V

Mais ou sont les neiges d’antan?

Francois Villon

Ein neuer Windstoß schlug gegen die Scheiben. Danach noch einer. Vor seinem Druck gaben die Fensterflügel nach. Sie klappten auseinander, bevor es den beiden gelang, sie festzuhalten. Kalter Wind brach in das Zimmer ein und erfüllte es im Nu mit riesigen Schneeflocken.

Es waren das die Papierblätter und Akten, die der Wind hochgewirbelt hatte und mit denen er nun die beiden von der Decke herunter zuschüttete wie mit Schnee. Beide rannten zu gleicher Zeit zum Fenster, drückten überrascht die Flügel zu und stemmten sich mit ihren Leibern dagegen. Als das Zimmer sich beruhigt hatte, begannen sie die Blätter aufzulesen, suchten sie aus den Ecken zusammen, holten sie von den Möbeln herunter und hoben sie, auf den Knien rutschend, vom Fußboden auf. Sie stießen fast mit den Köpfen zusammen und kamen einander so nahe, daß ihr warmer Atem sich berührte. Tomić legte seine gesammelten Blätter auf den Tisch und wandte sich zum Gehen.

„Aber du kannst doch nicht so“, sagte der Generaldirektor, faßte ihn bei der Schulter und führte ihn zum Fauteuil zurück. „Setz dich“, sagte er. „Wart ein bißchen. Du wirst doch nicht bei dem schlechten Wetter …“

„Das geht vorbei. Es kann nicht lang dauern. Und ich hab dich sowieso schon zu lang aufgehalten. Du hast ja eine Sitzung.“

„Ach!“ winkte der andere ab. „Nicht so wichtig. Sitzungen gibt’s sowieso täglich ein paar. Und wir – wie lang ist’s her, daß wir uns nicht mehr richtig gesehn und ausgesprochen haben, wie es sich gehört? Zehn Jahre bestimmt.“

Sie nahmen in den Sesseln Platz, und der Generaldirektor griff nach der Zigarettendose und bot an. „Warte“, sagte er, „ich bestell was Warmes. Tee oder Kaffee? Damit wir uns ein bißchen aufwärmen.“ Er ging zum Telefon und rief die Sekretärin an. „Also, was sagst du – du hast keine gute Wohnung? Ich weiß nur nicht, wieso es dir nicht früher eingefallen ist, zu mir zu kommen. Ich hätte dir leichter helfen können. Aber vielleicht könnten wir gemeinsam … Vielleicht könnten wir das gemeinsam irgendwie in Ordnung bringen. Mir ist meine Wohnung sowieso viel zu groß. Warte, warte, laß uns das besprechen und überlegen. Allerdings – es ist weiter weg von der Stadt und im Winter ziemlich kalt, aber was meinst du?“

„Aber nein, ich bitt dich, laß das! In Wirklichkeit hab ich mir die Sache überlegt. Wenn ich richtig drüber nachdenke, seh ich ein, daß du recht hattest. Wir haben es nicht mal so schlecht in dieser Wohnung. Das Zimmer ist geräumig und im Winter sehr warm. Ich gebe zu, das Haus gegenüber hat uns ein bißchen geblendet. Aber was sollten wir mit einem so großen Haus?“

„Nun – wie du entscheidest. Ich steh dir jederzeit zur Verfügung. Und zier dich nicht, ich bitt dich. Und melde dich auch nicht erst bei der Sekretärin an. Schließlich – wir sind Freunde. Wir sind alte Freunde, und das ist in unserer kalten Zeit nichts Geringes und auch nicht ohne Bedeutung. In dieser unserer Eiszeit. Nicht wahr?“

„Eiszeit?“ verwunderte sich der Gast, und im Zimmer wurde es plötzlich heller. Die Sonne brach durch die Wolken durch und riß diese ihrer ganzen Länge nach auseinander. Auf Dächern, Leitungsdrähten, Straßen und Fensterscheiben glitzerte eine dünne, schon schmelzende Schicht Schneekristalle. „Siehst du“, sagte er, „schon vorbei. Ich wußte, daß es nicht lang dauern würde. Es ist jetzt wirklich Zeit für mich. Servus also“, und er hielt dem andern die Hand hin.

Der Generaldirektor behielt sie etwas länger in der seinen. Sie war tatsächlich warm und ein wenig feucht. Vom Hauch, mit dem ich sie soeben gewärmt habe, dachte er.

„Ja“, bekräftigte er. „Wer hätt das gedacht: Es ist wärmer geworden!“

Und wirklich, der Schnee verschwand im Handumdrehn. Er schmolz dahin. Heiter und geschwind drängten die Menschen auf die Straßen und schauten hinauf in den blauen, hellen und frischen Himmel. Die gewaschenen Gehsteige leuchteten wie ein soeben von den Wellen überspültes Meeresufer. Die Frühlingssonne lockte eine Katze auf die benachbarte Terrasse, wo sie mit ihrer langen warmen Zunge die glitzernden, perlenden Tröpfchen des tauenden Schnees wegleckte, die sich auf den Gitterstäben gesammelt hatten.