9.
Den Haupteingang hatten wir gut überwunden, wenigstens war bisher noch kein Alarm erfolgt, so daß man annehmen konnte, unbemerkt in die Unterwelt des Labyrinths vorgedrungen zu sein.
Wir kauerten dicht hinter einer Gangbiegung. Hier unten waren die Wände nicht mehr so schön geglättet, sondern zerrissen und zackig, wie sie von der Natur geschaffen worden waren.
Die Bergbaumaschinen hatten nur hier und da Durchbrüche vergrößern und natürliche Gänge erweitern müssen. Ansonsten war das eines der vielen Höhlensysteme, die man tief unter der Kruste des Mondes überall fand.
Wir befanden uns etwa fünfhundert Meter unter der Oberfläche. Die Gänge enthielten noch unsere künstliche Atmosphäre, nur war es empfindlich kühl.
Rechts von uns, versteckt hinter der Biegung, lagen die großen Hohlräume mit der Klima- und Luftregenerierungsanlage. Sie arbeitete vollautomatisch. Unfehlbare Robotgeräte besorgten die Kontrollen, schmierten die einzelnen Lager und hielten stur die eingestellten Werte ein.
Wenn wirklich einmal ein Schaden auftrat, wurde er durch die Roboter nach oben gemeldet. Erst dann kamen die Menschen.
Die atomare Kraftstation lag weiter abseits. Auch sie war vollautomatisiert.
Manzo lauschte mit geschlossenen Augen auf Impulse, die ich niemals wahrnehmen konnte. Er lauerte auf die Ausstrahlungen denkender Gehirne, die er sogar im schlafenden Zustand erfassen konnte.
Als er sich nun aufrichtete, wußte ich, daß niemand in der Nähe sein konnte. Das war ein beruhigendes Gefühl.
Es war dunkel in den vielen Gängen. Mit meinen infrarotempfindlichen Augen konnte ich seinen Körper gut erkennen, doch ansonsten sah ich sehr wenig. Hier gab es keine Heizquellen, die sich mir durch die Wärmestrahlung verraten hätten.
So waren wir auf Manzos Taschenlampe angewiesen, die er in irgendeiner Falte seiner Sandpapierhaut versteckt getragen hatte. Ich folgte ihm dicht auf den Fersen. Er warnte immer wieder vor scharfen Kanten.
Wir kamen an den Maschinenräumen vorbei. Weiter hinten führte ein dunkler Schacht im Winkel von fünfundvierzig Grad nach unten.
»Wie weit noch«, flüsterte ich. »Wir müßten bald an eine Luftschleuse kommen. Die haben doch nicht das ganze Hohlraumsystem mit Luft gefüllt.«
»Natürlich nicht«, grollte es an meinem Ohr. »Nur noch durch den Schacht, dann kommen wir an die abschließende Betonmauer. Weiter geht es nicht mehr. Komm nur mit, wir sind gleich da.«
Ich mußte aufpassen, daß ich mir in der engen Steinröhre nicht die Kombination zerriß. Unten angelangt, kroch er auf allen vieren von dem sichtbar werdenden Betonpfropfen weg. Hinter ihm begann das Nichts, die Leere des Mondes. In dieser geringen Tiefe waren noch niemals Spuren einer ehemaligen Atmosphäre gefunden worden. Auch Wasser fand man erst ab zweitausend Meter.
Der Gang wurde so eng, daß ich mich nun ebenfalls kriechend weiterbewegen mußte. Dann war er plötzlich verschlossen. Es ging nicht mehr weiter.
Ich sah Manzo erstarren. Nun mußte er laut Plan die kleine Kiny anrufen, damit uns der großartig getarnte Zugang geöffnet wurde.
Wie hatten unsere Spezialeinheiten nur diesen abgelegenen Fleck gefunden? Wahrscheinlich mit modernen Hohlraumtastern, nachdem sie vorher vom russischen Geheimdienst die genauen Pläne über das Gangsystem angefordert hatten. Anders war das wohl kaum möglich gewesen.
Als sich der Mutant wieder bewegte, glitt auch schon ein Teil der so massiv erscheinenden Wand nach innen. Wir bemerkten ein dunkles Loch, in das Manzo, ohne zu zögern, hineinkroch. Ich folgte ihm. Erst als sich die getarnte Stahltür wieder geschlossen hatte, bemerkte ich, daß wir uns in einer engen Höhle befanden.
Ich lauerte noch, da hörte ich bereits meine Kodenummer.
»Major HC-9?« fragte jemand.
Ich bejahte zögernd.
Licht flammte auf. Es war ein transportabler Scheinwerfer, den man auf Breitstrahl geschaltet hatte. Er leuchtete die Höhle vollkommen aus.
TS-19 lachte mich mit seinem Biogesicht an. Er war allein mit der kleinen Kiny Edwards, die still und verschüchtert im Hintergrund auf einer Kiste saß.
Sie war inzwischen zwölf Jahre alt geworden, doch sie sah immer noch sehr kindlich aus. Ich begrüßte sie mit einigen freundlichen Worten. Manzo strich ihr über das Haar. Sie war nach wie vor sein »Kleines«. Zärtlich sprach er ihren Namen aus.
»Machen wir es kurz«, sagte ich gedämpft. »Wir müssen sofort zurück. Sind die Offiziere planmäßig eingetroffen?«
»Und ob«, bestätigte unser Verbindungsmann. »Sie veranstalten oben schon ein Zechgelage. Die halbe Besatzung kann kaum noch auf den Beinen stehen, die Deneber eingeschlossen. Geheimdienstärzte haben den Getränken einige nette Zutaten beigemischt. Sie kommen garantiert gut zurück.«
Ich sah auf die verschiedenartig geformten Kisten.
»Ihre Sonderausrüstung, Sir. Wir mußten diesmal besonders vorsichtig sein, da Sie nichts offen am Körper tragen können, was Sie nicht schon vorher besaßen. Unsere Leute haben deshalb Ihre Arbeitskombinationen genauestens kopiert. Natürlich stimmen die Nummern. Sie finden in dem gefütterten Material auch je zwei Mikro-Kernbomben auf der Katalyse-Basis.«
Kiny entnahm einer Kiste meine Kombination. Sie war wesentlich schwerer als die, die ich zur Zeit trug. Auch für Manzo und Hannibal waren andere Kleidungsstücke vorhanden.
Wir ließen uns genau die exzellent getarnten Verschlüsse erklären. Darunter befanden sich – sauber eingearbeitet – die Thermonital-Haftladungen und innerhalb der beiden Oberschenkel die nach den Beinkrümmungen angefertigten Verzögerungs-Kernbomben. Säurestrahler waren auch in der Ausstattung. Von ihnen wurde sogar Edelstahl zerstört. Allerdings vermißte ich die direkten Angriffswaffen. Die Kombi enthielt keine der zerlegbaren Einsatzpistolen.
Ich fragte danach.
»Eine andere Lösung, Sir. Lassen Sie Ihre Schockgewehre hier und nehmen Sie diese mit. In den Schäften finden Sie 200-Schuß-Magazine mit hochwirksamen Thermonital-Raketengeschossen, die bekanntlich Zwölftausend Hitzegrade entwickeln. Sie können auf Einzel- und Dauerfeuer umschalten. Der Lauf ist im Mantel der Elektrowaffe eingebettet. Zielen Sie völlig normal, und drücken Sie nach der Umschaltung auf den Auslöser. Natürlich ist das Gewehr nach wie vor als Schockwaffe zu gebrauchen.«
Das war alles gut durchdacht! Als ich den Austausch vollzogen und die nachträglich eingebaute Einrichtung überprüft hatte, fühlte ich mich wesentlich wohler in meiner Haut. Außerdem erhielt ich noch meinen kleinen Körpersender auf Sup-Ultra-Basis.
Ich versenkte den Würfel sofort in der erweiterten Schußnarbe des rechten Oberschenkels. TS-19 verschloß die Öffnung danach mit dem bereitlegenden Zellplasma. Es war nichts mehr zu sehen.
Nachdem ich voll ausgerüstet war, kam Manzo an die Reihe. Da sein Riesenhöcker nicht abnehmbar war, legte sich der Mutant auf den Bauch, damit ich das Geheimversteck durch die Kodebezeichnung öffnen konnte.
Als ich die Zeichen in die Taste getippt hatte, klappte der Hohlbehälter auf. Er bot erstaunlich viel Platz, weitaus mehr als ein großer Rucksack. Wir brauchten die bereitliegenden Ausrüstungsstücke nur in die bereits vorhandenen Spezialhalterungen einzuklinken.
Die Bombe war groß and schwer. Selbst auf dem Mond mochte sie ungefähr fünfzig Pfund wiegen. Für Manzo bedeutete das eine Kleinigkeit.
Mir trat der Schweiß auf die Stirn, als ich sie einhängte. TS-19 erklärte den Zeitzünder. Es war einfach, beinahe idiotensicher.
»Passen Sie nur auf«, warnte er. »Sie entwickelt Hundertfünfzig Megatonnen TNT.«
Ich sagte nichts, da ich mir die Auswirkungen vorstellen konnte.
Die restlichen Ausrüstungsgegenstände wurden in Manzos Rückenbehälter untergebracht. Dazu gehörten die zerlegten Verdichtungsmasken für den Marseinsatz, hauchdünne, jedoch stark wärmende Folien, sowie Spezialmedikamente für die Selbsterwärmung und Stabilisierung des Kreislaufes. Zerstäuber mit bakteriologischen Vernichtungsmitteln wurden auch verstaut.
Wir erhielten sofort Gegenspritzen. Es konnte möglich sein, daß wir diese Waffen zum Einsatz bringen mußten. Dann deponierten wir noch Nahrungsmittel in Manzos Höcker.
Wenn alles gutging, mußten wir uns auf dem Mars zwölf Tage lang am Leben erhalten können. Allerdings mußten wir erst einmal dort sein und die geheime Siedlung der Deneber gefunden haben.
TS-19 erklärte auf meine Frage:
»Die Berechnungen über Ihren letzten Bericht liegen bereits vor. Das ›Gedächtnis‹ gibt mit 99,3prozentiger Wahrscheinlichkeit an, daß die Hypno-Untersuchungen bei den positiven Wärtern den Sinn hätten, sie auf die Möglichkeit einer völligen Beeinflussung zu prüfen. Begründung: Es wird angenommen, daß die Mutantentransporte einer Bewachung bedürfen. Da nachweislich nicht viele erwachsene Deneber existieren können, dürften die wenigen Techniker und Wissenschaftler der Fremden vollauf damit beschäftigt sein, das zweifellos vorhandene Raumschiff zum Mars zu bringen. Die Wilden müssen also bewacht werden. Nach den Endergebnissen des Robots geschieht das durch die positiven Mutanten, die vorher in mechanischer Tiefhypnose ihre Befehle erhalten. Sie fliegen also in diesem Zustand mit. Jetzt kommt das Tolle, Sir!«
Ich klappte unterdessen Manzos Höcker zu. Er sah nun wieder so aus, als gehörte er als verwachsenes Anhängsel zum Körper. Unser Freund war um etwa hundertachtzig Pfund schwerer geworden.
»Ja?« erinnerte ich mich an die Bemerkung von TS-19.
»Es steht fest, daß noch keine Positiven spurlos verschwunden sind. Die Berechnung unter Berücksichtigung aller Werte ergibt daher mit hundertprozentiger Gewißheit, daß die mitgeführten Wächter nach dem Ausschiffen der Wilden wieder zum Mond zurückgebracht werden. Dort vergessen sie durch einen hypnotischen Sperriegel ihre Erlebnisse.«
Ich stand starr in dem grellen Licht des Scheinwerfers, bis Manzo meinte:
»Eine logische Lösung, denke ich.«
»Aber eine mit Fehlerquellen«, sprach ich laut meine Gedanken aus. »Wer garantiert uns dafür, daß ausgerechnet wir als Transportwächter ausgewählt werden?«
»Ich war noch nie dabei«, behauptete Manzo.
»Schön! Vorausgesetzt, die Transporte finden statt, nach welchen Grundsätzen bestimmen die drei Deneber die Begleitmannschaft? Das müßte man wissen. Wie ist das, Leutnant?«
TS-19 verlor nicht die Ruhe.
»Ähnliche Überlegungen haben wir auch angestellt. Nach unseren Erfahrungen mit den Hypnostrahlern der Kampfroboter wirkt die Hypnose auf einen normalen Menschen ungemein stark, sogar schon schädlich. Die Gehirne der Positiven sind auch empfindlich. Die Deneber müßten eigentlich vermeiden, den gleichen Mann ein zweitesmal auf die Reise zu schicken. Wir wissen, daß sie sehr vorsichtig sind. Sie übersehen immer nur winzige Kleinigkeiten.«
»Zum Beispiel uns«, lachte der Mutant. Es dröhnte durch den engen Raum.
»Ruhe«, zischte ich. »Das sind nur Vermutungen.«
»Nicht nur, Sir. Wir wissen bestimmt um den schädlichen Einfluß. Außerdem müssen Sie bedenken, daß die Erinnerungssperre bei einem zweiten Transporteinsatz erheblich vertieft werden müßte. Die Betroffenen müssen beide Ereignisse vergessen. Das ist nicht problemlos zu erreichen, zumal es sich um Mutanten mit zumeist seltsamen Gaben handelt. Wie leicht könnte etwas schief gehen. Das ›Gedächtnis‹ vermutet daher stark, daß immer neue Leute genommen werden.«
»Wenn überhaupt«, zweifelte ich. »Es kann ebenso gut möglich sein, daß sie die Transporte allein ausführen. Das würde auch erklären, warum noch kein Positiver ohne nachprüfbare Todesursache verschollen ist.«
»Abwarten«, riet der Kollege. Während wir nochmals unsere Ausrüstungen überprüften, fuhr er fort:
»Wir glauben fest daran, daß Sie dazu bestimmt werden. Natürlich werden die Deneber Wert darauf legen, kräftige, geistig klardenkende und rasch reagierende Leute als Wachen mitzunehmen. Der Vogelkopf dürfte nicht in Frage kommen, der Doppelkopfmutant ebenfalls ausscheiden. Sie sind unzuverlässig. Über einem Streit vergessen sie alles andere. MA-23 und Sie jedoch dürften durch Ihr Verhalten bei dem ultrahohen Gelächter einen guten Eindruck hinterlassen haben.«
Ich gab es auf, länger über die Angelegenheit zu diskutieren. Wir waren zum hilflosen Warten verurteilt.
»Der Chef soll nur dafür sorgen, daß auf der Erde keine Dummheiten passieren. Kein erkannter Deneber darf jetzt schon unschädlich gemacht werden. Warten Sie unseren entscheidenden Einsatz ab. Wenn wir die Marszentrale erledigt haben, dürfen Sie handeln. Keinesfalls vorher! Auch darauf achten, daß sie die Sache mit dem Ultraschall nicht bemerken. Eventuelle Überprüfungen ganz unauffällig anstellen. Ist das klar?«
»Unbedingt, Sir. Die angeforderten Truppen stehen bereit. Die Riesenteleskope auf dem Mond und den Außenstationen haben den Mars im Blickfeld. Wenn es da oben kracht, starten unsere neuen Plasmaraumer. Wenn Sie wirklich nicht von den Denebern zurückgebracht werden, halten Sie da oben nur zwölf Tage aus. Wir holen Sie.«
Wir besprachen die letzten Einzelheiten und vermieden es absichtlich, nochmals auf den Punkt »Abholen« zurückzukommen. Das war mehr als illusorisch. Noch nie hatten wir mit solchen Ungewißheiten zu kämpfen gehabt.
Ich nahm Hannibals Kombi an mich. Sein Schockgewehr hatte ich schon mitgebracht. Während meiner Abwesenheit war er ohne Waffe in der Monsterhalle. Hoffentlich ging das gut.
Es war auch noch ein Problem, seine alte Kleidung zu verstecken. Wenn sie gefunden wurde, war der Teufel los.
Der Rückweg war eine Qual. Wir stießen überall an, außerdem ging es jetzt nach oben.
Zum erstenmal hatte ich nichts an der geringen Schwerkraft des Mondes auszusetzen, die uns immerhin eine gewaltige Hilfe war.
Wir sprangen im Schein der kleinen Lampe über breite Bodenrisse und zwängten uns durch Spalten. Dann erreichten wir den großen Hauptstollen.
Wir sahen im schwachen Licht der Gangbeleuchtung die schillernden Objektivaugen der Fernbildaufnahme. Als wir hindurchhuschten, hoffte ich inbrünstig, daß der von TS-19 erwähnte Alkoholgenuß in den Druckkuppeln seinen Höhepunkt erreicht hatte.
Wenn jetzt nur ein Soldat aufpaßte, mußten wir bemerkt werden. Vielleicht durchbrachen wir auch noch unsichtbare Sperren, die in der Kommandantur Klingelzeichen oder andere Lärminstrumente auslösten.
Hoffentlich hatten die Spezialisten vom russischen Geheimdienst für eine tadellose Sabotage gesorgt. Es mußte jedoch auch darauf geachtet werden, daß man die Manipulationen später mit einigen Handgriffen wieder in Ordnung bringen konnte.
Manzo verschwand lautlos in Richtung seiner Station. Ich drückte schnell unsere eigene Gittertür nach oben.
Als sie hinter mir zurasselte und das rote Warnlicht der Stromsperre aufleuchtete, wußte ich, daß mich Hannibal auf seinem Bildschirm hatte.
Trotzdem nahm ich die neue Waffe schußbereit in die Armbeuge. Ich war nervös geworden.
Der Kleine trat aus der Wachstube und nickte mir zu. Zehn Minuten später waren wir weit jenseits der Halle.
Im Schutze eines vorstehenden Felszackens zog er sich um und überprüfte die Ausrüstung. Sie glich der meinen. Über die Besonderheiten seines neuen Schockgewehres informierte ich ihn in Stichworten. Es konnte also losgehen.
»Sieh dich nach einem guten Versteck für die alte Kombi um.«
»Schon geschehen. Dort hinten existiert ein Riß im Fels. Er ist ziemlich tief. Nicht anzunehmen, daß einer hineinsieht. Außerdem ist es da dunkel. In einer Stunde müssen die Burschen geweckt werden. Du bist reichlich lange ausgeblieben.«
Das merkte ich auch, denn ich war hundemüde.