4.

 

Der Mas­ken­bild­ner war kein spe­zia­li­sier­ter Thea­ter­künst­ler, son­dern ein Mann mit drei aka­de­mi­schen Gra­den, Fach­ge­biet Bio­che­mie.

Vor zwei Stun­den hat­te er mir die neue Ein­satz­mas­ke über den Kopf ge­streift, nach­dem das »Ge­sicht« des Oberst Gun­son end­gül­tig ent­fernt wor­den war. Bei die­sem Vor­gang war es er­for­der­lich, das künst­lich ge­züch­te­te, le­ben­de Ge­we­be der Bio­fo­lie an vier ver­schie­de­nen Stel­len durch win­zi­ge chir­ur­gi­sche Ein­grif­fe von mei­ner Haut ab­zu­tren­nen. Dort war die Fo­lie ver­wach­sen ge­we­sen, so daß es un­mög­lich war, ei­ne sol­che Spe­zi­al­an­fer­ti­gung gleich ei­ner ge­wöhn­li­chen Dienst­mas­ke vom Ge­sicht zu zie­hen.

Die le­ben­den Fa­se­ren­den der neu­en Hül­le wa­ren mit den fri­schen Ein­schnitt­wun­den ver­klebt wor­den. Un­ter dem auf­ge­sprüh­ten Zell­plas­ma war der Hei­lungs­pro­zeß in vol­lem Gan­ge. Er dau­er­te nicht lan­ge und muß­te bald be­en­det sein. Die leich­ten Schmer­zen wa­ren längst ab­ge­klun­gen.

Han­ni­bal hat­te das Ge­sicht ei­nes äl­te­ren, ver­küm­mert aus­se­hen­den Man­nes er­hal­ten. Sein von Na­tur aus ei­för­mi­ger Kopf wirk­te un­ter dem hauch­dün­nen Über­zug be­son­ders er­hei­ternd, zu­mal er nun ei­ne Glat­ze hat­te. Das syn­the­ti­sche Ge­we­be der Mas­ken er­nähr­te sich aus un­se­ren na­tür­li­chen Blut­kreis­läu­fen.

Ich war mit mei­ner äu­ße­ren Er­schei­nung zu­frie­den. Der Al­te war of­fen­bar der Mei­nung, man müß­te mich in einen strah­len­den Hel­den ver­wan­deln. An­schei­nend hat­te er ein­mal et­was von der ga­lan­ten Zeit ge­hört.

Psy­cho­lo­gisch be­trach­tet, war das rich­tig, da im all­ge­mei­nen nur at­trak­ti­ve Män­ner auf schö­ne Frau­en Ein­druck ma­chen kön­nen. Der Chef plan­te, un­ter Um­stän­den die Weib­lich­keit des Jah­res 1811 in sei­ne Er­mitt­lun­gen ein­zu­span­nen. Es konn­te durch­aus sein, daß es in die­ser Hin­sicht zu Kom­pli­ka­tio­nen kam.

Aus die­sen Er­wä­gun­gen her­aus hat­ten die Spe­zia­lis­ten ein vor­teil­haf­tes Äu­ße­res für mich ge­wählt. So gut hat­te ich im Le­ben noch nicht aus­ge­se­hen, was ich – um der Wahr­heit wil­len – gern zu­ge­ben möch­te.

An­ders lag der Fall bei Han­ni­bal. Er war mit sei­nen neu­en Ge­sichts­zü­gen gar nicht ein­ver­stan­den. Auf sei­nem um­fang­rei­chen Sprach­schatz hat­te er Flü­che und Schimpf­wor­te her­vor­ge­kramt, die die Da­men und Her­ren der bio­che­mi­schen Mas­ken­ab­tei­lung ei­lig in die Flucht schlu­gen.

Jetzt lag der Zwerg apa­thisch auf sei­nem Bett. Er sah aus­ge­spro­chen gif­tig aus.

»Für einen ame­ri­ka­ni­schen Of­fi­zier, der an­geb­lich noch un­ter dem al­ten Ge­or­ge Wa­shing­ton ge­gen die Sol­da­ten Sei­ner Bri­tan­ni­schen Ma­je­stät kämpf­te, siehst du wirk­lich be­zau­bernd aus«, sag­te ich lä­chelnd. »Ich ha­be ge­hört, die In­dia­ner vom Stam­me der Hu­ro­nen wä­ren be­son­ders wild auf Kahl­köp­fe ge­we­sen. Ver­mei­de nach Mög­lich­keit je­de Be­geg­nung mit Tro­phä­en­jä­gern, sonst ist dein Skalp fort.«

Er be­schimpf­te in üb­ler Wei­se mei­ne Ah­nen, mein ethi­sches Emp­fin­den und zwei­fel­te schließ­lich noch an mei­nem Geis­tes­zu­stand.

Na ja, der Zwerg hat­te noch nie Hem­mun­gen ge­kannt. Da­bei war ich sein di­rek­ter Vor­ge­setz­ter!

»Schön ru­hig blei­ben, Klei­ner«, sag­te ich fried­fer­tig. »Ich kann zum Bei­spiel be­wei­sen, daß mein Va­ter kein Al­ko­hol­kran­ker war.«

»Säu­fer ha­be ich ge­sagt!« be­ton­te er ag­gres­siv und gab mir Ge­le­gen­heit, sei­ne »be­han­del­ten« Zäh­ne zu be­wun­dern.

Da ein al­ter Mann aus dem Jah­re 1811 un­mög­lich ei­ne gut­ge­ar­bei­te­te Pro­the­se ge­tra­gen hat­te, zu­min­dest war das mehr als un­wahr­schein­lich, hat­ten ihm un­se­re her­vor­ra­gen­den Wis­sen­schaft­ler ei­ni­ge schwarz­brau­ne Stum­mel ins na­tür­li­che Ge­biß ge­zau­bert.

In der spalt­weit ge­öff­ne­ten Tür er­schi­en das Ge­sicht un­se­res Mas­ken­bild­ners. Er schmun­zel­te. Nur mit Mü­he und Not war er den von Han­ni­bal an­ge­droh­ten Hand­greif­lich­kei­ten ent­gan­gen.

»Darf man nä­her­tre­ten?« er­kun­dig­te er sich vor­sich­tig. »Ich möch­te mir nur die Naht­stel­len an­se­hen.«

Ich nick­te ihm gön­ner­haft zu. Han­ni­bal emp­fing ihn mit bos­haf­ten Be­mer­kun­gen. Er war im­mer noch der Mei­nung, einen zwar et­was klei­nen, im­mer­hin aber gra­zi­ösen und seh­ni­gen Kör­per zu be­sit­zen. Das Wört­chen »dürr« exis­tier­te in sei­nem sonst un­er­schöpf­li­chen Sprach­schatz nicht.

Dr. Mir­nam nahm un­ge­rührt die Durch­leuch­tung vor. Ja­wohl, die Mas­ken sa­ßen wie an­ge­gos­sen. Die Hals­über­gän­ge konn­ten prak­tisch nur un­ter ei­nem mit­tel­star­ken Mi­kro­skop be­merkt wer­den.

»Aus­ge­zeich­net«, mein­te Mir­nam be­frie­digt. »Sie kön­nen auf­ste­hen, Sir. Wie mir ge­sagt wur­de, sind die letz­ten Vor­be­rei­tun­gen ab­ge­schlos­sen.«

»Eh, sa­gen Sie nur nicht, Sie wä­ren auch dar­über in­for­miert!« maul­te der Zwerg. »Seit wann er­fah­ren die mo­der­nen Hand­wer­ker der­art wich­ti­ge Din­ge? Un­glaub­lich!«

»Stimmt«, nick­te Mir­nam un­ge­rührt. »Wir ha­ben es er­fah­ren, weil wir ers­tens den Fuchs­bau nicht mehr ver­las­sen dür­fen und zwei­tens gern am Le­ben blei­ben möch­ten. Der Chef meint, es gin­ge um die Exis­tenz der ge­sam­ten Mensch­heit.«

»Hat er sich so aus­ge­drückt?« frag­te ich.

»Wört­lich«, be­stä­tig­te Mir­nam. »Es war ein er­he­ben­der Au­gen­blick. Euch Hel­den be­dau­re ich jetzt schon. Ihr seid doch im­mer die Größ­ten, nicht wahr! Wir ar­men Wis­sen­schaft­ler ha­ben die Vor­be­rei­tun­gen zu tref­fen, und ihr sam­melt die Or­den. Im­mer­hin ge­be ich zu, daß es dies­mal brenz­lig wird. Sie sol­len üb­ri­gens zum Vor­trag kom­men. Der fran­zö­si­sche His­to­ri­ker will Ih­nen er­klä­ren, wie leicht Na­po­le­on der Ers­te die ge­sam­te Mensch­heit hät­te un­ter­jo­chen kön­nen, wenn er nicht ei­ni­ge we­sent­li­che Feh­ler be­gan­gen hät­te. Das hö­re ich mir auch an. Hin­ter­her kann man ja leicht sa­gen, was rich­tig und was falsch war.«

»Wenn ich das nur auch schon könn­te!« flüs­ter­te ich be­drückt. »Sie sind wirk­lich zu be­nei­den in Ih­rer bio­che­mi­schen He­xen­kü­che.«

»Er­trän­ken Sie sich nur nicht in ei­ner an­ge­wärm­ten Nähr­lö­sung«, warf der Zwerg süf­fi­sant ein. »Ich ha­be Sie so gern, wis­sen Sie.«

Mir­nam nahm die­se Be­mer­kung nicht übel. Er ver­stand Spaß. Sein brei­tes La­chen be­wies es mir.

Das Ras­seln der Alarm­klin­geln war wie ein grel­les Fa­nal. Er­schreckt rich­te­ten wir uns auf. Auch der Mas­ken­bild­ner dreh­te sich has­tig um.

An der Wand zuck­ten die ro­ten Lam­pen. Gleich­zei­tig be­gan­nen die Laut­spre­cher der all­ge­mei­nen Rund­ruf­an­la­ge zu brül­len.

»Die Agen­ten HC-9 und MA-23 so­fort zum chir­ur­gi­schen Block. Dienst­mas­ken an­le­gen. Ich wie­der­ho­le …«

Wir spran­gen blitz­ar­tig aus den Bet­ten. Ein her­ein­stür­zen­der As­sis­tent reich­te die Klei­dungs­stücke, Mir­nam die dick­häu­ti­gen Kunst­stoff­mas­ken. Mehr denn je muß­ten wir jetzt dar­auf be­dacht sein, daß nie­mand un­se­re neu­en Ge­sich­ter sah. Es war ei­ne selbst­ver­ständ­li­che Maß­nah­me.

Wir ver­lie­ßen die Mas­ken­ab­tei­lung. Fünf Mi­nu­ten spä­ter stan­den wir im Vor­zim­mer ei­nes Ope­ra­ti­ons­saa­l­es. Wir er­hiel­ten ste­ri­le Kom­bi­na­tio­nen und Mund­tü­cher. An­schlie­ßend be­ga­ben wir uns in den an­ge­glie­der­ten Des­in­fek­ti­ons­raum. Ge­nau drei Mi­nu­ten lang muß­ten wir uns mit aus­ge­brei­te­ten Ar­men und er­ho­be­nen Ge­sich­tern un­ter den star­ken UV-Lam­pen dre­hen. Nach­dem die Sprüh­do­se noch die letz­ten Mi­kro­le­be­we­sen be­sei­tigt hat­te, durf­ten wir end­lich den Ope­ra­ti­ons­saal be­tre­ten.

Chir­ur­gen stan­den am OP-Tisch, auf dem ein blas­ser Mann mit Wun­den in Brust und Un­ter­bauch lag. Ein Me­di­zi­ner un­ter­band die star­ken Blu­tun­gen. As­sis­ten­ten rei­nig­ten den be­schmutz­ten Kör­per und schnit­ten dem Ver­wun­de­ten Stie­fel und Klei­dungs­stücke vom Leib. Al­les ge­sch­ah in ra­sen­der Ei­le. Der Chef­arzt war­te­te be­reits.

Ober dem Kopf des Un­be­kann­ten summ­te un­ser su­per­mo­der­nes Nar­ko­se­ge­rät. Ich er­kann­te, daß man größ­ten Wert dar­auf leg­te, den Mann auch wäh­rend der Ope­ra­ti­on bei Be­wußt­sein zu hal­ten. Man ver­ab­reich­te ihm kei­ne Me­di­ka­men­te, ar­bei­te­te nicht mit Gas.

Der Hyp­no­se-Pro­jek­tor sand­te sei­ne un­sicht­ba­ren Im­pul­se aus. In dem Ge­rät lief das Band mit der stets gleich­blei­ben­den, ste­reo­ty­pen An­wei­sung. Sie er­reich­te das Wach- und Un­ter­be­wußt­sein des Pa­ti­en­ten. Ihm wur­de be­foh­len, kei­ne Schmer­zen zu emp­fin­den, al­so ver­spür­te er auch kei­ne.

Die Ma­schi­ne war von un­se­ren Wis­sen­schaft­lern ent­wi­ckelt wor­den und hat­te sich vor­züg­lich be­währt.

Der Ver­letz­te be­gann ru­hi­ger zu at­men. Die Hyp­no-Nar­ko­se wirk­te be­reits. Er lag voll­kom­men still, kein Nerv zuck­te in un­kon­trol­lier­ba­ren Re­fle­xen. Die Au­gen wa­ren ge­öff­net. Au­ßer dem ver­son­nen, lau­schen­den Aus­druck ver­rie­ten sie nichts.

Ich sah zu den zer­schnit­te­nen Klei­dungs­stücken hin­über. Sie ge­hör­ten zu ei­ner recht ele­gan­ten Uni­form. Han­ni­bal ließ plötz­lich ein Zi­schen hö­ren. Rasch deu­te­te er auf die Rang­ab­zei­chen.

»Ein Bri­ga­de­ge­ne­ral«, flüs­ter­te er. »Da, die ge­kreuz­ten Ra­ke­ten­roh­re! Ein Stabs­of­fi­zier vom Ar­mee-Waf­fen­amt.«

Ein breit­schult­ri­ger, un­ter­setz­ter Mann wink­te. Ich er­kann­te den GWA-Chef.

Wir gin­gen um die Nar­ko­se­ma­schi­ne her­um, die von ei­nem bio-me­di­zi­ni­schen Tech­ni­ker über­wacht wur­de.

Ge­ne­ral Re­ling trug eben­falls einen Mund­schutz. Am OP-Tisch be­gan­nen die Ärz­te zu ar­bei­ten. Sie wa­ren Ka­pa­zi­tä­ten, dar­an gab es kei­nen Zwei­fel. Wenn sie einen Men­schen nicht mehr ret­ten konn­ten, dann ver­moch­te es nie­mand.

»Wo blei­ben Sie ei­gent­lich!« Ob­wohl er lei­se sprach, war der Vor­wurf deut­lich her­aus­zu­hö­ren. »Für Sie muß man wohl die Si­re­nen heu­len las­sen, was? Ja, schon gut.«

Mit ei­ner Hand­be­we­gung un­ter­band er mei­ne Er­klä­rung. Han­ni­bal grins­te re­spekt­los.

»Ein Stabs­of­fi­zier vom Ar­mee-Waf­fen­amt?« frag­te ich und deu­te­te zum OP-Tisch hin­über. »Was ist los, Chef? Mord­an­schlag? Wenn ja, warum?«

»Irr­tum«, er­wi­der­te er ge­reizt. Er war aus­ge­spro­chen ner­vös.

Wei­ter hin­ten be­tra­ten ei­ni­ge Spe­zia­lis­ten des Ver­hör­teams den Raum. Mei­ne Auf­merk­sam­keit wuchs.

»Das ist Ge­ne­ral Leu­te­ning, ver­ant­wort­li­cher Chef für das Süd­staa­ten-De­pot. Ihm un­ter­ste­hen auch ato­ma­re Klein­kampf­waf­fen, dar­un­ter die neu­en Kern­fu­si­ons-Ge­wehr­gra­na­ten. Sie kön­nen vom Lauf je­des Ma­schi­nen­ka­ra­bi­ners ab­ge­schos­sen wer­den. Ener­gie­ent­wick­lung be­trägt fünf­zig Ton­nen TNT, Strah­lung ent­steht kaum. Die­ses ›Sä­chel­chen‹ hat un­ser Freund ver­scho­ben! Na­tür­lich an Un­be­kann­te, die da­für mit neu­en Gold­stücken be­zahl­ten.«

»Gold­stücken?« wie­der­hol­te ich leicht scho­ckiert.

»Ja­wohl!« be­stä­tig­te er ei­sig. »Ra­ten Sie mal mit wel­chen?«

Er schau­te mich viel­sa­gend an. Ich zuck­te et­was ver­ständ­nis­los mit den Schul­tern. Was soll­te das nun wie­der be­deu­ten?

»Mit fran­zö­si­schen Louis­dor, eng­li­schen Gui­ne­en und 20-Franc-Mün­zen, die seit 1803 an­stel­le des Louis­dor ge­prägt wur­den. Die Stücke se­hen aus, als wä­ren sie ge­ra­de erst aus der Münz­werk­statt ge­kom­men. Un­se­re Spe­zia­lis­ten sind da­bei, zu be­stim­men, wie lan­ge sie im Um­lauf wa­ren. Das läßt sich leicht er­mit­teln. Mr. Leu­te­ning schwamm plötz­lich in Gold. Das er­weck­te den Arg­wohn der Ge­hei­men Bun­des­kri­mi­nal­po­li­zei. Das Waf­fen­de­pot wur­de über­prüft. Leu­te­ning konn­te über­führt wer­den. Er ver­wei­ger­te die Aus­sa­ge und un­ter­nahm einen Flucht­ver­such, bei dem er schwer ver­wun­det wur­de. Es grenzt fast an ein Wun­der, daß er noch lebt, aber er ist trotz­dem höchst­wahr­schein­lich nicht mehr zu ret­ten. Ei­ne Herz-Trans­plan­ta­ti­on kann nicht mehr ris­kiert wer­den.«

Ich dreh­te mich lang­sam um. Ich wuß­te, daß ich mich un­ter der Mas­ke ver­färbt hat­te. Leu­te­ning war al­so ei­ner je­ner Men­schen, die der Ver­su­chung nicht wi­der­ste­hen konn­ten, ob­wohl er in ei­ner durch­aus acht­ba­ren und ho­hen Po­si­ti­on stand. Wie konn­te das nur im­mer wie­der ge­sche­hen!

»Er muß noch spre­chen«, sag­te der Chef in sich ge­kehrt. »Er muß! Die Er­mitt­lun­gen des Bun­des­kri­mi­nal­am­tes er­ge­ben schwe­re fa­mi­li­äre Zer­würf­nis­se. Von der drit­ten Frau ge­schie­den. Durch sei­ne zahl­rei­chen Af­fä­ren in schlech­te Ge­sell­schaft ge­ra­ten. Die Kol­le­gen vom FBI er­fuh­ren das zu spät. Ich wet­te mei­nen Kopf, daß un­se­re Freun­de ih­re Hän­de im Spiel ha­ben. Wo­her stam­men sonst die Gold­stücke?«

»Ei­ne di­cke Sa­che«, mur­mel­te Han­ni­bal. »Es wird im­mer schö­ner. Jetzt kommt schon Gold aus der Ver­gan­gen­heit ins Jahr 2005.«

»Das ist noch nicht be­wie­sen«, knirsch­te ich. Den­noch wuß­te ich längst, daß der Chef auf der rich­ti­gen Spur war. Es wur­de lang­sam ge­fähr­lich!

Re­ling er­hielt einen An­ruf über das Arm­band-Sprech­ge­rät. Er mel­de­te sich lei­se. Ich konn­te die Nach­richt mit­hö­ren.

»La­bor, Sir. Die 20-Franc-Mün­zen sind zwi­schen zwei und acht Jah­re alt. Irr­tum aus­ge­schlos­sen. Die eng­li­schen Mün­zen wa­ren schon im Um­lauf. Kei­nes­falls ist ein Gold­stück äl­ter als hun­dert Jah­re. Die neu­en Franc-Mün­zen zei­gen kaum Ab­nut­zungs­er­schei­nun­gen.«

»Dan­ke«, mur­mel­te der Al­te. »Mehr woll­te ich nicht wis­sen. En­de.«

Er schal­te­te ab. Ich such­te sei­nen Blick, doch er sah durch mich hin­durch.

»Al­so doch, Kon­nat! Ich ha­be es ge­ahnt. Leu­te­ning hat die mo­d­erns­ten Waf­fen der Ge­gen­wart in die Ver­gan­gen­heit ge­lie­fert. Er hat­te da­zu al­le Mög­lich­kei­ten. Es han­delt sich durch­aus nicht um rie­si­ge Ra­ke­ten und Ka­no­nen, son­dern nur um leich­te, trans­por­ta­ble Ver­nich­tungs­ge­rä­te. Mi­kro-Kern­waf­fen, Ma­schi­nen­ka­ra­bi­ner, weit­rei­chen­de Pan­zer­ab­wehr-Ge­schos­se mit che­mi­schen und ato­ma­ren Spreng­köp­fen. Da­mit kön­nen ei­ni­ge ge­schul­te Leu­te gan­ze Hee­re ver­nich­ten und je­des, aber auch je­des Staats­ober­haupt un­ter Druck set­zen. Je­mand ist da­bei, die Ge­schich­te um­zu­for­men. Mensch, ha­ben Sie ei­ne Ah­nung, wie lä­cher­lich ein­fach das ist! Es brau­chen nur ei­ni­ge ge­schicht­lich über­lie­fer­te Feh­ler kor­ri­giert zu wer­den, und Na­po­le­on Bo­na­par­te stirbt nicht auf der In­sel St. He­le­na!«

Mit schwer­fäl­li­gen Schrit­ten ging er zum OP hin­über. Wir folg­ten be­drückt. Ein Kol­le­ge flüs­ter­te mir zu, daß un­ser ak­ti­ver Ein­satz di­rekt nach dem Vor­trag des His­to­ri­kers be­gän­ne.

Der Chef­arzt schüt­tel­te den Kopf. Wir ver­such­ten al­les, um den Ge­ne­ral noch­mals ei­ni­ge Wor­te zu ent­lo­cken. Das Er­geb­nis war dürf­tig. Wir be­frag­ten ihn in der N-Hyp­no­se.

»Ich muß­te es tun«, sag­te er mo­no­ton. »Ich muß­te es tun. Sei­ne Au­gen brann­ten in mein Ge­hirn. Ich muß­te im­mer dar­an den­ken. Sie hol­ten die Waf­fen mit Flug­zeu­gen ab.«

Das war prak­tisch al­les, was wir nach lan­gen Be­mü­hun­gen er­fuh­ren. Bri­ga­de­ge­ne­ral Leu­te­ning starb Mi­nu­ten spä­ter auf dem Ope­ra­ti­ons­tisch, nach­dem auch die ro­bot­ge­steu­er­te Herz-Lun­gen-Ma­schi­ne nicht mehr hel­fen konn­te.

Nie­der­ge­schla­gen ver­lie­ßen wir den Saal. Nie­mals zu­vor hat­ten sich die füh­ren­den Leu­te der GWA so hilf­los ge­fühlt. Han­ni­bal und ich, wir wa­ren nur Räd­chen in dem mäch­ti­gen Ge­trie­be. Als wir jetzt un­se­re bes­ten Män­ner so de­pri­miert fort­ge­hen sa­hen, konn­ten wir uns nur noch be­zeich­nend an­schau­en.

Der Klei­ne mein­te:

»Hast du bei den Aus­sa­gen et­was ge­merkt. Großer? Ist dir bei den An­deu­tun­gen über die Au­gen, die an­geb­lich in sein Ge­hirn brann­ten, et­was auf­ge­fal­len, oder rich­ti­ger ein­ge­fal­len?«

»Hyp­no-Sug­ge­s­ti­on. Ei­ne na­tür­li­che Geis­tes­ga­be der De­ne­ber. Das We­sen, das sich der ›Große‹ nennt, hat für gu­te Waf­fen ge­sorgt. Er wird auch noch an­de­re Din­ge ge­schafft ha­ben.«

»Ma­jor HC-9 und Leut­nant MA-23 zum Vor­trag, bit­te«, wur­den wir von dem uns be­glei­ten­den pas­si­ven Kol­le­gen ge­mahnt.

Ich nick­te. Es war so­weit. In ei­ni­gen Stun­den ging es los, aber bis da­hin muß­ten wir noch al­ler­hand über uns er­ge­hen las­sen.

Gründ­li­che Vor­be­rei­tun­gen sind un­er­läß­lich. Sie sind so­gar ei­ne hal­be Le­bens­ver­si­che­rung; aber wenn man das al­les im Ge­dächt­nis spei­chern muß, da man sich kei­ne No­ti­zen ma­chen darf, dann wird die In­for­ma­ti­on zur Qual.

 

*

 

»… so er­gibt sich dar­aus die un­be­streit­ba­re Tat­sa­che, daß Na­po­le­on Bo­na­par­te in letz­ter Kon­se­quenz von der eng­li­schen See­macht ge­schla­gen wur­de, kei­nes­wegs aber von den Hee­ren der ver­ein­ten Völ­ker. Es wä­re nie­mals zur Völ­ker­schlacht von Leip­zig ge­kom­men, wenn sich Zar Alex­an­der nach­gie­bi­ger ge­zeigt und Bo­na­par­tes For­de­run­gen an­ge­nom­men hät­te. Der har­te Kurs konn­te von den Rus­sen nur des­halb ein­ge­schla­gen wer­den, weil sie jen­seits des Ka­nals ein frei­es, un­be­setz­tes Eng­land mit ei­ner ge­wal­ti­gen Flot­te wuß­ten. Na­po­le­ons Un­ter­gang be­gann mit dem Ruß­land­feld­zug 1812. Von der to­ta­len Nie­der­la­ge konn­te er sich nicht mehr er­ho­len. Die Be­frei­ungs­krie­ge des Jah­res 1813 wa­ren ei­ne zwangs­läu­fi­ge Fol­ge sei­ner ver­lo­re­nen Schlach­ten in den rus­si­schen Step­pen.

Vor al­lem sein Nim­bus war ge­bro­chen. Er galt nicht mehr als un­fehl­bar. Die Fürs­ten, Preu­ßen vor­an, er­ho­ben sich. Ös­ter­reich trat dem Bund bei. Bo­na­par­tes Schick­sal war trotz der Sie­ge bei Groß­gör­schen und Baut­zen be­reits be­sie­gelt. Sei­ne Ar­mee wur­de im glei­chen Jahr bei Groß­bee­ren und an der Katz­bach durch Ge­ne­ral Bülow und Blü­cher ge­schla­gen. Die Völ­ker­schlacht brach­te das En­de.«

Pro­fes­sor Cal­lac schloß end­lich sei­ne de­tail­lier­ten Aus­füh­run­gen, die er durch far­bi­ge Bil­der er­gänzt hat­te.

Wir hat­ten er­fah­ren, warum dies und je­nes falsch ge­we­sen war. Ich fühl­te mich ab­ge­spannt. Die Ge­dan­ken schweif­ten im­mer wie­der ab. Ich kann­te die Ge­schich­te recht ge­nau. Für uns war es jetzt nur noch wich­tig, wel­che Schlüs­se der große His­to­ri­ker aus sei­nen Aus­füh­run­gen zog.

Ge­ne­ral Re­ling lausch­te un­be­wegt. Der Saal war voll­be­setzt. Auch Rus­sen und Asia­ten hat­ten sich ein­ge­fun­den. Es wa­ren Män­ner von den ver­schie­de­nen Ge­heim­diens­ten und mi­li­tä­ri­schen Ab­wehr­or­ga­ni­sa­tio­nen.

Cal­lac führ­te ab­schlie­ßend an:

»Die Tat­sa­che, daß sich die Un­be­kann­ten im Jah­re 1811 auf­hal­ten, scheint zu be­wei­sen, wie sehr un­se­re Theo­ri­en zu­tref­fen. Wenn der Ruß­land­feld­zug ver­hin­dert wird, bleibt Bo­na­par­te stark. Eu­ro­pa er­holt sich. Zur wei­te­ren Stär­kung des Kor­sen ist es er­for­der­lich, die eng­ma­schi­ge See­blo­cka­de der eng­li­schen Flot­te auf­zu­he­ben. Die da­mals noch jun­gen Ver­ei­nig­ten Staa­ten wa­ren durch­aus be­reit, den eu­ro­päi­schen Völ­kern un­ter die Ar­me zu grei­fen. Gü­ter al­ler Art könn­ten vor­dring­lich nach Frank­reich kom­men. Roh­stof­fe aus Über­see ge­hö­ren da­zu. Na­po­le­on wird un­schlag­bar sein, wenn Eng­lands Macht zur See ge­bro­chen ist; wenn fran­zö­si­sche Se­gel­schif­fe un­be­sorgt fah­ren kön­nen. Un­ter sol­chen Um­stän­den wird Zar Alex­an­der Bo­na­par­tes For­de­run­gen an­neh­men. Selbst mit der eng­li­schen Flot­te im Rücken, hing Alex­an­ders Ent­schei­dung über Krieg oder Nach­ge­ben nur an ei­nem Haar. Mir lie­gen ei­ni­ge selt­sa­me Be­rich­te vor. Dem­nach wur­de Bo­na­par­te von un­be­kann­ten Leu­ten auf­ge­sucht. Er emp­fing sie so­gar. Man weiß nicht, um wen es sich han­del­te. Wir dürf­ten es wis­sen. Das zeigt, daß Ih­re Maß­nah­men noch nicht zu spät kom­men. Über die Re­la­ti­vi­tät der ver­schie­de­nen Zei­tebe­nen kann ich mich nicht aus­las­sen. Das ist Gold­steins Fach­ge­biet. Ich kann Ih­nen nur sa­gen, wie Bo­na­par­te sei­nen Un­ter­gang ver­mei­den kann.«

Mei­ne Ner­vo­si­tät nahm zu. Den­noch muß­ten wir al­les so ge­nau wie mög­lich wis­sen. Es war le­bens­wich­tig.

»Hat Bo­na­par­te durch frem­de Hil­fe Eng­land zer­schla­gen, liegt ihm Eu­ro­pa end­gül­tig zu Fü­ßen. Dann kann es ge­sche­hen, daß er von der Bild­flä­che ver­schwin­det und ein Mäch­ti­ger sei­nen Platz ein­nimmt. Neh­men wir an, dies wä­re der so­ge­nann­te ›Große‹. Sei­ne Mög­lich­kei­ten kön­nen durch Rei­sen ins Jahr 2005 im­mer wie­der auf­ge­frischt wer­den. Der Lauf der Ge­schich­te ver­än­dert sich. Es wird in Eu­ro­pa nur einen Staat ge­ben, näm­lich Eu­ro­pa! Nur noch einen Herr­scher, näm­lich den Un­be­kann­ten. Fürs­ten, Kö­ni­ge und Kai­ser wer­den aus­ge­schal­tet. Die ab­so­lu­te Dik­ta­tur er­rich­tet. Spe­zi­al­trup­pen mit mo­der­nen Waf­fen wer­den die Ver­ei­nig­ten Staa­ten spie­lend leicht un­ter­wer­fen, Wa­shing­tons Ver­fas­sung für un­gül­tig er­klä­ren und die dik­ta­to­ri­sche Ge­walt er­grei­fen. Nach drei Ge­ne­ra­tio­nen dürf­ten die Völ­ker ver­sklavt sein. Die Welt­krie­ge fin­den nicht statt; die rus­si­sche Re­vo­lu­ti­on ist über­flüs­sig. Es gibt einen Welt­staat, nur ei­ne Wäh­rung und ei­ne po­li­ti­sche Po­li­zei von gi­gan­ti­schen Aus­ma­ßen. Un­se­re heu­ti­ge Welt er­lischt. Sie ver­schiebt sich auf ei­ne an­de­re Zei­tebe­ne, da sie nach der neu­en Ge­schich­te so nicht exis­tie­ren kann.«

Pro­fes­sor Cal­lac be­ob­ach­te­te die Wir­kung sei­ner Wor­te auf die An­we­sen­den.

Ge­ne­ral Re­ling zeig­te ein ei­si­ges Lä­cheln. Die Rus­sen wa­ren zu­tiefst be­trof­fen. Von den Ge­sich­tern der Asia­ten wa­ren kei­ne Emo­tio­nen ab­zu­le­sen. Un­se­re afri­ka­ni­schen Kol­le­gen wirk­ten be­drückt. Wahr­schein­lich er­in­ner­ten sie sich an die Zei­ten der Ko­lo­ni­al­herr­schaft und des Ras­sen­has­ses.

»Da­mit wä­re ich am En­de mei­ner Aus­füh­run­gen«, er­klär­te der Fran­zo­se. »Es war Bo­na­par­tes Ziel, ein ver­ein­tes Eu­ro­pa un­ter sei­ner Herr­schaft auf­zu­bau­en. Die asia­ti­schen und afri­ka­ni­schen Völ­ker­schaf­ten sind im Jahr 1811 noch völ­lig un­be­deu­tend und durch­weg pri­mi­tiv ge­we­sen. Man wird die­sen Völ­kern kei­ne Auf­stiegs­mög­lich­kei­ten ge­ben. Man wird sie künst­lich in der Pri­mi­ti­vi­tät ver­har­ren las­sen und ih­re Län­der als Roh­stoff­ge­bie­te be­trach­ten. Sie kön­nen da­mit nie­mals ge­fähr­lich wer­den. Der Su­per­staat wird ums Jahr 1812 ge­bo­ren wer­den, näm­lich dann, wenn Na­po­le­on auf den Ruß­land­feld­zug ver­zich­tet, sei­ne Kräf­te sta­bi­li­siert und sein Au­gen­merk auf die Nie­der­schla­gung der in­ner­po­li­ti­schen Wi­der­stands­grup­pen rich­tet. Das gilt be­son­ders für das Kö­nig­reich Preu­ßen. Wenn er von mäch­ti­gen Leu­ten um­ge­stimmt wird, wenn man ihm mit mo­d­erns­ten Atom­waf­fen un­ter die Ar­me greift, gibt es kein Hal­ten mehr. Ein han­dels­üb­li­cher Hub­schrau­ber kann die ge­sam­te eng­li­sche Blo­cka­de­flot­te ver­nich­ten und den Weg zur Lan­dung der fran­zö­si­schen Ar­meen eb­nen.

Mei­ne Her­ren, ich war­ne Sie noch­mals mit al­ler Dring­lich­keit. Wir ha­ben be­reits Be­wei­se ge­fun­den, daß 1811 rät­sel­haf­te Din­ge ge­sche­hen sind. Grei­fen Sie ein, oder es dürf­te zu spät sein.«

Cal­lac ver­ließ das klei­ne Po­di­um.

Ein klei­ner, un­schein­bar wir­ken­der Mann er­hob sich. Es war der rus­si­sche Ab­wehr­chef, Gre­gor Gor­ss­kij. Sei­ne gold­ge­faß­te Bril­le fun­kel­te im schwa­chen Licht der De­cken­röh­ren.

»Mei­ne Her­ren, uns er­scheint das al­les sehr un­wahr­schein­lich. Wir wol­len den­noch an­neh­men, daß es ei­ni­gen Ver­bre­chern mit Hil­fe ei­nes mar­sia­ni­schen Ge­rä­tes ge­lun­gen ist, in die Ver­gan­gen­heit zu­rück­zu­keh­ren. Nun fra­ge ich die an­we­sen­den Phy­si­ker, wie sich die­ser ver­mut­lich zu­tref­fen­de Um­stand mit un­se­rem heu­ti­gen Welt­bild ver­trägt. Wenn der Plan der Un­be­kann­ten ge­lun­gen wä­re, könn­ten wir doch nicht exis­tie­ren. Dann sä­ßen wir nicht hier! Es gä­be kei­ne GWA, kein Großasi­en. Ich ver­ste­he nicht mehr ganz.«

Ei­ner un­se­rer Phy­si­ker er­klär­te:

»Sir, die ener­ge­ti­sche Da­seins­form der so­ge­nann­ten Zeit ist ei­ne Rea­li­tät. Wir lie­gen le­dig­lich auf ei­nem sehr schma­len Zei­t­ener­gie-Band, das al­le Au­gen­bli­cke in­sta­bil wer­den kann. Wir sind da, zu­ge­ge­ben! Es be­weist, daß die Vor­gän­ge auf der Ban­de­be­ne des Jah­res 1811 noch nicht ab­ge­schlos­sen sind. Men­schen un­se­res Jahr­zehnts sind zu­rück­ge­kehrt. Na­tür­lich exis­tie­ren wir so lan­ge wei­ter, wie es ih­nen noch nicht ge­lun­gen ist, ei­ne we­sent­li­che Än­de­rung je­nes Zu­stan­des zu er­wir­ken, den wir ›Ge­schich­te‹ nen­nen. Es ist aber kei­ne Ge­schich­te! Gold­steins Theo­rie be­weist es! Die so­ge­nann­te Ge­schich­te ist auf ei­ner an­de­ren, eng be­nach­bar­ten Zei­tebe­ne jetzt ge­ra­de Wirk­lich­keit. Sie muß es sein, da Zeit ei­ne vier­di­men­sio­na­le Ener­gie­form ist. Ener­gie kann aber nicht spur­los ver­schwin­den. Sie bleibt er­hal­ten und schließt sich im ewi­gen Kreis­lauf zu­sam­men. Selbst­ver­ständ­lich kann es nur dann zu ei­ner Ka­ta­stro­phe kom­men, wenn ver­bre­che­ri­sche Ele­men­te einen ge­walt­sa­men Ein­griff vor­neh­men. Sonst wä­re das völ­lig un­mög­lich. Nur die Über­win­dung der Zeit­mau­er er­mög­licht ei­ne to­ta­le Auf­he­bung un­se­rer heu­ti­gen Welt­ord­nung.«

Der Rus­se setz­te sich wie­der. Sei­ne Lip­pen preß­ten sich zu­sam­men, die ho­he Stirn zeig­te tie­fe Fal­ten.

»Eben be­ginnt er zu ver­ste­hen«, flüs­ter­te mir Han­ni­bal zu. »Den Leu­ten geht lang­sam ein Licht auf.«

Gor­ss­kij er­griff er­neut das Wort.

»Ich bin von mei­ner Re­gie­rung be­voll­mäch­tigt wor­den, Ih­nen je­de nur er­denk­li­che Hil­fe zu ge­wäh­ren. Was kön­nen wir tun? Was brau­chen Sie?«

Der Chef sah lang­sam auf. Die Wor­te ka­men schwer.

»Be­sor­gen Sie mir er­schöp­fen­des Ma­te­ri­al über das Ruß­land von 1811 und 1812. Las­sen Sie schleu­nigst und von Ih­ren bes­ten Leu­ten Do­ku­men­te aus die­ser Zeit her­stel­len, ver­se­hen mit dem kai­ser­li­chen Wap­pen, Sie­gel, Un­ter­schrif­ten und was der Din­ge mehr sind. Fer­ti­gen Sie Emp­feh­lungs­schrei­ben für zwei ame­ri­ka­ni­sche Of­fi­zie­re an, die im Auf­trag des ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten nach Eu­ro­pa ge­kom­men sind, um die dor­ti­gen Ver­hält­nis­se zu stu­die­ren. Mei­ne Spe­zia­lis­ten ge­ben Ih­nen noch ge­nau de­tail­lier­te An­wei­sun­gen. Der eu­ro­päi­sche Ge­heim­dienst hat be­reits ge­schal­tet. Sie ha­ben lan­ge auf sich war­ten las­sen, Gor­ss­kij!«

»Wir wa­ren wie be­nom­men«, sag­te der Rus­se ent­schul­di­gend. »Soll denn wirk­lich al­les zer­stört wer­den, was wir in vie­len Jahr­zehn­ten un­ter größ­ten Mü­hen und Ge­fah­ren er­schaf­fen ha­ben? Aus­ge­rech­net jetzt, da die Mensch­heit end­gül­tig ver­eint ist? Ich wer­de tun, was in un­se­rer Macht steht.«

Da­mit war die stun­den­lan­ge Sit­zung be­en­det. Ei­ne hal­be Stun­de spä­ter er­hiel­ten Han­ni­bal und ich die Ein­satz­be­feh­le. Die Spe­zi­al­aus­rüs­tung wur­de von den Tech­ni­kern vor­ge­führt. Die gra­phi­sche Ab­tei­lung leg­te Do­ku­men­te, Päs­se, Emp­feh­lungs­schrei­ben und Kar­ten vor. Sie wa­ren haar­ge­nau nach ur­al­ten Un­ter­la­gen her­ge­stellt wor­den. Die ge­nia­len Fäl­schun­gen konn­ten nur von fä­hi­gen Leu­ten in ei­nem groß­zü­gig ein­ge­rich­te­ten La­bor er­kannt wer­den. Für Men­schen aus dem Jah­re 1811 muß­te das voll­kom­men un­mög­lich sein.

Es war nicht schwer, den Leu­ten die­ser Zeit et­was vor­zu­gau­keln. Was hat­te man da­mals schon von der mo­der­nen Tech­nik ge­wußt!

Zwi­schen­durch er­hiel­ten wir ei­ne Tief­schla­f­in­jek­ti­on für sechs Stun­den. Nach ei­ner kur­z­en Er­ho­lungs­pau­se gin­gen die kör­per­li­chen und geis­ti­gen Stra­pa­zen wei­ter.

Die Schnei­der und Mas­ken­bild­ner er­schie­nen wie­der. Wir er­hiel­ten na­tur­ge­treue Klei­dungs­stücke aus der Epo­che, das da­zu pas­sen­de Ge­päck, An­wei­sun­gen auf die Ban­ken von Eng­land und Hol­land. Au­ßer­dem hän­dig­te man uns schwe­re Beu­tel mit Gold- und Sil­ber­mün­zen aus. So­gar die kost­ba­ren Do­sen zur Auf­be­wah­rung von Schnupf­ta­bak wur­den nicht ver­ges­sen.

Un­se­re Ge­sich­ter konn­ten un­ver­än­dert blei­ben. Die Fri­su­ren soll­ten je­doch kurz vor dem Ein­satz noch ein­mal um­ge­stal­tet wer­den.

Der An­satz­punkt lag auf dem Mond. Wir muß­ten wie­der nach Zon­ta zu­rück. Das dau­er­te wei­te­re sechs­und­drei­ßig Stun­den, die aus­schließ­lich mit Vor­be­rei­tun­gen, Vor­trä­gen und Kurz­lehr­gän­gen an­ge­füllt wa­ren.

Die Waf­fen­fra­ge war von un­se­ren ge­nia­len Mi­kro-Tech­ni­kern eben­falls ge­löst wor­den. Un­se­re dop­pel­läu­fi­gen Stein­schloß­pis­to­len wa­ren der­art prä­pa­riert wor­den, daß ich beim Ge­dan­ken an ih­re Wir­kung ein Übel­keits­ge­fühl kaum un­ter­drücken konn­te.

Das ge­sam­te um­fang­rei­che Ge­päck wur­de mit ei­nem Son­der­schiff der Space-For­ce zum Mond ge­flo­gen. Wir soll­ten ei­ni­ge Stun­den spä­ter mit ei­nem klei­nen Ku­rier­kreu­zer fol­gen.

Pro­fes­sor Da­vid Gold­stein war be­reits in­for­miert, des­glei­chen der neue Si­cher­heits­dienst-Kom­man­dant auf Lu­na. Es han­del­te sich um einen GWA-Kol­le­gen.

Drei­ßig Mi­nu­ten vor dem Ab­flug zum Raum­ha­fen der Space-For­ce auf Cap Ken­ne­dy stan­den wir zum letz­ten­mal vor dem Al­ten. Wir tru­gen Zi­vil­klei­dung. In un­se­ren Brief­ta­schen be­fan­den sich aus­ge­zeich­ne­te Pa­pie­re.

»Viel Glück«, sag­te der Al­te er­schöpft. Er war in den letz­ten Ta­gen stark ge­al­tert.

»Viel Glück! Ih­re Aus­rüs­tung ist so her­vor­ra­gend, daß es kei­ne Pan­nen ge­ben kann. Wir ha­ben nichts ver­ges­sen, da uns In­for­ma­tio­nen über das Jahr 1811 in zahl­rei­chen Mu­se­en und Ar­chi­ven zur Ver­fü­gung ste­hen. Sie wer­den mit Leu­ten spre­chen, die längst ge­stor­ben wa­ren. Es wird nicht ein­fach sein. Dies ist wohl der ers­te Fall in der GWA-Ge­schich­te, daß wir auf un­se­re be­wahr­te Ar­beits­me­tho­de der ›Ein­si­cke­rung‹ ver­zich­ten müs­sen. Es gibt kei­ne Mög­lich­keit, Sie in die Rei­hen der Geg­ner ein­zu­schmug­geln. Sie müs­sen aus ei­ge­nem Er­mes­sen han­deln. Die Fä­hig­kei­ten des Geg­ners sind un­be­kannt. Rech­nen Sie aber mit dem Schlimms­ten. Sie ha­ben ei­ne Spe­zi­al­aus­rüs­tung, die der des Geg­ners ga­ran­tiert über­le­gen ist. Für Ih­re Rei­se in die Ver­gan­gen­heit wer­den Sie – wie be­spro­chen – den zwei­ten Zeit­um­for­mer be­nut­zen. Sie steh­len ihn eben­falls. Ich wer­de da­für sor­gen, daß die­ses Er­eig­nis in Pres­se, Funk und Te­le­vi­si­on breit­ge­tre­ten wird. Es wird dem Geg­ner be­kannt wer­den, daß es nun noch ei­ne zwei­te in­tak­te Ma­schi­ne gibt. Das ist die ein­zi­ge Hil­fe, die ich Ih­nen ge­ben kann. Für Sie wird es na­tür­lich sehr leicht sein, einen mo­der­nen Men­schen zu er­ken­nen. Schau­en Sie sich um, und han­deln Sie nach Ih­ren Be­feh­len.«

Wir grüß­ten stumm. Es gab nicht mehr viel zu sa­gen. Es war al­les klar, nur durf­te ich nicht zu sehr dar­über nach­den­ken.

Wir hat­ten ge­gen Schat­ten zu kämp­fen; ge­gen et­was, das mit der Kraft des Geis­tes kaum zu be­grei­fen war.

Wir flo­gen zum Raum­ha­fen der Space-For­ce, das Ku­rier­boot war­te­te schon. Mi­nu­ten spä­ter jag­ten wir auf dem Plas­ma­strahl des Ato-Trieb­werks in den wol­ken­lo­sen Him­mel.

Der Flug durf­te nur fünf Stun­den dau­ern. Das be­deu­te­te wie­der ho­he Be­schleu­ni­gun­gen und här­tes­te Be­las­tungs­pro­ben. Wir ras­ten durch den »Ent­kom­mens-Trich­ter« über dem Nord­pol, durch­s­tie­ßen un­ge­fähr­det die Strah­lungs­zo­nen und schos­sen dann in den lee­ren Raum hin­aus.

Wie moch­ten wir zur Er­de zu­rück­kom­men? Das war die große Fra­ge!