache scheint klar zu sein«, meinte Anna Pasternak.
Die hitzige Diskussion ging weiter, und die Clan-Oberhäupter wurden dabei immer zorniger. Cesca trachtete danach, ruhig zu bleiben und Entscheidungen zu verhindern, die verhängnisvoll sein konnten.
»Wir müssen vorsichtig sein und an die Konsequenzen denken. Ich fürchte, dies könnte ins Auge gehen. Die Tiwis haben ihre Bereitschaft gezeigt, extreme Gewalt gegen uns einzusetzen. Wenn wir ihnen kein Ekti mehr verkaufen…
Vielleicht kommt es dann zu noch mehr Angriffen auf unsere Schiffe und Außenposten. Wir könnten große Verluste erleiden…«
»Wir müssen der Großen Gans zeigen, dass sie uns nicht einfach herumschubsen kann, Sprecherin.« Maylor war nur selten so aufgeregt.
»Aber sie kann uns herumschubsen, wenn sie will«, warf Hosaki ein. »Sie hat ein großes Militär und viele Schiffe. Wir könnten den Tiwis nicht standhalten, wenn es hart auf hart ginge.«
»Sie können uns nur angreifen, wenn sie wissen, wo wir sind.
Seit wann kann man Roamer so einfach finden?«
Crim Tylar pochte mit der Faust auf den Tisch. »Ich stimme Roberto Clarin zu. Keine Geschäfte mehr mit der Großen Gans. Sie hat die militärische Macht, aber wir haben die ökonomischen Muskeln. Das weiß die Terranische Hanse.«
»Ja! Wir schneiden ihr den Ekti-Nachschub ab, bis der Vorsitzende oder der König sich für die Piraterie der Terranischen Verteidigungsflotte entschuldigen.«
»Und die Täter müssen bestraft werden!«, rief Clarin.
»Oh, bestimmt findet die Große Gans irgendeinen Sündenbock.«
»Und wenn schon. Wichtig ist, dass sie ihre Schuld zugibt.«
»Und sie muss schwören, dass es keine weiteren Angriffe geben wird.«
»Shizz, das macht sie nie«, stöhnte Pasternak.
»Wenn die Große Gans nicht bereit ist, sich an unsere Regeln zu halten, so haben wir genug Ekti für unsere eigenen Zwecke«, sagte Clarin. »Was ist falsch daran?«
Die Clan-Oberhäupter waren aufgebracht, und Cesca ließ erneut die Stimme der Vorsicht erklingen. »Wir nehmen uns einen Tag Zeit, um über das nachzudenken, was wir hier besprochen haben. In der Zwischenzeit sollten wir auch die Meinung der anderen Clans einholen. Natürlich müssen wir Maßnahmen ergreifen, aber es sollten die richtigen sein.«
»Ich brauche nicht mehr darüber nachzudenken«, sagte Tylar.
»Für mich ist alles klar. Mein Leitstern ist zur Nova geworden.«
»Ich bin bereit für die Abstimmung«, sagte Clarin. »Warum Zeit mit endlosen Debatten verlieren?«
Cesca hatte noch nie erlebt, dass die Clan-Oberhäupter so schnell einig waren. »Sind Sie bereit, die Folgen in Kauf zu nehmen? Es würde bedeuten, dass die Clans den Gürtel noch enger schnallen müssen als bisher. Die Große Gans verzichtet bestimmt nicht auf Vergeltung…«
Pasternak schnaubte. »Wir sind Roamer! Wir können immer überleben. Das Universum bietet uns die Materialien, die wir brauchen – wir müssen nur den Mumm haben und geschickt genug sein, sie uns zu nehmen. Rendezvous ist ein perfektes Beispiel dafür, dass wir selbst dort leben können, wo sonst niemand zurechtkommt.«
»Ja, damals brauchte die Kanaka keine Handelsbeziehungen zur Hanse«, sagte Clarin. »Niemand von uns ist darauf angewiesen. Es wird Zeit, dass wir uns auf unser Erbe besinnen – vielleicht sind wir zu verwöhnt und verweichlicht durch den Luxus der Hanse. Wir haben die Erde vor langer Zeit verlassen, mit der Absicht, nie zurückzukehren. Es wird Zeit, die Nabelschnur durchzuschneiden.«
Trotz ihrer dunklen Ahnungen fand Cesca, dass die Worte durchaus sinnvoll klangen. »Es wird nicht einfach sein, aber es ist sicher möglich.« Sie stand am Kopfende des Tisches auf.
»Wir werden überleben. Wie immer.«
28
ORLI COVITZ
Nach dem besten Essen, das sie zubereiten konnte – natürlich Pilzeintopf –, begann Orli mit den Hausaufgaben. Ihr Vater küsste sie auf die Wange und machte sich dann auf den Weg zur Stadt. Er liebte es, zusammen mit den anderen Bewohnern Dremens von schönen Dingen zu träumen.
Nach den Hausaufgaben entrollte Orli ihre alten, nicht mehr richtig gestimmten Synthesizer-Streifen und übte fleißig. Ihre Finger tanzten über die Sensorfelder und schufen betörende Melodien. Sie erhöhte die Lautstärke und spielte hingebungsvoller, als sie richtig in Fahrt kam. In gewisser Weise erzählten die Melodien eine Geschichte und gaben einige ihrer Erinnerungen wieder, sogar ihre Meinung über bestimmte Personen in der Stadt, von denen sie wusste, dass sie über ihren Vater hinter seinem Rücken lachten.
Wenn sie in Jans Präsenz spielte, applaudierte er so oft, dass er sie störte. Nur allein konnte Orli nach Herzenslust improvisieren. Die Musik tröstete und unterhielt sie.
Als talentierte, aber ungeübte Spielerin fand sie Gefallen daran, sich alte, klassische Kompositionen anzuhören und die Struktur von Symphonien zu analysieren, um ihre eigene Musik besser zu entwickeln. Leider war der Tonumfang ihrer Synthesizer-Streifen begrenzt. Jan versprach ihr immer wieder, sie zur besten Schule außerhalb des Planeten zu schicken, wenn sie genug Geld hatten. Orli wusste, dass er es ernst meinte, aber sie bezweifelte, dass sie jemals genug Geld haben würden.
Müde von der anstrengenden Arbeit auf den matschigen Pilzfeldern ließ sie die Synthesizer-Streifen liegen und schlief auf dem Sofa ein. Sie erwachte, als ihr Vater durch die Tür des kleinen Fertighauses platzte und so fröhlich lächelte, dass Orli sofort Verdacht schöpfte. Sein glückliches Grinsen war nie ein gutes Zeichen.
»Ich bringe gute Nachrichten, Mädchen! Es hat sich eine Gelegenheit ergeben, die wir nicht ungenutzt verstreichen lassen dürfen!«
Orli rieb sich die Augen, stand auf und begrüßte ihren Vater mit einer Umarmung. »Worum geht es?«
»Oh, ich bitte dich – zeig etwas mehr Aufregung. Dies könnte der große Durchbruch für uns sein. Hast du von der neuen Kolonisierungsinitiative der Hanse gehört?«
»Die verlassenen Klikiss-Welten? Aber sie sind trocken und leer und…«
»Und warm, Mädchen. Und voller Sonnenschein. All das zur freien Verfügung stehende Land… In einer Woche kommt ein Schiff der Hanse nach Dremen, um Freiwillige aufzunehmen und zum nächsten Transportal zu bringen. Wir bekommen Beihilfe, Ausrüstung, alles was wir brauchen. Pioniere! Wir könnten zu reichen Minenbesitzern oder
Forstwirtschaftsmagnaten werden. Die Möglichkeiten sind endlos.«
»Wir brechen… in einer Woche auf?« Es gab nur wenige Habseligkeiten, die zusammengepackt werden mussten. Orli hatte immer geglaubt, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ihr Vater erneut seine Zelte abbrach und einer weiteren Schimäre nachjagte. »Du hast bereits für uns unterschrieben, nicht wahr, Vater?«
»Ja.« Er zerzauste ihr das Haar. »Unsere Namen stehen ganz oben auf der Liste.«
29
WEISER IMPERATOR JORA’H
Udru’h war altersmäßig sein nächster Bruder – und der letzte Ildiraner im Reich, den Jora’h sehen wollte. Der Dobro-Designierte trug für das Zuchtprogramm noch mehr Verantwortung als der frühere Weise Imperator Cyroc’h. Doch als Jora’h Vorbereitungen dafür traf, selbst nach Dobro zu fliegen, verlangte er von seinem Bruder einen vollständigen Bericht über Nira. Udru’h konnte sie aus den Zuchtlagern holen und retten.
Beim förmlichen Empfang seines Bruders saß Jora’h im hellen, bunten Licht, das durch die Kuppel der Himmelssphäre fiel. Das gewaltige Arboretum über ihm enthielt Bäume, Blumen, Farne, schmetterlingartige Geschöpfe und Federsummer. Getreue Wächter umgaben den auf einem Podium stehenden Chrysalissessel.
»Sag mir: Hast du sie gefunden?« Der Weise Imperator beugte sich in seinem Chrysalissessel vor. Er hatte die vielen Pilger und Besucher aus allen Geschlechtern fortgeschickt, denn bei dieser Begegnung wollte er mit Udru’h allein sein.
Das Gesicht des Dobro-Designierten wirkte wie aus Stein gemeißelt. Sein geschorener Kopf war noch immer makellos glatt, obgleich einige der anderen Designierten nach Cyroc’hs Kremation damit begonnen hatten, ihr Haar wieder wachsen zu lassen. Seine Kleidung war neutral, und er verzichtete darauf, sich mit den bunt schimmernden Kristallen oder Sonnenenergiestreifen zu schmücken, die viele Höflinge trugen.
Udru’h hob das Kinn, und das helle Licht der Himmelssphäre glitzerte in seinen Augen. »Ich habe gerade die Informationen von Dobro bekommen, die du angefordert hast, Herr.«
»Nun? Erzähl mir von Nira. Wenn du sie verletzt hast…«
Der Designierte senkte den Blick. »Leider muss ich dir mitteilen, dass die menschliche grüne Priesterin ums Leben gekommen ist, Herr. Der Grund dafür ist ein Unglück, für das ich nicht verantwortlich bin.«
Jora’h rückte noch etwas weiter im Chrysalissessel vor und schloss die Hände so fest um den Rand, als wollte er ihn zerbrechen. »Was?« Zorn und jäher Kummer durchzuckten ihn, fegten die neu erwachte Hoffnung fort. »Du hast sie umgebracht!«
»Nein, Herr. Wie ich schon sagte: Es war ein Unglück, ein schreckliches Unglück. Während des Durcheinanders nach dem Tod unseres Vaters gerieten viele Ildiraner in Panik, als sie die Verbindung zum Thism verloren. Sie waren außer Kontrolle. Die grüne Priesterin versuchte zu fliehen, und einige der Dobro-Wächter haben… zu heftig reagiert.«
Nira war tot! »Warum habe ich nichts davon gespürt? Warum habe ich nichts davon erfahren?«
Udru’h blieb kühl und rational. »Wir waren alle voneinander getrennt, bevor du zum neuen Weisen Imperator wurdest, Herr.
Ich hatte keine Kontrolle über meine Soldaten.«
Jora’h wusste, dass sein Bruder die Wahrheit sagte. Sein Vater hatte ihn einst mit einer Geschichte über Niras Tod belogen, aber diesmal konnte es nicht erfunden sein. Kein Designierter war jemals imstande gewesen, die Wahrheit vor dem Weisen Imperator zu verbergen. Eine gähnende Leere formte sich in Jora’hs Herz, wie ein Schwarzes Loch.
Udru’h hatte schließlich den Anstand, beschämt den Kopf zu senken. »Ich entschuldige mich für den Kummer, den dir dies bereitet. Ich weiß, dass die grüne Priesterin die Mutter deiner Tochter Osira’h und einiger anderer Halbblutkinder war.«
»Deine Machenschaften auf Dobro haben mir großen Schmerz bereitet.« Erneut sammelte Jora’h seine Entschlossenheit, einen Weg zu finden, das Zuchtprogramm zu beenden und gleichzeitig das Ildiranische Reich vor den Hydrogern zu retten. »Wann bist du mit dem zufrieden, was du erreicht hast?«
»Ich werde zufrieden sein, wenn ich zum Wohle des Reiches einen Erfolg erzielt habe, Herr. Alle meine Anstrengungen haben zum Zweck, uns eine Möglichkeit zu geben, den Hydrogern zu widerstehen. Deine Tochter könnte dabei eine wichtige Rolle spielen.« Udru’h blieb unerschütterlich. »Selbst wenn du mir nicht glaubst, selbst wenn du denkst, dass ich die menschliche Frau aus reiner Bosheit getötet habe…
Berücksichtige dabei, dass ich eine so außergewöhnliche Ressource nicht absichtlich vergeudet hätte. Es war wirklich ein Unglück.«
Jora’h tastete an dem hellen mentalen Faden entlang, der ihn mit allen seinen Untertanen verband, insbesondere mit seinen Brüdern und adlig geborenen Söhnen. Der Dobro-Designierte hatte ein starkes Bewusstsein und eine feste Präsenz im Thism, und Jora’h konnte keine direkte Täuschung erkennen. Udru’h ließ die geistige Sondierung ohne ein Zeichen von Nervosität über sich ergehen.
Der Kummer war erstickend. Jora’h war erst seit kurzer Zeit Weiser Imperator und hatte nach wenigen Tagen zu seiner geliebten Nira eilen wollen, doch jetzt war es zu spät. Ja, sie musste wirklich tot sein. Er hatte Unrecht wieder gutmachen wollen, doch dazu gab es jetzt keine Möglichkeit mehr.
Der Weise Imperator beugte sich zitternd vor. Seine Stimme war heiser. »Ich möchte, dass du die Kontrolle über Dobro so schnell wie möglich abgibst, Udru’h. Daro’h ist der Designierte-in-Bereitschaft, und du wirst ihn alles lehren, was er wissen muss.«
»So verlangt es die Tradition, Herr. Ich werde natürlich deinen Anweisungen gehorchen.«
Jora’h dachte an seinen Sohn, einen intelligenten und hilfsbereiten jungen Mann. Es widerstrebte ihm, Daro’h an einen so strengen, düsteren Ort zu schicken, aber die ildiranische Tradition hatte das Gewicht eines Gesetzes.
Aufgrund seines Platzes in der Geburtsordnung, nicht wegen seiner Befähigung, war der zweite Sohn immer dazu bestimmt gewesen, der Designierte-in-Bereitschaft für Dobro zu werden.
Von jetzt an wollte Jora’h die dort stattfindenden Experimente genauer im Auge behalten – bis er eine Möglichkeit fand, sie zu beenden.
Falls sie beendet werden konnten.
»Selbst wenn Nira tot ist, Udru’h… Ich habe trotzdem vor, nach Dobro zu fliegen, um dort einen direkten Eindruck vom Zuchtprogramm zu gewinnen und festzustellen, wie du die menschlichen Gefangenen behandelst. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um das Unrecht wieder gutzumachen, das dort seit Generationen geschieht.«
Aber jetzt gab es keinen Grund mehr zu Eile. Nira war tot.
Und wenn Jora’hs Vater Recht hatte? Brachte die Befreiung der menschlichen Versuchsobjekte dem Ildiranischen Reich Unheil? Die Hydroger setzten ihre Angriffe fort. Ein neues Bündnis musste geschaffen werden…
Oben in der Himmelssphäre zwitscherten Vögel. Jora’h sah zur üppigen Vegetation empor, dachte dabei an die schöne Nira und ihre Arbeit als grüne Priesterin, an die herrlichen Wälder auf Theroc und die intelligenten Weltbäume. »Und ich möchte endlich meine Tochter kennen lernen.«
Er bemerkte den Glanz von echtem Stolz und Respekt in den Augen seines Bruders. »Ja, Herr, du solltest Osira’h sehen.
Dann wirst du verstehen, dass alle unsere Bemühungen gerechtfertigt waren. Deine Tochter wird dem Ildiranischen Reich in diesem Krieg Sicherheit gewähren.«
Angehörige des Bediensteten-Geschlechts trugen einen ruhelosen Weisen Imperator zu einer hohen Plattform auf dem höchsten Turm des Prismapalastes. Sein Bruder Rusa’h stand dort im warmen Licht der vielen Sonnen, in ein fahles Gewand gekleidet, den Kopf nach hinten geneigt, sodass ihm der Sonnenschein aufs Gesicht fiel. Ohne zu blinzeln blickte er in den strahlenden Glanz, als bestünde überhaupt keine Gefahr zu erblinden. Vier neugierige Ildiraner des Linsen-Geschlechts und zwei Erinnerer umgaben den vor kurzer Zeit erwachten Hyrillka-Designierten – sie alle wollten hören, was er zu berichten hatte.
Rusa’h hatte nach Worten gesucht, um seine Erlebnisse und Offenbarungen während des Subthism-Schlafs zum Ausdruck zu bringen. Die aufmerksamen Erinnerer prägten sich alles ein.
Die Angehörigen des Linsen-Geschlechts staunten über seine Beschreibungen und überlegten, welche Folgen sich dadurch für die Dinge ergaben, die sie lehrten und an die sie glaubten.
Sie alle drehten sich um, als der Weise Imperator eintraf.
Jora’h sah seinen jüngeren Bruder an, dessen Blick auch weiterhin den Sonnen galt. »Willst du die verlorene Zeit aufholen und all das Licht empfangen, das du während deines langen Schlafs versäumt hast?«
Rusa’h drehte sich langsam zu ihm um. »Ich habe die Lichtquelle gesehen. Weder die Sonnen am ildiranischen Himmel und noch die des ganzen Horizont-Clusters halten einem Vergleich damit stand.« Der früher so hedonistische Rusa’h hatte Gesellschaft geliebt, immerzu gefeiert, Musikanten zugehört und Tänzern zugesehen. Doch der Designierte, der aus dem langen Subthism-Schlaf erwacht war, wirkte zurückgezogen und besorgt.
Rusa’h schickte die Ildiraner aus dem Linsen-Geschlecht und die Erinnerer fort, wandte sich dann dem Weisen Imperator zu.
»Ich muss sofort nach Hyrillka zurückkehren. Mein Volk braucht mich. Es ist schon zu lange ohne… richtige Führung.«
»Da bin ich ganz deiner Meinung. Pery’h sollte dich begleiten. Es wird Zeit, alle Designierten-in-Bereitschaft zu ihren Welten zu schicken.«
In Rusa’hs Gesicht zeigte sich weder Wärme noch Willkommen für seinen Nachfolger. »Pery’h…« Er schien Mühe zu haben, sich daran zu erinnern, wer der junge Mann war. »Und Thor’h. Ja… Thor’h.«
»Thor’h ist jetzt mein Erstdesignierter«, sagte Jora’h.
»Er könnte mir… sehr helfen, in dieser Zeit des großen Wandels.«
»Der Designierte-in-Bereitschaft kann diese Hilfe leisten.
Darin besteht seine Aufgabe.«
Es war erstaunlich, dass Rusa’h auf seinem Anliegen beharrte. »Thor’h weiß viel über Hyrillka und darüber, wie diese Welt früher war. Und er kennt mich. Pery’h muss erst noch alles lernen.« Rusa’hs Gesicht zeigte keine Bitte, sondern ein echtes Bedürfnis, und als Jora’h das sah, legte sich sein Ärger. Vielleicht war es ganz gut für den unreifen Thor’h, wenn er an einer so wichtigen Aufgabe mitwirkte wie dem Wiederaufbau von Hyrillka. Jora’h konnte seinen ältesten Sohn jederzeit zurückrufen, wenn er ihn brauchte, und Rusa’h benötigte ganz offensichtlich Hilfe.
»Na schön, der Erstdesignierter kann dir vorübergehend Gesellschaft leisten und beim Übergang helfen. Dadurch wird das Reich stärker.«
»Ja.« Rusa’h blickte zu den gleißenden Sonnen empor.
»Vielleicht noch stärker als vorher.«
30
DOBRO-DESIGNIERTER UDRU’H
Die grüne Priesterin hatte ihm viele Probleme bereitet. Jedes Mal, wenn Udru’h glaubte, eine Lösung für ihre Situation gefunden zu haben, ergaben sich überraschende Konsequenzen. Wenn Nira für das Zuchtproblem nicht so enorm wichtig gewesen wäre, hätte er sie schon vor Jahren getötet. Aber das wäre eine Verschwendung des Potenzials der Frau gewesen.
Zwar beharrte der Weise Imperator noch immer darauf, nach Dobro zu fliegen, aber wenigstens glaubte Jora’h jetzt, dass Nira tot war. Mit einer unglaublichen geistigen Anstrengung hatte es Udru’h geschafft, das Geheimnis vor seinem Bruder zu hüten. Aber jetzt begann ein schwieriges und sehr gefährliches Spiel, bis der Designierte entscheiden konnte, was letztendlich aus Nira werden sollte…
In einer erhabenen Prozession war eine Septa aus Kriegsschiffen der Solaren Marine von Ildira aufgebrochen, um die Designierten und ihre jungen Lehrlinge zu den verschiedenen ildiranischen Welten zu bringen. Erst am vergangenen Tag hatten Udru’h und der Designierte-in-Bereitschaft Daro’h Dobro erreicht. Nachdem die anderen in seinem Gefolge zu den Zuchtlagern zurückgekehrt waren, um dort die Arbeit fortzusetzen, hatte der Designierte Daro’h unter seine Fittiche genommen. Gemeinsam vergewisserten sie sich bei den Medizinern und Verwaltern, dass alle Experimente wie geplant weitergingen und die menschlichen Versuchsobjekte keine Schwierigkeiten gemacht hatten. Dann begann Udru’hs junger Neffe damit, sich mit den Grundlagen der Kolonie zu befassen, die er einmal übernehmen würde.
Dadurch bekam der Designierte Gelegenheit, sich um seine eigenen dringenden Angelegenheiten zu kümmern. Er nahm seine ganze Kraft zusammen, suchte Trost bei der Lichtquelle und brach mit einem schnellen Shuttle auf, der ihn zur anderen Seite des Planeten bringen sollte. Allein.
Bei einem Ildiraner bewirkten Einsamkeit und Isolation ebenso großes Entsetzen wie Dunkelheit, doch Udru’h musste damit fertig werden. Die Geheimhaltung war wichtiger als sein Empfinden. Er war stark genug. Niemand sollte von dieser Sache erfahren, nicht einmal die Angehörigen des Mediziner-Geschlechts, die sein volles Vertrauen genossen.
Niemand außer ihm durfte wissen, dass Nira noch lebte.
Udru’h hatte lange geübt, seine geistigen Fähigkeiten trainiert und die Verbindung zum großen Netz des Thism gefestigt. Er konnte diese Qual ertragen, wenn auch nur für kurze Zeit.
Er flog mit Höchstgeschwindigkeit, donnerte über den Himmel nach Süden, über Dobros Äquator hinweg zum unbesiedelten Südkontinent. Als er einen großen, seichten See sah, wusste er, dass er sein Ziel fast erreicht hatte. Stunden waren bereits vergangen, Stunden der Einsamkeit, aber er setzte den Flug fort.
Es war nicht so schlimm. Noch nicht. Er war stark, ja, stark genug… zweifellos stärker als Jora’h.
Nach dem plötzlichen Tod des früheren Weisen Imperators, während das Thism zerbrochen und alle Ildiraner verwirrt und ohne Verbindung gewesen waren, hatte der Dobro-Designierte die erhoffte Chance genutzt.
Als Jora’h, zu jenem Zeitpunkt noch Erstdesignierter, festgestellt hatte, dass Nira noch lebte, war dieser bereit gewesen, die Arbeiten auf Dobro einzustellen, Jahrhunderte sorgfältiger Experimente einfach wegzuwerfen und die Zukunft des Ildiranischen Reiches zu gefährden – alles nur, weil er eine Frau liebte. Und nicht einmal eine ildiranische Frau, sondern eine menschliche, deren telepathisches Potenzial und Verbindung mit dem intelligenten Weltwald einzigartige Gelegenheiten boten.
Jahrelang hatte Udru’h seinen besten Linsen-Ildiranern und mentalen Experten zugehört, während sie mit Osira’h und ihren Geschwistern arbeiteten. Die ganze Zeit über hatte er gelächelt und zugesehen, dabei aber auch die eigenen Fähigkeiten verbessert und neue geistige Methoden erlernt. Er hatte gelernt, wie man das Bewusstsein von geistigem Ballast befreite, gewisse Gedanken hinter unsichtbaren Barrieren verbarg und Geheimnisse vor Entdeckung schützte.
Zuerst war es ein Spiel, dann eine Herausforderung – und schließlich eine echte Fähigkeit, von der die anderen Ildiraner nichts wussten, weil sie so etwas nie für möglich gehalten hätten. Udru’h hatte immer befürchtet, dass sein Bruder unbesonnene Maßnahmen ergreifen würde. Zwar konnte er dem rechtmäßigen Weisen Imperator nicht widersprechen und musste allen Anweisungen Jora’hs gehorchen, aber er bereitete sich auf bestimmte Möglichkeiten vor.
Nachdem der Dobro-Designierte gelernt hatte, wie man bestimmte Gedanken vom Thism fern hielt, beschäftigte er sich mit Meditation und anderen mentalen Techniken und fand schließlich einen Weg, den geistigen Fäden seines Bruders auszuweichen. Ohne eine mentale Sondierung mit besonderem Nachdruck würde Jora’h nicht herausfinden, dass der Dobro-Designierte log.