fünf Inside Looking Out
Das Erste, was mir auffiel, waren die Matratzen.
Auf dem Parkett zogen sie sich an den rot gestrichenen Wänden des Zimmers entlang wie ein auf dem Kopf stehendes U.
Statt einer Tür hing etwas im Rahmen, das aussah wie Girlanden. Es waren Schnüre aus Seide, die bis zum Boden reichten, mit kleinen bunten Steinchen und Perlen aus Plastik besetzt. Als ich sie mit der Hand berührte, erinnerte mich das Geräusch an das Klackern von Glasmurmeln.
In der Mitte vor dem Matratzen-U stand ein kniehoher rechteckiger Tisch. Na ja, eigentlich waren es leere Bierkästen mit einer Holzplatte obendrauf. Jemand hatte ein Spitzendeckchen darübergelegt.
Und dann die Kerzen. Auf Untertassen in jeder erdenklichen freien Ecke verteilt – es waren bestimmt an die zwanzig –, hüllten sie den Raum in ein fast mystisches Licht. Irgendwo mussten auch Räucherstäbchen glimmen. Der Geruch war unverkennbar. Die Wände waren mit Batiktüchern dekoriert. Die grellen psychedelischen Muster wirkten wie ein nicht ganz gelungener Versuch, Dalí auf LSD nachzumalen.
Am Eingang stand ein Plattenspieler. Daneben ein Teil so groß wie ein Koffer. Dieses Gerät war Mischpult und Verstärker in einem und hatte eine Power, dass die Dröhnung nicht nur im ganzen Haus, sondern in der halben Stadt zu hören sein musste. Die Lautsprecherboxen waren an die hinteren Wände des Zimmers montiert. Ich schmunzelte und überlegte kurz, ob die Balken der Dachwohnung nicht derart heftig vibrieren würden, dass die Ziegel tanzten und davonflögen.
Das also war das Müsli. Sonny und Moses hatten sich wirklich etwas einfallen lassen, um es den Freaks heimelig zu machen.
Auf den Matratzen war kein freier Platz mehr zu bekommen. Die gesamte Rats-Korona hatte sich dort versammelt. Sogar Kief war da, wahrscheinlich, um abzuchecken, ob sich das Müsli zur Konkurrenz entwickeln könnte. Joints machten die Runde. Was war das für ein psychedelischer Sound? You Doo Right von Can beschallte die Szenerie.
In der hinteren Ecke des Matratzen-Us tat sich was. Ein Typ mit einer gewaltigen blonden Lockenpracht schlug mit beiden Fäusten auf die Zimmerwand ein. Es war Matti, der Drummer von Zoon Politikon. Immer wieder rief er: »Mehr, mehr, mehr!« Der LSD-Trip, auf dem er anscheinend war, und der Sound hatten ihn scheinbar auf eine Reise in die Windungen seines Hirns geschickt. Alle quasselten durcheinander. Der Stimmenpegel übertönte teilweise gar die Musik. Die Gespräche, das konnte ich mir an den Fingern abzählen, drehten sich um das teure Dope, das derzeit kursierte, die fehlenden Mädels – denn die waren hier klar in der Minderheit –, das Musikfieber und das bevorstehende Festival.
Mark und Karen hatten es sich neben dem Mischpultkoffer bequem gemacht. Er schien ihr gerade etwas erklären zu wollen. Um das Gesagte, das ich nicht verstand, zu unterstreichen, gestikulierte er mit den Händen in der Luft. Karen nickte und schaute ihn mit großen Augen an. Wahrscheinlich hielt er ihr einen Vortrag darüber, wie er reich, berühmt und sexy werden wollte, dass er dafür nur einen richtig guten Song, also einen Hit, brauchte. Danach würde Karen sicher mit Christiania anfangen. Ich verspürte keine Lust, mich zu ihnen zu setzen. Ich kannte das alles zur Genüge. Außerdem wollte ich ihr erstes richtiges Näherkommen nicht stören.
Cannabis konnte komplizierte Gedankenabläufe in Gang setzen. Diese in Sprache umzusetzen, war ein schwieriges Unterfangen. Am besten, man redete erst mal drauflos. Die Gefahr bestand darin, dass man immer weiter vom Weg abkam. Ein Gespräch über das Wetter konnte in ein verschachteltes Philosophieren ausufern, bis am Ende niemand mehr wusste, wie man darauf gekommen war. Kluge Köpfe wie Ernst Bloch und Walter Benjamin hatten einst versucht, unter Haschischeinfluss neue Ideen zu formulieren. Darüber hatten sie sogar ein Buch geschrieben. Die Sache war aber die, dass man, je bekiffter man wurde, also nach drei, vier Joints hintereinander, zunehmend zum plötzlichen Verstummen neigte und nur noch seinen eigenen Gedanken nachhing. So weit war diese Party jedoch noch nicht gediehen.
»Alter, da fliegt dir die Schädeldecke weg.«
Vor mir war Rütz aufgetaucht. Der Edelfreak. Er trug indianische Mokassins, handgefertigt, Jeans mit so viel Flicken drauf, dass sie faktisch nur noch daraus bestanden. Rütz liebte langärmelige Shirts, die er selbst färbte und dann mit den Covers seiner Lieblingsbands bemalte. Er hatte gerade eine Lehre als Schaufensterdekorateur begonnen. Ich fand, dass das prima zu seinem zeichnerischen Talent passte. Diesmal trug er das Shirt mit der Schizoid-Man-Fratze vom ersten King-Crimson-Album.
Das Edelste an ihm war jedoch ein mit Lammfell besetzter Mantel aus braunem, kratzigem Leder. Ein Teil, wie es auch John Lennon trug. An Rütz sah es nach afghanischem Stammesführer aus. Er war Spezialist für die englische Undergroundszene. Er kannte alle Canterbury-Bands von Caravan bis Soft Machine und liebte die Platten von Van der Graaf Generator. Seine neueste Entdeckung hieß Gong.
»Alter, das musst du dir unbedingt mal reinziehen. Camembert Electrique heißt die Scheibe. Wenn du das hörst, hebst du ab«, sagte er.
Er fing an, die Musik von Gong zu beschreiben. Er laberte was von Musiktheater auf LSD, dass die Band in Frankreich lebe und im Vorprogramm von Magma, dieser französischen Spinnergruppe, aufgetreten sei. Mastermind sei ein gewisser Daevid Allen, der zur Urbesetzung von Soft Machine gehört habe. Gong lebten in einer Musikerkommune und seien das nächste große Ding. Rütz laberte und laberte. Wahrscheinlich stimmte alles, was er sagte. Aber sein Redeschwall war unerbittlich, ohne Punkt und Komma, weshalb ich mich bald ausklinkte, aber so tat, als hörte ich weiter zu.
Das war unhöflich, doch mir stand plötzlich nicht mehr der Sinn nach Gong und Künstlerkommune. In Marks Ecke tat sich etwas.
Karen war enger an ihn herangerutscht. Sie hatte die Knie angezogen, die Arme um die Beine geschlungen. Ihr Kopf ruhte auf den Knien, Mark zugewandt.
Sieh mal an, die beiden scheinen sich näherzukommen, dachte ich.
Ich sagte Tschüs zu Rütz, nicht ohne ihm versprechen zu müssen, mir Gong mal in aller Ruhe anzuhören. Ich solle doch mal auf ein Tässchen leckeren Kräutertee bei ihm vorbeikommen. Er griente, als er das sagte.
Im Flur entdeckte ich Andi.
Ich schob mich an ein paar Leuten vorbei, die ich vom Sehen kannte. Porno-Fischer, den alle so nannten, weil er angeblich eine Sammlung schwedischer Sexheftchen besaß. Skip, Gero und Paul standen bei ihm und schauten gelangweilt drein. Ich schnappte auf, wie Porno-Fischer sagte, er werde in die Band von Sonny und Moses, Waisel-Villwock, einsteigen. Das konnte ich gut für meinen Artikel verwenden.
Seit Erscheinen meines Berichts in Das Auge war es zu weiteren Gruppengründungen gekommen. Saitenspinner, Vox Juventutis und Tara Folk verstanden sich als Folkmusiker.
»Hast du Karen gesehen?«, fragte Andi. Er zwirbelte sich den Schnurrbart und zog gierig an der Gauloise. Der Junge schien ein Nervenbündel zu sein. Wahrscheinlich, weil Karen nicht an seiner Seite war. Schau an, wenn der nicht genauso eifersüchtig ist wie Mark, dachte ich.
»Die sitzt drinnen«, antwortete ich so unbeteiligt wie möglich. Bevor er etwas sagen konnte, wechselte ich das Thema. »Was macht deine Band? Ihr habt Reed Isberg engagiert, hab ich gehört.«
»Hey, du kennst den?«
»Nicht wirklich – nur, was die Gerüchteküche erzählt«, erwiderte ich.
»Er hat eine Zeitlang bei Horst Jankowski gespielt. Hat damit gut Kohle gemacht«, sagte Andi.
Horst Jankowski war ein Jazz-Pianist, der manchmal in Fernsehshows auftrat und eine Big Band unterhielt, die auch kommerzielle Sachen spielte. Mit »Schwarzwaldfahrt« hatte er einen Riesenhit gehabt, der selbst in den US-Charts aufgetaucht war.
»Wo hat der gespielt, bei Jankowski?«
»Hey, der ist ein sauguter Musiker. Aber als Jazzer musst du sehen, wo du bleibst. Oder glaubst du, mit Jazz kann man hierzulande Geld verdienen? Irgendwoher muss ja die Miete kommen.«
»Ich dachte immer, der schnöde Mammon geht den Jazzern am Arsch vorbei. Er bläst also ein richtig geiles Saxophon, dein Reed Isberg?«
»Bist wohl wieder auf Recherche?«
»Ich soll fürs Lokalblatt was übers Musikfieber schreiben«, antwortete ich.
»Also dann, für deinen Artikel, ich habe einen Bassisten und einen Schlagzeuger gefunden. Die kennst du nicht, sind nicht von hier. Wir proben bei Isberg, der wohnt in einem kleinen Dorf im Westerwald. Er hat sich im Keller ein kleines Studio eingerichtet.« In Andis Stimme klang Stolz mit.
»Und in welche Richtung geht euer Sound?«
»Ich verrate nur so viel, nichts wird nachgespielt, alles eigene Stücke, ich komponiere Tag und Nacht. Aber das meiste entsteht aus der Improvisation heraus. Aber wenn du unbedingt eine Schublade brauchst – es klingt wie die Musik von John McLaughlin.« Andis Stolz reichte nun bis zum Mond und zurück.
John McLaughlin war das neueste Ding. Der englische Gitarrist hatte in der Tony Williams Lifetime und bei Miles Davis gespielt und mit Devotion ein Album aufgenommen, das die Grenzen von Jazz und Rock aufhob. Es hieß, McLaughlin sei die Gitarrensensation, und seine neue Band Mahavishnu Orchestra, deren erste Platte mit Spannung erwartet wurde, mache eine Musik, die den Geist von Coltrane atme.
Ich war beeindruckt, ließ mir jedoch nichts anmerken. Andi fuhr Kaliber auf, da konnte einem anders werden. Fra Mauro schienen gut aufgestellt zu sein. Da müssen Dreamlight wirklich noch sehr, sehr viel üben, dachte ich.
In diesem Moment ging die Wohnungstür auf, und Moses begrüßte mit lautem Hallo vier Mädels. Ich erkannte Miti und Rike sofort, Karen hatte mir mal ein Foto von ihnen gezeigt. Das also waren ihre Christiania-Freundinnen. Die beiden anderen Frauen waren mir gänzlich unbekannt, ich schnappte aber ihre Namen auf: Elli und Moni.
»Wir suchen Karen, die soll hier sein«, sagte Miti und lächelte.
»Ich zeig euch, wo sie ist«, antwortete Moses, und ehe ich mich versah, führte er die vier ins Matratzenzimmer.
Ich grinste müde und sagte: »Dann besteht ja doch noch die Aussicht, dass es keine ausschließlich von Männern dominierte Langweilerparty wird.«
»Was soll das denn heißen?«, fragte Andi.
»Was denkst du, wozu die Bude hier dient? Orgien feiern wie bei den Römern, freie Liebe und Bewusstseinserweiterung«, antwortete ich.
Andi blickte mich an, als hätte ich die Krätze. »Bewusstseinserweiterung?«
»Genau, du sagst es.« Die Stimme aus dem Hintergrund gehörte Billy.
Schwarze Haare bis auf die Schultern, Mittelscheitel, Hakennase. Er galt als technisches Genie, reparierte den ganzen Tag irgendwelches elektronisches Gerät und kannte sich mit Schaltplänen aus. Außerdem hatte er einen Bausatz für einen Moog-Synthesizer. Das wusste ich von Don. Der Impresario entwickelte sich zu meinem besten Informanten. Wo war der eigentlich abgeblieben, er musste doch auch hier irgendwo sein?
»Auf die Reise gehen, sich selbst erkennen, das Bewusstsein auf eine andere Ebene heben, das hat schon Timothy Leary, der kalifornische Drogenprofessor, gesagt«, setzte Billy seine Rede fort. Er schien eine frühe Form von Esoterik verinnerlicht zu haben, eine von der Sorte, wie sie erst viel später als New Age in Mode kommen sollte. Ohne Timothy Leary.
Andi schien in Stimmung für ein intellektuelles Duell. »Das ist doch alles leeres Hippie-Geschwätz. Drogen machen dir nur die Birne weich.«
Billy schaute verdutzt. »Wie bist du denn drauf?«
»Schau dir nur mal Jim Morrison an«, antwortete Andi. »Er war der letzte Held der Hippies. Zum Schluss hing er in Paris ab und soff nur noch. Warum? Weil er es nicht mehr ertragen hat. Ich kann nur hoffen, dass mit seinem Tod die Hippies endgültig ausgedient haben. Hippie, das ist doch nur ein anderes Wort für Kapitalismus. Sieh dir die Sache mit Woodstock an. Das war der totale Ausverkauf: Festival, Platte, Film. Hippies wissen, wie man Kohle macht. Was soll das für eine Lebensform sein? Love, Peace and Happiness, dass ich nicht lache. Wer hat Sharon Tate, die Frau von Roman Polanski, umgebracht? Das waren Hippies.«
»Meines Wissens war das so ein Durchgeknallter«, entgegnete Billy entrüstet. Er schaute zu mir rüber. Alter, lass mich aus dem Spiel, dachte ich. Ich war gespannt, wie Andi weitermachen würde.
Und Andi legte nun erst richtig los. Er wurde mir immer sympathischer.
»Charles Manson war der Anführer einer Hippie-Kommune, die er wie ein Diktator beherrschte. Das kommt dabei heraus bei all dem LSD. Dieses ganze Auf-den-Trip-gehen-Ding ist nichts anderes als komplette Realitätsflucht. Hippies sind Weicheier, die Angst vor dem Leben haben. Erst wird sich zugedröhnt, dann muss das Establishment herhalten, das System ist an allem schuld. Pah, die wollen nur keine Verantwortung übernehmen. Hippies machen sich nicht die Hände schmutzig, mit den Arbeitern haben die nichts gemein, Hippies halten sich für was Besseres. Ich hoffe, dass sie aussterben wie die Dinosaurier. Und zwar schnell.«
»Jetzt mal ehrlich, wenn das Karen hört, wird sie dir die Augen auskratzen«, stichelte ich.
»Karen hat mehr auf dem Kasten und mehr Mumm in den Knochen als du und Mark und ich zusammen«, zischte Andi in meine Richtung.
»Is ja gut. Ich weiß selbst, dass Karen eine tolle Frau ist. Aber was ist falsch daran, ein bisschen auszuflippen?«, fragte ich nun wirklich empört.
»Die Welt der Hippies ist eine Lüge. Es gibt kein richtiges Leben im falschen, das hat Adorno schon gesagt. Der Sommer der Liebe ist vorbei. Diese Lektion müssten alle Brüder und Schwestern längst begriffen haben. Man kann nicht so weitermachen.«
»Hey, selbst die von der Studentenrevolte haben das begriffen. Die sind jetzt auf dem Marsch durch die Institutionen. Das haben die Hippies auch immer gesagt«, konterte Billy.
»Liest du keine Zeitungen? Die Studenten gehen in den Untergrund. So wie dieser Baader. Der steckt ein Kaufhaus in Brand und ist nun auf der Flucht. Erst kommt Gewalt gegen Sachen, dann gegen Menschen. Das ist doch alles Scheiße«, sagte Andi.
Billy schnappte nach Luft. »Mal langsam, Alter, die Hippies sind doch gegen Gewalt.«
»Aber wie soll das gehen, die Gesellschaft von innen verändern? Indem du das ganze Land erst zum Psychotherapeuten schickst und anschließend zum Meskalinkaktus-Wettessen in die mexikanische Wüste? Als erster Preis winkt ein Besuch beim Mysterienmeister Carlos Castaneda persönlich?« Andi spreizte lachend Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand zum Peace-Zeichen.
Billy gab nicht auf. »Du bist viel zu kopfgesteuert, mach dich mal locker, jeder muss für sich selbst herausfinden, was richtig ist. Erkenne dich selbst, dann erkennst du die anderen.«
Das Gerede über Hippies und Weltverändern hatte mich auf einen anderen Gedanken gebracht.
Ich hatte noch nie LSD ausprobiert. Sollte ich nicht mal selbst herausfinden, wie das ist, auf den Trip zu gehen? Sich locker machen, keine schlechte Idee. Das philosophische Hirnschwitzen törnte mich nicht mehr an. Der Hammerkick. Den brauchte ich jetzt.
Ich ließ die beiden stehen. Aber wenn Billy sich wirklich so gut mit Elektronik wie mit Hippie-Philosophie auskennt, dachte ich noch, dann könnte er beim Festival doch den technischen Leiter machen.
Das sollte ich Don mal vorschlagen.
*
Die Küche war Sonny und Moses nicht so gut gelungen.
Ein langer Tisch und ein Kühlschrank waren die einzigen Möbel, die der Raum vorzuweisen hatte. Das Blau an den Wänden endete im Nirgendwo und ging in den grauen Verputz über. Neben dem Kühlschrank ragte ein altes Waschbecken aus der Wand, in das Fetzer gerade grinsend sein Geschäft verrichtete. Er drehte den Wasserhahn bis zum Anschlag auf. Immerhin spülte er nach. Fetzer ging zurück an den Tisch.
An dem saßen außerdem noch Toni und Erwin und Hördi. Eingekeilt zwischen ihnen, nahm Don einen Schluck aus einer Flasche Bier.
Toni und Erwin waren echte Flippfreaks.
Toni hatte Augen so groß wie Tennisbälle. Wenn er stoned war, musste man befürchten, dass sie ihm jeden Moment aus den Höhlen sprangen. Erwin war immer verschwitzt. Die langen blonden Haare klebten ihm im Gesicht. Zwischen den Strähnen hindurch blinkten mich zwei traurige dunkle Augen an.
Fetzer war ein kräftiger, muskelbepackter Kerl, der viel Alkohol und viel Shit vertrug. Man musste sich vor seinen Launen in Acht nehmen, besonders wenn er getrunken hatte. Doch hatte er dich ins Herz geschlossen, ging er für dich durchs Feuer. Wenn Fetzer lachte, klang es wie das Wiehern eines Pferdes. Tiefe Stimme, raue Schale, weiches Herz und ein von Aknenarben zerfurchtes Gesicht, das war Fetzer.
Manchmal zauberte er eine kleine Mundharmonika hervor, eine Blues Harp, und setzte zu einem unnachahmlichen Singsang an.
Sein großes Vorbild war Captain Beefheart, jener kalifornische Musiker, der einen schrägen, fast avantgardistischen, auf jeden Fall verrückten Sound machte. Hin und wieder war Beefheart als Gast auf den Platten von Frank Zappa zu hören.
Wenn Fetzer gut drauf war, packte er die Harp aus. Wirklich spielen konnte er nicht, es war mehr ein Feeling, das er für das Instrument hatte.
Und wenn er richtig gut drauf war, imitierte er Beefhearts Gesang aus dem Zappa-Song »Willie the Pimp«.
»I’m a little pimp with my hair gassed back / Pair a khaki pants with my shoes shined black / HOT MEAT, HOT RATS, HOT CATS, HOT RITZ, HOT ROOTS, HOT SOOTS«, grunzte er. Hot Rats, daher hatte der Laden seinen Namen.
Hördi kannte sich phänomenal mit Musik aus. Es hieß, er hätte mit elf bereits angefangen, LPs zu sammeln. Das konnte ich bezeugen, denn ich hatte ihm ein paar seiner Singles – Kinks und The Who – abgekauft. Inzwischen bewahrte er fast tausend Alben alphabetisch geordnet in seiner Bude auf. Er konnte die kompletten Besetzungen sämtlicher Bands runterrasseln, von denen er Platten besaß. Sein Spitzname kam von dem alten Donovan-Song »The Hurdy Gurdy Man«. Wer ihm den Namen verpasst hatte, habe ich vergessen. Aber so wie ihn stellte ich mir einen freakigen Leierkastenmann vor. Nicht besonders groß, dünn wie ein Besenstiel, die langen schwarzen Haare bis zu den Brustwarzen reichend und die Zähne vom Schwarzen Krauser dunkelgelb gefärbt. Hördi sagte nie viel. Wenn er sich aber einmischte, hatte es Hand und Fuß.
»Die Leute behaupten, die Jugend sei die beste Zeit des Lebens. Ich bin froh, wenn sie vorbei ist«, sagte er unvermittelt in die Runde, ohne jemanden anzusehen oder direkt anzusprechen.
»Wenn du jung bist«, fuhr er fort, »hast du keine Kontrolle über das, was mit dir geschieht. Erst mal macht dein Körper, was er will. Du kriegst Sackhaare, und die Hormone verdrehen dir den Kopf. Dann sagt dir jeder, was du tun sollst, beziehungsweise, was du nicht tun sollst. Die Eltern, die Lehrer, die Verwandtschaft, selbst die Kassiererin im Supermarkt. In der Jugend hast du nichts zu melden, rein gar nichts, du musst immer das machen, was die Erwachsenen dir sagen. Darum will ich so schnell wie möglich erwachsen werden.«
Niemand am Tisch reagierte darauf. Auch ich nicht. Die Korona war solche Einwürfe von ihm gewohnt. Er erwartete auch nicht, dass jemand von uns antwortete. Er nuckelte an seinem Bier und dachte wahrscheinlich erst mal selbst über das eben Gesagte nach.
Aber was war denn da los? Vor dem Kühlschrank hatten sich auf einmal alle wichtigen Gitarristen des Musikfiebers versammelt. Falko von Electric Junk, Rössel von Storm, Uli von Zoon Politikon, Stefan von Stiebel Eltron und Paul von Dreamlight.
Sie hielten eine Art Musikerstammtisch ab. Es ging mal wieder darum, wer der würdige Nachfolger von Jimi Hendrix sei. Seit dessen Tod vor zehn Monaten war diese Frage unter Saitenquälern das Thema schlechthin. Jeder hatte seinen eigenen Favoriten, wer in die Fußstapfen von Jimi treten dürfe.
»Was John McLaughlin auf der doppelhalsigen Gibson rausholt, ist unglaublich«, begann Stefan.
»Rory Gallagher, Mann, wie der den Blues rockt, das kann kein Zweiter«, kommentierte Rössel.
»Larry Coryell, der kommt noch ganz groß raus. Der macht dem guten Jimi alle Ehre«, sagte Falko.
»Ich mag diese Fingerkünstler nicht. Da dreht es sich doch nur darum, wer der Schnellste auf sechzig Zentimetern Gitarrenhals ist. Ich vermisse da das gewisse Etwas, das echte Gefühl. Duane Allman von der Allman Brothers Band, der hat Feeling«, war Ulis Beitrag zum Gitarristentratsch.
»Die Soli von Steve Howe bei Yes sind aber auch nicht von schlechten Eltern«, traute sich Paul einzuwerfen.
Sofort fielen alle über ihn her.
»Nee, der ist mir zu glatt«, sagte Stefan.
»Und benutzt zu viele Effektgeräte. Das kommt mir vor, als würde er sich dahinter verstecken. Eigentlich brauchst du nicht mal einen Verzerrer. Dave Davies von den Kinks hat einfach den Absatz seines Stiefels in die Membran des Lautsprechers gedonnert, um den Sound von ›You Really Got Me‹ zu kreieren«, erklärte Falko.
Lautsprecher, das war das Stichwort für Stefan.
»Hast du schon mal was von den Stramp-Verstärkern gehört? Die baut so ein Typ aus Hamburg. Sollen besser sein als die Marshall-Amps.«
»Das hat doch dieser Hans Riebesehl geschrieben. Der soll ja Deutschlands bester Roadie sein. Ich hab gehört, der will eine eigene Zeitschrift rausbringen, ein Magazin für Musiker, Riebe’s Fachblatt oder so ähnlich soll das heißen«, fügte Rössel hinzu.
»Wirklich? Geil, Mann«, sagte Uli.
»Ganz schön abgefahren, oder?«, fragte Falko.
»Cool, is ja super«, meinte Paul.
Scheiße, dachte ich, Gitarristen spinnen.
Den Flur runter rockte es plötzlich aus dem Matratzenzimmer.
»Inside Looking Out« von Grand Funk Railroad.
Aha, der Sound wurde härter.
Wie auf Kommando gingen unsere Gitarristen in Stellung, einer wie der andere ahmte die Haltung von Grand-Funk-Saitenquäler Mark Farner nach. Sie wirbelten ihre Mähnen wie Propeller durch die Luft.
Amüsiert beobachtete ich dieses Luftgitarrenposing der Extraklasse.
Erwin sprach mich plötzlich an. »Hey, das sind die geilsten Pillen, die du zurzeit kriegen kannst.« Er musste den Hunger nach ein bisschen Flippen in meinen Augen gesehen haben. Toni grinste wissend. Die beiden hatten immer eine Menge Chemie dabei. Eigentlich waren sie ganz in Ordnung, aber wenn sie so weitermachten, liefen sie Gefahr, als Kleindealer zu enden.
Tonis Tennisbälle hüpften aufgeregt hin und her, als er das Plastiktütchen aus seinem Umhängebeutel zückte. Nach und nach legte er alles auf den Tisch. Blaue, gelbe, grüne und weiße Pillen, Highmacher, von denen mir allein beim Ansehen schwindelig wurde. Die Dinger hatten schräge Namen. Sie hießen Purple Haze, Blue Cheer oder Yellow Sunshine.
Das Schärfste zauberte Toni zum Schluss hervor. Es war ein DIN-A4-Blatt, das er vor sich entfaltete. Er strich es sorgsam glatt, als handele es sich um ein wichtiges Schriftstück. So was hatte ich noch nie gesehen, kannte es nur vom Hörensagen. Das war LSD auf Löschpapier.
Ein Tropfen Lysergsäurediethylamid auf hellbraunes Papier geträufelt. Das brauchte man sich einfach nur auf der Zunge zergehen zu lassen. Der Stoff löste sich im Speichel auf, wurde im Magen absorbiert und gelangte so in die Blutbahn. Dreißig Minuten später hieß es abheben.
Genau das musste ich jetzt haben.
»Okay, einen Zehner, mehr hab ich im Moment nicht. Dafür krieg ich einen auf Löschpapier«, sagte ich.
»Du weißt, was gut tut. Weil du es bist«, sagte Toni. Er blickte zu Don, der die ganze Zeit schweigend zwischen den Jungs am Tisch gesessen hatte.
»Nee, lass mal. Ich darf mein Business nicht aus den Augen verlieren. Dazu brauch ich einen klaren Kopf«, winkte er ab.
»Das ist ein Silver Moon«, beharrte Toni, »schau’s dir genau an. Wenn du es ans Licht hältst, erkennst du das Muster.« Er reckte das Papier hoch in Richtung der Glühbirne, die, wie mir jetzt auffiel, nackt und einsam an der Decke baumelte. Er blinzelte ins Licht, als wäre das Papier ein Hunderter-Schein, den er auf Echtheit prüfen wollte.
Tatsächlich, ich konnte kleine silberne Halbmonde erkennen. Manche Blotter, wie man das mit LSD getränkte Papier auch nannte, hatten richtig abgefahrene Muster, meist psychedelische Bildchen oder auch mal eine nackte Frau. Oder den Kopf von Keith Richards. Dieser hier war in sechs mal vier Reihen aufgeteilt. Die Felder waren sogar perforiert.
Vierundzwanzig Trips auf einem Bogen.
Wahnsinn, ich hatte noch nie LSD probiert; jetzt wusste ich, ich wollte unbedingt auf den Trip gehen. Los, gib schon her, dachte ich.
»Das ist allerfeinstes Acid, Mann, das haben wir aus Amsterdam mitgebracht. Du wirst fliegen wie ein Adler über den Rocky Mountains. Wenn du verstehst, was ich meine«, tönte Erwin. Ich verstand gar nichts, es war mir auch egal, was er sagte. Los jetzt, abheben!
Er nahm den Blotter und trennte vorsichtig ein rechteckiges Stück aus dem Löschpapier heraus. Es war kaum größer als eine Briefmarke.
Ich steckte den Silver Moon in den Mund und legte den Zehner auf den Tisch. Der Schein verschwand sofort in Tonis Tasche.
Fetzer tippte mir auf die Schulter. »Hey, dein Artikel in Das Auge war super. Weiter so. Finde ich gut, dass du über das Musikfieber schreibst. Ist doch abgefahren, was hier abgeht, alle wollen plötzlich geilen Sound machen. Und wir sind dabei, du und ich und die Freaks hier, wir alle sind mittendrin.« Er lachte und hustete zugleich, wie ein Lungenkrebskranker.
Ich wollte etwas sagen, bekam aber keinen Ton heraus.
Meine Fresse, was war das? Ging es schon los? Wenn ja, dann war das wirklich bestes Acid, so rasch, wie es anschlug.
Ich spürte ein Kribbeln in den Fingern, ein Zucken und Ziehen in der Gesichtsmuskulatur, dazu ein Brennen im Bauch wie Feuer. Auf die Gefühle, die auf mich einstürmten, konnte ich mir keinen Reim machen. Es war verwirrend. Anders als Kiff.
»Gute Reise, Mann«, hörte ich Erwin wie durch ein Megaphon tröten.
Mit einem Mal ergriff mich eine Unruhe. Nervös drehte ich mich ruckartig um. Ich hatte die ganze Zeit am Tisch gestanden und wusste nun nicht so recht, wohin mit mir.
Da war es wieder. Ein Zucken und Ziehen.
Jetzt nahm ich auch diese merkwürdigen Klänge wahr. Sie kamen durch die Tür neben dem Kühlschrank. Es gab also noch ein weiteres Zimmer im Müsli, eines, das mir bislang nicht aufgefallen war. Was mochte sich in diesem geheimen Gemach verbergen?
Die Geräusche nahmen an Intensität zu. Kein Zweifel, sie galten mir. Es waren die Stimmen von Sirenen, und sie riefen: »Komm, komm!«
*
Als ich eintrat, fand ich mich in einem indischen Tempel wieder.
Vor meinen Augen schwebte ein riesiges Om-Zeichen, der Urlaut aller indischen Mantras. Der Geruch von Moschus drang in meine Nase. So stark, dass ich niesen musste. Ich vernahm Glöckchen, Tablas und eine Sitar.
Es dauerte eine Weile, bis mein Hirn die Eindrücke verarbeitete. Ein grelles weißes Licht blendete mich. Ich kniff die Augen zusammen.
Als ich sie wieder öffnete, war das weiße Licht unglaublich schön.
Alles in diesem Zimmer erstrahlte in gleißendem Schein. Ich sah eine Gottheit, es war Shiva, umgeben von zwei Tänzerinnen. Eine Schaumstoffmatratze, die fast den ganzen Raum einnahm, war hergerichtet mit Decken und Kissen wie das Liebeslager eines Maharadschas. Ich streifte meine Turnschuhe ab, spürte den Flokati unter meinen Füßen und folgte der Musik.
Das konnte nicht real sein. Ich hatte Halluzinationen der allerfeinsten Art.
Ich erkannte Fränki von Alpha Centaurus und Achter von Inri. Sie hockten im Schneidersitz auf dem Maharadschalager. Fränki zupfte auf einer Zwölfsaitigen, Achter bearbeitete Bongos. Sie spielten einen Raga, dann entdeckte ich Sonny, ebenfalls in der Yogaposition, der eine Melodie summte. Doch sie sahen nicht so aus, wie ich sie kannte, sie schienen sich verändert zu haben. Sie hatten sich in Hobbits verwandelt. In verdammte kleine Hobbits aus dem Herrn der Ringe. Elli und Moni hüpften in rote Sarigewänder gehüllt und elfengleich über den Flokati. Dann hörte ich ein Schmatzen, Saugen und Schlürfen. Das waren Geräusche, die Menschen machten, wenn sie Sex hatten.
Dieses Acid war echt der Hammer.
»Mann, verzieh dich, hier ist alles besetzt.«
Die Stimme kannte ich. Auch wenn sie verfremdet klang, als hätte man sie durch Pauls Gitarrenphaser gejagt, sie gehörte trotzdem Sonny.
Jetzt sah ich es. Er saß nicht ohne Grund in der Yogaposition. Er war der Maharadscha und Elli und Moni seine ergebenen Dienerinnen. Dann vernahm ich ein Kichern. Ich ließ mich rücklings auf das Lager fallen.
Ich spürte etwas Weiches. Bevor ich darauf kam, wessen Brüste mir da ins Gesicht hingen, explodierte es in meinem Kopf. Der Silver Moon entfaltete seine ganze psychedelische Pracht.
Mein Geist schien sich von meinem Körper zu lösen oder sonst wie aus meinem Körper hinauszuwollen. Ich hielt mir die Nase zu, denn ich hatte plötzlich die Vorstellung, dass meine Seele genau an dieser Stelle abzuhauen versuchte. Das beunruhigte mich sehr.
Das Zucken und Ziehen war jetzt auf den ganzen Körper übergegangen, es war in meinen Zehen, Beinen, im Brustkorb, in den Armen und Händen. Doch tat es nicht weh, es fühlte sich angenehm an. Die indische Musik verursachte ein nicht enden wollendes Echo.
Jemand rief meinen Namen und rüttelte an mir.
»Eeey Maaannn, aaallleees klaaar miiit diiir?«
Ich öffnete die Augen und erschrak.
Fetzer hatte ein güldenes Gewand an, auf seiner Brust glänzte ein Om-Zeichen aus Edelsteinen. Auf dem Kopf trug er etwas Turbanähnliches. Seine Struwwelpetermähne hatte sich in Schlangen verwandelt. Die Schlangen hatten die Gesichter von Elli und Moni.
»Bist du in Ordnung?«, sangen die Schlangen im Sirenenchor.
Irgendetwas fiel mir ins Gesicht. Es tat höllisch weh. Ich gab keinen Laut von mir. Dann wurde ich an Schultern und Armen gepackt und mit einem kräftigen Ruck auf die Beine gestellt.
Ich muss ungefähr eine Stunde wie ein Toter auf dem Maharadschabett gelegen haben. Dann war Sonny in die Küche gegangen und hatte gesagt, da drinnen liege eine Acid-Leiche, ob jemand die entfernen könne. Fetzer schlug mir mehrmals mit der flachen Hand ins Gesicht. Als ich nicht reagierte, ging er Karen holen. Gemeinsam bugsierten sie mich ins Matratzenzimmer und gaben mir zu trinken. Ich setzte an und leerte die Wasserflasche bis zur Hälfte.
Karen machte eine besorgte Miene. »Du warst richtig weggetreten. Wir wollten schon einen Krankenwagen holen.«
Ich versuchte ein Lächeln. »Geht schon, danke. Ich fühle mich gut.«
Karen ließ nicht locker. »Wer hat dir den Trip gegeben?«
Ich schob mich in eine aufrechte Position, lehnte mich an die Wand. »Alles halb so wild. Kein Stress, bitte. Der Stoff ist in Ordnung, mir geht es gut, wirklich«, antwortete ich.
»Du bist anscheinend noch immer drauf.«
»Das LSD wirkt immer noch«, sagte ich, »aber mach dir keine Sorgen, ich hab keine Halluzinationen mehr. Ich will einfach nur ruhig ein bisschen hier sitzen und den Trip ausklingen lassen.«
»Du versprichst mir, nie wieder so einen Scheiß zu machen und mir solche Angst einzujagen«, ermahnte sie mich.
»Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder einen Trip einwerfen werde, aber wenn, dann sage ich dir Bescheid.«
»Ich bin nicht dein Aufpasser, du musst selbst wissen, was du tust. So, ich gehe jetzt nach Hause.«
»Danke«, sagte ich.
Sie schaute mich strafend an. »Du solltest dieses Zeugs nicht nehmen, du verträgst es einfach nicht.«
»Is ja gut, ich merk es mir.« Ich hatte keine Lust zu diskutieren, das Ziehen und Zucken war noch da, wenn auch schwach.
»Andi und Mark«, sagte sie unvermittelt.
»Was ist mit denen?«
»Die gehen mir heute ganz schön auf die Nerven.«
»Erzähl. Ich weiß aber nicht, ob ich mir alles merken kann, so bedröhnt, wie ich bin«, sagte ich.
Sie wollte, musste es loswerden. »Ich habe mich mit Mark unterhalten. Er hat mir von seinen Plänen in Sachen Musik erzählt. Dann kommt Andi rein, setzt sich neben mich und macht ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Ich hab versucht, ein Gespräch unter uns dreien anzufangen. Doch die Herren der Schöpfung haben sich nur angeschwiegen. Das war alles ganz schön merkwürdig.«
»Merkwürdig, ja ...«, antwortete ich. Genau so fühlte ich mich.
»Was ist da los, kannst du mir das erklären?«
»Karen, bitte, ich bin noch auf Trip. Stell mir nicht so schwierige Fragen. Du weißt genau, was da abgeht. Die Jungs sind scharf auf dich.« Um dies zu sagen, musste ich meine ganze Konzentration aufbringen.
Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. »Hör bitte auf, so zu reden.«
»Anscheinend genießt du es, von zwei Jungs umschwärmt zu werden.«
»Spinnst du? Na ja, irgendwie ...«
Trotz des LSD war ich plötzlich in der Lage, einen Gedanken zu formulieren. »Könnte es sein, dass du bei Männern nicht weißt, was du willst oder wen du willst?«
Sie beugte sich über mich und gab mir einen freundschaftlichen Kuss auf die Stirn. »Ich sammel Miti und Rike ein. Die übernachten bei mir.«
»Das sind doch die, die dich nach Christiania entführen wollen, richtig?«
Sie hörte es nicht mehr, sie war schon weg.
Ich schaute mich um. Das Sit-in im Matratzenzimmer war anscheinend beendet. Matti hatte seine Versuche, durch Wände hindurchzugehen, aufgegeben. Er lag in der hinteren Ecke und schlief. Im Flackern der wenigen Kerzen, die noch brannten, registrierte ich eine Bewegung. War das nicht Moses, der da mit Moni zugange war? Sie kuschelten in einem Schlafsack. Ihnen dabei zuzugucken, wie sie sich näherkamen, darauf hatte ich keinen Bock. Hier gab es nichts mehr für mich zu tun. Das Acid brachte mich schließlich wieder auf die Beine.
*
Mark und Andi hockten am Küchentisch. Wie ich sie so da sitzen sah, ging mir auf, dass sie sich ähnlicher waren, als sie es vielleicht selbst wahrhaben wollten. Beide waren ehrgeizig und talentiert. Sie hatten nur unterschiedliche Wege, zum Ziel zu kommen. Mark war der Bauchtyp, impulsiv und emotional. Andi war kopfgesteuert und kontrolliert. Trotzdem hatten sie eines gemeinsam: Beide sahen Musik als Sprungbrett für etwas Anderes, Neues und Großes. Ihnen traute ich zu, das zu erreichen, was sie sich mit der Musik vorgenommen hatten. Jeder auf seine Weise. Leider waren sie in ein und dieselbe Frau verliebt.
Dies alles machte sie zu Rivalen.
Klassische Konstellation. Wie in einem griechischen Drama.
Die Wirkung des Acids klang ab. Vorsichtig ging ich auf den Tisch zu. Ich fühlte jeden Muskel meines Körpers, aber nicht wie bei einem Kater. Ich war mir plötzlich bewusst, dass mein Körper aus Zellen und Flüssigkeit bestand. Dieses neue Gefühl gab mir die Gewissheit, auf Wolken zu schweben.
Als ich mich zu Mark und Andi setzte, unterlag ich einer Art Perspektivenwechsel. Ich hatte mal über sogenannte außerkörperliche Erfahrungen gelesen; vielleicht war ich ja drauf und dran, so was hier und jetzt zu erleben. Es war, als wäre ich aus dem Bild herausgetreten – ich konnte mich selbst beobachten bei dem, was ich gerade tat, sozusagen von oben, aus einer Himmelssicht auf meine eigene Person.
Wenn es Wahnsinn gibt, dann bin ich jetzt nahe dran, dachte ich. Aber dennoch fühlte ich keine Panik.
»Viele Pianisten hatten Probleme damit. Robert Schumann zum Beispiel, der litt auch an einer fokalen Dystonie«, sagte Andi.
Ich konzentrierte mich. »Ich dachte immer, ein schweres seelisches Leiden hätte seine Karriere beendet«, sagte ich. Sie achteten nicht auf mich.
»Und was, bitte schön, ist eine fokale Dystonie?«, fragte Mark.
»Deine Finger gehorchen dir nicht mehr«, antwortete Andi.
Mark schaute erstaunt. »Wie das?«
»Schumann, um bei dem Beispiel zu bleiben, wurde von seinem Lehrer Friedrich Wieck zu Höchstleistungen angetrieben. Um seine Finger geschmeidiger und schneller zu machen, hat Schumann sie mit Bindfäden gedehnt. Das tut höllisch weh. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass sich beim Spielen unwillkürlich sein Mittelfinger der rechten Hand einrollte. Er ist es nie mehr losgeworden.«
»Das ist der Preis für den Erfolg«, sagte ich lapidar.
Diesmal nahm Andi Notiz von mir und nickte in meine Richtung.
»Wenn du in der Oberliga mitmischen willst, wenn du von der Klasse eines, sagen wir mal, Glenn Gould oder Friedrich Gulda bist, dann musst du üben, üben und nochmals üben. Bis zum Umfallen«, antwortete er.
»Die sind doch so gut, die brauchen das nicht«, sagte Mark.
Andi klemmte sich die Haare hinters Ohr. »Die stehen unter enormem Druck, da sind die vielen Konzerte, die Plattenaufnahmen. Und das Publikum erwartet, dass sie immer das Beste geben. Wusstest du, dass sechzig Prozent aller Orchestermusiker unter chronischen Schmerzen leiden? Bläser pressen sich die Zähne krumm, Geiger den ganzen Kiefer schief. Die Bläser riskieren zudem einen Schlaganfall, wenn sie mit der Zirkulationsatmung, dem gleichzeitigen Ein- und Ausatmen, die Pausen zum Luftholen aus ihrem Spiel streichen. Cellisten werden mit der Zeit taub, weil die Blechbläser hinter ihnen regelmäßig in Düsenjägerlautstärke losdröhnen. Und die dicken Saiten des Cellos malträtieren den Mantel der Fingernerven, bis er brüchig und jeder Griff zur Qual wird.«
»Rockmusiker kennen das auch. Von der Dröhnung, die ihre Verstärker verursachen. Pete Townshend von The Who benutzt Ohrstöpsel, seit er ein Pfeifen im Ohr hat«, sagte ich.
Andi zuckte mit den Schultern. »Jazzer und Rockmusiker haben Orchestermusikern eines voraus: Sie können improvisieren. Ein Cellist oder Pianist hält sich immer an die Partitur. Aber lass ihn mal acht Takte frei über ein Thema spielen, dann hapert es. Das ist es, was Jazzer und Rocker von studierten Musikern unterscheidet, das Spontane, das Solistische, etwas aus dem freien Spiel heraus zu entwickeln. Hey, was ist das, hört ihr das auch?«
Andi drehte sich in Richtung Flur, wo das Geräusch herkam. Wir schauten uns an. Alle drei, wie wir da saßen, sprangen auf einmal auf.
An der Tür zum Müsli klopfte es laut. Das ließ nichts Gutes ahnen.
Kawumm! Jemand donnerte einen Rammbock gegen den Eingang.
Das Schloss gab sofort nach. Holz splitterte. Krachend flog die Tür auf. Vier Polizisten spazierten grinsend herein, die Mützen tief im Gesicht. Sie klopften sich den Dreck von den grünen Hosen und schoben Moses und Moni vor sich her, die verdutzt aus dem Matratzenzimmer geschlurft kamen.
Der ältere der vier Bullen stolzierte im Flur auf und ab wie ein General, die Jacke geöffnet, einen Daumen lässig in den Gürtel gehängt. Eine Dienstwaffe konnte ich nicht sehen. Aber er war anscheinend ihr Anführer.
Mein Herz pochte, Scheiße, dachte ich, ich bin auf Acid, und irgendwo hier ist bestimmt noch Dope vorhanden. Wir sind am Arsch!
Ich erkannte Anführer als den Typen, der in den vergangenen Tagen mehrfach mit dem Streifenwagen am Hot Rats vorbeigefahren war. Jedes Mal hatte er den Fuß vom Gas genommen und argwöhnisch das Treiben am Eingang beobachtet. Die Freaks hatten ihn geneckt. Sie winkten ihm zu und machten das Peace-Zeichen.
Anführer sprühte vor Selbstbewusstsein, für ihn war das hier wahrscheinlich der größte Fang seiner Laufbahn. »Ausweiskontrolle! Und dass mir keiner abzuhauen versucht«, schrie er durch die Wohnung.
Auf sein Zeichen hin postierten sich zwei Bullen – sie waren nicht älter als dreißig – an der eingetretenen Tür, damit ihnen keiner entwischen konnte.
Am Treppenaufgang gab es bereits Schaulustige. Ich sah Leute in Schlafanzug und Nachthemd. Nachbarn, die trotz der fortgeschrittenen Stunde von dem Krach und ihrer Neugier aus den Betten getrieben worden waren. Sie redeten wild durcheinander. Ein älterer Mann, dem die Streifen des Kissens, auf dem er vor wenigen Minuten noch geruht hatte, quer übers Gesicht liefen, machte sich zum Wortführer. »Ab in die Ostzone mit denen. Dieses Gesindel! Beim Adolf hätte es diese Gammler nicht gegeben!«, rief er.
Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen. »Herr Wachtmeister, was liegt denn an? Wir haben nichts verbrochen.«
»Nächtliche Ruhestörung, Erregung öffentlichen Ärgernisses, und wenn du nicht die Klappe hältst, hänge ich euch noch Beamtenbeleidigung an. Reicht das nicht? Also, mir reicht das, um euch einzubuchten. Und wer weiß, vielleicht findet sich noch was anderes«, fauchte Anführer.
Er schob seine Nase direkt vor mein Gesicht. Er hatte definitiv Mundgeruch.
*
Während die zwei Jungbullen weiterhin den Eingang sicherten, scheuchten Anführer und der vierte Polizist die Freaks aus ihren Löchern.
Wir mussten im Flur antreten und unsere Ausweise vorzeigen.
Fetzer tauchte aus irgendeiner Ecke auf, er sah verknittert aus, hatte wahrscheinlich schon geschlafen. Er stellte sich zu Moses und Moni, Mark, Andi und mir.
Sonny und Elli hatten auf dem Maharadschalager ausgiebig gefummelt und geknutscht. Außerdem bemühten sie sich mit Hingabe, die sexuelle Revolution von der Theorie in die Praxis umzusetzen. Sonny steckte tief in Elli drin und war kurz vor dem Höhepunkt, als Anführer ihn am Genick packte.
»Ich will mal für dich hoffen, dass die junge Dame volljährig ist, sonst krieg ich dich dran, das schwör ich dir!«, frohlockte Anführer.
Dann begannen sie das Müsli auseinanderzunehmen. Jede Matratze wurde umgedreht. Sie suchten in allen Löchern und fanden nichts. Bloß das Bier im Kühlschrank. Dann sollten wir Hosen und Strümpfe ausziehen. Wieder Fehlanzeige. Schließlich mussten sie einsehen, dass nichts zu holen war. Toni und Erwin waren lange vor ihrem Eintreffen verduftet, der Shit war aufgeraucht und alle Pillen geschluckt.
Elli und Moni durften gehen, nachdem ihre Ausweise kontrolliert worden waren. Sonny und Moses stritten sich mit Anführer.
Sonny: »Nächtliche Ruhestörung, dafür gibt gar keine Zeugen!«
Moses: »Wir haben einen rechtmäßigen Vertrag für die Wohnung.«
Anführer hatte endgültig die Nase voll. »Ruhe jetzt! Ihr kommt alle mit auf die Wache!«
Protestieren war zwecklos. Über Funk forderte Anführer einen weiteren Wagen an. In Handschellen steckten sie uns, stolz darauf, eine Haschbude auseinandergenommen zu haben, in die grünen Minnas. Andi, Mark und mich in die eine, Sonny, Moses und Fetzer in die andere.
Es war sechs Uhr morgens, als wir in eine Gemeinschaftszelle verfrachtet wurden. Der Trip war gänzlich abgeklungen. Ich versuchte zu schlafen, was mir aber nicht gelang. Auf einer Bank dämmerte ich vor mich hin. Sonny, Fetzer und Moses lagen ausgestreckt am anderen Ende der Bank. Sie schienen zu pennen, Mark und Andi hockten auf dem Boden und tuschelten.
»Wenn mein Alter das rauskriegt«, flüsterte Mark.
»Sie haben keine Fingerabdrücke genommen, sie haben kein Dope gefunden, sie haben nichts gegen uns in der Hand«, sagte Andi.
Dann waren auch sie still. Die nächsten zwei Stunden herrschte Ruhe. Jeder von uns hing dösend seinen eigenen Gedanken nach. Nur Fetzer schnarchte ungeniert.
Das war also mein erster Trip, meine erste Orgie und meine erste und hoffentlich letzte Bekanntschaft mit einer Zelle. In Easy Rider war Jack Nicholson erschlagen worden, Dennis Hopper und Peter Fonda wurden schließlich abgeknallt. Im Vergleich dazu hatten wir noch ganz schön Glück gehabt. Das System versuchte, uns einzuschüchtern. Ich schwor, mich davon nicht beeindrucken zu lassen.
Kurz nach acht ließen sie uns laufen. Anführer grinste, als er jedem von uns wortlos den Ausweis zurückgab. Er hatte sein Ziel erreicht. Unsere kleine FreakKorona war von der kleinstädtischen Staatsmacht in ihre Schranken verwiesen worden.
Als ich ins Freie trat, blendete mich das Tageslicht. »Leute, was nun?«
»Schlafen«, sagte Mark. Sonny, Moses, Fetzer und Andi nickten. Dann marschierten sie los. Jeder in seine eigene Richtung.