sechs Lasst uns auf die Reise gehn
Jede einzelne Zelle meines Körpers schrie nach Erholung.
Ich hatte die Ausschweifungen des Müsli-Abenteuers unterschätzt. Das LSD und der Schlafentzug hatten mich geschafft. Es war wunderbar still, als ich das Haus betrat. Huguette und Auguste schliefen noch.
Mit letzten Kräften schleppte ich mich in mein Dachzimmer, ließ mich aufs Bett fallen und war sofort weg. Ich träumte, ich sei ein berühmter Schriftsteller und hielte einen Vortrag an einer Uni oder so, als die Tür des Saals aus den Angeln flog und Anführer quer durch den Raum stolzierte, sich in seiner Uniform vor mir aufbaute, den Finger auf mich richtete und rief: »Das ist er, nehmt ihn fest, den Acidhead!«
Erschrocken fuhr ich hoch und fühlte mich, als sei ich von einer Dampfwalze überfahren worden. Ich war noch nie mit einer Dampfwalze in Berührung gekommen, trotzdem glaubte ich, dass sich das so anfühlen müsste. Der alte Wecker auf der umgedrehten Obstkiste, die als Nachttisch herhalten musste, zeigte auf kurz vor elf Uhr. Die Sonne schien durchs Dachfenster. Welchen Tag hatten wir?
Meine Glieder schmerzten und waren bleischwer wie bei einem beginnenden Fieber, in meinem Kopf rauschte ein Schlagzeugsolo Mark’schen Ausmaßes. Irgendwo hatte ich gelesen, der Körper brauche zweiundsiebzig Stunden, um das LSD abzubauen. Houston an Körper, bitte fang damit an!
Schließlich raffte ich mich auf, zog frische Klamotten an und schlurfte eine Treppe tiefer in die Küche.
Huguette nippte im Stehen an einer Tasse dampfenden grünen Tees, den sie gern trank. »Sieht man dich auch mal wieder? Der Herr Rumtreiber bequemt sich endlich aus dem Bett.«
Vor wenigen Wochen hatten Frauen gegen den Paragraphen 218 demonstriert, öffentlich ihre BHs verbrannt und sich im Stern dazu bekannt, abgetrieben zu haben. Ich erinnerte mich gut, wie Huguette das Titelblatt mit Reißzwecken neben dem Telefon an die Wand pappte.
Wenn es aber um ihre Karriere ging, blieb meine Mutter standhaft konservativ. Sie trug das dunkelblaue Kostüm. Das war ihr Bürooutfit. Darin sah sie aus wie Doris Day.
Hatte nicht die Partei, in der sie sich engagierte, die Zeichen der Zeit erkannt?
Wegen Willy Brandt war sie vor drei Jahren eingetreten. Hauptberuflich arbeitete sie als Chefsekretärin bei der Chemiefabrik, dem größten Arbeitgeber der Region. Sie übernahm auch Dolmetscheraufgaben, schließlich sprach und schrieb sie perfekt Französisch.
Huguette war kurz nach dem Krieg aus Toulouse gekommen. Damals war sie elf oder zwölf. Sie kam im Schlepptau von Auguste, ihrer deutschen Mutter. Auguste war in unserem Kaff geboren und als junge Frau ihrer großen Liebe nach Südfrankreich gefolgt. Auf den alten Fotos war ein gutaussehender Mann von damals fünfundzwanzig Jahren zu erkennen. Ihn hatte die Abenteuerlust nach Deutschland verschlagen. Nach ihrer Rückkehr eröffnete Auguste einen kleinen Frisiersalon. Damit hatte sie Huguette und sich in den Anfangsjahren über Wasser gehalten.
Huguette sprach kaum über ihren französischen Vater. Er habe mit den deutschen Besatzern zusammengearbeitet und sei im Gefängnis von Narbonne zu Tode gekommen. Über die genaueren Umstände wusste sie nichts zu berichten, auch weil Auguste ihren Fragen danach auswich. Tatsache war, das lernte ich im Geschichtsunterricht, dass die deutsche Frau eines französischen Kollaborateurs in Frankreich mehr als nur einen schlechten Stand hatte. Auguste verlor nie ein Wort darüber, aber ich konnte mir vorstellen, dass sie Beschimpfungen und Repressalien ausgesetzt gewesen sein musste. Als ich sie einmal danach fragte, sagte sie: »Ich bin gegangen, bevor Schlimmeres passierte.«
In der Fabrik hatte Huguette meinen Vater getroffen, der dort als Buchhalter arbeitete. Sie war einundzwanzig, er sechs Jahre älter. Drei Monate vor meiner Geburt wurde standesamtlich geheiratet. War ich ein Kind der Liebe oder der Heiratsgrund? Ich traute mich nie zu fragen.
Meine Eltern trennten sich, als ich sechs war. Seit dieser Zeit habe ich meinen Vater, Werner war sein Name, nicht mehr zu Gesicht bekommen, er hatte wieder geheiratet und war sehr bald in eine andere Stadt gezogen.
Die einzige lebhafte Erinnerung, die ich an meinen Vater hatte, war, dass er sein Kleingeld nicht in einer Geldbörse aufbewahrte, sondern die Münzen lose in der Hosentasche mit sich herumtrug. Wenn er nach Hause kam, klimperte es in seinen Taschen. Wenn ich erriet, wie viel er in der Hose hatte, oder annähernd dran war, durfte ich die Münzen behalten und steckte sie in eine Spardose.
Die Dose besaß ich noch immer. Sie stand auf dem Sims meines Dachfensters. Daraus hatte ich die Kohle genommen, um Marks Schlagzeug bezahlen zu können. Anfangs kam zum Geburtstag und Weihnachten ein Umschlag mit Geld für mich. Das hatte vor drei Jahren aufgehört. »Wenigstens zahlt er seine Alimente noch«, sagte Huguette.
In der am weitesten zurückliegenden Erinnerung an meine Kindheit kurve ich mit dem Dreirad durch Augustes Frisierladen. Dort hatte ich Träumer komischerweise nie etwas zu Bruch gefahren. Inzwischen hatte Auguste das Geschäft längst verkauft. Einmal in der Woche ging sie noch hin und bediente ein paar alte Stammkundinnen. Zubrot für ihre Rente.
Auguste zog mich groß, denn von Huguette sah ich von Kindesbeinen an nur den Rockzipfel. Kaum kam sie von der Arbeit nach Hause, verschwand sie auch schon wieder. Entweder mit Bürokram im Wohnzimmer, wo sie oft bis zehn Uhr abends oder länger über irgendwelchen Akten saß, oder sie ging zu ihren Fortbildungskursen an der Volkshochschule. Vor ein paar Monaten war sie zur rechten Hand des Geschäftsführers aufgestiegen. Die Wochenenden gehörten der Partei.
Ich rieb mir die Schläfen, das Trommeln in meinem Kopf war immer noch da. »Wie lange habe ich geschlafen?«
Karrieremama klang genervt. »So lange, dass heute Sonntag ist.«
»Wozu diese Aufmachung, musst du etwa ins Büro?«, fragte ich. Kein Hallo, kein Guten Morgen, dafür kleine Sticheleien. Das gehörte zwischen uns einfach dazu.
»Wenn du dich nicht immer mit deinen Möchtegern-Revoluzzern in diesem heruntergekommenen Rockschuppen rumtreiben würdest, dann wüsstest du, dass ich heute eine wichtige Sitzung habe.«
Ich hatte mir eine Tasse aus dem Regal gefischt, sie mit dem Rest des Tees aus der Porzellankanne gefüllt und mich auf die Eckbank am Fenster gesetzt. Ich legte die Füße hoch und schaute sie herausfordernd an.
»Bitte keine Gardinenpredigt«, antwortete ich.
»Der Kreisverband bereitet den Parteitag in Mainz Ende des Monats vor«, sagte sie teilnahmslos wie eine Nachrichtensprecherin.
Bei der Landtagswahl im März war die SPD in Rheinland-Pfalz auf 40,5 Prozent gekommen, die CDU auf 50,0 Prozent, die FDP auf 5,9. Die NPD erhielt 2,9 Prozent der Stimmen. Helmut Kohl nahm für seine zweite Amtszeit als Ministerpräsident die Freidemokraten mit in die Regierung. Die Genossen indes waren mit dem Lecken ihrer Wunden beschäftigt.
»Na prima, und in vier Jahren kandidierst du für den Landtag. Dann bist du ja am Ziel deiner Wünsche«, sagte ich.
Huguette sah mich ernst an. »Immerhin habe ich Ziele.«
»Hör auf, auf mir herumzuhacken, nur weil ich nicht dem Bild des Sohnes entspreche, so wie du ihn immer wolltest, strebsam und folgsam«, entgegnete ich. »Kümmer du dich lieber mal um deine Zukunft. Wenn der Sommer vorbei ist, erwarte ich von dir, dass du mir sagst, wie es mit dir weitergeht. Länger schaue ich mir dein Gammlerdasein auf meine Kosten nicht an.«
Das war die Höhe. Meine sozialliberale Mama packte die Keule aus.
»Du hast doch nur Angst, dein Freaksohn könnte sich als Karrierebremse erweisen«, konterte ich.
»Du besitzt nicht den kleinsten Funken Ehrgeiz, etwas aus dir zu machen. Selbstverwirklichung, das ist das Einzige, was dich interessiert. Und das bisschen Schreiben? Nur weil du einen Artikel in diesem Schülerblatt hattest, macht das aus dir noch keinen Augstein.«
Sie schnappte sich den Autoschlüssel vom Haken neben dem Wandtelefon und war draußen, bevor ich antworten konnte.
Huguettes Erfolgshunger widerte mich an.
»Habt ihr euch wieder gestritten?«
Auguste stand in der Tür. Sie musste gerade erst gekommen sein, denn sie hatte noch ihren Mantel an. Das Hochamt am Sonntag verpasste sie nie.
»Du musst Hunger haben, das sehe ich dir doch an. Ich mache dir Spiegeleier, die magst du doch so gern«, sagte sie.
*
Als ich am Montagvormittag die Redaktion betrat, bekam ich vor Aufregung weiche Knie. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.
Schirmer griff wortlos nach dem Manuskript – vier vollbeschriebene Seiten, die ich in die Adler-Schreibmaschine gehämmert hatte.
Der Herr Redaktionsleiter saß an seinem Redaktionsleiterschreibtisch und lehnte sich weit in seinem Redaktionsleiterstuhl zurück. Ich fürchtete schon, er würde bei der kleinsten Bewegung nach hinten wegkippen.
Er warf einen flüchtigen Blick auf meinen Text. Mit der Hand deutete er mir an, auf dem freien Stuhl Platz zu nehmen.
Er hatte kein eigenes Büro. Sein Tisch befand sich am Kopf eines schlauchartigen Raumes. Von dort aus konnte er alles überschauen, insgesamt sechs Arbeitsplätze.
Ich zog mir den Stuhl heran und setzte mich verkehrt herum, die Rückenlehne direkt vor mir. Ich brauchte etwas zum Festhalten.
Schirmer trug ein offenes weißes Hemd, das Jackett hing am Schrank neben einem Fenster mit heruntergelassenen Jalousien.
Ein Reporterleben kann ganz schön an die Substanz gehen. Unmöglich, sein Alter zu schätzen, vielleicht Mitte fünfzig, eher jünger. Sein blondes Haar war fast schon weiß. Sein Bauch hatte die Form eines Fasses und wölbte sich feist über den Hosengürtel. Die Stoppeln seines Bartes bildeten einen hellen Flaum auf den Wangenknochen. In seinem Mund hing eine halbgerauchte Zigarette. Die Asche drohte jeden Moment abzufallen. Er bemerkte es rechtzeitig und warf die Kippe in den übervollen Aschenbecher. Mit einem Mal qualmte dieser mächtig los. Schirmer bückte sich, zauberte eine Flasche hervor und goss einen Schwall Mineralwasser über den Brandherd, der zischend erlosch. Er schwitzte und schnaufte, als hätte er einen Hundertmeterlauf hinter sich. Schirmer war nicht nur das Abziehbild eines Lokalreporters, wahrscheinlich war er auch mit allen Wassern gewaschen. Er legte das Manuskript vor sich auf die Schreibtischablage und beugte sich zu mir vor.
Ich hatte mich mächtig ins Zeug gelegt und war mir sicher, eine saubere Arbeit abgeliefert zu haben. Erst am späten Sonntagabend hatte ich, nachdem ich den Einstieg immer wieder verändert hatte, eine Version, die mich zufriedenstellte. Das Musikfieber in sechzig Zeilen zu je dreißig Anschlägen.
Was da steht, liest sich ganz flüssig, junger Mann. Okay, ich nehme den Artikel«, sagte Schirmer.
Ich machte auf cool. »Das war abgesprochen, dass Sie den nehmen, ich produziere doch nicht für den Papierkorb. Ich habe hart daran gearbeitet, jede Menge Recherchen angestellt.«
Er begann sich in seinem Redaktionsleiterstuhl hin und her zu drehen wie ein Kind auf der Schaukel. »Du riskierst eine große Lippe, junger Mann. So viel recherchieren musstest du auch nicht. Meines Wissens steckst du tief drin in dieser Musikfiebergeschichte. Das ist wohl derzeit das große Ding in dieser Stadt? Selbst mein Neffe ist davon infiziert, von diesem Virus.«
»Ihr Neffe, Virus, von was reden Sie, und wieso duzen Sie mich?«
»Moses, so heißt mein Neffe. Und wenn ich richtig informiert bin, spielt er Gitarre in einer Band mit so einem komischen Namen, nun, hilf mir mal weiter, wie heißt die noch, diese Band, die er mit diesem Sonny und diesem Porno-Dingsbums aufziehen will?«
»Waisel-Villwock, so heißt die Band.«
»Was ist denn das für ein Name? Zu meiner Zeit nannten sich Bands The Shadows oder Bill Haley & His Comets. Beatles und Rolling Stones sind auch schöne Namen. Aber Waisel-Villwock? Egal, neue Zeiten, neue Musik, dann muss man sich wohl auch andere Namen geben. Soll Moses seinen Spaß haben. Was ich aber nicht will, ist, dass sein Name im Zusammenhang mit irgendwelchen krummen Sachen in der Zeitung steht, wenn du verstehst, was ich meine.«
Er wusste, was im Müsli passiert war. Dachte ich es mir doch, es hatte also eine Meldung im Polizeibericht gegeben. Und die hatte er nicht gebracht. Über die Müsli-Aktion hatte nichts in der Zeitung gestanden.
Er war mit seinem Vortrag noch nicht zu Ende. »Ich habe euch allen einen Gefallen getan. Ich war auch mal jung und hatte meinen Spaß. Aber in erster Linie habe ich das für Moses gemacht. Wenn seine Eltern wüssten, dass ihr geschätzter Sohnemann bei einer Sex- und Drogenorgie erwischt wurde und die Nacht auf dem Revier verbracht hat, wäre Schluss mit der Musikerkarriere. Das wollen wir doch nicht, oder?«
Schirmer lachte. Es war eher ein Grunzen, was da aus seiner Kehle kam. Das brachte ziemlich viel Bewegung in seinen Bauch, der nahe daran war, ganz aus der Hose zu springen.
»Wie Sie meinen.« Zu weiteren Ausführungen hatte ich keine Lust.
Er erhob sich, ging um den Schreibtisch herum und stellte sich vor mich hin. Er zögerte einen Moment, dann setzte er sich auf die Kante des Tisches, der mit einem Knirschen darauf reagierte. Ich musste zu ihm aufschauen. Seine Körperausdünstungen hatten feuchte Flecken in den Achseln seines weißen Hemdes hinterlassen.
»Ich glaube, du hast Talent«, sagte er, »und ich will dir eine Chance geben. Schreibe mir noch mehr Artikel, wir können eine richtige Serie daraus machen, fünf bis sechs Artikel, und nebenbei hältst du Augen und Ohren offen, was Moses so macht. Ich will nämlich nicht, dass aus ihm ein drogensüchtiger Hippie wird.«
»Wie bitte, ich soll den Spitzel für Sie machen?«, entfuhr es mir.
»Ganz ruhig bleiben. War nur ein Scherz, Junge. Ich ernenne dich hiermit zum Chronisten des Musikfiebers. Was Moses treibt, kriege ich auch so raus. Immerhin können Sonny und er froh sein, dass ihnen das Müsli nicht abgenommen wurde.«
»Was haben Sie mit dem Müsli zu schaffen?«
»Ich habe den Mietvertrag unterzeichnet. Wer gibt zwei jungen Burschen, die noch über kein eigenes Einkommen verfügen, eine Wohnung? Ich habe dem Vermieter gesagt, mein Neffe brauche einen Ort, wo er lernen kann, als Vorbereitung fürs Studium.«
»Das ist ja die ganz große Onkelliebe!«
Er grinste. »In dem Alter, in dem ihr jetzt seid, hätte ich auch gern die Möglichkeit gehabt, Partys zu feiern mit vielen Mädels und so, ohne dass die Alten einen stören.«
Schirmer erhob sich vom Tisch, was dieser mit einem freudigen Seufzen quittierte. Er ging zu seinem Jackett, um ein Taschentuch zu holen. Damit wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Dann öffnete er den Schrank neben dem Fenster und drückte mir einen größeren Stapel Manuskriptpapier in die Hand – von der Sorte, wie richtige Redakteure es benutzten.
Nun, was ist, bist du dabei, schreibst du die Serie?«, fragte er.
»Ich könnte mit Don anfangen, dem Organisator des Festivals.«
»Mach das. Bis zum Festival werden wir jeden Samstag eine neue Folge abdrucken. So halten wir das Thema am Kochen. Und denk dran, wo der Rock ’n’ Roll ist, da sind auch viele hübsche Mädels!«
Er lachte wieder und stopfte sich das Hemd in die Hose, das sein Bauch inzwischen gänzlich herausgequetscht hatte.
»Das gleiche Honorar?«, fragte ich.
»Sicher.«
»Wie komme ich überhaupt an das Geld?«, fiel mir plötzlich ein.
»Hinterlass deine Adresse, wir schicken dir einen Scheck.«
*
Ich trat auf die Straße und verspürte sofort einen höllischen Schmerz.
Irgendetwas war mir über den Fuß gefahren. Etwas sehr Hartes. Es waren die Räder eines Einkaufswagens aus dem Supermarkt.
»Mist, was soll das?«, fluchte ich und verzog das Gesicht. Ich bückte mich und tastete durch den Turnschuh meine Zehen ab. Anscheinend war nichts gebrochen, aber es pochte heftig. Erst dann blickte ich auf, um den Übeltäter in Augenschein zu nehmen.
Don. Er materialisierte sich immer, wenn keiner damit rechnete.
»Alter, wenn ich dich mal brauche, bist du nicht da«, sagte er.
Sein T-Shirt hatte Schmutzflecken, als hätte er Schwerstarbeit geleistet. Im Einkaufswagen, den er vor sich herschob, entdeckte ich zwei große Eimer, Quasten, eine Schere, Tesafilm und verschiedene Rollen Papier.
»Wovon redest du?«
»Ich hab bei dir angerufen. Du weißt doch, dass ich Unterstützung gebrauchen kann. Aber deine Großmutter sagte, du wärst nicht da. Also bin ich allein los.« »Deshalb musst du mir nicht gleich den Fuß abfahren! Was hast du mit dem ganzen Klumpatsch vor?«
»Plakate kleben! Für heute bin ich schon durch«, antwortete er.
Das Pochen im großen Zeh ließ nach. Stolz reckte ich meine Brust. »Ich habe gerade meinen Artikel fürs Lokalblatt abgegeben. Das ist doch die Unterstützung, die du wolltest? Außerdem möchten die, dass ich eine Serie mache, übers Musikfieber, das Festival und alles. Im ersten Teil schreibe ich über dich. Was hältst du davon?«
Er grinste zustimmend und zog etwas aus dem Einkaufswagen hervor. »Schau dir das mal an, ist das nicht abgefahren?«
Er entrollte ein Plakat und hielt es mir vor die Nase.
Blau, rot und gelb leuchtete es mir entgegen. Ein psychedelischer Witz. Paisley-Muster und verlaufende Formen. In fetten Lettern stand dort:
1. UNDERGROUNDFESTIVAL
Samstag, 29. September
Festzelt am Nassauer Hof
Beginn: 18 Uhr
Eintritt: 5 Mark
Ich versuchte ihn ein bisschen hochzunehmen. »Sieht verdammt profimäßig aus, das Design. Hätte es nicht noch ein wenig ausgeflippter sein können?«
»Das habe ich mir von einem alten Fillmore-West-Poster abgeguckt. Du verstehst vielleicht was vom Schreiben, aber Promotion und Marketing, das überlass mal mir«, sagte Don.
»Da stehen ja nicht mal die Bands drauf! Und wieso in einem Festzelt? Davon hast du bisher noch gar nichts erzählt.«
»Das Plakat soll erst mal neugierig machen. Alle werden denken, Undergroundfestival? Wow, da muss ich hin. Glaub mir, das wird funktionieren.«
»Das mit dem Zelt habe ich noch immer nicht kapiert«, sagte ich.
»Ich habe den Eckfritz getroffen. Er war total begeistert von der Festivalidee. Fritz macht auf dem Parkplatz neben dem Nassauer Hof eine Art Oktoberfest mit Dicke-Backen-Musik. Er stellt das Zelt bereits eine Woche früher auf. Da dürfen wir dann rein und unser Festival abziehen.«
Ich war geschockt. »Mit diesem Reaktionär willst du gemeinsame Sache machen? Das darf nicht wahr sein.«
»Ich bin Geschäftsmann. Die politische Haltung von dem ist mir schnuppe.«
»Warum bist du nicht in die Stadthalle gegangen? Die Miete für so ein Zelt ist doch schweineteuer. Das alles aufzubauen, das ist doch nicht umsonst. Und dann der Strom, wo willst du den herholen?«
»Strom ist das kleinste Problem. Dafür gibt es die Feuerwehr oder das THW. Bei denen bekommt man die notwendigen Aggregate. Der Deal sieht so aus, ich muss keine Miete zahlen und bekomme komplett die Kohle aus dem Eintritt, dafür behält er die Einnahmen aus der Gastronomie. Das kommt mich alles günstiger, als eine Halle zu buchen.«
Don hatte das wieder einmal clever durchdacht. Trotzdem behagte es mir gar nicht, dass Eckfritz mit drinhing.
Ich frotzelte weiter: »Welche Bands sollen auf dem Festival spielen? Etwa alle? Da kannst du gleich ein Dreijahresding draus machen.«
»Genau darüber wollte ich mit dir reden. Ich brauch deine Hilfe, exakt bei diesem Thema. Komm mit! Wir gehen in mein Büro.«
In sein Büro? War er völlig größenwahnsinnig geworden?
Don packte den Einkaufswagen und marschierte los. Neugierig geworden, entschied ich mich, einfach mal mitzugehen.
»Hey, Manager, warte auf mich. Wusstest du eigentlich, dass der Onkel von Moses der Chef der Lokalzeitung ist?«
*
Ich hatte noch nie seine Bude von innen gesehen.
Seine Eltern wohnten über dem Schreibwarengeschäft, das sie betrieben. Ich war mir nicht sicher, aber das Haus gehörte wohl ihnen. Der zweite Stock war vermietet. Unterm Dach hatte Don ein eigenes Zimmer.
Am Fenster stand ein mannshoher Sekretär. Biedermeier, echt wertvoll. Darauf ein Telefon und eine Schreibmaschine.
An der Wand neben dem Bett hing eine Karte vom Landkreis. In der Karte steckten rote Reißbrettnadeln. Auf dem Boden, dem Sekretär und dem Bett lagen ungeordnet Papierstapel und Briefe, dazwischen Zeitungen, Zeitschriften und Telefonbücher.
Neugierig zog ich ein Blatt heraus. Es war eine Mahnung über eine Anzeigenrechnung. Schnell legte ich sie wieder zurück.
Das also war sein Büro.
»Was soll das mit der Karte?«
»Ich denke über das Festival hinaus. Überall wo Nadeln stecken, sind Orte, in denen ich Konzerte veranstalten will. Auf dem Land gibt es Sporthallen, Discotheken und Kneipen, da kannst du was reißen. Auf dem Land sind sie ausgehungert, die wollen auch geile Musik hören. Und ich bringe sie dorthin. Die Leute müssen nicht bis nach Köln oder Frankfurt fahren, D-Management bringt den Sound direkt zu ihnen, sozusagen vor die Haustür.«
»Und die Telefonbücher, was ist damit?«
»Aus dir wird nie ein Businessmensch. Ich brauche doch Adressen. Das war eine Heidenarbeit, das alles rauszusuchen. Aber es hat funktioniert, ich habe schon bei einigen Läden angerufen. Du glaubst es nicht, wenn ich wollte, könnte ich Dreamlight auf eine dreiwöchige Tournee durch den Taunus und den Westerwald schicken. Wir wären ausgebucht. Kein Problem. Und die zahlen, das kann dir sagen, richtig gute Gagen, bis zu dreihundert und mehr pro Auftritt können dabei abfallen.«
»Was sollen Dreamlight in der Provinz, da kommen die nie groß raus!«
»Zuerst kommt die Ochsentour durch die kleinen Clubs, das steht immer am Anfang einer Karriere, damit erspielst du dir einen Namen. Außerdem haben Dreamlight Schulden bei mir, die können sie so abspielen.«
»Du denkst wie ein Kapitalist.«
»Typen wie mich muss es auch geben. Was meinst du, was die Manager von Led Zeppelin oder den Stones machen? Die Bands wären ohne sie aufgeschmissen.
Manager kümmern sich um Auftritte, Verträge, um die Gage und so weiter. Dreamlight würde es gar nicht geben, wenn ich ihnen nicht Instrumente und Anlage besorgt hätte. Ich will meine Investitionen zurückhaben. Das heißt, sie müssen sich auszahlen.«
»In deinen Augen blinken ja schon die Dollarzeichen.«
»Spar dir deine moralinsauren Sprüche. Entweder du hilfst mir, und damit auch deinem Kumpel Mark, oder du kannst gehen. Ich schaff das auch allein«, sagte er. Unvermittelt kehrte er mir den Rücken zu und tat so, als wäre ich Luft für ihn. Unschlüssig stand ich an der Tür. Hatte er das ernst gemeint? Pah, dann soll er seinen Scheiß doch selber machen. Manageraufgaben interessierten mich nämlich überhaupt nicht. Ich war noch in Gedanken, als er mir auf einmal ein Blatt Papier reichte.
Ich riss es an mich und las:
PHAROS · STORM · INRI · ZOON POLITIKON
FRA MAURO · ELECTRIC JUNK · STIEBEL ELTRON
STAFFELBRUCH · CELLOPHANE DREAM BAND
FRAGILE AGE · WAISEL-VILLWOCK · OCCULTA
SISYPHOS · TARA FOLK · DREAMLIGHT
VOX JUVENTUTIS · SAITENSPINNER · WOODMAN GUN
ED GEED · ALPHA CENTAURUS · OXYGEN FACTORY
Na klar, das hatte ich fast vergessen, gestern war Anmeldeschluss fürs Festival. Ich las die Liste noch einmal. Alle Bands aus dem Rats.
All die, die ich in meinem Artikel für Das Auge erwähnt hatte, und ein paar andere mehr hatten sich beworben.
Don plusterte sich auf. »Einundzwanzig Bands! Innerhalb von sechs Wochen! Das ist der reinste Wahnsinn. Ich hätte nie mit so einem Echo gerechnet. Die kann ich unmöglich alle auftreten lassen. Genau dafür brauche ich dich. Du musst dir dazu was einfallen lassen.«
»Ist doch ganz einfach. Du musst eine Auswahl treffen.«
Seine Ratlosigkeit war nicht gespielt. »Und wie, bitte schön? Ich habe keine Ahnung, wer von denen welche Musik macht, geschweige denn, dass ich je einen Ton von denen gehört hätte. Von Dreamlight mal abgesehen.«
Ich setzte mich an den Sekretär, schob alles beiseite, spannte Papier in die Schreibmaschine und legte sofort los. Don schaute mir über die Schulter. Er strahlte und gab Tipps, als er kapierte, worum es ging.
Nach einer Stunde stand das Konzept.
Wir würden eine Jury einberufen, vorläufige Mitglieder: Don und ich. Alle Bands müssten ein Vorspielen absolvieren. Jede Gruppe dürfte drei Titel vortragen.
Die Jury sollte bewerten:
1. Performance – stehen die Musiker nur herum, oder passiert auch was auf der Bühne?
2. Handwerkliches Können – wie gut oder wie schlecht ist der Vortrag?
3. Originalität des Stils – eigene Stücke oder nur Coverversionen?
In jeder Kategorie würde die Jury Punkte vergeben. Ein Punkt bedeutete »mangelhaft«, sechs Punkte »sehr gut«. Die fünf Bands mit den meisten Punkten zögen ins Finale ein.
Auf dem Festival selbst wollten wir die Besucher entscheiden lassen. Über Stimmzettel, die beim Eintritt ins Zelt verteilt werden sollten. Darauf die Namen der Gruppen, das Publikum kreuzte seinen Favoriten einfach an. Es würden Urnen aufgestellt werden, in die man Zettel einwerfen konnte. Dann käme es zur Auszählung. Mindestens zweimal, der Kontrolle wegen.
»Das ist es, so machen wir es«, nickte Don.
Er zog das Papier aus der Maschine. Ich musste ihn bei der Ehre packen. Er durfte jetzt nicht kneifen.
»Etwas fehlt noch«, sagte ich.
»Und was bitte?«
»Wo ein Sieger ist, muss es auch einen Gewinn geben.«
Er jammerte sofort los. »Bitte kein Geld. Wenn du das denkst, Alter, das kannst du glatt vergessen. Ich bin jetzt schon fast pleite.«
»Dann irgendetwas anderes, denk nach«, versuchte ich sein Impresario-Ego anzustacheln.
»Wie wär’s damit, wir rufen Fürst an und fragen, ob er uns nicht helfen kann«, antwortete er.
»Den Vorschlag hast du schon einmal gemacht. Und was habe ich dir geantwortet? Dass du das vergessen kannst.«
»Wir müssen ihn dazu bringen, dass der Gewinner des Festivals im Vorprogramm einer seiner Bands auftritt oder vielleicht mit auf Tournee gehen darf. Und wenn es einer schafft, Pop-Fürst von dieser Idee zu überzeugen, dann bist du das. Los, jetzt ist die Gelegenheit, ruf ihn an. Ich habe seine Telefonnummer, sie stand auf irgendeiner Platte.«
Ich bekam Muffensausen. »Bist du dir sicher, ich meine, ist das auch seine Nummer, du verarschst mich nicht?«
»Mann, immer cool bleiben. Ich habe das gegengecheckt, das ist die Nummer des Plattenlabels. Und das Label gehört ihm, richtig? Das heißt, es arbeiten Leute für ihn. Also, wenn du dort anrufst, wirst du ihn entweder erreichen, oder die wissen, wo er gerade steckt, alles klar?«
Mit einer Handbewegung, so schnell, dass ich es mir nicht mehr anders überlegen konnte, schob Don das Telefon zu mir rüber. Jetzt sah ich, dass noch eine Hörmuschel daran angeschlossen war. Er setzte sich die Muschel ans Ohr und zeigte mit einer unmissverständlichen Geste auf den Zettel mit der Nummer. Es gab kein Zurück. Ich holte Luft wie beim Sprung vom Fünfmeterbrett. Die Lungen vollpumpen, als hätte ich Angst, dass mir beim Reden der Sauerstoff ausgehen könnte.
Die Wählscheibe ratterte und brauchte quälend lange. Die letzte Ziffer war eine Null. Ich wünschte mir sehnlichst, gleich die Ansage Kein Anschluss unter dieser Nummer zu hören.
Eine junge Frauenstimme, leicht näselnd. »Sound Unlimited, Home of Progressive Music, Sie wünschen?«
Sie hatte es freundlich gesagt, aber ich verstand etwas ganz anderes. Was willst du kleiner Scheißer?
»Ist Pop-Fürst da, ich wollte sagen, ist Herr Fürst im Hause?«
»Sie möchten Herrn Fürst, den Chef von Sound Unlimited, sprechen?«
Vor meinem inneren Auge stellte ich mir vor, wie sie grinste. Spätestens jetzt würde sie mich abservieren.
Ich bemühte mich, ruhig und gelassen zu klingen.
»Ja, bitte. Genau den möchte ich sprechen.«
»Um was geht es, und wen darf ich melden?«
»D-Management. Künstlervermittlung und Showproduktion.«
Das war mir einfach so eingefallen. Prompt fühlte ich mich besser, mein Selbstvertrauen war wieder da.
»Einen Moment, bitte.« Es knackte in der Leitung.
Ich zählte mit. Zwei Sekunden, drei Sekunden, vier Sekunden.
Es knackte noch einmal.
Messerscharf zischte es aus dem Hörer: »Fürst spricht, was gibt es?«
»Spreche ich mit Herrn Fürst? Dem Underground-Impresario, der jede Menge Bands groß rausgebracht hat?«, fragte ich.
Erst mal Honig um den Bart schmieren, aber nicht zu schleimig und unterwürfig, sondern ganz normal das Anliegen rüberbringen, dachte ich.
»Ja, genau der bin ich. Und wer bist du?«
»Nennen Sie mich Satti.«
»Wer denkt sich so einen Namen aus, deine Eltern?«
»Meine Freunde nennen mich so, weil ... na, ist ja auch egal.«
»Also, was willst du, Satti?«
»Mein Partner und ich von der Firma D-Management veranstalten ein Festival in unserer Stadt. Sie müssen sich das so vorstellen, in diesem Kaff mit gerade mal zwanzigtausend Einwohnern bricht von heute auf morgen das Musikfieber aus. Innerhalb von sechs Wochen sind es einundzwanzig Bands, die praktisch aus dem Nichts entstehen. Und alle machen abgefahrene, schrille Sachen, von schräg über avantgardistisch bis psychedelisch. Wir dachten, das würde Sie interessieren.«
»Hör auf, mich zu siezen, davon kriege ich die Krätze. Warum sollte mich das interessieren?«
»Weil es hier Talente zu entdecken gibt. Allein mit Dreamlight und Fra Mauro haben wir zwei Bands unter Vertrag, die wir Ihnen, äh, dir wärmstens empfehlen können. Dazu müsstest du aber mal vorbeischauen. Und das ist der eigentliche Grund meines Anrufs. Wir machen ein Vorspielen mit allen Bands, eine Vorentscheidung für das Festival. Bei der Gelegenheit könntest du in unserer Jury mitwirken. Kosten übernehmen wir, ich meine, mein Partner und ich, wir laden dich ein.«
Don machte große Pleitegeieraugen an seiner Hörmuschel.
»Fra Mauro, das ist ein toller Name für eine Band, könnte von mir sein. Aber Dreamlight, das klingt nach Schülercombo«, knurrte Fürst.
»An deiner Stelle wäre ich nicht so voreilig«, gab ich zurück.
»Du sagst, bei euch in der Kleinstadt ist das Musikfieber ausgebrochen, innovative Rockmusik und der ganze Scheiß, und darunter sind mindestens zwei echte Talente? Sag mal, du willst mich doch nicht etwa verarschen? Ich habe keine Zeit für so einen Mist«, antwortete Fürst.
Ich schmiss mich ins Zeug. »Wenn du mir nicht glaubst, können wir es gern auch jemand anderem anbieten. Aber wir dachten zuerst an dich, du bist doch bekannt als Förderer und Impresario. Hier hast du die Chance, dein Label um eine neue Attraktion zu bereichern, so wie bei Witthüser & Westrupp, die du von der Bühne weg engagiert hast.«
»Du kennst Witthüser & Westrupp?«
»Trips und Träume, eine tolle Platte, läuft bei mir rauf und runter. Am besten finde ich das Stück ›Lasst uns auf die Reise gehn‹. Genau darum dreht es sich doch! Wir befinden uns alle auf einer Reise, auf einer Reise des Lebens oder so ähnlich. So muss man heutzutage Songs schreiben.«
Hoffentlich schluckt er das, dachte ich. Denn ich kannte Witthüser & Westrupp nicht wirklich. Trips und Träume war erst vor einer Woche erschienen, und im Pop-Shop, der neuen Sendung für progressive Musik beim Südwestfunk, hatten sie ein einziges Lied, nämlich »Lasst uns auf die Reise gehn«, vorgestellt. Witthüser & Westrupp, hatte der Moderator gesagt, seien ein Liedermacherduo aus dem Ruhrpott, das wie Straßenmusiker daherkam und psychedelische Texte verfasste.
»Na gut«, antwortete Fürst. »Ich gebe dir und deinem Partner eine Chance, um mich zu überzeugen. In zwei Wochen bin ich in der Schweiz beim Jazz Festival in Montreux. Dort werde ich den Manager von Magma treffen. Magma, das ist diese neue Band aus Frankreich. Vielleicht verlege ich ihre Platten auf meinem Label, mal sehen. Ihr kommt dorthin, du und dein Partner, wer immer das auch ist, und dort können wir reden.«
»Mein Partner heißt Don. Wo finden wir dich?«
»Magma spielen am Samstag. Vor dem Auftritt kommt ihr nachmittags so gegen sechzehn Uhr ins Palace-Hotel. Also, bis dann, wenn ihr den Mumm dazu habt. Hahaha.«
Wie in Trance legte auch ich den Hörer auf die Gabel.
Don machte sich als Erster Luft. »Du hast es geschafft! Du hast ihn rumgekriegt. Wir haben Fürst im Boot. Sensationell ist das!«
Er klopfte mir auf die Schulter, als hätte ich einen Pokal gewonnen. Dann strahlte er mich an wie auf einem Kindergeburtstag. Alle Schokoküsse und Gummibärchen gehörten ihm.
»Komm runter«, sagte ich. »Vielleicht macht Fürst sich nur lustig über uns.«
»Hast du schon vergessen? Erstes Augustwochenende, Jazz Festival Montreux, Palace-Hotel.«
»Genau das meine ich, Don, das ist nichts. Es kann doch sein, dass der gar nicht dorthin fährt, und dann?«
»Das ist ja bald«, sagte Don und ignorierte meinen Einwand. »Wir müssen uns sofort darum kümmern, wie wir nach Montreux kommen. Das liegt am Genfer See, glaub ich.«
*
»Was wollt ihr denn hier, habt ihr kein Zuhause?«
Kief blickte nicht von seinen Unterlagen auf. Er saß an der Theke, schrieb etwas in ein kleines schwarzes Buch, das neben der Kasse lag.
»Euch kann ich jetzt nicht gebrauchen«, sagte er weiter und machte jenes Sorgenfaltenunternehmergesicht, das ich mittlerweile auch von Don kannte.
»Wir müssen eine Besprechung abhalten«, antwortete dieser.
Kief schüttelte den Kopf. »Hier? Heute ist Ruhetag. Und in einer halben Stunde bin ich sowieso weg.«
»Ich geh hoch und hol Andi. In der Zwischenzeit stellst du uns was zu trinken hin. Mark kommt auch gleich. Wir quatschen ein bisschen, und wenn du gehst, verschwinden wir auch. Bitte, es ist wichtig.«
Kief machte eine Geste in Richtung Zapfhahn. »Getränke müsst ihr euch selbst holen.« Augenblicklich war er wieder in seine Zahlen vertieft.
Zehn Minuten später saßen wir auf der Eckbank neben dem DJ-Podest. Mark und Andi auf der einen, Don und ich auf der anderen Seite des Tisches.
Seit der Müsli-Aktion hatte ich sie nicht mehr gesehen. Die beiden sich anscheinend auch nicht. Sie nickten mir kurz zu und starrten stumpf in die Gegend. Außer der ollen Holzvertäfelung gab es aber nichts zu sehen.
Don leerte sein Bierglas in einem Zug. »Okay, alle mal herhören!«
Er erzählte von dem Anruf bei Fürst, behielt aber ein paar Details für sich. Er erwähnte die Vorentscheidung und das Auswahlverfahren, das er und ich ausbaldowert hatten.
»Du willst also, dass ich euch alle nach Montreux kutschiere, sozusagen Taxi für die Herren spiele? Darauf läuft es doch hinaus, oder?«, fragte Andi.
»Nicht euch. Uns. Damit meine ich auch dich. Ich will dich dabeihaben. Mark natürlich auch. Aber du bist der, der das Auto hat.«
Andi zwirbelte sein Oberlippenbärtchen. »Das könnte dir so passen. Ich kann nicht weg. Wir proben rund um die Uhr. Bis zum Festival ist es nicht mehr lang hin, bis dahin muss das Programm stehen. Stücke fallen nicht einfach so vom Himmel, mein Lieber. Also, du Festivalmacher, es geht nicht. Sucht euch einen anderen Dummen. Die Altfreaks vom Hausboot haben einen Bus, da könnt ihr gleich das halbe Rats mitnehmen und einen Betriebsausflug draus machen. Ja, fragt doch die.«
»Andi hat recht«, sagte Mark, »wir proben mit Dreamlight wie die Weltmeister. Ich kann nicht einfach für ein paar Tage verschwinden. Das würde uns zurückwerfen, das könnt ihr vergessen. Nicht mit mir.«
»Bitte«, bettelte Don, »es geht nicht darum, dass wir nach Montreux fahren, um Party zu feiern. Sich mit Fürst zu treffen, könnte großen Einfluss auf das Festival haben. Der Typ hat Kontakte, möglicherweise kann er so was wie einen ersten Preis zur Verfügung stellen. Er scheint ganz heiß darauf zu sein, dich und Andi kennenzulernen.«
Andi schnaubte. »Was soll das heißen, er will uns kennenlernen?«, ereiferte er sich. »Was habt ihr dem Typen bloß für einen Mist erzählt?«
»Wir haben ihm vom Musikfieber berichtet und dass es mindestens zwei Talente in der Stadt gibt, die es wert sind, dass man sie fördert. Nämlich dich, Andi, und dich, Mark.« Don glaubte Eindruck gemacht zu haben; er verschränkte mit wichtiger Miene die Arme vor der Brust.
Ein paar Sekunden herrschte Stille.
Dann lachte Andi abfällig. »Ich brauch deine Talentförderung nicht! Ich hab eigene Pläne, nach dem Festival werde ich mich auf die Prüfung am Konservatorium vorbereiten, die Bewerbung ist schon abgeschickt.«
Ich seufzte. »Andi, jetzt komm, sei nicht so überheblich. Warum machst du mit beim Festival? Ich sage es dir – weil du es gewinnen willst. Vielleicht ist dir der Preis egal, aber du willst die Nummer eins werden. Und du, Mark, du doch auch. Ihr seid beide eingebildete Fatzkes. Don hat das Festival organisiert und verdammt viel investiert. Er verschafft euch eine Plattform. Da könnt ihr auch mal was für ihn tun.«
Ich erschrak für einen Moment selbst über das, was ich sagte. Dass ich mich tatsächlich einmal auf Dons Seite schlagen würde, hätte ich mir vor ein paar Wochen noch nicht einmal in meinen schlimmsten Alpträumen vorstellen können.
»Okay, alle beruhigen sich wieder.« Don wollte sich anscheinend die Position als Verhandlungsführer nicht aus der Hand nehmen lassen.
»Es ist doch ganz einfach«, sagte er, »wenn ihr beide mitkommt, gerät auch niemand ins Hintertreffen. Wenn ihr beide mitfahrt, dann ruht bei beiden Bands für ein paar Tage die Arbeit. Eine Pause kann guttun, man kommt auf andere Gedanken, neue Ideen stellen sich ein, eine Reise ist inspirierend. Es sind doch nur drei Tage, Sonntag sind wir wieder zurück. Jeder von uns hat etwas davon, wir lernen Fürst kennen, können uns so ein besseres Urteil über den Typ bilden. Und: Wir sehen Magma. Die sollen richtig klasse sein, sagt Fürst.«
Don, ein Meister der Diplomatie.
Andi war hellhörig geworden. »Magma, diese französische Band?«
»Was ist mit denen?«, wollte nun auch Mark wissen.
»Magma sind derzeit der heißeste Musikexport aus Frankreich. Die Band von Christian Vander, ihrem Schlagzeuger«, erläuterte Andi, wieder ganz der Kenner.
Mark schaute ihn direkt an. »Na und, das klingt nicht gerade spannend.«
»Wenn alles stimmt, was ich gehört habe, dann ist Christian Vander ein Wunderknabe auf dem Schlagzeug. Sein erstes Drumkit soll er von Chet Baker, dem Trompeter, geschenkt bekommen haben. Seine Mutter war Barsängerin. Sie kannte all die amerikanischen Musiker, die in Paris Station machten. Elvin Jones, der bei Coltrane trommelte, soll Vander die ersten Tricks beigebracht haben. Und als Coltrane dann starb, hatte dieser Vander eine Vision, er gründete Magma und erfand eine eigene Sprache. Eine Sprache, in der man sich wirklich unterhalten können soll, irgendwo zwischen Slawisch und Lateinisch. Und die Musik, die er komponiert, ist eine Mischung aus Jazzrock und Carl Orff. Alle Bandmitglieder laufen ganz in Schwarz herum und tragen ein goldenes Zeichen um den Hals.«
»Das klingt ganz schön abgefahren«, sagte ich.
»Irgendwie haben die einen an der Klatsche. Das Zeichen sieht aus wie eine Kralle. Auf ihren Platten singen sie immer vom Planeten Kobaïa, dass da alles besser und schöner sei als auf der Erde. Ihre Auftritte gleichen angeblich Exzessen. Das sollte man mal gesehen haben. Gut, ich bin dabei. Ich fahre. Den Sprit zahlst aber du, Don. Ist das klar?«
»Klar.«
»Und du, Mark, du bist auch dabei, ja?« Ich blickte ihn aufmunternd an.
»Na gut«, sagte er schulterzuckend. Ein Ausflug, bei dem Andi dabei war, den er als seinen schärfsten Konkurrenten sowohl in der Musik als auch in der Liebe ansah, ein Ausflug, der Auswirkungen aufs Festival haben konnte, den durfte er nicht verpassen.
Welche Auswirkungen dieser Trip nach Montreux tatsächlich haben sollte, ahnte keiner von uns.