4.
Der Maskenbildner war kein spezialisierter Theaterkünstler, sondern ein Mann mit drei akademischen Graden, Fachgebiet Biochemie.
Vor zwei Stunden hatte er mir die neue Einsatzmaske über den Kopf gestreift, nachdem das »Gesicht« des Oberst Gunson endgültig entfernt worden war. Bei diesem Vorgang war es erforderlich, das künstlich gezüchtete, lebende Gewebe der Biofolie an vier verschiedenen Stellen durch winzige chirurgische Eingriffe von meiner Haut abzutrennen. Dort war die Folie verwachsen gewesen, so daß es unmöglich war, eine solche Spezialanfertigung gleich einer gewöhnlichen Dienstmaske vom Gesicht zu ziehen.
Die lebenden Faserenden der neuen Hülle waren mit den frischen Einschnittwunden verklebt worden. Unter dem aufgesprühten Zellplasma war der Heilungsprozeß in vollem Gange. Er dauerte nicht lange und mußte bald beendet sein. Die leichten Schmerzen waren längst abgeklungen.
Hannibal hatte das Gesicht eines älteren, verkümmert aussehenden Mannes erhalten. Sein von Natur aus eiförmiger Kopf wirkte unter dem hauchdünnen Überzug besonders erheiternd, zumal er nun eine Glatze hatte. Das synthetische Gewebe der Masken ernährte sich aus unseren natürlichen Blutkreisläufen.
Ich war mit meiner äußeren Erscheinung zufrieden. Der Alte war offenbar der Meinung, man müßte mich in einen strahlenden Helden verwandeln. Anscheinend hatte er einmal etwas von der galanten Zeit gehört.
Psychologisch betrachtet, war das richtig, da im allgemeinen nur attraktive Männer auf schöne Frauen Eindruck machen können. Der Chef plante, unter Umständen die Weiblichkeit des Jahres 1811 in seine Ermittlungen einzuspannen. Es konnte durchaus sein, daß es in dieser Hinsicht zu Komplikationen kam.
Aus diesen Erwägungen heraus hatten die Spezialisten ein vorteilhaftes Äußeres für mich gewählt. So gut hatte ich im Leben noch nicht ausgesehen, was ich – um der Wahrheit willen – gern zugeben möchte.
Anders lag der Fall bei Hannibal. Er war mit seinen neuen Gesichtszügen gar nicht einverstanden. Auf seinem umfangreichen Sprachschatz hatte er Flüche und Schimpfworte hervorgekramt, die die Damen und Herren der biochemischen Maskenabteilung eilig in die Flucht schlugen.
Jetzt lag der Zwerg apathisch auf seinem Bett. Er sah ausgesprochen giftig aus.
»Für einen amerikanischen Offizier, der angeblich noch unter dem alten George Washington gegen die Soldaten Seiner Britannischen Majestät kämpfte, siehst du wirklich bezaubernd aus«, sagte ich lächelnd. »Ich habe gehört, die Indianer vom Stamme der Huronen wären besonders wild auf Kahlköpfe gewesen. Vermeide nach Möglichkeit jede Begegnung mit Trophäenjägern, sonst ist dein Skalp fort.«
Er beschimpfte in übler Weise meine Ahnen, mein ethisches Empfinden und zweifelte schließlich noch an meinem Geisteszustand.
Na ja, der Zwerg hatte noch nie Hemmungen gekannt. Dabei war ich sein direkter Vorgesetzter!
»Schön ruhig bleiben, Kleiner«, sagte ich friedfertig. »Ich kann zum Beispiel beweisen, daß mein Vater kein Alkoholkranker war.«
»Säufer habe ich gesagt!« betonte er aggressiv und gab mir Gelegenheit, seine »behandelten« Zähne zu bewundern.
Da ein alter Mann aus dem Jahre 1811 unmöglich eine gutgearbeitete Prothese getragen hatte, zumindest war das mehr als unwahrscheinlich, hatten ihm unsere hervorragenden Wissenschaftler einige schwarzbraune Stummel ins natürliche Gebiß gezaubert.
In der spaltweit geöffneten Tür erschien das Gesicht unseres Maskenbildners. Er schmunzelte. Nur mit Mühe und Not war er den von Hannibal angedrohten Handgreiflichkeiten entgangen.
»Darf man nähertreten?« erkundigte er sich vorsichtig. »Ich möchte mir nur die Nahtstellen ansehen.«
Ich nickte ihm gönnerhaft zu. Hannibal empfing ihn mit boshaften Bemerkungen. Er war immer noch der Meinung, einen zwar etwas kleinen, immerhin aber graziösen und sehnigen Körper zu besitzen. Das Wörtchen »dürr« existierte in seinem sonst unerschöpflichen Sprachschatz nicht.
Dr. Mirnam nahm ungerührt die Durchleuchtung vor. Jawohl, die Masken saßen wie angegossen. Die Halsübergänge konnten praktisch nur unter einem mittelstarken Mikroskop bemerkt werden.
»Ausgezeichnet«, meinte Mirnam befriedigt. »Sie können aufstehen, Sir. Wie mir gesagt wurde, sind die letzten Vorbereitungen abgeschlossen.«
»Eh, sagen Sie nur nicht, Sie wären auch darüber informiert!« maulte der Zwerg. »Seit wann erfahren die modernen Handwerker derart wichtige Dinge? Unglaublich!«
»Stimmt«, nickte Mirnam ungerührt. »Wir haben es erfahren, weil wir erstens den Fuchsbau nicht mehr verlassen dürfen und zweitens gern am Leben bleiben möchten. Der Chef meint, es ginge um die Existenz der gesamten Menschheit.«
»Hat er sich so ausgedrückt?« fragte ich.
»Wörtlich«, bestätigte Mirnam. »Es war ein erhebender Augenblick. Euch Helden bedaure ich jetzt schon. Ihr seid doch immer die Größten, nicht wahr! Wir armen Wissenschaftler haben die Vorbereitungen zu treffen, und ihr sammelt die Orden. Immerhin gebe ich zu, daß es diesmal brenzlig wird. Sie sollen übrigens zum Vortrag kommen. Der französische Historiker will Ihnen erklären, wie leicht Napoleon der Erste die gesamte Menschheit hätte unterjochen können, wenn er nicht einige wesentliche Fehler begangen hätte. Das höre ich mir auch an. Hinterher kann man ja leicht sagen, was richtig und was falsch war.«
»Wenn ich das nur auch schon könnte!« flüsterte ich bedrückt. »Sie sind wirklich zu beneiden in Ihrer biochemischen Hexenküche.«
»Ertränken Sie sich nur nicht in einer angewärmten Nährlösung«, warf der Zwerg süffisant ein. »Ich habe Sie so gern, wissen Sie.«
Mirnam nahm diese Bemerkung nicht übel. Er verstand Spaß. Sein breites Lachen bewies es mir.
Das Rasseln der Alarmklingeln war wie ein grelles Fanal. Erschreckt richteten wir uns auf. Auch der Maskenbildner drehte sich hastig um.
An der Wand zuckten die roten Lampen. Gleichzeitig begannen die Lautsprecher der allgemeinen Rundrufanlage zu brüllen.
»Die Agenten HC-9 und MA-23 sofort zum chirurgischen Block. Dienstmasken anlegen. Ich wiederhole …«
Wir sprangen blitzartig aus den Betten. Ein hereinstürzender Assistent reichte die Kleidungsstücke, Mirnam die dickhäutigen Kunststoffmasken. Mehr denn je mußten wir jetzt darauf bedacht sein, daß niemand unsere neuen Gesichter sah. Es war eine selbstverständliche Maßnahme.
Wir verließen die Maskenabteilung. Fünf Minuten später standen wir im Vorzimmer eines Operationssaales. Wir erhielten sterile Kombinationen und Mundtücher. Anschließend begaben wir uns in den angegliederten Desinfektionsraum. Genau drei Minuten lang mußten wir uns mit ausgebreiteten Armen und erhobenen Gesichtern unter den starken UV-Lampen drehen. Nachdem die Sprühdose noch die letzten Mikrolebewesen beseitigt hatte, durften wir endlich den Operationssaal betreten.
Chirurgen standen am OP-Tisch, auf dem ein blasser Mann mit Wunden in Brust und Unterbauch lag. Ein Mediziner unterband die starken Blutungen. Assistenten reinigten den beschmutzten Körper und schnitten dem Verwundeten Stiefel und Kleidungsstücke vom Leib. Alles geschah in rasender Eile. Der Chefarzt wartete bereits.
Ober dem Kopf des Unbekannten summte unser supermodernes Narkosegerät. Ich erkannte, daß man größten Wert darauf legte, den Mann auch während der Operation bei Bewußtsein zu halten. Man verabreichte ihm keine Medikamente, arbeitete nicht mit Gas.
Der Hypnose-Projektor sandte seine unsichtbaren Impulse aus. In dem Gerät lief das Band mit der stets gleichbleibenden, stereotypen Anweisung. Sie erreichte das Wach- und Unterbewußtsein des Patienten. Ihm wurde befohlen, keine Schmerzen zu empfinden, also verspürte er auch keine.
Die Maschine war von unseren Wissenschaftlern entwickelt worden und hatte sich vorzüglich bewährt.
Der Verletzte begann ruhiger zu atmen. Die Hypno-Narkose wirkte bereits. Er lag vollkommen still, kein Nerv zuckte in unkontrollierbaren Reflexen. Die Augen waren geöffnet. Außer dem versonnen, lauschenden Ausdruck verrieten sie nichts.
Ich sah zu den zerschnittenen Kleidungsstücken hinüber. Sie gehörten zu einer recht eleganten Uniform. Hannibal ließ plötzlich ein Zischen hören. Rasch deutete er auf die Rangabzeichen.
»Ein Brigadegeneral«, flüsterte er. »Da, die gekreuzten Raketenrohre! Ein Stabsoffizier vom Armee-Waffenamt.«
Ein breitschultriger, untersetzter Mann winkte. Ich erkannte den GWA-Chef.
Wir gingen um die Narkosemaschine herum, die von einem bio-medizinischen Techniker überwacht wurde.
General Reling trug ebenfalls einen Mundschutz. Am OP-Tisch begannen die Ärzte zu arbeiten. Sie waren Kapazitäten, daran gab es keinen Zweifel. Wenn sie einen Menschen nicht mehr retten konnten, dann vermochte es niemand.
»Wo bleiben Sie eigentlich!« Obwohl er leise sprach, war der Vorwurf deutlich herauszuhören. »Für Sie muß man wohl die Sirenen heulen lassen, was? Ja, schon gut.«
Mit einer Handbewegung unterband er meine Erklärung. Hannibal grinste respektlos.
»Ein Stabsoffizier vom Armee-Waffenamt?« fragte ich und deutete zum OP-Tisch hinüber. »Was ist los, Chef? Mordanschlag? Wenn ja, warum?«
»Irrtum«, erwiderte er gereizt. Er war ausgesprochen nervös.
Weiter hinten betraten einige Spezialisten des Verhörteams den Raum. Meine Aufmerksamkeit wuchs.
»Das ist General Leutening, verantwortlicher Chef für das Südstaaten-Depot. Ihm unterstehen auch atomare Kleinkampfwaffen, darunter die neuen Kernfusions-Gewehrgranaten. Sie können vom Lauf jedes Maschinenkarabiners abgeschossen werden. Energieentwicklung beträgt fünfzig Tonnen TNT, Strahlung entsteht kaum. Dieses ›Sächelchen‹ hat unser Freund verschoben! Natürlich an Unbekannte, die dafür mit neuen Goldstücken bezahlten.«
»Goldstücken?« wiederholte ich leicht schockiert.
»Jawohl!« bestätigte er eisig. »Raten Sie mal mit welchen?«
Er schaute mich vielsagend an. Ich zuckte etwas verständnislos mit den Schultern. Was sollte das nun wieder bedeuten?
»Mit französischen Louisdor, englischen Guineen und 20-Franc-Münzen, die seit 1803 anstelle des Louisdor geprägt wurden. Die Stücke sehen aus, als wären sie gerade erst aus der Münzwerkstatt gekommen. Unsere Spezialisten sind dabei, zu bestimmen, wie lange sie im Umlauf waren. Das läßt sich leicht ermitteln. Mr. Leutening schwamm plötzlich in Gold. Das erweckte den Argwohn der Geheimen Bundeskriminalpolizei. Das Waffendepot wurde überprüft. Leutening konnte überführt werden. Er verweigerte die Aussage und unternahm einen Fluchtversuch, bei dem er schwer verwundet wurde. Es grenzt fast an ein Wunder, daß er noch lebt, aber er ist trotzdem höchstwahrscheinlich nicht mehr zu retten. Eine Herz-Transplantation kann nicht mehr riskiert werden.«
Ich drehte mich langsam um. Ich wußte, daß ich mich unter der Maske verfärbt hatte. Leutening war also einer jener Menschen, die der Versuchung nicht widerstehen konnten, obwohl er in einer durchaus achtbaren und hohen Position stand. Wie konnte das nur immer wieder geschehen!
»Er muß noch sprechen«, sagte der Chef in sich gekehrt. »Er muß! Die Ermittlungen des Bundeskriminalamtes ergeben schwere familiäre Zerwürfnisse. Von der dritten Frau geschieden. Durch seine zahlreichen Affären in schlechte Gesellschaft geraten. Die Kollegen vom FBI erfuhren das zu spät. Ich wette meinen Kopf, daß unsere Freunde ihre Hände im Spiel haben. Woher stammen sonst die Goldstücke?«
»Eine dicke Sache«, murmelte Hannibal. »Es wird immer schöner. Jetzt kommt schon Gold aus der Vergangenheit ins Jahr 2005.«
»Das ist noch nicht bewiesen«, knirschte ich. Dennoch wußte ich längst, daß der Chef auf der richtigen Spur war. Es wurde langsam gefährlich!
Reling erhielt einen Anruf über das Armband-Sprechgerät. Er meldete sich leise. Ich konnte die Nachricht mithören.
»Labor, Sir. Die 20-Franc-Münzen sind zwischen zwei und acht Jahre alt. Irrtum ausgeschlossen. Die englischen Münzen waren schon im Umlauf. Keinesfalls ist ein Goldstück älter als hundert Jahre. Die neuen Franc-Münzen zeigen kaum Abnutzungserscheinungen.«
»Danke«, murmelte der Alte. »Mehr wollte ich nicht wissen. Ende.«
Er schaltete ab. Ich suchte seinen Blick, doch er sah durch mich hindurch.
»Also doch, Konnat! Ich habe es geahnt. Leutening hat die modernsten Waffen der Gegenwart in die Vergangenheit geliefert. Er hatte dazu alle Möglichkeiten. Es handelt sich durchaus nicht um riesige Raketen und Kanonen, sondern nur um leichte, transportable Vernichtungsgeräte. Mikro-Kernwaffen, Maschinenkarabiner, weitreichende Panzerabwehr-Geschosse mit chemischen und atomaren Sprengköpfen. Damit können einige geschulte Leute ganze Heere vernichten und jedes, aber auch jedes Staatsoberhaupt unter Druck setzen. Jemand ist dabei, die Geschichte umzuformen. Mensch, haben Sie eine Ahnung, wie lächerlich einfach das ist! Es brauchen nur einige geschichtlich überlieferte Fehler korrigiert zu werden, und Napoleon Bonaparte stirbt nicht auf der Insel St. Helena!«
Mit schwerfälligen Schritten ging er zum OP hinüber. Wir folgten bedrückt. Ein Kollege flüsterte mir zu, daß unser aktiver Einsatz direkt nach dem Vortrag des Historikers begänne.
Der Chefarzt schüttelte den Kopf. Wir versuchten alles, um den General nochmals einige Worte zu entlocken. Das Ergebnis war dürftig. Wir befragten ihn in der N-Hypnose.
»Ich mußte es tun«, sagte er monoton. »Ich mußte es tun. Seine Augen brannten in mein Gehirn. Ich mußte immer daran denken. Sie holten die Waffen mit Flugzeugen ab.«
Das war praktisch alles, was wir nach langen Bemühungen erfuhren. Brigadegeneral Leutening starb Minuten später auf dem Operationstisch, nachdem auch die robotgesteuerte Herz-Lungen-Maschine nicht mehr helfen konnte.
Niedergeschlagen verließen wir den Saal. Niemals zuvor hatten sich die führenden Leute der GWA so hilflos gefühlt. Hannibal und ich, wir waren nur Rädchen in dem mächtigen Getriebe. Als wir jetzt unsere besten Männer so deprimiert fortgehen sahen, konnten wir uns nur noch bezeichnend anschauen.
Der Kleine meinte:
»Hast du bei den Aussagen etwas gemerkt. Großer? Ist dir bei den Andeutungen über die Augen, die angeblich in sein Gehirn brannten, etwas aufgefallen, oder richtiger eingefallen?«
»Hypno-Suggestion. Eine natürliche Geistesgabe der Deneber. Das Wesen, das sich der ›Große‹ nennt, hat für gute Waffen gesorgt. Er wird auch noch andere Dinge geschafft haben.«
»Major HC-9 und Leutnant MA-23 zum Vortrag, bitte«, wurden wir von dem uns begleitenden passiven Kollegen gemahnt.
Ich nickte. Es war soweit. In einigen Stunden ging es los, aber bis dahin mußten wir noch allerhand über uns ergehen lassen.
Gründliche Vorbereitungen sind unerläßlich. Sie sind sogar eine halbe Lebensversicherung; aber wenn man das alles im Gedächtnis speichern muß, da man sich keine Notizen machen darf, dann wird die Information zur Qual.
*
»… so ergibt sich daraus die unbestreitbare Tatsache, daß Napoleon Bonaparte in letzter Konsequenz von der englischen Seemacht geschlagen wurde, keineswegs aber von den Heeren der vereinten Völker. Es wäre niemals zur Völkerschlacht von Leipzig gekommen, wenn sich Zar Alexander nachgiebiger gezeigt und Bonapartes Forderungen angenommen hätte. Der harte Kurs konnte von den Russen nur deshalb eingeschlagen werden, weil sie jenseits des Kanals ein freies, unbesetztes England mit einer gewaltigen Flotte wußten. Napoleons Untergang begann mit dem Rußlandfeldzug 1812. Von der totalen Niederlage konnte er sich nicht mehr erholen. Die Befreiungskriege des Jahres 1813 waren eine zwangsläufige Folge seiner verlorenen Schlachten in den russischen Steppen.
Vor allem sein Nimbus war gebrochen. Er galt nicht mehr als unfehlbar. Die Fürsten, Preußen voran, erhoben sich. Österreich trat dem Bund bei. Bonapartes Schicksal war trotz der Siege bei Großgörschen und Bautzen bereits besiegelt. Seine Armee wurde im gleichen Jahr bei Großbeeren und an der Katzbach durch General Bülow und Blücher geschlagen. Die Völkerschlacht brachte das Ende.«
Professor Callac schloß endlich seine detaillierten Ausführungen, die er durch farbige Bilder ergänzt hatte.
Wir hatten erfahren, warum dies und jenes falsch gewesen war. Ich fühlte mich abgespannt. Die Gedanken schweiften immer wieder ab. Ich kannte die Geschichte recht genau. Für uns war es jetzt nur noch wichtig, welche Schlüsse der große Historiker aus seinen Ausführungen zog.
General Reling lauschte unbewegt. Der Saal war vollbesetzt. Auch Russen und Asiaten hatten sich eingefunden. Es waren Männer von den verschiedenen Geheimdiensten und militärischen Abwehrorganisationen.
Callac führte abschließend an:
»Die Tatsache, daß sich die Unbekannten im Jahre 1811 aufhalten, scheint zu beweisen, wie sehr unsere Theorien zutreffen. Wenn der Rußlandfeldzug verhindert wird, bleibt Bonaparte stark. Europa erholt sich. Zur weiteren Stärkung des Korsen ist es erforderlich, die engmaschige Seeblockade der englischen Flotte aufzuheben. Die damals noch jungen Vereinigten Staaten waren durchaus bereit, den europäischen Völkern unter die Arme zu greifen. Güter aller Art könnten vordringlich nach Frankreich kommen. Rohstoffe aus Übersee gehören dazu. Napoleon wird unschlagbar sein, wenn Englands Macht zur See gebrochen ist; wenn französische Segelschiffe unbesorgt fahren können. Unter solchen Umständen wird Zar Alexander Bonapartes Forderungen annehmen. Selbst mit der englischen Flotte im Rücken, hing Alexanders Entscheidung über Krieg oder Nachgeben nur an einem Haar. Mir liegen einige seltsame Berichte vor. Demnach wurde Bonaparte von unbekannten Leuten aufgesucht. Er empfing sie sogar. Man weiß nicht, um wen es sich handelte. Wir dürften es wissen. Das zeigt, daß Ihre Maßnahmen noch nicht zu spät kommen. Über die Relativität der verschiedenen Zeitebenen kann ich mich nicht auslassen. Das ist Goldsteins Fachgebiet. Ich kann Ihnen nur sagen, wie Bonaparte seinen Untergang vermeiden kann.«
Meine Nervosität nahm zu. Dennoch mußten wir alles so genau wie möglich wissen. Es war lebenswichtig.
»Hat Bonaparte durch fremde Hilfe England zerschlagen, liegt ihm Europa endgültig zu Füßen. Dann kann es geschehen, daß er von der Bildfläche verschwindet und ein Mächtiger seinen Platz einnimmt. Nehmen wir an, dies wäre der sogenannte ›Große‹. Seine Möglichkeiten können durch Reisen ins Jahr 2005 immer wieder aufgefrischt werden. Der Lauf der Geschichte verändert sich. Es wird in Europa nur einen Staat geben, nämlich Europa! Nur noch einen Herrscher, nämlich den Unbekannten. Fürsten, Könige und Kaiser werden ausgeschaltet. Die absolute Diktatur errichtet. Spezialtruppen mit modernen Waffen werden die Vereinigten Staaten spielend leicht unterwerfen, Washingtons Verfassung für ungültig erklären und die diktatorische Gewalt ergreifen. Nach drei Generationen dürften die Völker versklavt sein. Die Weltkriege finden nicht statt; die russische Revolution ist überflüssig. Es gibt einen Weltstaat, nur eine Währung und eine politische Polizei von gigantischen Ausmaßen. Unsere heutige Welt erlischt. Sie verschiebt sich auf eine andere Zeitebene, da sie nach der neuen Geschichte so nicht existieren kann.«
Professor Callac beobachtete die Wirkung seiner Worte auf die Anwesenden.
General Reling zeigte ein eisiges Lächeln. Die Russen waren zutiefst betroffen. Von den Gesichtern der Asiaten waren keine Emotionen abzulesen. Unsere afrikanischen Kollegen wirkten bedrückt. Wahrscheinlich erinnerten sie sich an die Zeiten der Kolonialherrschaft und des Rassenhasses.
»Damit wäre ich am Ende meiner Ausführungen«, erklärte der Franzose. »Es war Bonapartes Ziel, ein vereintes Europa unter seiner Herrschaft aufzubauen. Die asiatischen und afrikanischen Völkerschaften sind im Jahr 1811 noch völlig unbedeutend und durchweg primitiv gewesen. Man wird diesen Völkern keine Aufstiegsmöglichkeiten geben. Man wird sie künstlich in der Primitivität verharren lassen und ihre Länder als Rohstoffgebiete betrachten. Sie können damit niemals gefährlich werden. Der Superstaat wird ums Jahr 1812 geboren werden, nämlich dann, wenn Napoleon auf den Rußlandfeldzug verzichtet, seine Kräfte stabilisiert und sein Augenmerk auf die Niederschlagung der innerpolitischen Widerstandsgruppen richtet. Das gilt besonders für das Königreich Preußen. Wenn er von mächtigen Leuten umgestimmt wird, wenn man ihm mit modernsten Atomwaffen unter die Arme greift, gibt es kein Halten mehr. Ein handelsüblicher Hubschrauber kann die gesamte englische Blockadeflotte vernichten und den Weg zur Landung der französischen Armeen ebnen.
Meine Herren, ich warne Sie nochmals mit aller Dringlichkeit. Wir haben bereits Beweise gefunden, daß 1811 rätselhafte Dinge geschehen sind. Greifen Sie ein, oder es dürfte zu spät sein.«
Callac verließ das kleine Podium.
Ein kleiner, unscheinbar wirkender Mann erhob sich. Es war der russische Abwehrchef, Gregor Gorsskij. Seine goldgefaßte Brille funkelte im schwachen Licht der Deckenröhren.
»Meine Herren, uns erscheint das alles sehr unwahrscheinlich. Wir wollen dennoch annehmen, daß es einigen Verbrechern mit Hilfe eines marsianischen Gerätes gelungen ist, in die Vergangenheit zurückzukehren. Nun frage ich die anwesenden Physiker, wie sich dieser vermutlich zutreffende Umstand mit unserem heutigen Weltbild verträgt. Wenn der Plan der Unbekannten gelungen wäre, könnten wir doch nicht existieren. Dann säßen wir nicht hier! Es gäbe keine GWA, kein Großasien. Ich verstehe nicht mehr ganz.«
Einer unserer Physiker erklärte:
»Sir, die energetische Daseinsform der sogenannten Zeit ist eine Realität. Wir liegen lediglich auf einem sehr schmalen Zeitenergie-Band, das alle Augenblicke instabil werden kann. Wir sind da, zugegeben! Es beweist, daß die Vorgänge auf der Bandebene des Jahres 1811 noch nicht abgeschlossen sind. Menschen unseres Jahrzehnts sind zurückgekehrt. Natürlich existieren wir so lange weiter, wie es ihnen noch nicht gelungen ist, eine wesentliche Änderung jenes Zustandes zu erwirken, den wir ›Geschichte‹ nennen. Es ist aber keine Geschichte! Goldsteins Theorie beweist es! Die sogenannte Geschichte ist auf einer anderen, eng benachbarten Zeitebene jetzt gerade Wirklichkeit. Sie muß es sein, da Zeit eine vierdimensionale Energieform ist. Energie kann aber nicht spurlos verschwinden. Sie bleibt erhalten und schließt sich im ewigen Kreislauf zusammen. Selbstverständlich kann es nur dann zu einer Katastrophe kommen, wenn verbrecherische Elemente einen gewaltsamen Eingriff vornehmen. Sonst wäre das völlig unmöglich. Nur die Überwindung der Zeitmauer ermöglicht eine totale Aufhebung unserer heutigen Weltordnung.«
Der Russe setzte sich wieder. Seine Lippen preßten sich zusammen, die hohe Stirn zeigte tiefe Falten.
»Eben beginnt er zu verstehen«, flüsterte mir Hannibal zu. »Den Leuten geht langsam ein Licht auf.«
Gorsskij ergriff erneut das Wort.
»Ich bin von meiner Regierung bevollmächtigt worden, Ihnen jede nur erdenkliche Hilfe zu gewähren. Was können wir tun? Was brauchen Sie?«
Der Chef sah langsam auf. Die Worte kamen schwer.
»Besorgen Sie mir erschöpfendes Material über das Rußland von 1811 und 1812. Lassen Sie schleunigst und von Ihren besten Leuten Dokumente aus dieser Zeit herstellen, versehen mit dem kaiserlichen Wappen, Siegel, Unterschriften und was der Dinge mehr sind. Fertigen Sie Empfehlungsschreiben für zwei amerikanische Offiziere an, die im Auftrag des amerikanischen Präsidenten nach Europa gekommen sind, um die dortigen Verhältnisse zu studieren. Meine Spezialisten geben Ihnen noch genau detaillierte Anweisungen. Der europäische Geheimdienst hat bereits geschaltet. Sie haben lange auf sich warten lassen, Gorsskij!«
»Wir waren wie benommen«, sagte der Russe entschuldigend. »Soll denn wirklich alles zerstört werden, was wir in vielen Jahrzehnten unter größten Mühen und Gefahren erschaffen haben? Ausgerechnet jetzt, da die Menschheit endgültig vereint ist? Ich werde tun, was in unserer Macht steht.«
Damit war die stundenlange Sitzung beendet. Eine halbe Stunde später erhielten Hannibal und ich die Einsatzbefehle. Die Spezialausrüstung wurde von den Technikern vorgeführt. Die graphische Abteilung legte Dokumente, Pässe, Empfehlungsschreiben und Karten vor. Sie waren haargenau nach uralten Unterlagen hergestellt worden. Die genialen Fälschungen konnten nur von fähigen Leuten in einem großzügig eingerichteten Labor erkannt werden. Für Menschen aus dem Jahre 1811 mußte das vollkommen unmöglich sein.
Es war nicht schwer, den Leuten dieser Zeit etwas vorzugaukeln. Was hatte man damals schon von der modernen Technik gewußt!
Zwischendurch erhielten wir eine Tiefschlafinjektion für sechs Stunden. Nach einer kurzen Erholungspause gingen die körperlichen und geistigen Strapazen weiter.
Die Schneider und Maskenbildner erschienen wieder. Wir erhielten naturgetreue Kleidungsstücke aus der Epoche, das dazu passende Gepäck, Anweisungen auf die Banken von England und Holland. Außerdem händigte man uns schwere Beutel mit Gold- und Silbermünzen aus. Sogar die kostbaren Dosen zur Aufbewahrung von Schnupftabak wurden nicht vergessen.
Unsere Gesichter konnten unverändert bleiben. Die Frisuren sollten jedoch kurz vor dem Einsatz noch einmal umgestaltet werden.
Der Ansatzpunkt lag auf dem Mond. Wir mußten wieder nach Zonta zurück. Das dauerte weitere sechsunddreißig Stunden, die ausschließlich mit Vorbereitungen, Vorträgen und Kurzlehrgängen angefüllt waren.
Die Waffenfrage war von unseren genialen Mikro-Technikern ebenfalls gelöst worden. Unsere doppelläufigen Steinschloßpistolen waren derart präpariert worden, daß ich beim Gedanken an ihre Wirkung ein Übelkeitsgefühl kaum unterdrücken konnte.
Das gesamte umfangreiche Gepäck wurde mit einem Sonderschiff der Space-Force zum Mond geflogen. Wir sollten einige Stunden später mit einem kleinen Kurierkreuzer folgen.
Professor David Goldstein war bereits informiert, desgleichen der neue Sicherheitsdienst-Kommandant auf Luna. Es handelte sich um einen GWA-Kollegen.
Dreißig Minuten vor dem Abflug zum Raumhafen der Space-Force auf Cap Kennedy standen wir zum letztenmal vor dem Alten. Wir trugen Zivilkleidung. In unseren Brieftaschen befanden sich ausgezeichnete Papiere.
»Viel Glück«, sagte der Alte erschöpft. Er war in den letzten Tagen stark gealtert.
»Viel Glück! Ihre Ausrüstung ist so hervorragend, daß es keine Pannen geben kann. Wir haben nichts vergessen, da uns Informationen über das Jahr 1811 in zahlreichen Museen und Archiven zur Verfügung stehen. Sie werden mit Leuten sprechen, die längst gestorben waren. Es wird nicht einfach sein. Dies ist wohl der erste Fall in der GWA-Geschichte, daß wir auf unsere bewahrte Arbeitsmethode der ›Einsickerung‹ verzichten müssen. Es gibt keine Möglichkeit, Sie in die Reihen der Gegner einzuschmuggeln. Sie müssen aus eigenem Ermessen handeln. Die Fähigkeiten des Gegners sind unbekannt. Rechnen Sie aber mit dem Schlimmsten. Sie haben eine Spezialausrüstung, die der des Gegners garantiert überlegen ist. Für Ihre Reise in die Vergangenheit werden Sie – wie besprochen – den zweiten Zeitumformer benutzen. Sie stehlen ihn ebenfalls. Ich werde dafür sorgen, daß dieses Ereignis in Presse, Funk und Television breitgetreten wird. Es wird dem Gegner bekannt werden, daß es nun noch eine zweite intakte Maschine gibt. Das ist die einzige Hilfe, die ich Ihnen geben kann. Für Sie wird es natürlich sehr leicht sein, einen modernen Menschen zu erkennen. Schauen Sie sich um, und handeln Sie nach Ihren Befehlen.«
Wir grüßten stumm. Es gab nicht mehr viel zu sagen. Es war alles klar, nur durfte ich nicht zu sehr darüber nachdenken.
Wir hatten gegen Schatten zu kämpfen; gegen etwas, das mit der Kraft des Geistes kaum zu begreifen war.
Wir flogen zum Raumhafen der Space-Force, das Kurierboot wartete schon. Minuten später jagten wir auf dem Plasmastrahl des Ato-Triebwerks in den wolkenlosen Himmel.
Der Flug durfte nur fünf Stunden dauern. Das bedeutete wieder hohe Beschleunigungen und härteste Belastungsproben. Wir rasten durch den »Entkommens-Trichter« über dem Nordpol, durchstießen ungefährdet die Strahlungszonen und schossen dann in den leeren Raum hinaus.
Wie mochten wir zur Erde zurückkommen? Das war die große Frage!