5.
Oberst Joe Tantulf sah so aus, wie wir uns einen hervorragend getarnten GWA-Schatten im aktiven Einsatz vorstellten.
Nach meinem Abflug hatte er sofort die Position des Sicherheitschefs übernommen. Meine alten Freunde waren auch noch da, darunter Major Kenonewe aus Kongo-City und Kapitän Tronsskij. Natürlich erkannten sie mich nicht.
Seit vierzehn Tagen Erdzeit galt ich als Mitarbeiter unseres mathematischen Genies, Professor Dr. David Goldstein. Es war alles so arrangiert worden, daß ich ebenfalls als eine Kapazität angesehen wurde.
In Kollegenkreisen hatte ich Bemerkungen fallen lassen, die ich vorher sehr genau mit Goldstein besprochen hatte. Sie betrafen fundamentalste Erkenntnisse und Neuerungen.
Goldstein spielte seine Rolle ausgezeichnet. Hier und dort hatte er bereits durchblicken lassen, daß er mich für den fähigsten Mann des Jahrhunderts hielt. Offiziell hieß ich jetzt Dr. Stefan Raiser, von Geburt Deutscher, Fachgebiet Physik.
Hannibal hatte trotz seiner unvorteilhaften Maske von sich reden gemacht. Auch er hatte sich von Goldstein unterweisen lassen und verwendete geschickt dieses Wissen. Er gab sich einsilbig, zurückhaltend und etwas verknöchert, was genau zu seiner äußeren Erscheinung paßte.
Wir gehörten offiziell zum Welt-Forschungsteam unter der wissenschaftlichen Leitung des jüdischen Kollegen, dem wir selbstverständlich in keiner Weise das Wasser reichen konnten. So weit ging unsere GWA-Ausbildung nun doch nicht.
Goldstein nahm uns ständig unter die Knute seines überragenden Könnens. Er war nett, liebenswert und bescheiden; aber dennoch von einer zermürbenden Hartnäckigkeit. Müdigkeit schien er trotz seines hohen Alters nicht zu kennen. Er war besessen von der Idee und dem Willen zum Durchhalten. Es blieb uns keine andere Wahl, als den komplizierten Lehrstoff aufzunehmen und den kläglichen Versuch zu machen, ihn auch einigermaßen zu verstehen.
Besonders schwierig waren die marsianischen Symbole. Es war eine artverwandte und dennoch erschreckend fremde Mathematik. Goldstein hatte sie begriffen. Wir kamen uns vor wie Steinzeitmenschen vor einem Atomreaktor.
Den marsianischen Zeitumformer kannten wir nun genau. Die beiden Kraftstationen der Maschine boten keine besonderen Geheimnisse mehr, obwohl sie uns schon das allerletzte Wissen abverlangt hatten. Die ausgestorbenen Intelligenzen des Mars hatten längst auf der Ebene der Kernverschmelzung gearbeitet. Spaltstoff-Reaktoren kannten sie überhaupt nicht mehr.
Als wir mit den Kraftzentralen des Würfelgebildes einigermaßen vertraut waren, kamen die beiden Zeitenergie-Konverter an die Reihe.
Da sie alle »normalen« Energieformen angriffen und auf eine übergeordnete Ebene anhoben, waren wir geistig überfordert. Uns fehlte einfach das fundierte Fachwissen und die echte Genialität.
Das sah schließlich auch Professor Goldstein ein und beschränkte sich darauf, uns die Bedienung der Geräte beizubringen. Er war überhaupt der einzige Mensch, der auf diesem Gebiet absolut firm war.
Natürlich wurde alles getan, um bei den anderen Wissenschaftlern den Eindruck zu erzeugen, Hannibal und ich hätten ebenfalls das große Geheimnis begriffen. Es war ein wesentlicher Punkt im Gesamtplan der GWA.
Nach diesen vierzehn Tagen, angefüllt mit unglaublichen Vorbereitungen und Lehrgängen, trafen neue Befehle und Nachrichten aus dem Hauptquartier ein. Als Kurier fungierte wieder TS-19. Er wurde von Oberst Tantulf empfangen und sofort zu uns gebracht.
Die Höhle mit den beiden rätselhaften Maschinen galt nach wie vor als Sperrzone Nummer eins. Die Soldaten waren inzwischen abgelöst und durch neue, tausendfach gesiebte Spezialtruppe aus allen Völkern der Erde ersetzt worden. Dennoch begannen auch diese Leute bereits nervös zu werden. Zonta stellte die Selbstbeherrschung der Männer auf eine harte Probe. Daran war nichts zu ändern.
TS-19 trug diesmal eine hervorragende Einsatzmaske. Niemand ahnte, daß er schon einmal auf dem Mond gewesen war.
Wir empfingen ihn in Goldsteins Arbeitszimmer, das inzwischen erheblich erweitert worden war. Ihm stand neuerdings ein leistungsfähiges Elektronengehirn russischer Konstruktion zur Verfügung, Moskau hatte ausgezeichnet geschaltet. Untereinander kannten wir keine Geheimnisse mehr.
S-19 musterte mich besorgt.
»Sir, Sie gefallen mir nicht. Wenn Sie als Nervenbündel in der Vergangenheit ankommen, dürfte es Komplikationen geben.«
»Vergessen Sie es. Was gibt es?«
Er sah sich bedächtig um. Hannibal lag apathisch in einem Schaumstoffsessel. Goldstein war etwas nervös, doch er lächelte.
»Professor, wenn es Ihre Möglichkeiten erlauben, sollen Sie im Laufe der nächsten zwölf Stunden den ersten Test vornehmen. Wir können nicht länger warten. Die letzten Untersuchungen sind alarmierend. Es wurden neue Unterlagen aus dem betreffenden Jahr gefunden. Zum Beispiel der Bericht eines englischen Fregattenkapitäns über eine rätselhafte Explosion auf einem englischen Linienschiff der Blockadeflotte vor Brest. Man will damals ein geisterhaftes Gebilde bemerkt haben, das sich mit hoher Geschwindigkeit und unter teuflischer Geräuschentwicklung durch die Luft bewegte. Durch die Explosion auf dem Linienschiff gelang es einem amerikanischen Segler, ungefährdet in den Hafen von Brest einzulaufen und Frankreich mit lebenswichtigen Rohstoffen aus Übersee zu versorgen.«
Goldstein sah plötzlich verfallen aus. Ich blickte schweigend auf meine Hände.
»Also geht es los!« flüsterte der Wissenschaftler geistesabwesend. »Man ist dabei, die Geschichte umzuformen. Was auf dem benachbarten Zeitband soeben geschieht, finden wir hier bei sorgfältiger Suche als geschichtliches Ereignis wieder. Ist das alles, Leutnant?«
»Nein, Sir. Professor Callac hat einige Geheimberichte aus der damaligen Zeit entdeckt. Danach heißt es, Napoleon Bonaparte hätte sich nahe der Küste einige Experimente eines verrückten Gelehrten angesehen. Er wäre stark beeindruckt gewesen. Die angegebene Zeit stimmt mit dem Datum der englischen Beobachtungen überein. Das ›Gedächtnis‹ errechnete die Gleichheit der Geschehnisse mit 99,3prozentiger Wahrscheinlichkeit.«
Goldstein erhob sich langsam hinter seinem Arbeitstisch.
»Klappt es schon, Professor?« fragte Hannibal mit heiserer Stimme. Sein faltiges Biogesicht wirkte blaß und angespannt.
»Was?«
»Der Erprobungstest mit dem Zeitumformer.«
Der Physiker sah zu TS-19 hinüber. Die Worte kamen schwer über seine Lippen.
»Hat Ihr Vorgesetzter meine letzten Berichte erhalten? Demnach sind diese Maschinen nicht für den Zweck erschaffen worden, mit ihnen in die Zukunft zu reisen. Entweder war das aus technischen Gründen nicht möglich, oder die marsianischen Intelligenzen verzichteten darauf, ein solches Wagnis zu unternehmen. Es mag sein, daß dafür ethische Bedenken vorlagen. Wenn ich den Probelauf unternehme, kann ich nur in die Zeitspiralen der Vergangenheit einkehren.«
»Das genügt uns, Professor. Mehr wollen wir nicht. General Reling möchte wissen, ob unsere Agenten mit einiger Sicherheit starten können.«
»Ich werde den Test in den kommenden sechs Stunden unternehmen. Es ist alles vorbereitet. Strahlen Sie bitte die Nachricht zur Erde ab. Das GWA-Einsatzkommando kann abfliegen.«
Mein Kollege in der Maske des Oberst Tantulf atmete tief durch. Ich nickte ihm kurz zu.
»Okay, reden wir nicht mehr darüber. Einmal müssen wir es riskieren. Sind Sie sicher, Professor, daß dieser Deneber die Wahrheit sprach? Es handelt sich um den Angehörigen eines artenfremden Volkes. Teuflisch geschickt, intelligent und skrupellos. Was muß geschehen, wenn Ihnen falsche Daten gegeben worden sind?«
Er schüttelte bedächtig den Kopf.
»Keine Bedenken, mein Freund. Durch die Entzifferung der marsianischen Schriftzeichen und Symbole konnte ich jeden Faktor genauestens überprüfen. Das muß auch der Deneber bemerkt haben. Eine hypnosuggestive Beeinflussung meiner Person war nicht möglich, da Ihr seltsamer Kollege ja Tag und Nacht über mich wachte. Der Mutant hätte sofort bemerkt, wenn der Deneber versucht hätte, mich unter eine geistige Kontrolle zu bringen. Sie haben saubere Arbeit geleistet.«
Ich mußte an Manzo, den monströs aussehenden Mutanten aus dem radioaktiv verseuchten Amazonas-Gebiet denken. Seine telepathischen Eigenschaften hatten durch die unablässige Schulung unserer Parapsychologen eine gewisse Maximalleistung erreicht. Ein artenfremdes Gehirn konnte nur von einem solchen Mann überwacht werden. Manzo hatte seine Aufgabe sehr ernst genommen.
Oberst Tantulf sollte die Meldung über den geplanten Test durchgeben. Das militärische Einsatzkommando der GWA erhielt ebenfalls neue Befehle.
TS-19 verabschiedete sich für kurze Zeit. Er hatte noch Ausrüstungsgegenstände mitgebracht. Es war ein Problem, die vielen Gepäckstücke unauffällig zu lagern. Schließlich hatten wir sie in dem marsianischen Gerät unterzubringen.
Der Würfel besag eine Kantenlänge von fünfunddreißig Metern, die Ausbuchtungen für das Triebwerk nicht mitgerechnet. Wir konnten bequem ein kleineres Depot in der Vergangenheit erreichen.
*
Als ich den hermetisch abgeriegelten Felsraum betrat, begann die attraktive Frau automatisch zu lächeln. Gundry Ponjares erschien begehrenswerter als je zuvor. Sie hatte eine schlanke Figur und das feingezeichnete Gesicht einer Kreolin aus vornehmem Geblüt. Auch das tiefschwarze, bläulich schimmernde Haar betonte die spanische Herkunft.
Ich hatte Dr. Ponjares vor Monaten in einem amerikanischen Großraketenwerk zum erstenmal gesehen. Dann waren ihr einige Fehler unterlaufen. Wenig später hatte sie unter dem Beschuß eines kleinen Ultraschall-Projektors qualvoll aufgeschrien. Damit hatten wir den Beweis, daß von der echten Gundry Ponjares nur der Körper und das Gesicht geblieben waren.
Wir hatten sogar feststellen können, auf welchem Operationstisch das Gehirn der Psychologin entfernt worden war. Was sich jetzt in ihrem Schädel befand, war nicht auf der Erde herangereift; war nicht von irdischen Menschen gezeugt, behütet und geschult worden.
Die phänomenale medizinische Wissenschaft der Deneber verstand sich auf Gehirn-Transplantation. So waren fremde Gehirne in menschliche Körper verpflanzt worden. Kein Wunder, daß wir so lange Zeit benötigt hatten, um diese unheimlichen Agenten vom vierten Planeten der Sonne Deneb zu entdecken.
Es war unser Glück gewesen, daß die überfeinerten Zellstrukturen der Deneber keine hohen Schwingungen vertrugen. Bei etwa dreißigtausend Hertz begannen die Zellkerne zu vibrieren. Heftige Schmerzen und Tobsuchtsanfälle waren die Folge.
Mit dieser Methode hatte ich also das denebische Gehirn der Gundry Ponjares entlarven können. Das »Ding« war damals von unseren Wissenschaftlern in Obhut genommen worden. Nun stand es uns zur Verfügung.
Inzwischen hatten unsere Experten in Versuchsreihen nachgewiesen, daß das Gehirn vor der Transplantation einem männlichen Deneber gehört hatte. Vor der Verpflanzung hatte es sich im Kopf eines Wissenschaftlers befunden.
Als ich nun den lächelnden Mund sah, überkam mich wieder ein eigenartiges Gefühl. Nichts hatte sich in der äußerlichen Erscheinung verändert, nur die Augen hatten im Ausdruck eine Wandlung erfahren. Sie waren zum Spiegelbild einer fremden Seele geworden. Sie drückten das aus, was das denebische Gehirn dachte und fühlte.
Im Gegensatz zum lächelnden Mund schimmerten sie kalt, aufmerksam und waren von unergründlicher Tiefe.
Ich blieb dicht vor dem Fremden stehen und blickte zu Manzo hinüber.
Der klobig gebaute Mutant mit den faustgroßen Augen und dem breiten Mund besaß anstelle normaler Zähne messerscharfe Knochenreihen. Wie immer schaukelte er den zweieinhalb Meter hohen Körper auf den plumpen Säulenbeinen. Wer ihn nicht kannte, hätte ihn für ein gefährliches Geschöpf gehalten, zumal seine Hände wie Pranken aussahen. Seine schuppige Haut schimmerte grünlich.
»Alles in Ordnung, Sir«, sagte er dumpf und grollend. Es war, als formte er die Töne tief in der gewölbten Brust.
Ich nickte kurz zu ihm hinüber. In den Augen des Denebers funkelte tödlicher Haß. Er blickte mich durchdringend an.
Manzo knurrte warnend. Die mächtigen Hände hoben sich leicht.
Der Deneber, in der Gestalt der Wissenschaftlerin zuckte zusammen. Angst spiegelte sich in seinen Augen wider.
Ich lachte humorlos auf.
»Das sollten Sie unterlassen, Fremder! Sie wissen doch, daß man in meinem Großhirn eine Nervenfaser durchtrennt hat. Sie können daher weder meinen Bewußtseinsinhalt erfassen, noch mich hypnotisch oder suggestiv beeinflussen.«
»Er versuchte es«, grollte Manzo. »Ich fühlte soeben deutlich seine Impulse. Sehr stark ist er nicht, aber für einen normalen Menschen reicht es. Gestern wollte er Goldstein beeinflussen. Ich mußte einschreiten.«
Er zeigte auf den kleinen Ultraschall-Projektor an seinem Gürtel.
Der Deneber wich zurück. Die Hände ballten sich.
Wieder mußte ich mich überwinden, um ruhig und gefaßt mit diesem Lebewesen zu reden.
»Hören Sie gut zu«, sagte ich betont. »In wenigen Stunden wird Professor Goldstein die Maschine starten. Ein Test! Sie bleiben natürlich hier und in unserer Obhut. Wenn Goldstein nicht zurückkehrt, erleben Sie die Hölle, das verspreche ich Ihnen. Überlegen Sie sich also, ob Sie dem Wissenschaftler nicht doch einige falsche Angaben gemacht haben. Stimmen Ihre Daten, dann muß er zurückkommen. Das Gerät ist einwandfrei in Ordnung. Ein Versager kann nur an Schaltfehlern liegen. Wie ist das also? Sie haben nicht mehr viel Zeit!«
Die Angst verschwand aus seinen Gesichtszügen. Der Deneber sprach mit Gundrys Stimme.
»Wie oft soll ich Ihnen noch versichern, daß ich kein Narr bin? Sie haben mir bewiesen, daß die letzten Überlebenden meines Volkes vernichtet wurden, das vor langer Zeit das Universum beherrschte. Damals schauten Ihre Vorfahren noch verständnislos unseren überlichtschnellen Raumschiffen nach. Sie hatten Glück!«
Ich überhörte die letzten Worte.
»Der Hohn sollte Ihnen allmählich vergangen sein. Sie müssen sich mit den Realitäten abfinden. Sie haben also einwandfreie Unterlagen geliefert?«
»Ja.«
»Ist das auch kein Irrtum? Sind Sie mit den marsianischen Konstruktionen vertraut genug, um nicht unwissentlich Fehler zu begehen?«
Das »Ding« richtete sich auf. Wir kannten den maßlosen Stolz dieser Intelligenzen. Die Empörung war aus den folgenden Worten klar herauszuhören.
»Wir besitzen nicht Ihre primitiven Gehirne! Die marsianische Technik war der unseren unterlegen. Wäre es anders gewesen, hätten wir den langjährigen Krieg gegen den Mars nicht gewinnen können. Wir waren mit allen Konstruktionen der Marsianer vertraut, auch mit dem Zeitumformer. Leider kamen unsere eigenen Entwicklungen zu spät, sonst sähe es jetzt anders aus.«
»Ein Zeichen dafür, daß Sie doch nicht so groß waren«, höhnte ich. »In Ordnung, Sie sind informiert. Wir garantieren Ihnen einen geruhsamen Lebensabend, vorausgesetzt, Sie begehen keine Dummheiten. Andere Möglichkeiten haben Sie nicht mehr. Sie hätten sich besser mit den irdischen Menschen vertragen sollen.«
»Wir sind die Herren!«
Manzo lachte. Es klang wie das verhaltene Donnern eines Wasserfalls.
»Meinetwegen«, sagte ich. »Der Test beginnt in vier Stunden. Wir werden zusehen. Denken Sie an meine Worte.«
»Wenn etwas geschieht, werden Sie mich dann töten?«
Ich ging auf seine Frage nicht ein, sondern erklärte:
»Wir werden auf gar keinen Fall tatenlos abwarten, daß ein Lebewesen von Ihrer Art die Welt auf den Kopf stellt. Es sieht darin wohl die letzte Möglichkeit, doch noch die absolute Macht zu erringen. Wir werden mit allen Mitteln versuchen, dieses Vorhaben zu verhindern.«
»Es dürfte ihm gelingen. Sie werden ihn nie finden. Was sind all Ihre Wissenschaftler gegen einen einzigen Mann meines Volkes?«
Ich sah ihn düster an. Ja – was waren wir gegen diese Fremden!
»Denken Sie an meine Worte. Manzo wird mit der Schallwaffe bei Ihnen bleiben.«
»Wirklich?«
»Das sind meine Befehle.«
Ich sah nochmals in die unergründlichen Augen.
Als ich zum Ausgang schritt, flüsterte mir Manzo zu:
»Sie können sich auf mich verlassen, Sir. Es sieht übrigens so aus, als würden seine Kräfte nachlassen.«
Ich blieb stehen. Langsam wandte ich den Kopf.
»Wieso? Was ist los?«
Manzo wiegte den mächtigen Kopf. Die Knochenreihen wurden wieder sichtbar.
»Er fragte vor etwa einer Stunde nach einem bestimmten Zellaktivierungsstoff. Ob wir vielleicht solche Behälter entdeckt hätten. Er gebrauchte einen anderen Namen dafür.«
»Ein Mittel zur Aktivierung der Zellen«, wiederholte ich nachdenklich. »Hat er etwa …!«
Ich unterbrach mich mitten im Satz. Der Bericht des chinesischen Geheimdienstes fiel mir ein. Hatte der abgeschossene Pilot nicht den Auftrag erhalten, aus der Mondstadt Zonta unter allen Umständen etwas zu besorgen?
Ich ging in den kleinen Raum zurück. Der Deneber saß verkrampft im Sessel.
»Interessant! Sie brauchen mir nichts mehr zu erzählen. Unsere Biologen haben schon vor einem halben Jahr die Behauptung aufgestellt, Ihre hochempfindlichen Gehirne könnten den langen Bio-Schlaf nicht vollkommen schadlos überstanden haben. Sie benötigen also in bestimmten Abständen ein Mittel zur Aufrechterhaltung Ihrer Zellfunktionen?«
Der Deneber schwieg. Er starrte mich nur an.
Ich ging wieder auf die Tür zu, in dem Bewußtsein, daß wir plötzlich einen Trumpf gefunden hatten. Über die Schulter hinweg sagte ich betont gleichmütig:
»Okay, das ist kein Verbrechen. Wenn Sie das Medikament zum Leben benötigen, dann informieren Sie Manzo. Unterlassen Sie es, ist es Ihr eigener Schaden. Sehen Sie das ein? Ist das logisch?«
Er nickte unmerklich.
»Schön. Dann besinnen Sie sich nicht mehr lange und teilen Sie uns mit, wo wir das Mittel finden, wie die Behälter aussehen. Wenn wir das nicht genau wissen, dürfte es unmöglich sein, in Zonta etwas zu finden. Dort gibt es Millionen Dinge, die wir noch untersuchen müssen.«
»Ich weiß nicht, wo das Plasma gelagert ist«, schrie das »Ding« plötzlich. »Es lagert in einem kleinen Raum nahe unserer Wachstumsstation. Nur wenige Leute meines Volkes wußten, wo der Stoff zu finden ist. Sie sind von Ihnen vernichtet worden. Sehen Sie sich um! Achten Sie auf armlange, dunkelrote Zylinder. Sie sind nicht zu verkennen. Jeder Behälter besitzt seine eigene Klimaanlage. Das Serum benötigt Wärme. Finden Sie den Stoff.«
Die letzten Worte kamen mühsam über seine Lippen. Der Deneber war erschöpft. Etwas stimmte nicht mehr mit seinem verpflanzten Gehirn.
»Weshalb benötigen Sie das Plasma so dringend?« forschte ich. »Weshalb?«
»Es wäre sinnlos, der Erklärung auszuweichen«, betonte er. »Wir haben einen biologischen Tiefschlaf von hundertachtzigtausend Jahren irdischer Zeitrechnung hinter uns. Die Zellkerne altern nach der Wiedererweckung zu rasch, besonders aber dann, wenn ein Gehirn in einen fremden Körper verpflanzt wird. Ich benötige dringend den Aktivierungsstoff. Suchen Sie. Ich bin bereit, Ihnen in jeder Hinsicht zu helfen.«
Ich begann die Verzweiflung des Fremden zu verstehen. Im Interesse unserer Ermittlungen mußte er erhalten werden.
»Ich schicke Ihnen einen GWA-Biologen. Er ist in einer Stunde hier. Sie müßten doch wenigstens ungefähr wissen, wo die Behälter zu entdecken sind. Zonta ist riesengroß. Wo sollen wir das suchen?«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte er. »Ich würde es sagen.«
»Prachtvoll«, entgegnete ich gedehnt. »Dann kann es Ihr Kollege, der sich im Jahre 1811 aufhält, ja auch nicht wissen, wie? Meinen Sie noch immer, er würde einmal die Erde der Vergangenheit beherrschen?«
Danach ging ich. Den Ausbruch von Haß und Verzweiflung überhörte ich.
Eine Viertelstunde später ging die wichtige Nachricht ans Hauptquartier. Einer unserer in Zonta stationierten Biologen erhielt die Anweisung, sofort eine Sonderkommission zu bilden und die Suche nach dem Aktivierungsplasma aufzunehmen.
Auf der Erde wurde das positronische »Gedächtnis« mit den neuen Tatsachen gefüttert. Es begann zu rechnen und Wahrscheinlichkeitswerte zu ermitteln. Wir kamen kaum noch zur Besinnung. Als die ersten Rückfragen erschöpfend beantwortet waren und unsere Biologen klare Daten in den Händen hielten, rief Oberst Tantulf an. Sein Gesicht erschien auf der Bildfläche.
»Es ist soweit, Sir. Ich habe den neuen Stollen räumen und vom GWA-Einsatzkommando abriegeln lassen. Professor Goldstein erwartet Sie.«
Ich schaltete ab. Hannibal richtete sich auf. Er hatte auf der Couch gelegen.
»Na also«, meinte er, »dann können wir ja mit dem vollendeten Unsinn beginnen. Betrachte mich als Impfstoff für deine verstörte Seele. Wenn du glaubst, wahnsinnig zu werden, gib mir einen Wink. Ich schicke dich dann schlagartig ins Land der Träume.«
Er konnte mich mit seinem skurrilen Humor nicht täuschen. Seine Hände zitterten. Dann gingen wir.
*
Professor Goldstein war mitsamt der riesigen Maschine und drei fähigen GWA-Technikern verschwunden.
Ich hatte instinktiv ein großes Ereignis erwartet; Lärm, dumpfes Gebrause, fieberhafte Spannung und all die Dinge, die man bei solchen Gelegenheiten als selbstverständlich voraussetzt.
Es war ganz anders gekommen. Während Manzo scharf auf den Deneber aufpaßte, standen die wenigen Eingeweihten hinter dem neu erbauten Schutzwall aus Stahlbeton.
Wir vernahmen ein gedämpftes Heulen, anschließend entstand das violette, unbestimmbare Flimmern, und gleich darauf war der Platz leer, wo eben noch das monströse Maschinengebilde eines ausgestorbenen Volkes gestanden hatte.
Hannibal sah sich verdutzt um, während ich meine Ängste und Zweifel zu unterdrücken versuchte. Professor Scheuning, der von der Erde heraufgekommen war, sah betont gleichmütig auf die Uhr.
Das war alles! Ich konnte mich eines Gefühls der Enttäuschung nicht erwehren. Der Verstand sträubte sich nach wie vor, das seltsame Verschwinden des mächtigen Metallgebildes als das aufzufassen, was es war; nämlich als die unbegreifliche Funktion einer hervorragenden Wissenschaft.
Wir sahen zu dem leeren Fleck hinüber. Unsere Experten fertigten Infrarot-Spätaufnahmen an. Scheuning warnte knurrig, niemand sollte sich der Stelle nähern, wo eben noch der Umformer gestanden hatte.
Weiter rechts lag das zweite, halbzerstörte Gerät auf dem Felsboden der ansonsten völlig leeren Halle.
Im Hintergrund, nur von einem Scheinwerfer angestrahlt, bemerkte ich die großen Klapptore, durch die diese Geräte wohl einmal in die Halle gekommen waren.
»Und jetzt?« fragte ich heiser. Mein mißtrauischer Blick wanderte zu dem Deneber hinüber.
»Warten, einfach warten!« erklärte Scheuning. »Entweder er kommt zurück, oder er kommt nicht zurück. Die Schaltungen sind klar. Es könnte eigentlich keine Pannen geben. Er will um wenigstens zweihundert Jahre zurückgehen. Theoretisch kann er sich dort wochen- und jahrelang aufhalten, ohne daß wir es feststellen können. Die absolute Relativität der Zeit hat sich noch nie deutlicher und beweiskräftiger bemerkbar gemacht. Wir haben augenblicklich ein anderes Bezugssystem, verstehen Sie! Er verharrt in der Zeit, wir sind gegenwärtig, aber ebenfalls an die geltenden Gesetze gebunden. Wenn er jetzt, in diesem Augenblick, wieder materialisiert, kann er recht gut einige Jahre ›unten‹ gewesen sein. Wir könnten das nie feststellen.«
Unser physikalisches Genie lächelte ausgesprochen boshaft. Ich fühlte den Angstschweiß aus den Poren meiner lebenden Biomaske treten und wischte mir über die Stirn.
Es waren etwa fünfzehn Minuten vergangen. Plötzlich bemerkte ich wieder das schemenhafte Flimmern. Gleich darauf vernahm ich den seltsamen Heulton – und der Würfel stand wieder auf dem alten Platz.
Wir riefen alle aufgeregt durcheinander. Jeder glaubte, das Ereignis zuerst bemerkt zu haben.
Nur der Deneber verhielt sich ruhig. Er lächelte spöttisch.
Ich ging langsam zu dem Gerät hinüber. Augenblicke später öffnete sich das kreisförmige Druckschott. Goldstein streckte blinzelnd den Kopf heraus.
»Füh – fühlen Sie sich wohl?« stieß ich hervor. »Es klappte nicht, wie? Es sind kaum einige Minuten vergangen.«
Er nahm die Brille ab. Mir war, als wäre sein Gesicht verklärt.
»Mein Freund, Sie irren sich«, erklärte er aufregend langsam. »Wir waren genau vierzehn Tage in der Vergangenheit. Die Filmaufnahmen werden das beweisen. Wir befanden uns sogar auf der Oberfläche eines wüsten, noch völlig unerforschten Mondes.«
Ich drehte mich wortlos um. Also funktionierte der Zeitumformer doch! Meine schlimmsten Ahnungen waren damit Wirklichkeit geworden.
Ich sah in das starre Maskengesicht von TS-19.
»Befehle, Sir?« fragte er gelassen.
Ich schluckte schwer, ehe ich rauh anordnete:
»Ausrüstung verladen, Funkspruch an Hauptquartier absetzen. Wir starten voraussichtlich in acht Stunden, vielleicht auch früher. Das Sperrkommando soll abfliegen. Die Leute sollen uns den Landeplatz freihalten. Ich will nicht in einen Baum oder in ein sonstiges Hindernis hineinsausen.«
»Es wäre peinlich«, murmelte Professor Goldstein. »Die Aktivierungsplätze verändern sich nicht. Nur die Zeitebene verformt sich.«
Wir vernahmen einen schrillen Schrei. Herumwirbelnd sah ich Manzo, der soeben mit einem gewaltigen Sprung den Deneber eingeholt hatte. Er hing hilflos in den riesigen Händen des Mutanten.
»Er wollte in der Maschine verschwinden«, erklärte Manzo. »Wahrscheinlich um einige Jahre zurückreisen, wo er natürlich seine Leute angetroffen hätte. Wolltest du das, Bruder?«
Ich sah betroffen auf den Deneber. Natürlich, in einer Flucht hätte seine größte Chance gelegen.
»Zum Teufel auch, hier muß man an Dinge denken, die dem Gehirn eines Irren entsprungen sein könnten«, tobte der Kleine. »Wenn ich mich da unten in meine Urgroßmutter verliebe, dann sprenge ich das HQ in die Luft. Hören Sie, Professor, wäre so etwas möglich?«
Scheuning lächelte verzerrt. Seine starke Erregung brach jetzt erst durch.
Goldstein nickte nur, ehe er gönnerhaft meinte:
»Wenn Sie unbedingt wollen, können Sie sogar Ihrer eigenen Geburt beiwohnen. Sobald die vorangegangenen Ereignisse nicht willkürlich verändert werden, müssen sie stabil bleiben. Demnach könnten Sie recht gut jenem Arzt eine Ohrfeige geben, der es damals wagte. Sie gegen Ihren bewußten Willen ans Licht des Tages zu befördern. Oder waren Sie damit einverstanden?«
Ich hörte jemand schrill und fast hysterisch lachen. Verstört stellte ich fest, daß ich selbst der Urheber dieser Töne war.
»Sie bekommen noch einige Injektionen«, sagte der anwesende Chefmediziner. »Danach werden Sie vergessen, daß Sie überhaupt Nerven haben, die revoltieren könnten. Ein neues Mittel, soeben aus dem Erprobungslabor eingetroffen. Nervosität gibt es nicht mehr; Angst wird zu einem bloßen Begriff im Rahmen Ihrer logischen Denkvorgänge. Das Selbstverständliche dominiert. Das können Sie gebrauchen.«
»Sie wollen uns wohl schon vorher umbringen, eh?« meinte Hannibal empört.
»Beruhigen Sie sich, Leutnant! Professor Goldstein hat die gleiche Injektion erhalten.«
Ich sah in das entspannte Gesicht des Wissenschaftlers. Also deshalb war er so ausgeglichen. Mit einem schmerzlichen Lächeln meinte er dazu:
»Die medizinische Wissenschaft der GWA hat mich damit um meinen höchsten Genuß gebracht. Wie sehr habe ich diesem Augenblick entgegengefiebert. Nun vermag ich mich kaum zu freuen. Meine Herren, begreifen Sie eigentlich, was Sie soeben gesehen haben! Wir haben die Zeitmauer durchstoßen! Unfaßlich, aber es ist wahr. Lassen Sie die Filme entwickeln.«
Wir gingen. Nur die Spezialwachen blieben. Seit einigen Stunden waren die Truppen durch Agenten und Spezialisten der GWA ersetzt worden.
Die Verladung des Materials begann. Unglaublich, was die Leute alles in dem Würfel verstauten. Zwei unserer neuesten Raumjäger mit Plasma-Triebwerken gehörten dazu.
Es waren flache, diskusförmige Scheiben. Unheimlich schnell, unbegrenzter Aktionsradius und außerdem raumtüchtig.
Eine Stunde später trafen die letzten Einsatzbefehle aus dem HQ ein. Die europäischen Elitetruppen hatten unauffällig unser Landegebiet abgeriegelt. Von dort aus hatten wir zu operieren.
Dann war es soweit …