9.
Dr. Fehrmann hatte die Augen geöffnet, jedoch waren sie glasig und ausdruckslos. Ein Mann im Ralowgaltin-Rausch konnte auch nicht anders blicken.
Die Ärzte hatten das Mittel in sorgfältiger Dosierung injiziert. Wenn Fehrmann ein geistig stabiler Mensch war, konnte er die einmalige Behandlung mit der gefährlichen Droge gut überstehen. Ich hatte es allerdings auch schon erlebt, daß Männer dem Wahnsinn verfallen waren. Ralowgaltin schaltete das Willenszentrum vollkommen aus.
Ich stand unruhig neben dem OP-Tisch. Der Chefarzt meldete die beginnende Reaktion.
Im gleichen Augenblick kam eine Nachricht von draußen. Es war der entschlüsselte Funkspruch, den wir noch kurz vor der Landung aufgenommen hatten.
Er war an Fehrmann gerichtet mit der dringenden Warnung, auf die von ihm gesichteten Amerikaner aufzupassen. Es wäre festgestellt worden, daß ein gewisser Dr. Stefan Kaiser unter Mitwirkung eines Sicherheitsdienst-Offiziers der Mondgarde den zweiten Zeitumformer entführt hätte. Fehrmann erhielt die Anweisung, die beiden seltsamen Amerikaner unbedingt festzunehmen, notfalls unschädlich zu machen. Der Spruch war nicht unterzeichnet.
Ich nickte dem Funker zu.
»Okay, jagen Sie die verschlüsselte Antwort aus der Antenne. Halten Sie sich genau an das Vorbild des ersten Spruches. Wortlaut: Haben Fürstenberg um sechs Uhr verlassen. Keine weiteren Kontrollen. Die Amerikaner sind schon vor uns aufgebrochen. Gezeichnet Fehrmann.«
Unser Funker verschwand. Wir mußten rasch und sauber handeln.
Während der Physiker deutliche Reaktionszeichen gab, rasten unsere Raumjäger über die Ostsee. Der Transporter folgte. TS-19 erhielt über Sup-Ultra-Welle den Befehl, eine genaue Peilung vorzunehmen. Der Gegensender würde wohl sein Verstanden-Signal in den Äther strahlen. Wenn wir eine gute Dreipunktpeilung bekamen, sah der Fall schon wesentlich positiver aus.
Das Verhör begann. Fehrmann antwortete monoton, klanglos und wahrheitsgetreu.
Wir erfuhren, daß der sogenannte »Große« in der Tat ein Deneber war, dessen Gehirn sich ebenfalls in einem menschlichen Körper befand.
Zu unserer größten Überraschung stellte es sich heraus, daß der italienische Physiker Dr. Arturo Amalfi längst nicht mehr lebte! Sein Körper war bereits vor einem guten Jahr von dem artfremden Lebewesen übernommen worden.
Nun wurde uns auch klar, wieso man plötzlich nichts mehr von dem Physiker gehört hatte. Die Gründung seines Privatinstitutes war bereits von dem Deneber vorgenommen worden, der im Zuge der denebischen Invasion den Körper des fähigen Wissenschaftlers ausgewählt hatte.
Die Maschine war von dem falschen Dr. Amalfi auf ganz ähnliche Weise aus der Mondhöhle geholt worden. Dem Deneber waren die getarnten Außentore bekannt gewesen. So war er trotz unserer scharfen Überwachung unbemerkt eingedrungen.
Mein ehemaliger Vorgänger im lunaren Sicherheitsdienst, Oberst Licard, hatte weiter nichts getan, als dem Fremden den Zugang zu ermöglichen. In der Höhle angekommen; hatte der Deneber mit seinem enormen Wissen die Maschine in die Vergangenheit gebracht. So konnte er sie völlig gefahrlos und in aller Ruhe aus der unterlunaren Halle fliegen und zur Erde bringen.
Oberst Licard befand sich bei ihm. Dr. Fehrmann fungierte noch immer als Assistent des falschen Dr. Amalfi. Allerdings war er genau darüber informiert, daß ein fremdes Gehirn in dem Schädel saß.
Das war eigentlich alles, was wir an grundsätzlichen Daten ermitteln konnten. Trotz des Ralowgaltin-Rausches verriet Fehrmanns Gebaren eine wahnsinnige Angst, die tief in seinem Unterbewußtsein verankert war.
Da Willenszentrum und Wachbewußtsein nun ausgeschaltet waren, hatten unsere Ärzte laufend mit dieser unkontrollierbaren Panikstimmung zu kämpfen, die Fehrmanns Angaben teilweise verschleierte.
Nach einer halben Stunde stellten unsere Experten schließlich fest, daß der junge Physiker im Banne eines ungemein starken Hypnoblockes lag. Es war eine parapsychische Schaltung, die wir mit chemischen Mitteln nicht beseitigen konnten.
Ich fragte immer drängender nach dem genauen Standort des Zeitumformers.
Der GWA-Oberst wurde unruhig. Auf Hannibals Stirn perlte der Schweiß.
Unser Plan hatte vorgesehen, das unersetzliche Gerät durch einen schlagkräftigen Überraschungsangriff zu zerstören, damit eine Rückkehr in unsere wirkliche Zeit zu verhindern und dann erst die Suche nach den einzelnen Leuten aufzunehmen. Ein Entkommen wäre nach der Vernichtung der Maschine so gut wie unmöglich gewesen.
Nun stellte es sich heraus, daß der Unbekannte vorgesorgt hatte. Fehrmann konnte keine genauen Angaben machen. Wir erfuhren alle möglichen Dinge, so über die inzwischen aufgebaute Organisation der Zeitverbrecher.
Wir vernahmen auch, daß Bonaparte in wenigen Tagen zu einem streng geheimen Besuch in Berlin eintreffen sollte. Deshalb sollten die Waffen mit den drei Planwagen zur Hauptstadt Preußens geschafft werden. Man hatte diesen Transportweg gewählt, da er als sicher und zuverlässig galt. Wie unsere Experten berichteten, besaß Fehrmann ausgezeichnete Papiere.
Er hätte es noch nicht einmal nötig gehabt, auf die Schwadron des Rittmeisters von Züllwitz zu schießen. Der Offizier wäre völlig machtlos gewesen, da Fehrmann alias Melchior Traber eine Sondergenehmigung des Kaisers besaß.
Ich sah Napoleons Unterschrift und sein persönliches Siegel! Es stand jetzt also fest, daß der sogenannte »Große« streng geheime Verhandlungen geführt hatte, auf die der Korse bereits zu reagieren begann. Es waren Unterredungen gewesen, die nicht in die Geschichte eingegangen waren. Auch über Bonapartes Reise Mitte Juni hatte man nie etwas vernommen.
Ich begann im wahrsten Sinne des Wortes Blut und Wasser zu schwitzen. Fehrmann stammelte etwas von großen Waffenlagern an zwei verschiedenen Stellen. Ein Depot mußte in den USA liegen, das konnten wir nach großen Mühen ermitteln.
Wir entdeckten auch noch, daß die Bande über zwei Flugzeuge verfügte, beide moderne Flugschrauber mit thermischen Atomtriebwerken. Eine dieser Maschinen hatte das englische Linienschiff versenkt. Es war die Generalprobe gewesen, die Napoleon von Brest aus beobachtet hatte.
Nun standen Verhandlungen vor der Tür, die unserer gültigen Geschichte den Todesstoß versetzen mußten.
Der Deneber handelte und dachte genauso, wie es das positronische Gedächtnis errechnet hatte. Im Jahre 1811 lag nun einmal der beste Ansatzpunkt für eine planmäßige Steuerung der Ereignisse.
Es wurde für uns Zeit, allerhöchste Zeit!
Der Ralowgaltin-Rausch ließ bereits nach. Eine nochmalige Injektion konnten wir nicht riskieren, ohne Gefahr zu laufen, einen unheilbaren Wahnsinn auszulösen.
Ich versuchte nochmals etwas Konkretes zu erfahren, aber die hypnosuggestive Geistessperre erwies sich als stärker. Unsere beste Droge versagte in dieser Hinsicht.
Der Chefarzt sah mich an. Ich blickte zu dem uniformierten Colonel hinüber. Er sagte rauh:
»HC-9, handeln Sie nach eigenem Ermessen. Ich bin am Ende. Ich habe den Befehl erhalten, bei unvorhergesehenen Schwierigkeiten Ihre Vollmachten zu erweitern. Was wollen Sie tun?«
Mich überlief es siedendheiß. Was war aus unserem Plan geworden! Die Fähigkeiten des Denebers waren eben doch unbekannt gewesen. Wir hatten uns das so schön vorgestellt! Nach Fürstenberg reiten, den Zeitpunkt abwarten, Fehrmann stellen, unter Ralowgaltin verhören, die zweite Maschine ausfindig machen und blitzartig angreifen. Dazu hatten wir die unter anderem mit marsianischen Energiestrahlern ausgerüsteten Raumjäger mitgenommen.
Nun war das plötzlich vorbei.
Fehrmann konnte noch nicht einmal unter der Droge sein Wissen verraten. Ich fühlte meine Hände zittern. Ringsum schaute ich in verkrampfte Gesichter, ratlose Augen.
»Vielleicht sollten wir mit Professor Goldstein sofort einen Bericht nach ›oben‹ schicken«, erwog Hannibal. »Der Chef wird einen Ausweg finden.«
»Das dauert alles zu lange«, wehrte ich ab. »Viel zu lange! Wir haben keine Zeit mehr. Wenn der Bursche das rätselhafte Verschwinden der drei Wagen bemerkt, schöpft er Verdacht. Bis jetzt haben wir ihn durch den fingierten Funkspruch noch hinhalten und in Sicherheit wiegen können. Das Gerät steht irgendwo in oder bei Breslau. Aber wo ist es genau zu finden? Breslau ist eine große Stadt, die schlesische Metropole.«, Ich sah mich wieder um. Oberst Sommers sah aus, als wäre der letzte Blutstropfen aus seinem Gesicht gewichen. Spröde sagte er:
»Major HC-9, ich sehe keine andere Möglichkeit mehr, als die gesamte Umgebung mitsamt der Stadt durch eine schwere Wasserstoffbombe zu vernichten. Die Maschine dürfte dann ausgeschaltet sein.«
Meine Kehle war ausgetrocknet. Das Sprechen fiel mir schwer. Ich starrte ihn sekundenlang nur an, bis ich stammeln konnte:
»Sie – Sie sind verrückt, Sommers! Nie gebe ich meine Einwilligung, nie! Das können wir doch nicht verantworten.«
»Major, es geht um die gesamte Menschheit des Jahres 2005. Wir stehen in einem grauenhaften, unheimlichen Krieg gegen ein artfremdes Lebewesen mit überragenden Fähigkeiten. Wenn der Deneber vorsichtshalber aus dieser Zeit verschwindet, haben wir ihn für immer verloren. Es war schon schwierig genug, sein Wirken im Jahre 1811 festzustellen. Ohne die zufällig entdeckten Aufzeichnungen dieses Rittmeisters hätten wir überhaupt keine Ansatzpunkte gehabt. Wir dürfen und können nicht zögern.«
Er blickte mich beschwörend an.
»Hier geht es um die gesamte Welt. Wollen Sie eine denebische Weltdiktatur entstehen lassen, die im Augenblick den Franzosenkaiser noch als Mittel zum Zweck benötigt? Noch ist es Zeit. Übermorgen kann es zu spät sein. Wenn das Verschwinden der Wagen entdeckt wird, kann es schon in fünf Minuten zu Ende gehen. Der Deneber dürfte dann flüchten. Und wenn er es nur für unbestimmte Zeit tut. Wir hätten ihn für immer verloren. Suchen Sie einmal in der Zeit! Major HC-9, Sie haben infolge des Extremfalles die Befehlsgewalt. Sie sind aktiver GWA-Offizier. Ich habe mich Ihnen unterzuordnen. Geben Sie mir den entsprechenden Befehl – und die Atomrakete rast in spätestens fünfzehn Minuten nach Breslau.«
Sommers meinte es ernst, ich fühlte es deutlich. Der Mann war leichenblaß und vollkommen verstört. Er sah keinen anderen Weg mehr.
Ich sagte in die entstandene tiefe Stille:
»Doktor, geben Sie dem Patienten das Gegenmittel. Wecken Sie ihn aus dem Rausch und versuchen Sie, die Hypnosperre unter dem Detektor zu beseitigen. Ich schicke Ihnen noch Manzo, den Mutanten. Möglicherweise kann er als natürlicher Telepath die gewünschten Auskünfte ermitteln.«
Der Arzt nickte nur. Das Gegenmittel strömte in Fehrmanns Kreislauf. Er wurde gleich darauf ruhiger.
Oberst Sommers wartete. Sie warteten alle! Hannibal sah mich fiebernd an. Unsinnige Angst stand in seinen Augen.
Ich begann zu lächeln. Mir war ein Gedanke gekommen.
»Ihr Vorschlag ist abgelehnt, Sommers. Die Geschichte berichtet nichts von einer totalen Zerstörung der Stadt Breslau. Da unser Gegner noch im Anfangsstadium seiner Planung steht, muß demnach etwas anderes geschehen sein. Die Relativität der Zeitebene scheint in der Tat eine merkwürdige Angelegenheit zu sein. Doktor, nehmen Sie sich Fehrmann vor. Ich gebe Ihnen eine Stunde Zeit. Gelingt es Ihnen nicht, die Hypno-Sperre zu beseitigen, werden wir anderweitig eingreifen.«
»Wie?« fragte Sommers knapp. »Ich sehe nur die Gewaltlösung. Ich bedaure es zutiefst, was ich Ihnen an dieser Stelle versichern möchte.«
»Ich weiß«, entgegnete ich ruhig. »Wir werden sehen! Mir fiel eben ein, daß wir noch einen Trumpf im Hintergrund haben. Eigentlich sogar zwei Trümpfe. Warten wir die Stunde ab, meine Herren.«
Hannibal folgte mir. Die Offiziere des militärischen Einsatzkommandos blieben zurück.
Draußen, dicht neben dem Fertighaus mit der medizinischen Station, faßte mich der Kleine am Ärmel der historischen Kleidung.
»Wie war das mit den Trümpfen?« forschte er. Trotz intensiver Bemühungen konnte er seine Nervosität nicht verbergen.
Ich sah zu unserem Umformer hinüber. Der mächtige Würfel stand noch auf dem gleichen Fleck innerhalb des weißen Kreises. Weiter drüben standen die vier Spezialfahrzeuge mit Abschußlafetten. Die zwanzig Meter langen Atomraketen waren startklar. Es fehlten nur noch die Zielschaltungen und die entsprechenden Zündimpulse.
»Das da möchte ich nicht als Trumpf bezeichnen.« Ich deutete zu den schlanken Geschossen mit den knallroten Spitzen hinüber. Darunter lauerten die atomaren Wasserstoff- und Kohlenstoff-Ladungen.
»Okay, ich bin sogar sehr einverstanden«, lachte der Kleine verkrampft. »Einen deiner Trümpfe kann ich erraten. Du denkst an dieses Zellaktivierungs-Plasma, nicht wahr?«
Ich nickte. Darin lag ein Teil meiner Hoffnungen.
»Nicht übel, zugegeben. Und dein zweiter Trumpf?« wollte er wissen.
Ich sah ihn lange an.
»Kleiner, das ist etwas, was der sogenannte ›Große‹ erst bemerken dürfte, wenn es für ihn zu spät ist. Wir haben jetzt genügend von seinen Qualitäten erfahren, aber unsere Fähigkeiten sind für ihn unbekannt.«
Ich tippte bedächtig an den Kopf. Hannibal lächelte zaghaft.
»Ach so, ich verstehe! Du willst also in die Höhle des Löwen?«
»Das Hineinkommen dürfte schwieriger sein als das abschließende Handeln. Schicke Manzo zu mir. Ich bin in der Funkstation.«
»Okay, Sir. Manzo wird erscheinen.«
Er drehte sich abrupt um. Ich fühlte mich plötzlich sehr allein. Hannibal war am Ende seiner nervlichen Widerstandsfähigkeit. Das unheimliche Duell mit dem artenfremden Gehirn in einem menschlichen Körper kostete Kraft.
Ich ging zur Funkstation. Captain Lobral erhielt die Anweisung, den mit dem letzten Transport angekommenen Flugschrauber startklar zu machen.
Für mein Vorhaben war ein Raumjäger ungeeignet. Der Deneber durfte nicht ahnen, daß wir über diese schwerbewaffneten Maschinen verfügten. Ein jederzeit erwerbbarer Flugschrauber mit der zivilen Triebwerksversion war das einzig richtige Fluggerät.
Ich gab mich betont ruhig. Niemand merkte etwas von der in mir tobenden Erregung.
Sommers hatte es gut! Im Extremfall hatte er die Verantwortung auf die Schultern eines aktiven GWA-Agenten abwälzen können. Hannibal und ich – wir waren es, die in den sauren Apfel beißen mußten.
Wenig später traf die von mir erwartete Nachricht ein. Die beiden anderen Gefangenen hatten auch nichts über den Standort des Umformers aussagen können. Sie lagen ebenfalls unter der Blocksperre. Es war sinnlos gewesen, sie nach den mit Dr. Fehrmann gemachten trüben Erfahrungen überhaupt noch zu befragen.