fünfzehn Maiden Voyage

Karen besaß eine seltene Gabe. Sie konnte Menschen zusammenführen.

Es gelang ihr tatsächlich, Mark und Andi dazu zu bringen, den Ausflug ans IJsselmeer zu machen. Doch das war nur die eine Großtat. Den eigentlichen Coup hielt sie für den Tag der Abfahrt bereit.

Sie hatte den Segel-Trip für das erste Oktoberwochenende organisiert. Blieb nur noch zu klären, wie wir nach Lemmer kommen würden.

»Die Freaks vom Hausboot wären bereit, den VW-Bus rauszurücken. Das Fahren kann doch Andi übernehmen«, sagte sie am Telefon.

»Zurzeit gibt es wieder eine große Anti-Drogen-Kampagne.«

»Was hat das mit unserer Reise zu tun?«

Ich musste an die Montreux-Aktion denken. »Denen wird es eine Freude sein, vier Langhaarige und eine Hippiebraut in einem buntbemalten Bus zu stoppen. Die werden das Unterste zuoberst kehren. Darauf habe ich keinen Bock.«

»Hast du eine bessere Idee?«

»Nein. Aber lass uns nichts überstürzen«, antwortete ich und legte auf.

Beim Abendbrot erzählte ich Huguette beiläufig von der Reise. Auguste zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. Karrieremama schwenkte sofort auf die gewünschte Linie ein.

»Also fünf Flippköppe in einem Haschbus. Am Ende werdet ihr noch in einer Zelle landen.«

»Wie, heißt das jetzt, du willst nicht, dass ich da mitfahre?«

»Das mit dem Segeln ist eine schöne Idee. Besser, als immer in diesem Rats rumzuhängen. Aber das mit dem Bus gefällt mir gar nicht.«

»Wie sollen wir sonst hinkommen? In Andis Auto passen nicht alle rein.«

»Ich könnte euch ja fahren, mit meinem Wagen. Dann weiß ich wenigstens, dass ihr sicher ankommt.«

»Dann müsstest du uns auch wieder abholen.«

»Ja, gut, aber ich will nicht, dass du denkst, ich ließe dich hängen. Da sich mein Sohn anscheinend entschieden hat, eine bürgerliche Laufbahn als Journalist einzuschlagen, bin ich dir was schuldig, oder?«

Ich versuchte so unschuldig wie möglich dreinzuschauen.

Insgeheim hatte ich aber genau darauf spekuliert, dass es an der Zeit sei, mir einen Gefallen zu tun.

Auguste nickte zufrieden. Dann war es wohl auch okay für sie.

Abfahrt war am darauffolgenden Donnerstagmorgen um zehn Uhr vor dem Rats. Wir hatten unsere Taschen und Rucksäcke bereits in Andis Käfer und in Huguettes Kadett verstaut, als Karen mit zehn Minuten Verspätung um die Ecke kam.

Sie war nicht allein.

»Ich fass es nicht«, entfuhr es mir. Die Begrüßung geriet überschwänglich. Großes Hallo, mit Küsschen und Umarmungen. Einer nach dem anderen, drückten wir unsere italienische Freundin an die Brust. Dann bestürmten wir Giulia mit Fragen. Was machst du denn hier, was, du kommst mit zum IJsselmeer? Ist ja der Hammer, Wahnsinn. Das war wirklich eine Überraschung.

Für Don war es ein Schock. Er stand da, wurde weiß wie die Wand und rührte sich nicht. Giulia gab ihm einen Kuss auf die Wange, doch er brachte keinen Ton raus.

*

Die Autofahrt verlief ohne Störungen.

Bei Venlo passierten wir die Grenze. Sowohl die deutschen als auch die niederländischen Beamten schauten kurz auf unsere Pässe und winkten uns durch. Nach ein paar Kilometern hielten wir an einer Raststätte, tankten, gingen pinkeln und versorgten uns mit Süßigkeiten. Ich kaufte drei Leckerschmecker. Nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Kiffern sehr beliebt. Zu diesem Zeitpunkt waren wir aber noch absolut törnfrei.

Huguette fuhr mit dem Kadett nicht schneller als hundert Stundenkilometer. Andi tuckerte brav hinterher. Ich saß im Kadett auf dem Beifahrersitz und hatte eine Karte auf den Knien. Lotsen war nicht notwendig, Karrieremama wusste, wo es langging. »In Holland kann man sich nicht verfahren«, sagte sie. Kurz vor Amsterdam wechselten wir die Autobahn, dann sahen wir die ersten Schilder und bogen ab auf die Landstraße. »Noch dreißig Kilometer«, sagte ich.

Karen hatte sofort kapiert, dass Giulia und Don noch nicht so weit waren. Sie und Giulia saßen bei Andi im Wagen. Don, Mark und ich im Kadett. Nachmittags, so gegen sechzehn Uhr, erreichten wir Lemmer. Der beschauliche Ort mit seinen kleinen Straßen und Häusern wirkte wie gemalt. Vieles erinnerte noch an die Zeit, als er ein Handels- und Fischerdorf war. Wir fuhren direkt zum Hafen, parkten irgendwo, holten unsere Sachen raus und machten uns auf den Weg hinunter zum Kai.

Am Ufer entlang reihte sich ein Restaurant an das andere. Es war Anfang Oktober und für die Jahreszeit ungewöhnlich mild. Die Terrassen waren gut besucht. Vom Meer her empfing uns ein angenehmer Wind. Zuerst kamen die Anlegestellen für die Yachten und die kleineren Segler. Über einen Steg konnte man sie erreichen.

Dann erkannte ich sie. In der Abendsonne sahen sie aus wie an einer Kette aufgereiht. Eine Flotte von Zweimastern hatte längsseits festgemacht. Es waren an die zehn Schiffe. Sie schaukelten sanft auf dem Wasser. Ich war beeindruckt, so etwas hatte ich noch nie gesehen. Wie auf einer Ansichtskarte.

Plötzlich rannten Karen und Giulia Hand in Hand los.

Die Mother Universe hatte als drittes Schiff im Päckchen angelegt. Es war ein Toppsegelschoner, der seine Seetüchtigkeit bereits seit seinem Stapellauf im Jahr 1913 bewies – wie Tom später berichtete. Als er ihn gekauft hatte, hatte er noch Banjaard geheißen. Das Plattbodenschiff war 38 Meter lang, 5,80 Meter breit, hatte eine Segelfläche von 450 Quadratmetern und einen Tiefgang von 1,05 Meter. Die Passagiere konnten in vier Viererkabinen und drei Zweierkabinen untergebracht werden.

Tom stand an der Reling und winkte Karen zu. Er war ein Hüne, bestimmt eins fünfundneunzig groß. Breite Schultern, Bart und lange braune Haare, die er mit einem Gummi zum Zopf gebunden hatte. Grobe Arbeitshose, klobige Schuhe und ein dickes Holzfällerhemd. Er begrüßte jeden mit dem Händedruck eines Gewichthebers und einer Stimme wie rostiges Blech. Wache Augen blickten mich selbstbewusst an, seine Haut war sonnengegerbt und etwas ledern. Das war er also, der Freak-Kapitän.

»Kommt, ich zeig euch das Schiff. Immerhin wird es euer Zuhause sein für die nächsten Tage.« Er marschierte voraus und führte uns über ein paar Stiegen hinunter ins Innere der Mother Universe.

Ein beleuchteter Gang, so niedrig, dass ich mit den Haarspitzen fast die Decke berührte, tat sich vor uns auf. Tom musste den Kopf einziehen. Er öffnete die erste Tür und knipste das Licht an. Zwei Betten, ein Waschbecken mit Spiegel, ein kleiner Schrank, eingelassen in die Wand.

»Das da gehört mir«, sagte ich und warf meinen Rucksack auf die linke Seite.

Andi stellte seine Tasche auf die gegenüberliegende Koje. Klar, warum nicht? Und schon war die erste Zweierkabine vergeben.

Karen und Giulia nahmen die angrenzende Kabine. Die dritte Zweierkajüte teilten sich Don und Mark. Damit war das mit der Pennerei schon mal geregelt. »Die Toiletten und Duschen sind auf der anderen Seite des Gangs«, sagte Tom. Karen hatte uns geraten, Pullover und Regenjacke einzupacken. Das Wetter auf dem IJsselmeer konnte innerhalb von Minuten umschlagen, hatte sie gesagt. Der Flur führte weiter in den hinteren Teil des Schiffes, dort befanden sich die Viererkabinen. Die waren laut Tom alle vermietet. Er öffnete erneut eine Tür, und plötzlich standen wir in einem hellerleuchteten Raum.

»Das ist das Herz des Schiffes«, sagte Tom.

Mit den Holztischen und Stühlen mutete der Raum wie das Rats an. Wären da nicht die zwei Bullaugen gewesen, die eindeutig signalisierten, wir sind auf einem Schiff. Unter den Bullaugen befanden sich eine Sitzbank und ein langer rechteckiger Tisch. An der Wand hing ein Gemälde, das einen Großsegler auf hoher See darstellte. In einer Nische entdeckte ich eine Stereoanlage. Sound gab es also auch. Von der Decke baumelte eine alte Petroleumlampe, in der eine Glühbirne steckte. Die Sitzbank war vollbesetzt, gut zwölf Leute saßen dicht an dicht an dem langen Tisch und waren gerade beim Futterfassen. Es wurde gelacht und aufgeregt durcheinandergeredet. In der Mitte des Tisches stand ein großer dampfender Topf mit Nudeln und Tomatensoße. Ich verspürte sofort Lust darauf mitzufuttern.

Das also waren Toms Reisegäste. Ich registrierte, dass es unter ihnen auch ein paar Freaks gab. Wie sich bald herausstellen sollte, kamen sie aus dem Rheinland, und keiner von ihnen war älter als dreißig.

Im hinteren Teil des Raumes befand sich die Kombüse. Es gab einen Gasherd, eine Spüle mit Hängeschrank sowie einen Kühlschrank. Eine Frau mit hennaroter Wuschelmähne räumte gerade ein paar Gläser weg.

»Karen, wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen!«, rief Doro erfreut.

Jetzt ging die allgemeine Begrüßungsarie erneut los. Ein Küsschen hier, ein Küsschen da.

Doro war mal mit Karens großem Bruder gegangen, daher kannten sie sich. Sie hatten überhaupt nicht zusammengepasst, wie Karen berichtete. Ihr Bruder studierte Zahnmedizin und würde eines Tages die elterliche Praxis übernehmen. Die Beziehung hatte nicht lange gehalten.

»Da ich nun weiß, wie du untergebracht bist, kann ich mich beruhigt auf den Heimweg machen«, sagte Huguette.

Tom machte eine besorgte Miene. »Das kann ich nicht zulassen. Da sind Sie den weiten Weg die ganze Nacht unterwegs. Und in drei Tagen wollen Sie wiederkommen, um alle abzuholen? Was für ein Aufwand. Nichts da, wenn Sie nichts anderes vorhaben, bleiben Sie hier. Seien Sie unserer Gast. Wir haben noch ein Bett frei. Segeln Sie doch einfach mit!«

War der noch zu retten? Was mischte der sich in Familienangelegenheiten ein? Nein und nochmals nein, ich brauchte keinen Aufpasser. Huguette, bitte bleib standhaft, dachte ich, tu mir das nicht an, du hast doch bestimmt irgendeine wichtige Sitzung mit deinen Genossen.

Karrieremama bekam hektische Flecken im Gesicht. »Ich weiß nicht, da müsste ich mich krank melden. So was habe ich noch nie gemacht. Wie aufregend!«

Doro hakte nach. »Sie können in der Kajüte schlafen, die normalerweise dem Smutje zugedacht ist. Sie hätten sozusagen ein Einzelzimmer. Tom hat recht, zurückzufahren ist zu anstrengend. Geben Sie sich einen Ruck.«

Huguette schien noch zu überlegen. »Ich wollte ja schon immer mal segeln. Aber ich will mich nicht aufdrängen.«

Dann schaute sie mich an. »Was meinst du?«

Ich ahnte, jetzt lag es an mir, mich zu revanchieren. »Du brauchst entsprechende Kleidung und einen Kulturbeutel«, antwortete ich.

»Vor zehn Uhr morgen früh laufen wir nicht aus. Sie haben also noch Zeit, etwas einzukaufen und in der Firma anzurufen«, sagte Doro schnell, bevor Huguette es sich anders überlegte. »Apropos einkaufen. Ich hoffe, ihr habt Proviant mitgebracht, holt den mal aus dem Auto.«

*

Huguette zog sich früh zurück. Auch wenn ich es nie zugegeben hätte, war ich insgeheim stolz auf sie. So eine spontane Aktion hätte ich ihr nicht zugetraut. Karrieremama auf Abwegen, dachte ich.

Der freundliche Empfang von Tom und Doro hatte mich ein wenig euphorisiert. Ich dachte auch an Karens Mission.

Na gut, vielleicht klappte es ja doch, Mark und Andi dazu zu kriegen, dass sie wieder miteinander redeten.

Und dann war da noch die Annäherung von Don und Giulia. Das schien anscheinend leichter lösbar. Karen hatte sich viel vorgenommen, eine große Aufgabe wartete auf sie. Gut, sagte ich mir, ich werde sie unterstützen wie ich kann. Obwohl ich mich viel lieber aus allem rausgehalten hätte. Daraus sollte aber nichts werden.

Unsere Korona setzte sich an den langen Tisch und machte sich über die restlichen Nudeln her. Irgendwer hatte Led Zeppelin aufgelegt. »Whole Lotta Love« rockte durch den Salon.

Die Rheinländer waren munter drauf. Eine ähnlicher Verein wie wir, sie kannten sich alle und waren trinkfest. Sie hatten sich einen Kasten Grolsch besorgt, Halbliterflaschen, mit Bügelverschluss, der Plopp! beim Öffnen machte. Ich saß neben einem Typen, den sie Freaky Willy nannten.

Er ließ ein Pur-Pfeifchen rumgehen. Der Typ stank wie ein Komposthaufen. Er sah aus, als wäre er in ein Loch gefallen, kleine Bröckchen getrockneter Erde hingen in den verfilzten blonden Haaren. Ich ließ einen kleinen Abstand zwischen ihm und mir.

Er erzählte seine Geschichte. Dass die ganze Truppe gerade vom »Second British Rock Meeting« kam, einem Festival bei Germersheim am Oberrhein.

Pink Floyd, Emerson, Lake & Palmer, Uriah Heep und Osibisa seien dort aufgetreten. Und dass er zwei Tage auf LSD war. Mit ein paar anderen Freaks sei er in einem zum Gelände gehörenden Seitenarm des Rheins schwimmen gewesen. Aus Schlamm hätten sie sich eine Rampe gebaut. Auf die Plätze, fertig, los – und auf dem Hosenboden hinein ins Wasser. Stundenlang hätten sie das getrieben. Noch nie im Leben so viel gelacht. Ein Riesenspaß. Freaks konnten wie kleine Kinder sein.

»Ich merkte gar nicht, wie die Zeit verging. Plötzlich war es mitten in der Nacht, und es fing an zu regnen. Ein total irres Gewitter mit Hagel und allem Drum und Dran. Seitdem habe ich meine Klamotten nicht mehr gewechselt. Es war einfach zu geil. Dieser Spirit ist noch immer in mir drin.«

»Hast du überhaupt was von den Bands mitbekommen?«

Er griff nach einer Jutetasche, eine wie ich sie auch hatte, und holte einen einzelnen, ziemlich lädierten Trommelstock, eine kleine 9-Volt-Batterie und ein Gitarren-Plektrum hervor.

»Die Batterie stammt aus dem Verzerrer von David Gilmour, der Trommelstock ist vom Osibisa-Schlagzeuger, das Plektrum von Greg Lake. Ich stand bei allen Konzerten in der ersten Reihe, und da flogen mir die Teile sozusagen einfach entgegen.«

Er stand in der ersten Reihe, war aber gleichzeitig auf LSD und in eine Schlammschlacht verwickelt. Abgefahren. Ich glaubte ihm kein Wort, dafür haute sein Dope ordentlich rein. Und das Bier zischte wie Apfelsaft. Irgendwann fiel mir auf, dass Don und Giulia nicht mehr am Tisch saßen.

*

Mit den Klamotten am Leib wachte ich auf.

Das Bett neben mir war leer. Wo war Andi? In meinem Schädel donnerte eine ausgewachsene Stampede. Das Schiff schaukelte. Für mein Gefühl nicht nur ein wenig, sondern eine Gangart zu viel. Ich richtete mich auf.

Dann passierte es.

Schwallartig beförderte ein Spasmus den Inhalt meines Magen nach oben. Zuerst kam gelbe Brühe, dann würgte ich halbverdaute Nudeln hervor.

Ich sprang aus dem Bett und hinterließ eine Spur bis zum Waschbecken. Als der Anfall nachließ, drehte ich den Hahn auf und hielt den Kopf unter das kalte Wasser. Das brachte etwas Erleichterung, das Würgen hörte auf. Für den Moment war Ruhe, wirklich besser ging es mir aber noch nicht.

Dope und Alkohol. Beides zusammen konnte eine gefährliche Mischung sein. Das hatte ich nun davon. Oder war ich einfach nur seekrank?

Ich wusch mir das Gesicht, putzte die Zähne und zog frische Sachen an. Mit dem Handtuch entfernte ich die Sauerei. Das Schiff schaukelte noch immer. Oder war das alles nur eine Ausgeburt meines Schwindelgefühls?

Im Flur gab es ein Geländer, an dem ich mich über die kleine Treppe nach oben ans Deck hangelte.

Die frische Luft tat gut, ich hätte trotzdem sofort wieder kübeln können. Als Landratte war ich die Bewegungen auf See nicht gewohnt. Mir wurde sofort wieder elend zumute.

Die Mother Universe schipperte ruhig über das Wasser. Die Küste immer in Sichtweite. Die wenigen Wellen konnten ihr nichts anhaben.

Es war allein meine Wahrnehmung, die verrückt spielte. Ich war seekrank, da war ich mir jetzt sicher. Es wehte ein kräftiger Wind, und soweit ich das als Landratte beurteilen konnte, waren alle Segel gesetzt.

Die gesamte Truppe tummelte sich auf Deck. Ich erkannte Freaky Willy und die Rheinländer. Nur Don und Giulia waren noch immer nicht zu sehen.

Andi, Karen und Mark saßen am ersten Mast. Ein Versuch für ein Friedensgespräch? Im Moment schienen sie sich nicht zu unterhalten. Sie saßen einfach da, ließen sich den Wind in die Haare wehen und schauten hinaus aufs Meer.

Das Gerumpel in meinem Magen war zum Stillstand gekommen, aber der Schwindel blieb – wie nach einer Achterbahnfahrt auf dem Rummel.

Später hatte ich den Dreh raus, gewöhnte ich mich an das Auf und Ab des Kahns. Solange ich mich an Deck aufhielt, konnte ich es aushalten, dieses Geschaukel. Musste ich aber aus irgendeinem Grund, und sei es nur zum Pinkeln, nach unten in den Bauch des Schiffes, wurde mir sofort wieder speiübel. Das sollte sich erst am dritten Tag legen.

Doch da sollte ich ganz andere Sorgen haben.

Wie hatte Karen gesagt, segeln bedeute mit anfassen, im Team arbeiten? Kein »reich, berühmt und sexy«, kein Fürst, kein Impresario-Stress, kein Gegeneinander, kein Ego-Trip.

Ich ging zum Ruderhaus, hielt mich dabei an der Reling fest. In dem kleinen, engen Raum standen Doro und Huguette am Ruder und schauten durch das große Fenster hinaus auf die See. Karrieremama, eingepackt in eine dicke Jacke, machte eine sorgenvolle Miene, als sie mich sah.

Bevor ich etwas sagen konnte, fragte sie: »Alles in Ordnung?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Du hast keine Probleme?«

Huguette strahlte mich an. »Nein, Junge, ich genieße es.«

Erst jetzt bemerkte ich Tom, der sich hinter mir in der Ecke des Ruderhauses an einer Kiste zu schaffen machte. Er trug einen dicken Pullover und hatte die langen Haare unter einer Strickmütze verpackt. Plötzlich hielt er ein paar Schwimmwesten in den Händen.

»Ich werde eine kleine Einweisung machen«, sagte er. »Die wichtigsten Begriffe und wie man sich bei Mann über Bord verhält. Ein paar einfache Knoten sollte man auch können.«

Für einen Augenblick vergaß ich den Schwindel. Um zu zeigen, das ich ihm als Chef auf dem Schiff vertraute, antwortete ich: »Aye, aye, Kapitän.«

»Lass den Quatsch«, sagte Tom grinsend.

»Sag mal, wie schnell, also wie viele Knoten kann die Mother Universe denn so schaffen, und wie schnell sind wir jetzt?«, wollte ich wissen.

»Der Wind steht gut, ich denke mal, an die fünf Knoten haben wir jetzt drauf. Wenn das Wetter und die Strömung mitspielen, dann kann die Universe schon mal acht bis zehn Knoten Fahrt aufnehmen.«

»Über welche Route segeln wir?«

»Wir fahren rauf nach Makkum, dort durch die Schleuse am Damm. Und dann aufs Wattenmeer zur Insel Vlieland.«

»Wattenmeer, das ist ja schon fast Nordsee, da ist mehr Seegang als auf dem IJsselmeer. Das überlebe ich nicht«, antwortete ich.

»Das wird dich schon nicht umbringen. Lass uns die Mannschaft zusammentrommeln. Dieser Freaky Willy ist ein richtiger Bukligger.«

Ich runzelte die Stirn. »Was ist das denn?«

»So nennt man auf See jemanden, der ein richtig fauler Sack ist. Dem werde ich jetzt mal was zu tun geben. Der darf Knoten üben, bis ihm die Finger abfallen«, sagte Tom, »Du kommst doch mit?«

»Hast du Don und Giulia gesehen?«

»Die liegen am Klüverbaum im Netz, das ist vorn am Bug. Komm nicht auf die Idee, da auch reingehen zu wollen. Mehr als zwei Personen sind nicht zugelassen. Eine falsche Bewegung, und du fällst ins Wasser«, warnte er.

Aha, im Klüverbaum. Don und Giulia kamen sich also wieder näher.

»Geh und hol die mal. Die sollen auch an Deck kommen«, befahl Tom.

Mein Schwindel meldete sich wieder, deshalb fragte ich: »Passiert das oft, dass jemand über Bord geht?«

»Häufigste Ursache ist das Pinkeln über Bord.«

»Du machst Witze!«

»Viele denken, warum nach unten auf die Toilette gehen, wenn sich das Geschäft auch von hier oben erledigen lässt. Du pinkelst also von der Reling, hältst dich nicht richtig fest, das Schiff macht vielleicht noch eine Wende und patsch, schon schwimmst du im Meer. Es ist auch schon vorgekommen, dass die Besatzung bei schönem Wetter zum Baden ins Wasser gesprungen ist. Der letzte Mann hatte jedoch vergessen, die Leiter an der glatten Bordwand anzubringen. Keine Überlebenden.«

Ich schob die Tür des Ruderhauses auf und marschierte in Richtung Bug, immer eine Hand an der Reling. Als ich am Klüverbaum ankam, lehnte ich mich ein kurzes Stück über den Bug hinaus, und sofort meldete sich die Übelkeit zurück.

Don und Giulia lagen Arm in Arm im Netz und schienen zu schlafen. Sie sahen friedlich aus. Ein Freak-Liebespaar für die Götter.

»Merkst du nicht, dass du störst?«, sagte Don, ohne die Augen zu öffnen. »Sorry, Mann, aber Befehl vom Kapitän, die gesamte Mannschaft hat sich sofort an Deck zu versammeln. Das gilt auch für euch zwei Hübschen.«

Giulia hatte sich aufgerichtet und hielt sich mit einer Hand an dem grobmaschigen Netz fest, mit der anderen winkte sie mir zu.

Ich reichte ihr die Hand. »Seid vorsichtig. Ich hab wirklich keinen Bock auf Mann über Bord.«

*

Tom teilte uns in zwei Gruppen auf.

Diejenigen, die für Kombüse und Kochen verantwortlich waren, und diejenigen, die auf Deck ein paar Jobs zu erledigen hatten. Huguette blieb bei Doro im Ruderhaus, sie wollte anscheinend alles darüber wissen, wie man ein Schiff steuert. Ich entschied mich, bei der Crew an Deck zu bleiben.

Freaky Willy hatte geduscht, zumindest hatte er keinen Dreck mehr in den Haaren. Und er hatte sogar die Klamotten gewechselt.

»Hey, Mann, du siehst aus, als ginge es dir genauso beschissen wie mir«, sagte er zur Begrüßung und grinste.

Tom ließ uns Knoten üben. Begriffe, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Schotstek, Palstek und Webeleinenstek. Außerdem erfuhren wir, was ein Großsegel war, was Fock und Klüver bedeuteten, wo Backbord und Steuerbord sich befinden, und was unter achtern zu verstehen war.

Ich entdeckte Karen, die sich allein in die hintere Ecke des Decks zurückgezogen hatte, dort im Schneidersitz saß und aufs Wasser starrte.

»Deine Rechnung scheint aufzugehen«, sagte ich, als ich neben ihr Platz genommen hatte.

»Was meinst du?«

»Das mit Don und Giulia.«

Sie schaute auf. »Ja, sie hat wieder Vertrauen zu ihm. Er will sie mit nach Berlin nehmen.«

»Wie weit bist du mit der anderen Friedensstiftung?«

Karen runzelte die Stirn. »Seit wir auf dem Schiff sind, hat es zwar keinen Streit mehr gegeben, aber sie gehen sehr distanziert miteinander um. Wir müssen Geduld haben, die Reise hat ja gerade erst angefangen.«

»Das ist nur eine kurze Waffenruhe, die werden niemals Freunde.«

Sie erhob sich. »So schnell gebe ich nicht auf.«

»Warum gehst du schon?«, fragte ich.

»Ich will schauen, was Doro macht.«

Nachdem sie weg war, legte ich mich rücklings aufs Deck und schlief sofort ein. Als ich die Augen wieder öffnete, erblickte ich einen klaren, blauen Himmel. Wie lange hatte ich hier gelegen, zwei Stunden – oder länger? Die Sonne stand hoch, es musste bereits Mittag sein.

Ein Schatten legte sich auf mein Gesicht.

»Wir haben die Schleuse erreicht«, sagte Andi.

Er reichte mir die Hand und half mir hoch. »Dieses Schauspiel sollten wir uns nicht entgehen lassen.«

Tom hatte die Segel einholen lassen. Er scheuchte Freaky Willy übers Deck. »Beeil dich, bring die Fender an, damit das Schiff in der Schleuse nicht beschädigt wird«, rief er.

Ich dachte immer, es gebe nichts Langweiligeres auf einer Schiffsreise, als eine Schleuse zu passieren. Wie ich mich getäuscht hatte. Etliche Zuschauer hatten sich am Ufer versammelt.

Doro hatte den Motor gestartet und die Universe sicher in die Schleuse bugsiert. Das Schiff lag nun steuerbord an der Wand der Kammer festgemacht. Langsam schloss sich das hintere Tor.

Wir hatten Glück, es würde schnell gehen. Mit der Mother Universe befand sich nur noch ein weiterer Schoner in der Kammer. Insgesamt konnten sechs Schiffe darin Platz finden. Ich blickte hinunter auf das braune Brackwasser. Fast unmerklich hob sich der Wasserspiegel. Tom unterhielt sich mit einem älteren Mann. Das musste der Schleusenwärter sein.

Einst war hier die Zuidersee gewesen – eine Meeresbucht, die über das Wattenmeer den Niederländern schnellen Zugang zu allen großen Seewegen ermöglichte. Überschwemmungen gehörten über Jahrhunderte hinweg zum Leben der Küstenbewohner. Doch nach der großen Flut Mitte der zwanziger Jahren, die weite Teile der niederländischen Küste heimgesucht und viele Opfer gefordert hatte, begann man mit dem Bau eines Abschlussdeiches.

Aufgeschüttet in nur fünf Jahren aus Geschiebelehm und Basalt, neunzig Meter breit und fast acht Meter über dem Meeresspiegel gelegen, war er im Mai 1932 fertiggestellt worden. Insgesamt waren mehrere Millionen Kubikmeter Sand und Gestein bewegt worden, mehr als fünftausend Menschen hatten am Damm gearbeitet. Ein Bollwerk gegen die Nordsee. Mit einer zweiunddreißig Kilometer langen Straße darauf, die Kornwerderzand mit Den Oever verband. Wenige Monate nach der Eröffnung war die Zuidersee in IJsselmeer umbenannt worden. Der Süßwassersee wurde benannt nach seinem Hauptzufluss, der IJssel, die bei der Ortschaft Kampen, südlich von Lemmer, in das Binnenmeer mündet.

Das alles hatte uns Tom bei seiner Einweisung auf Deck erklärt.

Ich riss mich von meinen Gedanken los.

»Andi, was glaubst du, wie es weitergeht?«

Die Frage hatte ich eher mir selbst gestellt.

»Was meinst du damit, du existenzialistischer Grübler?«

Komisch, diesmal störten mich seine Sticheleien überhaupt nicht.

»Das mit dem Musikfieber, mit uns allen«, brummte ich.

»Das scheint dich ja sehr zu beschäftigen.«

»Das tut es wirklich«, antwortete ich.

»Dann erzähle ich es dir. Wenn auch zum hundertdreißigstenmal.«

»Ja, ist ja gut. Ich kann nur nicht glauben, dass es das jetzt gewesen sein soll.«

»Ich habe dir doch von dem alten Hausarzt unserer Familie erzählt. Ich habe mit ihm gesprochen, er stellt mir ein Attest aus. Diagnose: Fokale Dystonie. Wenn ich damit durchkomme, werde ich für untauglich erklärt und ausgemustert. Das heißt, ich brauche weder zur Bundeswehr noch muss ich irgendeinen Ersatzdienst machen. Freie Bahn für mein Musikstudium.«

Er klemmte sich eine Haarsträhne hinters Ohr, so wie er es immer machte. »Du weißt doch, Komponist werden und den perfekten Song schreiben.«

»Den hast du doch schon geschrieben.«

»Hör auf damit. Du bist nicht ganz dicht.«

»Du solltest den Song einem Verlag anbieten oder einem Produzenten. Oder noch besser, du bringst ihn selbst raus.«

»Ja, ja, ich weiß, Fürst würde daraus einen Hit machen. Nein, der Song gehört mir nicht mehr. Soll Karen damit machen, was sie will.«

»Wie edel, hilfreich und gut von dir.«

»Der Song war ein Geschenk. Wenn Karen mich bitten würde, ihn zu veröffentlichen, dann wäre das etwas anderes. Aber das hat sie nicht getan. Und das wird sie auch nicht tun. Warum auch, es ist doch bloß ein Song. Es wird mir ohnehin schon zu viel drüber geredet über dieses Scheißlied.«

»Wer weiß noch davon? Das sollte doch geheim bleiben.«

»Vielleicht hat Karen es rumerzählt. Es ist mir auch egal. So was ist auf die Dauer eh nicht unterm Deckel zu halten. Mark hat mich übrigens darauf angesprochen.«

Ich fühlte mich ertappt. Hatte ich doch meine Klappe nicht halten können, bei der Diskussion mit Mark vor dem Rats.

»Was wollte er?«

»Das Gleiche wie du. Es hat mich nur gelangweilt.«

»Was hast du ihm geantwortet?«

»Er solle zu Karen gehen, der Song gehöre ihr.«

Ein Ruck ging durch das Schiff. Doro hatte den Motor wieder angelassen. Das obere Tor der Schleuse öffnete sich. Eine Art Ampellicht schaltete auf Grün, und die Universe tuckerte hinaus. Ich sah Mark und Karen am Bug bei Don und Giulia stehen. Tom rief irgendwelche Befehle, Fender einholen und Segel setzen, das Wattenmeer warte.

»Und Karen, was tut sich da?«, fragte ich.

»Ich glaube, sie will mich nicht, und Mark will sie auch nicht. Ich hab eine Weile gebraucht, um das zu verstehen.«

Ich schaute ihm in die Augen. »Du liebst sie.«

Es kam wie ein schweres Atmen. »Ja.«

Es entstand eine Pause.

»Sie ist ein Wildfang«, sagte ich.

»Eines Tages wird sie jemand einfangen, aber das werden dann weder Mark noch ich sein«, antwortete er.

Es entstand eine Pause. »Zum Glück habe ich noch die Musik. Sonst würde es mich umbringen«, sagte Andi schließlich.

Inzwischen hatte sich die Korona auf Deck versammelt.

Tom gab neue Anweisungen. »Bis Vlieland brauchen wir drei Stunden. Ich will vor Einbruch der Dunkelheit einlaufen. Alle ziehen ihre Schwimmwesten an. Da draußen auf dem Wattenmeer geht es etwas rauer zu als auf dem IJsselmeer. Hopp, hopp, Segel setzen.«