zwölf Between My Legs

Gegen vier Uhr morgens, nachdem wir Karens Stand abgebaut und alles in der alten Kiste verstaut hatten, machten wir uns zu Fuß auf den Heimweg. Karen und Rike trugen dieses unhandliche Teil, das aussah wie eine Piratenschatztruhe. An den Seiten hatte es kleine Metallgriffe.

Miti und ich trotteten in ein paar Metern Abstand hinter ihnen her.

Karen hatte richtig gut Umsatz gemacht. Ein einziges Paar ihrer selbstgeschneiderten Hosen und drei von den Hippieblusen waren übriggeblieben. Auch die mit schwarzem Samt ausgelegten Schatullen, in denen sie ihre Ringe präsentiert hatte, wiesen große Lücken auf. Die Reisekasse für Christiania musste prall gefüllt sein.

»Ich kann nicht mehr«, sagte Rike unvermittelt.

Wir waren erst seit wenigen Minuten unterwegs. An dem Inhalt der Truhe konnte es nicht liegen, dass sie schlappmachte. Das Ding war zwar aus massivem Holz, doch die paar Hosen und Ringe wogen nichts.

Karen und Rike stellten die Truhe ab, Rike zeigte mir ihre Hand. Die Metallgriffe hatten breite rote Striemen im Fleisch hinterlassen.

»Okay, wir übernehmen«, sagte Miti und nickte mir aufmunternd zu.

Sie ging rechts, ich links. Die Griffe schmerzten schon nach den ersten Schritten. Bescheuerte Konstruktion, dachte ich.

Stumm marschierten wir nebeneinander her.

»An was denkst du?«, durchbrach Miti das Schweigen.

»Nichts Bestimmtes«, antwortete ich.

Das war nicht die ganze Wahrheit. Meine Gedanken kreisten natürlich um den Ausgang des Festivals. War doch alles bestens gelaufen, oder?

Andi hatte Mark die Hand gereicht und ihm gratuliert. Eine Geste, die zeigte, dass ich meine Haltung gegenüber Andi gründlich überdenken musste. Meine Einstellung zu Mark bedurfte, wie man so sagt, ohnehin einer Neuorientierung. Er hatte keinerlei Freude über den Gewinn des Festivals gezeigt. Ein kurzes, schmutziges Lächeln, das war alles.

Skip, Gero und Paul dagegen waren sich in den Armen gelegen.

Mark musste von Don regelrecht überredet werden, eine Zugabe zu geben. Ich versuchte, mir einen Reim auf sein Verhalten zu machen. Es wollte mir nicht gelingen.

Und was war da los zwischen Andi und Karen? Sie hatten Händchen gehalten. Doch wieso war Andi nicht hier?

Der Abbau der Anlage war zügig vonstattengegangen. Ohne dass Billy den Boss markieren musste, legten Rössel, Sonny und Moses los wie die Profis. Sogar Fetzer schleppte Verstärker und Boxen in den Lieferwagen von Köfers Willi. Die Putzkolonne des Dicken schwärmte mit Besen und Eimern aus, um klar Schiff zu machen.

Kief hatte den harten Kern ins Rats eingeladen. Er würde den Laden noch mal aufschließen und jedem einen Absacker servieren.

Don, Sonny, Moses und Billy fuhren im Truck der Lichtcrew, die trotz aller Unkenrufe ihren Job gut gemacht hatte.

Miti holte mich zurück in die Wirklichkeit. »Hey, du Träumer! Los, unterhalte dich mit mir!«

»Entschuldige, ist irgendetwas?«

»Den Typ da vorn, kennst du den?«

Wir waren an der Kirche beim Bahnübergang angekommen. Eine dunkle Gestalt schlurfte durch die Nacht. Ich kannte nur einen, der um diese Zeit wie ein Steppenwolf unterwegs war.

»Hördi, dich hab ich ja heute noch gar nicht gesehen«, rief ich.

Er drehte sich um und wartete, bis wir ihn erreicht hatten. Wir stellten die Kiste ab. Karen, Rike und Miti ließen sich kichernd auf ihr nieder.

Hördi blickte mürrisch drein. Auf seiner Stirn hatten sich von Grübelfalten gebildet. Noch einer, der sich das Hirn zermarterte.

»Alter, was ist los mit dir?«, fragte ich.

Er verzog die Mundwinkel. »Keine Ahnung. Ich komme vom Festival und spaziere nun nach Hause. Ich denke nach. Das ist alles.«

Ich wollte mehr wissen, doch Miti kam mir zuvor.

»Und über was denkst du so nach?«, fragte sie.

»Sie halten uns für Zombies«, meinte Hördi.

Ich verstand nur Bahnhof. Worüber sinnierte er nachts um vier Uhr auf einer dunklen Straße? Selbst im Licht des Monds konnte ich keinen Augenkontakt mit ihm herstellen. Er schaute durch mich hindurch.

»Wer hält wen für Zombies?«, fragte ich.

»Die Gesellschaft, die Spießer, deine und meine Eltern, die Bosse, die Politiker, die Lehrer, der Staat. Einfach alle. Für die sind wir Wesen von einem anderen Stern. Die Art, wie wir uns kleiden, wie wir uns bewegen, welche Bücher wir lesen, welche Musik wir hören, das macht uns von vornherein verdächtig in ihren Augen.«

Wenn Hördi ins Philosophieren kam, dann passierte das einfach. Manchmal war es kryptisch wie jetzt, aber es hatte trotzdem immer Hand und Fuß. Für mich jedenfalls.

Er war noch nicht fertig. »Für sie sind wir ein unheilbarer Virus, eine Krise, eine Krankheit. Aber genau das ist unser Kapital, denn wir sind die Zukunft, weil wir die Welt mit anderen Augen sehen.«

»Du redest wie Dennis Hopper in Easy Rider«, meinte Miti.

Insgeheim stimmte ich Hördi zu. Für die Spießer waren wir Freaks Wesen von einem anderen Planeten. Ich schaute Miti an.

Unsere Blicke trafen sich. Ich schaute schnell zur Seite, fühlte mich ertappt. Aber in dieser Sekunde, in der wir uns ansahen, wurde mir schlagartig bewusst, dass ich den Rest der Nacht nicht allein verbringen wollte.

*

Irgendwie schafften wir es die Kiste mit heilen Fingern bis zu Karens Haustür zu bringen. Hördi schlurfte noch eine Weile schweigend neben uns her, dann war er verschwunden. Er war irgendwo abgebogen und seines Weges gegangen, dieser Freakritter von der traurigen Gestalt.

Es bedurfte keiner Erklärung. Miti kam einfach die drei Straßen mit, die ich von Karen entfernt wohnte. Mit hinauf in mein Dachzimmer.

Völlig erschlagen ließen wir uns rücklings aufs Bett fallen.

Dort lagen wir eine Weile und starrten an die Decke.

Alle Gelenke und Knochen schmerzten mir, eine erlösende Müdigkeit überkam mich. Mein Herz klopfte allerdings wild.

Die Lust hatte mich längst am Haken, doch den ersten Schritt zu wagen, das hätte ich mich nicht getraut.

Miti ergriff die Initiative, beugte sich über mich und strich mir die Haare aus dem Gesicht.

»Ich möchte dich jetzt küssen«, hauchte sie.

Weich und feucht.

Bereitwillig bot ich ihr meinen Mund an.

Sie nahm ihn wie eine reife Frucht und suchte meine Zunge.

Eine Art Blitz durchzuckte mich.

Mein Verlangen wurde größer.

Leckend erkundete ich Ohr und Hals.

Sie lag auf mir. Es war schön, ihr Gewicht zu spüren.

Vorsichtig zog ich am Reißverschluss ihres Rocks. Die andere Hand glitt unter das T-Shirt. Sie trug keinen BH, schnell fand ich den Weg zu ihren Brüsten. Ich bekam einen Busen zu fassen, er passte genau in meine Hand.

Endlich gelang es mir, den Rock über ihren Po zu ziehen, und ich begab mich auf Entdeckungsreise.

Meine Erregung steigerte sich, je weiter ich mich vorwagte.

Ich streichelte ihre Schenkel.

Die Haut war zart, wie würde es erst ...?

Mein erigierter Schwanz pochte von innen gegen den Reißverschluss der Jeans. Miti richtete sich auf und zog sich das T-Shirt über den Kopf.

Geschickt öffnete sie mir Hemd und Hose. Im schwachen Morgenlicht, das durch das Dachfenster ins Zimmer drang, konnte ich nur ihre Umrisse erkennen. Die Nippel ihrer Brüste schauten mich herausfordernd an, das Haar hing ihr zerzaust im Gesicht. Begierig funkelten mich ihre Augen an.

Ja, ich will dich, jetzt, hier, sofort, auf der Stelle.

»Bitte, warte«, flüsterte ich.

»Was ist los, stimmt was nicht?«

Jetzt wurde es schwierig.

»Ich ... wie soll ich sagen, ich hab noch nie mit einer Frau geschlafen.«

Stille.

»Miti?«

»Sag, dass das nicht wahr ist.«

»Ich hab noch nie mit einer Frau geschlafen.«

»Mist«, zischte sie leise.

»Kannst du es mir beibringen?«

»Ich weiß nicht, ob ich die Richtige dafür bin.«

»Versteh ich nicht. «

»Wenn es das erste Mal für dich ist, dann solltest du es mit jemandem machen, den du liebst und der dich liebt. Ich habe Angst, dass du mich dafür hassen wirst.«

»Warum sollte ich das tun?

»Weil ich nicht verliebt in dich bin.«

Darauf wusste ich nichts zu antworten.

»Miti?«

»Ja?«

»Er zieht sich wieder in sein Schneckenhaus zurück.«

In der Dunkelheit glaubte ich zu spüren, wie sie lächelte.

Plötzlich war ihre Hand in meiner offenen Jeans. Unter ihrem Griff fing er wieder an, heftig zu pochen.

»Eine Frage noch«, flüsterte ich. »Wie verhüten wir?«

»Blödmann, ich nehme die Pille. Na, wenigstens fragst du.«

Ihr Orgasmus kam für mich völlig überraschend. Mit einem Stoßseufzer ließ sie sich in meine Arme fallen.

»Ich glaube, ich bin gekommen«, sagte sie.

Bauch an Bauch schliefen wir schließlich ein. Die Morgensonne schien bereits. Tief in meinem Innern wusste ich, diese Nacht war nicht zu wiederholen. Nicht mit Miti.

*

Als ich erwachte, war das Laken neben mir verwaist.

Ich tastete nach dem Wecker. Vier Uhr nachmittags.

Meine Fresse! Schirmer!

Er wartete auf meinen Artikel.

Ich war mehr als spät dran. Das würde einen Anschiss geben.

Miti war weg. Ich spürte einen kleinen Stich.

Bloß nicht drüber nachdenken. Ich sprang unter die Dusche. Während ich mich einseifte, wurde ich wieder geil. Ich hatte keine Möglichkeit gehabt, ihr zu sagen, wie schön es für mich war.

Schön, schön und nochmal schön.

Wahllos klaubte ich Klamotten aus dem Schrank und stürmte ohne etwas zu essen aus dem Haus.

Die Kreidler röhrte, so viel Stoff gab ich. Ich konnte ihn riechen, den Sex, eine Mischung aus Honig, Lavendel und Sperma. Ich fühlte eine angenehme Mattigkeit zwischen den Schenkeln. Ich legte mich tief in die Kurven.

Mein erstes Mal!

Sollte ich den anderen davon erzählen? Lieber nicht. Niemand sollte davon etwas erfahren. Vielleicht weihte ich Karen ein, mal sehen. Und die Korona? Sonny und Moses würden alle Einzelheiten wissen wollen. Fetzer würde vor Neid erblassen.

Und Mark? Darauf hatte ich überhaupt keinen Bock, dass ausgerechnet er irgendetwas davon erfuhr.

Ob er noch mein Freund war? Ich schob den Gedanken beiseite.

Als ich die Redaktion betrat, klackte der Zeiger auf der Uhr über dem Ressortleiterschreibtisch auf Viertel vor fünf.

»Aha, die Edelfeder lässt sich endlich blicken. Du hast genau noch eine Stunde. Dann ist Redaktionsschluss. Ich will was Fetziges lesen, was Authentisches, damit der Leser sofort spürt, das Festival war etwas Besonderes. Kapiert?«, schleuderte Schirmer mir entgegen.

Er bugsierte mich an die einzige noch freie Schreibmaschine und drückte mich in den Stuhl. »Hau rein, und zwar zack, zack!«

Außer mir waren noch fünf andere Schreiberlinge zugange. Volle Aschenbecher und leere Kaffeetassen auf den mit Papieren übersäten Redaktionstischen. Das Klappern der Maschinen geriet zu einem Tosen in meinem Kopf. Mist, wie sollte ich bloß anfan

Schirmer drückte mir das Layout in die Hand.

Er hatte die gesamte erste Lokalseite fürs Festival reserviert. Mindestens hundert Zeilen für den Aufmachertext. Dann noch einen Kasten mit Impressionen und Splittern. Das waren noch einmal fünfzig Zeilen.

Drei Fotos hatte er eingeplant. Eine Gesamtaufnahme des bis auf den letzten Platz gefüllten Zeltes. Dann Andi am Piano, neben ihm Reed Isberg mit Borsalino und Saxophon. Das vierspaltige Aufmacherfoto zeigte Mark, Skip, Paul und Gero in Aktion.

Eine Überschrift gab es auch schon. Sie ging über die ganze Breite der Seite. Dreamlight auf dem Siegerpodest. Die Dachzeile lautete: Mehr als 1200 Fans verwandelten Festzelt in Rock-Arena. Phonstarkes Undergroundfestival war ein voller Erfolg. Das alles hatte Schirmer sich ausgedacht und vorbereitet.

Aber woher wusste er, wer der Gewinner war? Wahrscheinlich hatte ihm Moses bereits alles erzählt.

Zaudern half nicht. Nun musste ich beweisen, was ich draufhatte.

Das Schreiben auf der Maschine hatte ich nie richtig gelernt, ich hatte es mir mit dem Zwei-Finger-Such-System selbst beigebracht. Doch wenn ich in einen Schreibfluss geriet, war ich nicht mehr aufzuhalten.

Nach genau vierzig Minuten zog ich das letzte Manuskriptpapier aus der Maschine und brachte alles, insgesamt sieben Seiten, zu Schirmer.

Das hat die Stadt bislang noch nicht gesehen und gehört. Die Fans kamen aus allen Teilen der Region, um ihre Musik endlich einmal live zu erleben. Am Ende dürften es wohl mehr 1200 junge Leute gewesen sein, die in bester Stimmung und mit großer Begeisterung das Festzelt in eine Rock-Arena verwandelten. Folk, Jazz, Hard-Rock, progressive Töne und Space-Rock, das war der Sound, der am Samstag geboten wurde beim ersten Undergroundfestival, präsentiert von fünf jungen einheimischen Bands. Und einen Festivalsieger gab es auch. Der hieß nach äußerst knapper Abstimmung durch das Publikum: Dreamlight.

In dem Kasten mit den Festival-Impressionen schrieb ich davon, dass sogar die Feuerwehr ihren Spaß hatte und die Polizei die Friedfertigkeit der Gäste lobte. Ich verfasste einen regelrechten Gute-Laune-Schmu und ließ alles weg, was Ärger nach sich hätte ziehen können.

Ich stand bei Don im Wort, obwohl ich kurz der Versuchung erlag, Anführer für seine blöden Sprüche eins auszuwischen.

»Und nun noch den Kommentar. Dreißig Zeilen«, brummte Schirmer. »In zehn Minuten kommt ein Bote und holt alles ab, um es in die Zentralredaktion zu bringen. Also beeil dich, Junge, wegen dir will und werde ich nicht den Andruck schmeißen.«

Ich traute mich nicht zu protestieren. Hatte ich vor, als Journalist glänzen, und das wollte ich mehr denn je, dann musste ich die Suppe jetzt auslöffeln.

Ich fabulierte ins Blaue, schließlich hatte ich ja noch nie einen Kommentar geschrieben. Ich beschwor den kulturellen Aufbruch in der Stadt, initiiert von einer Jugend, die Innovatives leistete. Ich pries das Engagement von Don und Bürgermeister Wagner. Und dass mit Dreamlight ein Sieger gefunden worden sei, der das Zeug zu einer ganz großen Karriere habe. Der eigentliche Sieger sei aber das Publikum, weil es die richtige Wahl getroffen habe. So in der Art. Mir brummte der Schädel immer mehr.

In meiner Brust regte sich mittlerweile so etwas wie Stolz. Ich hatte tatsächlich die erste Lokalseite komplett zugehauen. Meine erste große Story. Fein säuberlich herausgetrennt, hing die Seite am nächsten Tag eingerahmt über meinem Bett im Dachzimmer.

»Fein, fein«, sagte Schirmer schließlich, »Und merk dir, Journalismus ist saubere Recherche, gute Schreibe und Schnelligkeit.«

»Na ja, wenn Sie es sagen«, brummte ich.

»Ich habe gewusst, dass du das hinbekommst. Aber beim nächsten Mal komm bitte nicht wieder auf den letzten Drücker. Dann lasse ich dir das nämlich nicht mehr durchgehen, verstanden?«

Beim nächsten Mal? Was hatte das zu bedeuten?

Schirmer wurde unverhofft von einem seiner Hustenanfälle geschüttelt. Krächzend und ohne die Kippe aus dem Mund zu nehmen redete er weiter. »Bei Gelegenheit sollten wir über deine Zukunft reden. Jemanden wie dich könnte ich hier gebrauchen.«

*

Don machte ein verzweifeltes Gesicht. »Das war’s dann.«

Ich war intuitiv noch einmal zum Zelt gefahren. Als ich eintraf, dirigierte Eckfritz ein paar Helfer herum, die auf Leitern stehend die Dekoration für das Volksfest in der kommenden Woche anbrachten. Girlanden, bunte Glühbirnen und Banner mit irgendwelchen Gebirgsmotiven drauf.

Fehlte nur noch, dass Marks Onkel Rudi auftauchte und in seiner Krachledernen Soundcheck machte. Der Dicke hatte mich kommen sehen und wies mich in Richtung Backstage. Ich fand Don in seinem Verschlag, wo er über irgendwelchen Rechnungen brütete.

Ein erfolgreiches Festival, aber pleite? Ich fasste es nicht. »Das Zelt war umsonst, keine Ablöse für die Parkplätze. Fetzer, Billy, Sonny und Moses und ich haben kostenlos für dich gearbeitet. Auch hast du keine Gage für die Bands hinlegen müssen. Was hast du mit der Kohle gemacht?«

Don hielt dagegen. »Das Anmieten der Anlage, dann die Lightshow samt Crew, die Toilettenaktion, der Gabelstapler – was das alles gekostet hat. Dann die ganze Vorarbeit, die Plakate, die Anzeigen, Telefon, Grafikerkosten. Puh, und das Dope für die Bands.«

Alles Zampano-Gehabe, ich konnte es nicht mehr hören. »Die Einnahmen der Abendkasse müssen doch gereicht haben, das kann doch nicht einfach so durch den Schornstein geraucht sein? Gib es zu, du hast alles auf ein Konto in der Schweiz transferiert.«

»Pass auf, was du sagst! Ich habe Schulden bei meinem Vater und bei der Bank. Den Kredit habe ich nicht umsonst bekommen.«

Das mit dem Kredit stimmte, aber ansonsten glaubte ich ihm kein Wort.

»Du wolltest doch unbedingt der Impressario sein, dann trägst du auch das Risiko. So ist das nun mal beim Geschäftemachen, oder etwa nicht? Das sind deine Worte. Das hast du immer gesagt.«

Er konnte mir viel erzählen, wahrscheinlich hatte er die Scheine schon längst in Sicherheit gebracht, sie lagen bestimmt in diesem Kästchen für die Abendkasse, zu Hause versteckt in seinem antiquarischen Sekretär.

»Ich habe mit Fürst telefoniert«, sagte Don, sichtlich froh, ein anderes Thema anzusprechen.

Fürst, klar, den gab es ja auch noch, den hatte ich fast vergessen.

»Und, was sagt unser Plattenboss?«

»Mark bekommt seinen großen Auftritt, und zwar im Vorprogramm von Witthüser & Westrupp.«

Fürst hatte Wort gehalten. Trotzdem machte Don ein mürrisches Gesicht.

»Was passt dir daran nicht?«, fragte ich.

»Der Auftritt ist schon am Mittwoch. Da bleibt den Jungs nicht mehr viel Zeit zum Proben. Und das mit Charlie, also dem Typ vom Radio, das soll am Samstag sein. Was für ein Stress! Aber dafür gibt es Aufnahmen im Funkhaus, stell dir das vor!«

»Wenn das keine Neuigkeiten sind. Wie ich dich kenne, hast du mit Fürst eine kleine Gage für deine Dienste ausgehandelt. Und bei diesem Charlie gehst du auch nicht leer aus, oder?«

Ohne zu antworten, stopfte er seine Sachen in eine Aktentasche.

»Don?«, hakte ich nach.

Er sagte noch immer nichts, konnte sich aber ein Lächeln nicht verkneifen.

Dachte ich es mir doch, der Herr Manager! Von wegen pleite.

»Wissen Mark und die Jungs schon von ihrem Glück?«

»Ich hatte gerade vor, es ihnen zu sagen. Wie bist du hier, kannst du mich ins Rats mitnehmen?«

*

Paul, Gero und Skip saßen auf ihrem Stammplatz, am hinteren Ecktisch direkt neben dem DJ-Podest.

Kief hantierte am Plattenspieler herum, dann krächzte eine raue Stimme durch den Laden, es klang nach Muddy Waters, vielleicht war es auch John Lee Hooker, Blues war Kiefs Revier, nicht meines.

Toni und Erwin, Fetzer und Hördie hingen an der Theke herum. Karen war hinterm Tresen zugange, anscheinend hatte sie einen neuen Job. Das konnte nur bedeuten, dass ihre Reisekasse doch nicht so gut gefüllt war, wie ich angenommen hatte. Auf der Tanzfläche lümmelten einige Freaks lustlos herum, keiner tanzte. Auf John Lee Hooker zu rocken, das hätte aber auch Scheiße ausgesehen, beim Blues wirkte Posing mit Luftgitarre einfach lächerlich. Versunken in die Musik, tänzelte allein Rössel mit geschlossenen Augen vor sich hin. Sonny und Moses machten sich wie immer am Flipper zu schaffen.

Don marschierte auf Mark zu, der mit Reed Isberg am Zigarettenautomaten stand. Die Herren Musiker schienen sich angeregt zu unterhalten. Ich zögerte, sollte ich zu ihnen gehen?

Da bemerkte ich Skip, der mir zuwinkte.

»Wie Sieger schaut ihr nicht aus«, sagte ich und quetschte mich zu ihnen auf die Bank.

Skip schaute traurig. »Spar dir deine Sprüche.«

Paul schabte manisch mit dem Finger auf dem Tisch herum, als wolle er die Ritzen darauf vom Dreck befreien. Gero zog die Brauen hoch, als wollte er auch etwas sagen. Dann putzte er weiter seine Brille.

Meine Fresse, wie waren die denn drauf, das war ja nicht zum Aushalten.

»Raus mit der Sprache, was ist los?«, rief ich in die Runde.

»Mark hat uns die Pistole auf die Brust gesetzt«, sagte Skip.

Paul schabte immer noch, Gero setzte die Brille auf.

»Was soll das heißen?«, fragte ich.

»Er sagte, wir müssten uns entscheiden. Rock ’n’ Roll oder bürgerliche Existenz. Er will nach Berlin zu Fürst. Und wenn wir nicht mitkommen, ginge er halt allein. Ziemlich blöd seien wir, wenn wir die Chance nicht wahrnehmen, außerdem spießig und angepasst. So ein Sackgesicht.«

Das sagte ausgerechnet Skip. Er, sonst immer um Harmonie und Ausgleich bemüht, war tatsächlich sauer. Was selten genug vorkam, eigentlich gar nicht.

»Und, wie geht es weiter?«

»Er hat uns ein Ultimatum gestellt. Wir machen am Mittwoch den Auftritt im Vorprogramm von Witthüser & Westrupp. Das wissen wir von Fürst, Mark hat mit ihm telefoniert. Und am Samstag fahren wir zu diesem Radio-Freak, wie heißt der noch, Charlie. Spätestens dann will Mark wissen, ob wir mit dabei sind.«

Sieh an, sie wussten also schon Bescheid.

»Wo mit dabei? Los komm endlich rüber damit, Skip.«

»Die Band soll nach Berlin gehen. Alle Mann. Eine Platte aufnehmen, Berufsmusiker, reich, berühmt und sexy werden. Don würde auch nach Berlin kommen, sagt Mark. Irgendwie hängt der da mit drin.«

»Das klingt doch alles super, nach ganz großer Karriere. Ihr seid gemachte Leute. Fürst nimmt euch unter seine Fittiche und bringt euch groß raus. Das ist wie ein Sechser im Lotto, was gibt es daran auszusetzen?«

Endlich rührte sich Paul. »Ich habe es satt, mir von Mark vorschreiben zu lassen, was ich zu tun habe und was nicht.«

Gero fixierte mich durch seine Brillengläser. »Er lässt uns eigentlich keine Wahl. Er würde das auch allein durchziehen, sagt er. Und dann sucht er sich neue Leute, Berlin sei voll mit guten, wie hat er sich ausgedrückt, erfolgsorientierten Musikern. Was aus uns wird, interessiert ihn einen Dreck. Aber das kann er nicht machen. Wir sind ebensosehr Dreamlight wie er. Er tut, als habe er alles allein erreicht. Als sei der Sieg beim Festival nur auf ihn zurückzuführen. Da hat er sich aber getäuscht. Wir haben auch unsern Teil dazu beigetragen.«

Skip setzte nach. »Ohne Rücksicht auf Verluste. So ist der drauf. Das ist nicht mehr der Mark, wie wir ihn kennen.«

Auf einmal durchbohrten mich alle drei mit ihren Blicken.

Das Trio infernal wollte wissen, wo ich stehe.

Seit sein Alter ihn vor die Tür gesetzt hatte, waren Marks Gesichtszüge härter geworden, seine Haltung und Gestik hatte sich verändert, er lachte kaum noch und schien ständig von irgendetwas genervt zu sein, man traute sich kaum mit ihm zu sprechen. Er setzte sich mächtig unter Druck.

Zu allem Überfluss war er nun auch noch größenwahnsinnig geworden.

Sicher, in Berlin gab es gute Musiker wie Sand am Meer. Und jeder Einzelne von ihnen beherrschte sein Instrument wahrscheinlich zehnmal besser als Skip, Gero und Paul zusammen. Aber Dreamlight hatten das Festival nur deshalb gewonnen, weil sie eine Band waren aus vier Freunden.

Sie hatten sich weiterentwickelt, waren zu einer funktionierenden musikalischen Einheit verwachsen, und das war das Verdienst eines jeden in der Gruppe. Der Erfolg gehörte Mark nicht allein. Gero hatte recht.

Mark hielt sich wohl für Frank Zappa. Von dem wusste man, dass er oft und gern Musiker feuerte, wenn sie nicht so spielten, wie er sich das vorstellte. Es gab aber einen entscheidenden Unterschied zwischen Mark und Zappa. Letzterer hatte etwas vorzuweisen, war ein anerkannter Künstler. Davon war Mark noch verdammt weit entfernt. Auch wenn er trommeln konnte wie ein junger Gott. Mark hatte sich zum Negativen verändert – und das war eine Tatsache.

»Dann geht doch alle mit nach Berlin«, sagte ich.

Skip machte auf trotzig. »Was soll ich in Berlin, da gibt es für mich nichts zu tun. Wenn wir als Band gut sind, schaffen wir es auch von der Provinz aus. Soll er doch gehen, dann holen wir uns einen neuen Schlagzeuger. Gerd von Storm ist ziemlich gut.«

Gero versuchte abzuwägen. »Eine Platte in Berlin aufnehmen, das ist bestimmt aufregend. aber gleich dort hinziehen? Ich weiß nicht, bis jetzt ist doch hier alles gut gelaufen. Wir haben das Festival gewonnen. Und bald sind wir im Radio.«

Paul war ganz woanders. »Mark gehört gründlich die Fresse poliert.«

In diesem Moment materialisierte sich Don. »Was geht denn hier ab?«

Paul hatte seinen Ärger noch nicht verdaut. »Kümmer dich um deine Angelegenheiten, Herr Manager.«

»Ich wollte euch nur sagen, dass ihr einen neuen Mitspieler habt.«

»Und wer soll das sein, Reed Isberg vielleicht?«, fragte Gero belustigt.

»Du hättest Hellseher werden sollen. Mark hat alles klargemacht. Isberg will bei euch einsteigen. Beim Auftritt am Mittwoch wird er schon dabei sein«, sagte Don.

»Das ist der Hammer«, bemerkte Skip.

Das war es in der Tat.

»Hat Andi da nicht auch ein Wörtchen mitzureden, schließlich nehmt ihr ihm den Saxophonisten weg?«, gab ich zu bedenken.

Skip war beeindruckt. »Ein richtiger Jazzer. Das ist tatsächlich eine Bereicherung für unseren Sound.«

*

Minuten später verließen Mark und die Jungs mit Isberg und Don im Schlepptau das Rats. Sie hatten beschlossen, auf der Stelle eine Probe abzuhalten. Der neue Mitspieler musste augenblicklich in die Geheimnisse ihrer Musik eingeweiht werden. Mark hatte einen Coup gelandet, sein Ultimatum schien nicht mehr zu interessieren.

Ich ging zum Tresen. Karen spülte gerade ein paar Gläser.

»Wie geht es dir?«, fragte sie, ohne aufzublicken.

Sie weiß es, dachte ich.

Ich zuckte mit den Schultern. Abwarten, nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. »Ich dachte, das Geld müsste inzwischen reichen«, sagte ich.

Sie stellte die sauberen Gläser auf einem Tablett zusammen. »Ein paar Kröten kann ich schon noch gebrauchen.«

»Ich habe über deinen Vorschlag nachgedacht.«

»Und?«

»Das mit der Journalistenschule ist gar nicht so verkehrt. Jetzt, da ich schon ein paar Artikel veröffentlicht habe, könnte ich meine Kenntnisse vertiefen. Außerdem hat mir Schirmer ein Angebot gemacht. Ob ich nicht fürs Lokalblatt arbeiten möchte«, antwortete ich.

»Journalistenschule finde ich besser.«

Ich nickte. Ich wollte endlich über Miti reden, traute mich aber nicht. Stattdessen fragte ich: »Sag mal, das mit Giulia, was weißt du darüber?«

Karen trocknete sich mit dem Geschirrtuch die Hände. »Ich habe sie mit Don zum Bahnhof gebracht. Sie wollte, dass ich dabei bin.«

Sie hockte sich auf die Ablage neben der Spüle. So konnten wir uns direkt in die Augen schauen. Ich holte den Tabak hervor und drehte mir eine Kippe, während sie erzählte.

Giulia sei zu ihr kommen und habe gesagt, sie glaube, sie sei schwanger. Giulia nahm die Pille nicht. Karen hatte ihr ins Gewissen geredet. Wie man nur so unvorsichtig sein könne. Es hätte einiger Überredung bedurft, Giulia dazu zu bewegen, zum Gynäkologen zu gehen. Die Untersuchung hatte dann für Gewissheit gesorgt. Don sei kreidebleich geworden und habe angefangen zu lamentieren. Als Veranstalter stehe er erst am Anfang, er könne kein Kind ernähren, und überhaupt, wie solle er das seinen Eltern erklären. Schließlich habe er vorgeschlagen, nach Holland zu fahren und das Kind abzutreiben. Das sei dort erlaubt. Giulia sei in Tränen ausgebrochen und habe nur noch weggewollt.

Ich unterbrach sie nicht. Das meiste wusste ich schon von Don, doch ich wollte ihre Version hören.

»Weißt du, wie es ihr jetzt geht?«, fragte ich.

Sie lächelte. »Ich habe mit ihr telefoniert. Mit oder ohne Don, sie will das Kind. Aber eigentlich wolltest du mich doch etwas anderes fragen?«

Ein heißer Schauer lief mir über den Rücken. Karen hatte mich von Anfang an durchschaut. Hektisch zog ich an der Kippe.

»Hast du sie gesehen?«

»Ja, klar.«

Karen wusste es. Dachte ich es mir doch.

»Wo ist sie jetzt?«

»Mit Rike nach Kopenhagen. Vermutlich kommen sie jetzt gerade an.«

Mein rechter Arm, auf den ich mich gestützt hatte, rutschte vom Tresen. Der Barhocker fiel um wie in Zeitlupe und knallte zu Boden.

Ich würde Miti nie wiedersehen.