IV
The ice was here, the ice was there,
The ice was all around:
It cracked and growled and roared and howled
Like noises in a sound!
Coleridge, „The ancient mariner“
Jedes Übel hat auch sein Gutes. Dieser bekannte Gedanke, dessen wir uns für gewöhnlich erinnern, wenn es uns schlecht, aber nur sehr selten, wenn es uns gutgeht – so daß es vielleicht besser wäre, ihn in einer etwas abgewandelten, aber genaueren Form zum Ausdruck zu bringen: Daß jedes Übel seinen Trost suche –, dieser Gedanke wurde jetzt oft erwähnt, wahrscheinlich mehr in dem Bestreben, irgendeinen Trost zu finden, als aus dem Bedürfnis, das Übel hervorzuheben. So wurde zum Beispiel schon in den ersten Tagen, als die Zeitungen noch erschienen, angeführt, daß die eingetretene Eiszeit sich günstig auf den Gesundheitszustand der Menschen auswirken werde. Besonders auf die modernen Zivilisationskrankheiten. Die Leute werden genötigt sein, sich mehr zu bewegen. Statt Auto, Autobus und so weiter zu fahren, werden sie zu Fuß gehn, was den Kreislauf ihres trägen und zu dicken Blutes beschleunigen wird. Ansteckende Krankheiten werden in kürzester Zeit ausgerottet sein. Es ist bekannt, daß sie in den heißen Gegenden florieren, während sie in den arktischen Gebieten immer selten waren, da niedrige Temperaturen auf Entwicklung und Verbreitung verschiedener Krankheitskeime offenbar einen ungünstigen Einfluß haben. In einem der Gesundheitsbulletins für den Monat Juni wurde ein statistischer Überblick über die Krankheits-– und Todesfälle in der Stadt veröffentlicht. Man sah, daß ansteckende Krankheiten um zwei Drittel zurückgegangen und die früher so häufigen Fälle von Wirbelsäulenverkrümmung bedeutend seltener geworden waren. Und tatsächlich, seit einiger Zeit hielten die Menschen auf der Straße sich aufrechter – und die Angestellten in den Büros natürlicher, weicher und elastischer. Einen Monat darauf war das Bild noch günstiger – außer in der Rubrik „Verschiedenes“ die ein wenig angewachsen war. Drei oder vier Monate nachdem es zu schneien begonnen hatte, hatte sie bereits den gleichen Umfang wie alle anderen zusammen; und noch mehr. Zu Ende des kalendermäßigen Sommers – als der Beginn der Eiszeit bekanntgegeben wurde – betrug sie doppelt soviel wie alle übrigen zusammen.
Auto- und andere Verkehrsunfälle gab es weit weniger, und die Hundegespanne hatten einen massiven Vorzug: Sie überfuhren nur selten jemanden. In den letzten Ausgaben der Zeitungen konnte man indessen Nachrichten folgender Art lesen: „Vasilije Popadić, als Trinker und Raufbold bekannt, wohnhaft in der Nischer Straße 7, schlief gestern nacht auf dem Heimweg aus dem Wirtshaus im Schnee ein. Er wurde heute morgen erfroren aufgefunden und in die Anatomie des Hauptkrankenhauses gebracht.“ Oder: „Panta Ocokolić, Fleischergeselle, verirrte sich auf dem Heimweg spät bei Nacht in den finsteren Straßen, schlief vor Müdigkeit an einem Zaun ein und erfror.“ Oder: „Nachdem die Nachbarn bemerkt hatten, daß sich in der Wohnung der Witwe Katić schon tagelang niemand rührte, schöpften sie Verdacht, es könnte ein Verbrechen vorliegen. Lange klopften sie an die Tür, und als ihnen niemand öffnete, drangen sie mit Gewalt in das Zimmer ein und fanden die Witwe in ihrem Bett, schon kalt und tot. Der herbeigerufene Arzt konnte an ihr keinerlei Spuren von Gewaltanwendung feststellen und konstatierte bei genauerer Untersuchung als Todesursache einfaches Erfrieren. Man nimmt an, daß es der alten Frau übel geworden war, und da sie allein wohnte und niemanden hatte, der ihr den Ofen angeheizt hätte, war sie wahrscheinlich schon vor einigen Tagen erfroren.“
Später wurde über alles das einfacher berichtet. Zuerst schlicht: Der und der, sagen wir: Mirko Mitrović, erfroren. Dann, als die Zahl der Erfrorenen immer größer und die der Zeitungsseiten immer geringer wurde, kamen die Redaktionen auf die Idee, eine eigene Rubrik „Erfroren“ einzuführen, in der nur noch, in alphabetischer Reihenfolge, die Namen aufgeführt wurden – zuerst in Borgis, dann in Petit und schließlich, um möglichst viele Namen auf dem engen Raum unterzubringen, in Nonpareille. Am ersten September wurden drei ganze Spalten veröffentlicht, an die hundert Namen in jeder.
Die Statistiker behaupteten, daß die Gesamtzahl der Erfrorenen die Summe der Todesfälle infolge ansteckender Krankheiten, Krebs, Herzkrankheiten, Verkehrsunfälle, Altersschwäche, Selbstmord und anderer möglicher Ursachen für das Hinscheiden des Menschengeschlechts nicht überschreite. Nur die Todesarten hatten sich verschoben, wurde gesagt, nicht aber die Gesetzmäßigkeiten der Auswahl und der Ablösung; es starben vor allem Alte, Schwache und Nichtanpassungsfähige. Es wurde sogar behauptet, der Frost wirke biologisch auf den Menschen günstiger ein als andere Todesursachen. Im übrigen – der Tod ist für uns immer nebenan, nie in unserer eigenen Kammer, auch dann nicht, wenn er sich, für uns unsichtbar, schon über unser Bett gebeugt hat. Und wer erregt sich noch beim Tod fremder, uns unbekannter Menschen? Wenn es so wäre, müßten wir andauernd erschüttert sein und kämen niemals, auch nicht für einen Augenblick, zur Ruhe, denn gestorben wird ständig, und es gibt keinen Moment, in dem das nicht jemandem widerführe in der Welt, ja sogar in der eigenen Stadt. Der Tod ist menschenlos, und wir sind so weise, nicht an ihn zu denken. Es ist also egal, woran einer stirbt, ob an Krankheit oder an Frost, solang der Tod nicht an unsere eigene Tür klopft. Wir lesen oder hören, der und der ist erfroren, und wir ziehn nur die Brauen hoch: So? sagen wir; er war ja schon alt und kränkelte seit längerer Zeit; als ich ihn zum letztenmal traf, sah er schlecht aus, ich wußte, daß er’s nicht mehr lang machen würde … Der eine zuckte die Schulter: Was willst du – das erwartet uns alle … Der andere wurde ganz einfach zornig: Was treiben denn diese Leute, warum passen sie nicht besser auf? Und wir regten uns nicht besonders auf. Nur die allernächsten Angehörigen gaben ihren Toten das Geleit, aber auch sie kalt und ruhig, um nicht weinen zu müssen – was außerordentlich gefährlich gewesen wäre, denn die Tränen gefroren sofort und drohten die Augen aus ihren Höhlen zu drücken.
Herr Krekić, in eine Decke gehüllt, saß in seinem tiefen, wattegefütterten Fauteuil und las die Namen der Erfrorenen vom Vortage: „Antić, Baschić, Blazević …“
Seine Frau hatte sich in der Nähe des Fensters niedergelassen und betrachtete ihre Hände. Sie antwortete nicht.
„Kennst du sie? Bakotić, Brković, Vasić, Vekić …“
„Nein, woher denn? Nie gehört.“
„Mein Gott, wieviel unbekannte Leute! Vujić, Gavrić, Gajić, Grujić, Damjanović … Nicht einmal geahnt hab ich, daß es soviel Menschen gibt. Deanović, Dokić, Drakić, Eraković … Übrigens kein Wunder: Es gab ihrer zu viele. Was treibst du dort den ganzen Tag?“
„Nichts, ich schau mir meine Fingernägel an. Ich kann mich nicht entschließen.“
„Zarković, Zunić … Was haben deine Fingernägel damit zu tun? Wozu kannst du dich nicht entschließen? Zarić, Zekić, Zonić … Alle ohne Berufsangabe. Nur lauter Unbekannte. Daß der Mensch sich fragen möchte, warum das überhaupt gelebt hat. Ob die sich das selbst auch mal gefragt haben?“
„Das glaub ich nicht – wie hätten sie sonst so lang leben können. Meine Fingernägel sind sehr lang geworden, aber ich kann mich nicht entschließen, sie abzuschneiden. Wie die Zeit ist, werde ich sie vielleicht noch brauchen können.“
„Janković Milan … Mir scheint, den hab ich gekannt. Irgendein Abteilungsleiter in irgendeinem Ministerium. Keinerlei Schaden. Und auch kein Verlust.“
„Gut“, sagte die Frau. „Ich hab mich entschlossen, sie doch stehn zu lassen. Sie können mir in der Eiszeit nützlich sein. Und du – wie lang willst du das mit dieser Liste noch treiben?“
„Warum nicht? Das sind jetzt die interessantesten Nachrichten. Du siehst, es gibt keine Kreuzworträtsel mehr; nur das hier könnte sie ersetzen. Katić Duschan, Lukić Stevan, Zeitungsschreiberling, Manojlović Tadija, irgend so ein Universitätswurm … Ninković Darinka …“
„Dara?! Was ist mit ihr?“
„Ins Krankenhaus gebracht – beide Beine erfroren.“
Die Frau schaute ihn mit weit aufgerissenen Augen genau an. „Duschko!“ schrie sie auf. „Duschko, um Gottes willen!“ Das Manikürzeug fiel ihr dabei aus dem Schoß und schlug mit metallischem, eisigem Klang auf den Fußboden auf.
„Was ist denn los? Warum regst du dich so auf? Recht ist ihr geschehen. Ständig hat sie ihre Beine hochgehoben, entblößt und vorgezeigt. Das hätt sie nicht in dem Maße machen sollen. Im übrigen ist das auch für dich eine Mahnung: Es ist nicht gut, zu oft den Mund aufzumachen und die Zunge zu zeigen. Sie könnte dir abfrieren.“
Aber die Frau hörte ihm nicht mehr zu. Sie erhob sich und kam, ihn scharf musternd, näher, immer noch die Schere in der Hand, als suche sie etwas in seinem Gesicht und als wolle sie ihm mit der Schere etwas tun. Er hatte Angst, sie könnte ihm die Augen ausstechen, und hob die Hände vor das Gesicht. Er spürte unter den Händen etwas Kaltes, das fremd, hart und wie ein Stück Eis zwischen den Wangen herausragte.
„Die Nase!“ schrie die Frau. „Die Nase! Sie ist dir schon ganz weiß!“ Und während er sich wehrte und noch nicht begriff, was geschehen war, fuhr sie fort: „Laß, du Dummkopf! Laß mich, daß ich sie dir reibe. Das kommt daher, daß du sie überall hineinsteckst und so vorschiebst.“
Während die beiden sich balgten, glitt die Zeitung aus Krekićs Schoß und fiel zu Boden. So kamen sie nicht dazu, zu lesen, was am Schluß des Blattes stand. Eine kleine Notiz, in der bekanntgegeben wurde, daß die Zahl der Sterbefälle in diesem Monat den Durchschnitt der letzten fünfzig Jahre überschritten habe. Der Verfasser stellte die Frage: „Was werden wir mit den Leichen anfangen, wenn die Todesfälle weiterhin in diesem Tempo und in diesem Ausmaß anwachsen?“
Und tatsächlich – seit einiger Zeit stellten auch andere Leute sich diese Frage.
Der Schnee lag hoch, die Erde darunter war so hart gefroren, daß es schwer war, sie aufzugraben, und fast unmöglich, genügend Gruben für eine derartige Zahl von Leichen auszuheben. Abermals machte jemand in der Öffentlichkeit den Vorschlag, ein Krematorium einzurichten, doch tauchten sofort auch gegenteilige Meinungen auf, und so wurde aus diesem Vorschlag auch diesmal nichts. „Wer wird in dieser Zeit soviel teure und knappe Kohle für die Toten verbrauchen, wenn es nicht einmal für die Lebenden genug gibt“, sagten die einen. Die anderen meinten, es wäre recht und billig, wenn diejenigen, die im Leben so viel gefroren hatten, sich wenigstens im Tod einmal für zehn Minuten tüchtig erwärmen könnten. „Diese Perspektive vor Augen, würde für viele das Sterben leichter, sogar schöner werden“, behaupteten sie. Es wurde vorgeschlagen, die Leiber der Toten hinauszutragen vor die Stadt und sie den wilden Tieren auszusetzen – nach dem Vorbild verschiedener religiöser Sekten in Indien, die mit ihren Toten die Vögel des Himmels ernähren. Indessen, es erwies sich, daß das eine gefährliche Sache war. Die Raubtiere – die sich ohnehin schon um die Stadt herum angesammelt hatten – wurden an Menschenfleisch gewöhnt, und es stellte sich heraus, daß auch sie warmes und frisches Fleisch bevorzugten, und so fielen sie lieber über diejenigen her, die ihnen die Leichen brachten, als über die Leichen selbst. Sie fingen schon die Straßen unsicher zu machen an, so daß man diesen Versuch bald wieder aufgab.
Die Lösung wurde in Wirklichkeit ganz zufällig gefunden – wie meistens, wenn es sich um große und bedeutende Entdeckungen handelt. Die Stadtverwaltung hatte nicht genügend Hundegespanne, um die Toten immer sofort und rechtzeitig auf den Friedhof schaffen zu können. „Kein Wunder“, schimpften die Bürger, „unsere Stadtverwaltung hat es noch niemals fertiggebracht, den Verkehr der Lebendigen zu regeln, wie soll sie das jetzt für die Toten fertigbringen.“ Und tatsächlich – die Leichen wurden immer erst nach einigen Tagen abgeholt, und da es ihrer immer mehr gab, fingen sie sich in den Häusern zu häufen an. Allerdings waren es stille, friedliche, vollkommen tote Leichen, die bescheiden und unaufdringlich auf ihren Plätzen lagen, ohne sich zu blähen, ohne zu verfallen und ohne zu stinken. Sie waren vollständigkalt und bereiteten ihren lebenden Mitbürgern keine Schwierigkeiten. Sie konnten also ruhig warten, bis endlich die Reihe an sie kam; geduldiger als ihre lebendigen Verwandten und Freunde. Und dennoch – damit sie die Blicke ihrer Nächsten nicht allzusehr störten, wurden sie in den Keller oder auf den Hof hinausgetragen, dorthin, wo früher die Mülltonnen gestanden hatten, und, damit die Ratten sie nicht anfielen, mit Wasser begossen, das um sie herum sofort zu Eis erstarrte. Auf diese Weise konserviert, warteten sie ab, bis man sie auf den Friedhof brachte.
Das gab dann auch die Idee ein, wie das Problem zu lösen wäre. Wozu die Toten unter der Erde bestatten? Es ist Eiszeit – das Eis, das sie umgibt, wird nicht so bald schmelzen. Demnach besteht keine Gefahr, sie könnten zu Vampiren werden oder auf sonst eine unangenehme Weise an sich erinnern und das fröhliche und schöne Leben der Lebendigen stören. Es genügt, sie aus dem Hause zu schaffen und in ihren Eissärgen auf den Feldern, nach Parzellen und Nummern geordnet, aneinanderzureihen. Auf diese Weise kann man mit weniger Mühe und weniger Unkosten das erreichen, was jahrhundertelang die ägyptischen und verschiedene andere Pharaone angestrebt haben, was aber in Wahrheit immer nur echten, ausnehmenden, besonders großen Gläubigen gelang, die dann später zu Heiligen ernannt wurden. Die Toten werden besser konserviert sein und sich in ihren Eissärgen besser halten als irgendein Heiliger bisher. Und ihre Angehörigen – wenn die schon den Wunsch haben sollten, sie auf dem Friedhof zu besuchen – werden sie da liegen sehen, als wenn sie lebten. Sie werden nicht jammern, wehklagen und weinen müssen – die da im Eis werden es gut haben, vielleicht besser als die Lebenden selbst. Zufrieden werden sie daliegen und zuschauen, wie ihre Besucher sich in die kalten Hände hauchen und vor Kälte auf der Stelle trippeln, um ihre halb erfrorenen Füße zu erwärmen. Der Vorschlag war derart nützlich, daß man alle seine Vorzüge leicht einsehen konnte. Die Stadtverwaltung beeilte sich sogar, für die Toten wie für die Lebenden noch ein bißchen mehr zu tun: den einen wie den anderen stellte sie die großen Räumlichkeiten des Kühlhauses zur Verfügung, das in der gegenwärtigen Situation zu nichts mehr nutze war, und danach auch die Pavillons auf dem Messegelände, um den Lebenden wie den Toten einen erstklassigen Komfort zu sichern. Wie Bücher und Akten in Bibliotheken oder Archiven, so werden die Leichen, eine jede unter ihrem vollen Namen und einer laufenden Nummer, in Magazinen und Großbehältern aufbewahrt und in einen besonderen, auf entsprechende Weise eingerichteten Raum gefahren werden, wo ihre Freunde und Verwandten, in Fauteuils sitzend und entsprechende Musik hörend, sie betrachten können, und die Toten werden vor ihnen in ihren besten Kleidern erscheinen und mit sämtlichen Goldzähnen im Mund, die ihnen niemand wird unbemerkt entwenden können.
Der Vorschlag wurde tatsächlich gleich auf der ersten Sitzung des Stadtrates angenommen. Das Problem der Toten war gelöst. Wir konnten uns ihm gegenüber kühl verhalten. In ihren Eissärgen werden die Toten Tausende von Jahren ungestört ruhen, und erst ein in weiter Ferne liegendes warmes Zeitalter wird vielleicht wieder ihre Ruhe stören können.
Aber wo ist dieses Zeitalter? Vorerst liegt überall um uns her – Eis.
Bei Herbstbeginn, dem kalendermäßigen, versteht sich, wuchs die Zahl der Eingefrorenen in irgendeiner eisigen, egal ob arithmetischen oder geometrischen Progression an, und nach allen Anzeichen zu schließen, würde sie sich schon zu Beginn des kommenden Monats verdreifacht haben.
Noch verhielten wir uns diesem Problem gegenüber kühl. Hätte es zu dieser Zeit Zeitungen gegeben, wäre in ihnen gewiß die bekannte Formel aufgetaucht: ,Kein Grund zu Besorgnis’. So aber kam man bei den selten gewordenen Sitzungen der Ärztegesellschaft zu dem gleichen Schluß. Schließlich, so wurde gesagt, kann man die Sprache der Zahlen erst richtig verstehen, wenn man sie über Jahrzehnte verfolgt. Erst dann kann man echte Tendenzen feststellen, und was jetzt geschieht, kann auch nur ein Zufall sein. So etwas wie eine Grippeepidemie. Vielleicht ist eine neuartige Krankheit aufgetaucht, wie seinerzeit Polio und Krebs, und wenn sie vorbei ist, fließen die Wasser wieder im alten Flußbett weiter. Im übrigen – was würde die Medizin machen, wenn nicht wenigstens von Zeit zu Zeit neue Krankheiten ausbrächen? Diese hier, wenn man alles in Betracht zieht, hat noch nicht im entferntesten soviel Opfer gekostet wie zum Beispiel das Spanische Fieber, zu schweigen von Pest und Cholera, von den zwei heißen letzten Kriegen oder den Atombomben von Hiroshima und Nagasaki. Die Medizin wird schon irgendein Mittel entdecken, oder, was wahrscheinlicher ist, die Zeit selbst wird uns die Lösung auf dem Tablett präsentieren. Wir werden uns den neuen Lebensbedingungen anpassen und uns an Schnee und Kälte gewöhnen.
Schließlich, so sagten einige, ist das vielleicht sogar gut. Die Menschheit hat sich in letzter Zeit derart schnell vermehrt, daß die ernste Gefahr bestand, sie könnte bald die ganze Erde verseuchen. Schon jetzt konnte man von ihr nirgendwohin flüchten. Nicht einmal in der Natur konnte man sich mehr irgendwohin zurückziehn, ohne auf Abfälle der Menschen zu treten oder den Blicken der Menschen ausgesetzt zu sein. Wir vermehren uns derart, daß wir bald kaum noch Platz zum Stehen hätten, und sei es auch nur auf einem Bein. „Wenigstens wird man der gelben Gefahr entgegentreten“, sprachen die anderen. „Die weiße Rasse wird gerettet werden, die während einer Eiszeit entstanden ist; wie die Eisbären und die weißen Polarfüchse ist auch sie ein Kind von Weiß. Wir alle werden jetzt reinrassig nordisch werden und uns vor allerlei farbigen Gefahren in Sicherheit bringen, die uns schon in hohem Maß bedrohten“, behaupteten die Eugeniker. Diejenigen jedoch, die sich in diesen Tagen etwas aufmerksamer im Spiegel betrachteten, fuhren überrascht zusammen. „Wir werden behaarter!“ sprachen sie und strichen mit der Hand über den noch dünnen Flaum, der sich überall gebildet hatte, auf Wangen, Stirn, Hals und anderen früher unbewachsenen Körperteilen. „Was ist das und was geschieht da mit uns?“ fragten sie sich besorgt. „In was verwandeln wir uns da wieder?“
„Wieviel Menschen haben auf unserem Territorium während der Eiszeit gelebt? Was meinen Sie? Können Sie uns das sagen?“ fragte der Genosse Babic eines Nachmittags, als er zum letztenmal bei Krekićs zu Besuch weilte. „Höchstens einige Hundert. Verstehen Sie, was das bedeutet? Insgesamt ein paar Hundert auf einem Territorium, auf dem bis vor kurzem fast zwanzig Millionen Menschen gelebt haben!“
„Ja – wenn die Statistiken und Volkszählungen in jener Zeit genau und gewissenhaft geführt wurden. Aber was bedeutet das? Und was hat das jetzt mit uns zu tun?“
„Was das bedeutet? Das bedeutet, daß auch von uns bald nur soviel übrigbleiben wird. Noch weniger. Damals gab’s wenigstens im Oberfluß Elche, Wisente, Mammute und anderes Wild, von dem die Menschen sich ernähren konnten.“
„Wozu auch sollen wir so viele sein?“ fragte Krekić. „Was sollen jetzt so viel Leute? Wir brauchen sie nicht. Früher, in der warmen Zeit, da war es was anderes. Damals haben allein wir hier in unserem Haus mindestens drei Menschen beschäftigt: zwei Mädchen, eine Köchin und ein Zimmermädchen, und immer noch irgendeinen Handwerker dazu, einen Heizer, Gärtner und Elektriker. Und jetzt haben wir niemanden. Und wir brauchen auch niemanden. Wozu dann also so viel Leute? Sie sind völlig überflüssig. Sie essen nur, nehmen Platz weg und arbeiten nichts.“
„So ist es! Sie haben recht! Die Industrie steht still. Auch die Bergwerke arbeiten nicht mehr. Schofföre und Elektriker sind überflüssig. Sogar Friseure, da die meisten Menschen ihr Haar und ihre Barte sprießen lassen.“
„Wir brauchen die Arbeiter nicht mehr. Sie können zum Teufel gehn! Sie können jetzt ruhig aussterben! Sie haben uns lange genug mit ihrer Anwesenheit beglückt, für die wir ihnen auch noch dankbar sein mußten.“
„Ja – aber meine Angaben sprechen, leider, eine andere Sprache.“
„Angaben? Was für Angaben? Wer fragt heute noch nach Angaben? Was haben Angaben uns noch zu sagen?“
„Sie sagen, daß Sie nicht recht haben. Die anderen sterben nicht eben zahlreich.“
„Nicht sie sterben? Na schön. Wer ist es denn, der so zahlreich stirbt? Könnten Sie mir das erklären?“
Krekić verstummte, und Babic zog den Monatsbericht aus der Tasche. Es stellte sich heraus: Die Hälfte der Verstorbenen waren Angestellte, Rechtsanwälte, Ärzte, Künstler und andere sogenannte freie Berufe, zum größten Teil aus dem Zentrum der Stadt. „Wenn es in diesem Verhältnis weitergeht, werden wir in einem Jahr verschwunden sein“, schloß Babic betrübt. „Nicht wir werden ohne sie zurückbleiben, sondern sie ohne uns.“
„Um Gottes willen!“ jammerte Frau Krekić. „Daran hab ich überhaupt nicht gedacht. Das ist mir früher nicht mal in den Sinn gekommen. Und sie? Sind sie sich dessen bewußt? Ist ihnen klar, welcher Verlust auf sie wartet und was ihnen droht?“
„Sie werden verwildern“, sagte Babic. „Bis auf die Stufe des früheren Eiszeitmenschen hinab. Wir kehren in die Urgeschichte zurück. In den Primitivismus und in die Verwilderung der frühgeschichtlichen Eiszeit.“
„Schrecklich! Und sie sind noch nicht fähig, das zu begreifen. Sie können das noch nicht verstehn und sind sich der Gefahr, die ihnen droht, nicht bewußt. Man müßte ihnen helfen, die Augen zu öffnen, und schnell etwas tun, damit sie das einsehn.“
„Man muß etwas tun! Schnellstens etwas unternehmen!“ waren sich alle drei einig. „Ein Komitee für öffentliche Rettung gründen!“ schlug Babic vor. „Den Belagerungszustand einführen und Gewaltmaßnahmen ergreifen!“ sagte er und erhob sich, um nach Hause zu gehn. Es begann zu dämmern, und seit einiger Zeit war es gefährlich, sich bei Dunkelheit auf der Straße zu bewegen, selbst wenn mehrere Menschen in Gruppen zusammen gingen.
Herr und Frau Krekić blieben nachdenklich auf ihren Plätzen sitzen, während im Zimmer sich langsam Dunkelheit ausbreitete. Sie schwiegen. Sie sagten nicht ein einziges Wort. Und sahen einander gar nicht mehr, als die Tür aufging. Suse trat ein. „Ist da noch jemand Lebendiges?“ fragte sie, und als niemand antwortete, holte sie die Funzel, um das Zimmer zu erleuchten. „Ihr seid nicht einmal imstande, Licht zu machen. Ohne mich wärt ihr schon hundertmal erfroren. Los, gebt mir noch ein Buch, damit ich das Abendessen mach.“
Herr Krekić rührte sich überhaupt nicht, das Mädchen ging zum Bücherregal und griff sich den dicksten Band und legte ihn auf den Handteller, um sein Gewicht zu schätzen.
„Was ist es? Was hast du genommen?“ fragte Krekić finster. Sie gab sich Mühe, beim Licht der Funzel den Titel zu entziffern. Sie begann zu buchstabieren.
„Da sieht man’s“, tadelte er sie: „So viel Bücher hast du schon verbrannt und hast noch nicht anständig lesen gelernt. Äh, weißt du denn überhaupt, was aus dir werden wird? Bist du dir dessen bewußt, was für eine Wilde du ohne uns werden würdest? Was für eine elende, unkultivierte, vorgeschichtliche, primitive Wilde du werden würdest, wenn wir ein bißchen erfrören?“
„Auf uns müssen Sie gut aufpassen“, fügte Frau Krekić hinzu und wollte noch sagen: Uns müssen Sie hüten wie das bißchen Wasser in der hohlen Hand, aber sie erinnerte sich, daß auch Vergleiche in der Eiszeit ihre Bedeutung verändert hatten, und sie sagte statt dessen: „Uns müssen Sie hüten wie das bißchen Glut in der hohlen Hand.“ Und fragte sogleich auf das liebenswürdigste: „Wie ist es, Suse, könnten wir noch heut abend zu Ihnen in die Küche ziehn? Schauen Sie, auch hier in diesem Raum lagert sich schon Eis ab, und bei Ihnen in der Küche ist es viel wärmer. Und auch für Sie war es doch schöner und kultivierter mit uns zusammen. Wir würden unsere ganze Bibliothek in die Küche übersiedeln und Ihnen zur Verfügung stellen.“
Der Wintermorgen dämmerte träge herauf. Bleich und weit entfernt schleppte die Sonne sich hilflos über den eingenebelten Horizont. Das Menschengeschlecht, durchgefroren, schwarz geworden vor Kälte, in klägliche Lumpen gekleidet, schlüpfte langsam aus seinen Höhlen und trat in den weißen Schnee hinaus.
Behaart, zottig, vor Kälte trampelnd, versammelten sie sich an den Straßenecken und lasen die Bekanntmachungen, die an die gewesenen Strommasten angeschlagen waren. Da stand geschrieben, in gleichmäßigen, monotonen Buchstaben, ohne Überschrift und Anrede:
1. Da wir, nach allen der Wissenschaft zur Verfügung stehenden Angaben, aber auch nach der Wirklichkeit zu schließen, in eine längere Frost- und Winterperiode eingetreten sind, mit einem Fachausdruck Eiszeit genannt, und da weiter, den gleichen Angaben zufolge, keine Aussicht besteht, daß diese Periode vor dem Jahr 21 960 zu Ende gehen könnte, also nicht vor Ablauf von zwanzigtausend Jahren, was, wie bekannt, auch die allergrößte menschliche Lebenserwartung weit überschreitet, ist die Menschheit in ihrer Gesamtheit vor die Frage gestellt, wie sie die notwendigen Mittel für ihr Fortbestehen und ihre weitere Reproduktion sichern kann. Die Zahl der Erdbewohner hat sich unter den gegenwärtigen, veränderten Verhältnissen als allzu hoch erwiesen – und die zur Verfügung stehenden materiellen Quellen als ungenügend, eine derartige Anzahl von Menschen am Leben zu erhalten. Darum war es in deren eigenem, aber auch im Interesse der Gattung Mensch überhaupt unerläßlich, die eingetretene Lage kühl in Augenschein zu nehmen und kaltblütig Maßnahmen zu bestimmen, die dringend durchgeführt werden sollten. Die in letzter Zeit jäh angestiegene Sterblichkeit spricht an und für sich schon von der Bedeutung und Dringlichkeit dieser Maßnahmen, zu gleicher Zeit aber bietet sie die natürlichste Grundlage, von der man bei der Verwirklichung der Maßnahmen ausgehen sollte.
2. Alle bisher unternommenen Maßnahmen, das frühere Klima zu erhalten und den Frost der Eiszeit zu zerschlagen, haben leider, trotz gewaltiger investierter Mittel, das gewünschte Resultat nicht gebracht – aus objektiven Gründen, versteht sich, die außerhalb unserer Macht liegen. Das gilt für den erhitzten, mit Hochspannung geladenen Stacheldraht an den Grenzen, für die tiefen Gräben und Wolfsgruben, für die Radars und andere Strahlungsgeräte auf den Gipfeln der Berge – wie auch für die Bemühungen, das Produktionsniveau an Kohle, Getreide und anderen Lebensmitteln zu erhalten.
3. Nach alledem, Aug in Aug mit dieser Situation, bleibt uns nur eines zu tun – die letzte Möglichkeit, die wir, so schwer uns das auch fallen mag, in uns selbst suchen müssen. Wenn es uns nicht gelungen ist, die äußeren Bedingungen zu verändern, was bleibt uns da übrig, als uns der Eiszeit zu beugen und kalt, unbarmherzig den Schluß zu ziehen: Der einzige Ausweg besteht darin, daß die Reihen der Menschheit schnellstens gelichtet werden.
4. An und für sich besorgt das ja auch schon die bloße Natur – wovon die Zahl der Todesfälle in den letzten Monaten beredt und überzeugend Kunde gibt. Aber: Die blinde Natur erledigt dieses Geschäft auf ihre elementare, unverständige Art, wie sie das in früheren Eiszeiten zu tun gelernt hat, indem sie uns ihrem Willen und ihrer rohen Macht unterwarf, ausgerechnet die primitivsten und gröbsten menschlichen Exemplare verschonend, die am höchsten entwickelten und vergeistigtesten aber unbarmherzig vernichtend. Wir sterben also auf eine primitive Weise, unwürdig und beschämend für den modernen, kultivierten Menschen: noch genauso, wie man das in unserer Vorgeschichte getan hat. Und gerade deshalb hält das Interesse der Menschheit als Ganzes uns dringend dazu an, uns wenigstens in dieser Hinsicht, wenn schon in keiner anderen, energisch einzumischen und dem Tod und dem Sterben menschlichen Sinn und Ordnung zu geben. Wenn wir schon so und in solcher Zahl sterben müssen, möchten wir es wenigstens so tun, wie wir wollen, und auf unsere menschliche Art und Weise.
Vor allem gilt es, einen Plan in diese Sache zu bringen. Es darf nicht länger elementar gestorben werden – wie einer gerade will und es ihm in den Sinn kommt. Auch der Tod ist in der modernen, entwickelten Gesellschaft ein sozialer, kollektiver, gesellschaftlicher Faktor geworden, und es gehört sich, daß wir uns auf entsprechende Weise danach richten. Mit anderen Worten: Es ist notwendig, daß wir mit mehr Verständnis und Gefühl für Ordnung sterben. Die Übersicht über das Sterben muß verstärkt und verbessert und es müssen eigene Karteien angelegt und vervollkommnet werden, die es uns ermöglichen, über den Tod wenigstens einen Überblick zu bekommen – was ja doch auch eine Art Kontrolle wäre. Die Statistik würde uns sagen, wie viele nach den früheren und wie viele nach den neuen, eiszeitlichen Naturgesetzen sterben – während wir mit unseren menschlichen Vorschriften danach streben würden, die Natur zu korrigieren, wie wir das ja auch bei anderen Gelegenheiten zu tun gewohnt sind, indem wir zum Beispiel festlegen, wer wann in welche Gehaltsklasse aufsteigt oder in Pension geht. Denn schließlich ist der Tod ein nicht weniger wichtiger gesellschaftlicher Faktor als Beförderungen und Pensionierungen. Übrigens – schon in der früheren, warmen Epoche wurde in gewissen Ländern die maximale Geburtenquote geplant, und in verschiedenen Familien ist diese Praxis längst eingeführt. Kühl und überlegt entscheiden wir, ob wir, zum Beispiel, ein oder zwei Kinder zur Welt bringen wollen – warum könnten wir dann nicht mit ebensoviel, wenn nicht mit noch mehr Recht bestimmen, wer wann zu sterben hat?
Wir glauben, daß vereinzelte anarchistische und asoziale Elemente in der ersten Zeit Widerstand leisten werden. Sie werden sagen, die neuen Maßnahmen stellten eine Beschränkung der menschlichen Individualität und einen Angriff auf die persönliche Freiheit dar, aber wir werden solchen Typen leicht mit dem bekannten Zitat antworten, daß Freiheit Einsicht in die Notwendigkeit ist! Wahrscheinlich wird es auch solche geben, die demagogisch anmerken werden, diese Maßnahmen seien brutal, kalt und stur, wir aber werden ihnen antworten: Wie der Heilige, so das Fest! Wie die Zeiten, so die Bräuche! Und in der Eiszeit ist alles brutal, kalt und stur. Schließlich werden sich vermutlich auch solche nicht bewußte und ungenügend disziplinierte Einzelpersonen finden, die vielleicht ungünstig reagieren, die Ordnung durchbrechen, sich den Vorschriften nicht fügen und es ablehnen werden, zu sterben, wenn man das von ihnen verlangt. Denen muß man zuerst sanft gegenübertreten, mit Überzeugung, ihnen klarmachen, daß man das im Interesse der Menschheit von ihnen verlangt, im Interesse des Volkes, im Interesse der Menschenwürde – und schließlich in ihrem eigenen Interesse. Erst wenn sie das nicht begreifen und alle anderen Überzeugungsmittel versagen, wird man gegen solche äußerst undisziplinierten einzelnen und unheilbar kranken asozialen Typen die erforderlichen Zwangsmaßnahmen ergreifen.
5. Der Form nach wird das Sterben einzeln oder in Gruppen, dem Inhalt nach freiwillig oder gewaltsam vor sich gehen.
Wer sich entschließt, freiwillig zu sterben, meldet sich mit einem vorgeschriebenen Bittgesuch und genau ausgefüllten Formularen mindestens eine Woche vor dem gewünschten Todestag bei den dafür eingesetzten Organen. Nachdem die Formulare seitens besonderer Kommissionen durchgesehen und wenn festgestellt worden ist, daß der Bittsteller alle Bedingungen erfüllt und auf Grund des vorgeschriebenen Schlüssels und aller Pläne und Kategorien für das Sterben in Frage kommt, wird er innerhalb von drei Tagen von der Kommission schriftlich verständigt und aufgerufen, sich auf dem Todesplatz an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Stunde einzufinden – damit dort keine Stockung und kein unnötiges Gedränge entsteht.
Sofern es nicht genügend Freiwillige gibt, werden die übrigen nach besonderen Quoten ausgesucht werden, damit die ordnungsgemäße Verteilung gesichert bleibt und nach einem entsprechenden Verhältnis alle umfaßt werden: nach Geschlecht, Lebensalter, Beruf, Stand und so weiter. Um eine ordnungsgemäße Arbeit der Kommissionen sicherzustellen und mögliche Unregelmäßigkeiten, Eigenmächtigkeiten, Parteinahmen, Freundesdienste und Begünstigungen zu vermeiden, werden für die Auswahl der Todeskandidaten besondere Vorschriften ausgearbeitet werden, aber in erster Reihe werden in Frage kommen: alle älteren, kranken und hilflosen Personen; alle, die sich nicht zurechtfinden können; alle Ungeschickten; alle nicht ausreichend Anpassungsfähigen; alle allzu Warmblütigen; wie auch alle gesellschaftlich unnützen und überflüssigen Elemente.
Die Entscheidung der Kommission ist endgültig. Keinerlei Beschwerden werden entgegengenommen oder in Betracht gezogen. Die ausgewählten Kandidaten werden von der Entscheidung mit einer einfachen Vorladung verständigt werden unter Angabe von Todestag, Todesstunde und des Ortes, wo sie sich zwecks gemeinsamen Abmarsches zum Todesplatz vorzustellen haben.
Sollte ein Ausgewählter sich innerhalb der festgesetzten Frist nicht melden, wird er vorgeführt werden.
6. In gesonderten Ausführungsbestimmungen wird festgelegt werden, welche Personen diesen Dienst übernehmen, unter welchen Bedingungen und gegen welche Entlohnung (Taglohn oder nach Tarif), wo die Einzel- und wo die Kollektiveinschläferungen vorgenommen werden, mit welchem Zeremoniell, in welcher Kleidung – und so weiter. Über alles das wird die Bürgerschaft durch Verlautbarungen unterrichtet werden.
7. Besonders aufmerksam gemacht wird auf die Notwendigkeit, diese Maßnahmen ordnungsgemäß zu erklären und zu propagieren. Dabei ist es von Nutzen, sich auf allgemein verehrte Gräber und auf das Beispiel der Helden zu berufen. Desgleichen muß man an das bürgerliche Bewußtsein und an den Patriotismus appellieren. Und schließlich auch auf den persönlichen Nutzen des einzelnen hinweisen. Das Sterben ist im übrigen auf jeden Fall unausweichlich –, aber bei dieser Gelegenheit wird es mit einem besonderen, ausgesuchten Zeremoniell vonstatten gehen, sehr bequem und geschmackvoll, mit allem möglichen Komfort, und das alles gratis, auf Kosten der Gemeinschaft.
Je nach Bedarf sind auch besondere Wettbewerbe durchzuführen.
Der eigentliche Todesakt und sein Vollzug sind noch nicht endgültig festgelegt, aber man geht davon aus, daß er auf eine Weise durchgeführt werden wird, die der Eiszeit am besten entspricht: durch Tiefkühlung; das ist die wirtschaftlichste und hygienischste Methode.
Alle diese Verordnungen treten zehn Tage nach ihrer Veröffentlichung in Kraft. Während dieser Zeit müssen die erforderlichen Formulare vorbereitet, die Todesplätze eingerichtet, die Personalkader angelernt, das vorgeschriebene Zeremoniell eingeübt, die Quoten nach Beruf, Geschlecht, Alter und so weiter festgelegt und ein detaillierter Einschläferungs-plan ausgearbeitet werden – ein Tagesplan sowie auch ein Perspektivplan für mehrere Jahre.
Belgrad, dann und dann – und so weiter.
Für das „Komitee für öffentliche Rettung“: gez. Bacić, gez. Liebling – und andere.
„Im übrigen“, sagte der Agitator, „was soll Ihnen denn auch ein solches Leben? Um Ihnen aufrichtig zu sagen – ich würde an Ihrer Stelle nicht einwilligen, so weiterzuleben, und selbst wenn man mich bitten würde. Ich würde die Möglichkeit zu sterben als Erleichterung auffassen und all denen zutiefst dankbar sein, die sich so viel um mich kümmern und sich bereit zeigen, alle damit verbundenen Mühen wie auch die eventuellen Kosten auf sich zu nehmen. Wirklich, eine seltene Gelegenheit! Ich versteh nicht, daß Sie das nicht von Anfang an begriffen haben. Sie sehen doch sonst ganz wie ein anständiger und vernünftiger Mann aus.“ Der Agitator war ein rotwangiger und kräftiger Kerl, in einen Pelz gekleidet, eine Ledermütze auf dem Kopf, die er auch im Zimmer nicht abnahm. Seine Kleidung machte dadurch, daß sie neu war, und durch ihren Schnitt den Eindruck einer Uniform und verlieh demjenigen, der sie trug, den Anschein einer Wichtigkeit, die sich allen aufdrängte und den gesamten Raum um ihn her erfüllte. Er sprach wohlbegründet, überzeugend, aber kühl und gemessen, wie es sich für Amtspersonen auch gehört, die Annäherungen und familiäre Töne nicht dulden – denn, wie bekannt, achten wir das uns Nahestehende nicht, weil wir uns davor nicht genügend fürchten. Verächtlich schaute er um sich, mit sichtlichem Abscheu. Man sah, daß die verbrauchte Luft in diesem Loch von einem Zimmer ihn störte und er den Wunsch hatte, so schnell wie möglich wieder hinauszukommen, ohne sich durch die Berührung mit irgendwas oder irgendwem Zu beschmutzen oder zu infizieren.
„Da – Sie vegetieren in diesem verkommenen Zimmer dahin, das auch vor der Eiszeit nicht angenehm sein konnte, und jetzt ist es schon längst vor Feuchtigkeit und Moder vereist. Ihr Fenster sah auf fremde Beine und die schmutzigen Schuhe der Passanten hinaus, und nun hat der Schnee Ihnen auch diese kleine Öffnung zugeweht. Soviel ich sehe, haben Sie Ihre Möbel längst verheizt, aber ich glaube nicht einmal, daß Sie Gott weiß was hatten.“
Der Mann, an den er sich wandte, der Genosse Tomić, Sachbearbeiter für Statistik bei den Staatlichen Reserven, stand vor ihm wie ein Angeklagter, der bei der Vernehmung alles gestanden hatte und jetzt nur noch auf Gnade hoffen konnte. Die Arme hingen ihm an seinem abgewetzten dünnen Mantel herab, der Kopf lag halb auf der Brust.
„Heizungsvorräte haben Sie keine, nicht einmal Lebensmittelvorräte anzuschaffen waren Sie imstande, obgleich Sie bei den Staatlichen Reserven gearbeitet haben, und auch einen Laden hatten Sie hier, direkt vor der Nase. Was haben Sie im Dienst erreicht? Nichts! Oder, wie man das mit anderen Worten sagt: die Stellung eines Sachbearbeiters der fünften Gehaltsgruppe. Und wo wollen Sie jetzt eine Anstellung finden, wenn auch Ihre Direktion aufgelöst wird? Was und wem sind Sie noch nütze? Wenn es Ihnen wenigstens gelungen war, in den Wetterdienst umzusteigen oder zu uns, ins Agitations-– und Propagandafach. Aber auch dazu waren Sie nicht imstande. Und nun, wie alt sind Sie? Fünfzig? Auch das ist nicht wenig, aber Sie, Brüderchen, sehen aus wie ein Sechzigjähriger. Verlebt, verbraucht. Und was können Sie jetzt vom Leben noch erwarten? Auf was hoffen Sie? Wem können Sie noch nützlich sein? Nein, wirklich, mein Lieber, ich kann wirklich nicht verstehn, was Sie noch gegen den Tod haben könnten. Er erwartet Sie sowieso bald – nur unter den jammervollsten Umständen. Kälte, Hunger, Entbehrungen, Krankheit und Schmerzen, Erniedrigung und das Gefühl, überflüssig und unnütz zu sein –: Lohnt es sich, dafür zu leben? Können Sie noch irgendwas Wichtiges leisten im Leben? Nichts. Im Leben nichts –, aber wenn Sie auf mich hören, könnten Sie immerhin noch etwas im Tod leisten. Also, soll ich Sie notieren? Ich hab nur noch ein paar Plätze frei in der ersten Partie.“
„Nun“, stotterte Genosse Tomić, „wissen Sie, ich sehe genau, daß Sie recht haben. Nur – ich hab noch nicht drüber nachgedacht. Ich bin nicht genügend vorbereitet. Ich müßte mich mit meiner Frau beraten. Leider, wie Sie sehen, ist sie grad jetzt weggegangen, wo sie dasein müßte.“
„Das macht gar nichts! Ich kann Sie vornotieren und auch für Ihre Frau einen Platz freilassen. Gleich neben Ihnen, damit ihr zwei mindestens für die nächsten paar tausend Jahre beisammen bleibt. Wissen Sie, es gibt Menschen, die ihr ganzes Leben lang unter großen Anstrengungen und Mühen danach streben, berühmt zu werden, ihren Namen in das Buch der Ewigkeit einzutragen – während Ihnen durch diese Sache da Gelegenheit geboten ist, das gleiche in fünf Minuten zu erreichen, und das auch noch, nachdem Sie Ihr Leben schon verwischt und alle Hoffnung verloren haben. Begreifen Sie – Sie werden als einer der ersten zehntausend Freiwilligen für immer in die Geschichte eingehen, genau wie die vierzigtausend christlichen Märtyrer in den Kalendern. Und alles das unter höchsten Ehren! Von hier abgeholt im schönsten zehnspännigen Hundeschlitten, fein gekämmt, rasiert, parfümiert, gekleidet nach der letzten voreiszeitlichen Mode, mit Blumen geschmückt, geziert mit einigen der höchsten Orden, Ihnen eigens aus diesem Anlaß verliehen – und dann, bei zahlreichen Ansprachen, Musik und anderen Ehrungen, feierlich vereist im klarsten Wasser, wie Sie Ihr ganzes Leben lang aus der Belgrader Wasserleitung nie eins getrunken haben.
Das Eis um Sie her wird zweimal im Monat gesäubert werden, so daß sichergestellt ist, daß Sie alles, was draußen geschieht, werden beobachten können – in Wirklichkeit viel besser als durch Ihr jetziges zugefrorenes Kellerfenster.
So also – das sind die Vorteile, die ich Ihnen biete; zu schweigen davon, daß Ihnen vor allem Ihr bürgerliches Bewußtsein auftragen müßte, meinen Rat zu befolgen. Sie sehen doch selbst, daß wir zu viele sind. Daß wir ersticken – wie in einem zu engen Zimmer. Also weshalb treten Sie dann nicht aus, wenn Sie selbst genau sehen, daß Sie im Wege sind? Jeder auch nur einigermaßen erzogene und einsichtige Bürger würde das an Ihrer Stelle tun – Sie aber waren sogar Funktionär in mehreren gesellschaftlichen Organisationen, so daß Sie auf einer höheren Stufe des gesellschaftlichen Bewußtseins stehen und ein höher entwickeltes Verantwortungsbewußtsein haben müßten. Tut Ihnen denn die übrige Welt nicht leid, die Ihretwegen in dieser menschlichen Bedrängnis erstickt? Wo bleibt da, um Himmels willen, diese Ihre so oft hervorgekehrte Humanität? Zu schweigen davon, daß Sie mit Ihrer Einwilligung auch mir persönlich einen Weinen Dienst erweisen würden –, der Sie in Wirklichkeit nichts kostet. Ich habe, damit Sie’s wissen, bereits so viele freiwillige Abonnenten beisammen, daß ich mit Ihnen als letztem für die vorgeschriebene Zahl die Norm erfüllen und eine Spezialprämie erhalten und befördert werden würde. Darum hoffe ich also zu Recht, daß Sie mir weder meine Bitte abschlagen noch das Herz haben werden, mir eine solche Bosheit anzutun, wo ich Sie doch schön bitte. Was würden Sie im übrigen erst tun, wenn ich irgendeine größere Gefälligkeit von Ihnen haben wollte? Also, haben wir uns verstanden? Bitte, unterschreiben Sie!“
„Ja, ja, auf jeden Fall!“ stotterte der unglückselige Beamte. „Ich werde es unbedingt tun. Nur muß ich zuerst noch im Büro meine Arbeit liquidieren. Ich hab noch nicht alle Akten erledigt, und was würden nachher meine Vorgesetzten von mir denken, wenn sie, Gott bewahre, feststellen müßten, ich hab nicht alles gemacht, wie ich sollte.“ Er warf die Arme auf den Rücken und verschränkte die Finger zu einem Knoten, damit sie nicht von selbst zum Papier wandern und es unterschreiben.
„In Ordnung!“ sagte zornig und beleidigt der Agitator. „Wie immer Sie wollen! Passen Sie nur auf, daß Sie in diesem Fall nicht ohne Platz bleiben. Ich warte höchstens drei Tage auf Sie. Aber vergessen Sie nicht, daß Sie als Angestellter einer Direktion, die sich in Auflösung befindet, nicht in die geschützten und der Menschheit unerläßlichen Kategorien fallen, so daß Sie also als Überzähliger, Unnötiger und Überflüssiger sowieso bald unters Eis müssen. Im Sinne des Gesetzes werden Sie sicher als einer der ersten vorgeladen werden. Das garantiere auch ich Ihnen. Vielleicht schon in acht Tagen – aber vielleicht wird auch schon heute nachmittag in irgendeinem zuständigen Büro Ihr Name auf die Liste der Vorzuladenden gesetzt werden.“
Und er ging. Plötzlich und ohne Gruß.
Und kaum war dem unglücklichen Beamten des anderen Amtsmütze aus dem Blickfeld verschwunden, raffte er sich auf und faßte soviel Mut, daß er hinter jenem her zur Tür flog, um ihm nachzurufen: Verzeihen Sie, verzeihen Sie – so einfach geht das nun doch nicht, auch wir verstehn etwas davon, nicht umsonst haben wir dreißig Jahre und mehr Dienst gemacht: Erst in zehn Tagen, wenn die Verordnung in Kraft getreten ist!
Es auszusprechen, hatte er aber schon wieder nicht den Mut. Er kehrte um, zog den Kopf zwischen die Schultern und begann auf und ab zu spazieren. Und er wollte denken: Warum grad ich? Warum verlangen sie grad von mir dieses Opfer? Bin ausgerechnet ich als einer der ersten überzählig und überflüssig geworden? Und ist das meine Schuld? Haben sie ein solches Angebot, zum Beispiel, auch den Herrschaften Krekić von gegenüber gemacht? Oder zählen die zu den geschützten Kategorien, zu den Unentbehrlichen für die weitere Entwicklung der Menschheit? Auch er arbeitet nichts, soviel ich weiß und seit ich ihn kenne. Oder der Genosse Plećasch – ist nicht auch seine Dienststelle aufgelöst und überflüssig geworden? Und ist es meine Schuld, daß wir in so elenden Verhältnissen leben, daß wir keine Wohnung haben, keine Vorräte und keine bessere Stellung? Mit welchem Recht denn verlangt man von mir, daß ich mich zugunsten der Gesellschaft opfere, besser gesagt: zugunsten derer, die von der Gesellschaft den größten Nutzen haben?
Das wollte er denken, er hatte den gewaltigen Wunsch, das zu denken, aber er riß sich noch rechtzeitig zusammen. Er begriff, daß man so nicht denken sollte. Es wäre nicht prinzipiengetreu. Eine solche Meinung könnte mit Recht als persönlich, eigennützig, kleinlich, kleinbürgerlich aufgefaßt werden – und das Hinweisen auf andere als cliquenhaft, fraktionell, neidisch und eifersüchtig, als eng und ohne das richtige, aufopferungsvolle Verhältnis zur Gesellschaft, wie der Genosse Agitator zu Recht sagen würde.
Nein, so etwas würde er niemals sagen, und er schämte sich, daß er einen Augenblick nahe daran war, es auch nur zu denken. Er entschuldigte sich vor sich selbst und vor dem Genossen Agitator, daß er das Angebot nicht gleich unterschrieben und daß er zugelassen hatte, daß ein so guter Genosse soviel Worte und soviel Zeit für ihn verschwendete. Mein Gott, fragte er sich, was werden die Genossen von mir denken? Ja, ich bin schuld, ich allein, an allem. Es ist mir Gelegenheit gegeben worden, zu zeigen, was ich wert bin, und meine Opferbereitschaft unter Beweis zu stellen, und wieder hab ich den richtigen Augenblick versäumt. Ich hab mich blamiert. Wer weiß, wie lang ich auf eine ähnliche Gelegenheit werde warten müssen, und ob ich sie überhaupt erleben werde.
Er wünschte zu sterben! Sofort zu sterben, auf der Stelle, vor Qual und Scham. „Ach!“ seufzte er, während er im Zimmer auf und ab spazierte, und zum erstenmal seit wer weiß wieviel Zeit bedauerte er es, daß seine Frau nicht da war, um ihn zu beraten, ja auch auszuschimpfen, wenn es not tat.
Indessen – die Formulare und die erforderlichen Karteien wurden nicht zur rechten Zeit fertig. Auch die anderen organisatorischen Maßnahmen funktionierten nicht, wie sie sollten. Die erste Freiwilligengruppe wurde feierlich vereist, eine gewisse Anzahl Überzähliger und Überflüssiger verschwand sang- und klanglos. Dann stockte alles wieder für eine Zeit, man starb unorganisiert, jeder wie er wollte und wie es ihm in den Sinn kam. Und der Tod, der sich schneller zeigte als die Verwaltung, erntete ungestört auf den besten Weiden.
Wieder mußte man etwas tun. Schnell und unaufschiebbar mußte man etwas unternehmen, damit wenigstens ein Teil der kostbarsten Kader vor dem unwiederbringlichen Untergang gerettet werde – jener Teil der Menschen, der das meiste vorstellte, auf der Stufenleiter menschlicher Werte das meiste galt und in Wahrheit erst den Menschen zum Menschen machte. Und gerade dieser Teil paßte sich den unmenschlichen, primitiven und rohen Lebensbedingungen am schwersten an, mußte die meisten Schläge einstecken und befand sich in der größten Gefahr. Die Statistik – die noch funktionierte, als alle anderen öffentlichen Dienste schon versagt hatten („Die Statistik ist wie ein Fisch: sie ist kaltblütig, sie kann unter Eis leben, und sie ist so glitschig, daß man sie am Kopf wie am Schwanz nur schwer packen kann“) –, die Angaben der Statistik sprachen in diesem Sinne tatsächlich eine deutliche Sprache.
Unter den Angehörigen gewisser Kategorien herrschten verständliche Unruhe und Aufregung. Man konnte auch begründete Mißbilligung unseres sprichwörtlichen balkanischen Schlendrians und Pfuschertums hören. Die bissigsten beklagten sich: „Wir wußten, daß aus allem nichts werden würde, sobald Formulare gedruckt und Karteien eingerichtet werden sollen. Wahrscheinlich streiten sie sich immer noch darüber, welche Rubriken die Formulare enthalten sollen.“ Viele schimpften und fragten in ihrem Groll: „Was ist mit diesem Volk? Warum geht es nicht endlich? Worauf wartet es noch? Will jeder einzeln eine schriftliche Einladung aus dem Jenseits? Da – jetzt sieht man am besten, wie hoch das Bewußtseinsniveau bei uns ist. In anderen Ländern ist bestimmt schon alles erledigt, wie es sich gehört, und alles Überzählige schon längst beseitigt.“
Und die Zahl der Freiwilligen und derjenigen, die dem Appell Folge leisteten, wurde auf den Todesplätzen tatsächlich immer geringer – nachdem sich dort in den ersten Tagen und im ersten Rausch alle potentiellen Selbstmordkandidaten ausgelebt und ausgetobt hatten. „Wenn man nach Freiwilligen ruft, muß man ein Beispiel geben“, sagte die einfache, vom Gesetz nicht geschützte Welt – anspielend damit auf die Vertreter der geschützten Kategorien. Und hielt sich dabei an die bei uns geheiligte Regel: ,Wenn sie bei uns geben, nimm sofort, als einer der ersten; wenn sie verlangen, sieh auf jeden Fall zu, daß du dich als einer der letzten meldest. Beim einen wie beim andern ermüden sie schnell und ziehn die Hand von allem zurück.’ Die Leute zögerten, sich auf den Todesplätzen einzufinden; derweil türmte der Eistod auf den inoffiziellen Friedhöfen immer neue und immer ausgewähltere Leichen auf.
Und grad in diesen Tagen gelangte ein Teil dieses besten und gefährdetsten Teils der Menschheit – indem er unter Selbstaufopferung seine langjährigen Forschungen fortsetzte – zu neuen und massiven wissenschaftlichen Ergebnissen, die der Menschheit helfen konnten, die überraschend eingetretene Witterungskatastrophe zu überleben. Nachdem sie die Menschen jahrhundertelang ausdauernd und aufopferungsvoll mit Wärmflaschen, heißen Tees, Glühwein, Aspirin und anderen schweißtreibenden Mitteln, Dampfbädern, warmen wollenen Unterhemden und heißen Sandpackungen sommers am Strand kuriert hatten – uns vor jedem Luftzug und jeder Erkältung bewahrend („Trink kein kaltes Wasser, wenn du verschwitzt bist!“) und die Wärme für die Quelle allen Lebens haltend –, gelangten die Ärzte, mit Weitblick die Entwicklung der Dinge voraussehend, gerade am Vorabend der Eiszeit zu der genialen Entdeckung: daß in Wirklichkeit die Kälte der beste Freund der Gesundheit sei. „Verkühle dich täglich!“ sprachen sie und spornten die Menschen an, im Winter in kaltem Wasser zu baden, in ungeheizten Räumen zu schlafen, sich leicht zu kleiden, ohne Angst vor Durchzug die Zimmer zu lüften und sich möglichst viel an kalter und frischer Luft zu bewegen. Alles das war unter den gegenwärtigen Bedingungen – da die Menschen sich auch ohne ärztlichen Rat täglich erkälteten und nicht einen Tag lang dazukamen, sich aufzuwärmen und warm genug anzuziehn – von großem psychotherapeutischen Wert, wie die Ärzte das fachmännisch nannten. Wie auch der große Newton das Gravitationsgesetz erst entdeckt, nachdem ihm ein Apfel oder eine Birne auf den Kopf gefallen war, so war auch ein Arzt erst zu seiner neuen Entdeckung gekommen, nachdem er aus Versehen seinen Hauskater im Kühlschrank eingeschlossen hatte (was nur beweist, daß die unmittelbare Erfahrung das höchste Gesetz unserer Erkenntnis ist). Bei der Rückkehr aus dem Urlaub einen Monat danach fand der Arzt den Kater erfroren auf dem Eis liegend, bedauerte ihn und warf ihn auf den Misthaufen, in der Meinung, das Tier sei unwiderruflich tot, aber zu seiner Verwunderung erwachte der Kater nach einiger Zeit aus seinem Eistraum, kam auf seinen Herrn zu, leckte ihm die Hand und verlangte mit fast menschlicher Stimme was zu essen. Dergleichen hatte selbst der geschickteste indische Fakir nicht fertiggebracht, und es ist tatsächlich kein Wunder, daß sich aus diesem Katzenfall ein neuer Zweig der Medizin entwickelt hat, der alle Krankheiten mit Kälte kuriert. Und nicht nur das. Die Medizin entdeckte auch, daß man mit Hilfe von Kälte und Eis das Leben für längere Zeit bewahren kann – sogar mehrere zehntausend Jahre im voraus.
Zwanzigtausend Jahre im voraus! Aber das war doch genau das Notwendigste und Dringendste in diesem Augenblick! Zwanzigtausend Jahre – genausoviel, wie nach aller Voraussicht diese jetzige Eiszeit dauern sollte! Sie riefen es auf altertümliche Weise aus, mit trockenen Kehlen und Trommelschlägen posaunten sie diese sensationelle Nachricht aus und vermeldeten allen, daß es den Wissenschaftlern gelungen sei, Frost und Eis, die bis jetzt schon soviel tausend Menschen das Leben gekostet hatten, für die Verlängerung des Lebens auszunützen. Soviel für jetzt – und mehr nicht. Alles weitere blieb mit dem Eisschleier des wissenschaftlichen Geheimnisses bedeckt. Und dann begann das Geheimnis – das bei all dem Frost als einziges noch flüssig und nicht gefroren war – langsam zu allen Öffnungen hinauszulaufen.
Man erfuhr, daß die Ärzte tatsächlich etwas entdeckt hatten, was zwar das Leben in Wirklichkeit nicht verlängerte, aber doch streckte. Irgendein Medikament oder ein Heilverfahren, das es möglich machte, wenn schon nicht das Leben zu verlängern, so doch den Tod zu vertragen, das heißt also: in diesem kritischen Moment die Zahl der Lebenden zu verringern, ohne zugleich die Zahl der Toten zu erhöhen. Die Lebenden – selbstverständlich vor allem die Verdienstvollsten und Unabkömmlichsten aus den geschützten Kategorien – werden ihre Lebenszeit im voraus auf die nächsten zwanzigtausend Jahre verteilen. Genauer: die heute leben (oder wenigstens ein bestimmter Teil von ihnen), werden ihr Weiterleben auf später verschieben, ohne diesem völlig zu entsagen.
„Die Sache wird auch deshalb geheimgehalten, weil das Mittel nicht für alle ausreicht“, meinten diejenigen, die in ähnlichen Fällen schon öfters den kürzeren gezogen hatten. „Sind es Injektionen oder Pillen?“, fragten die anderen. „Warum bekommen wir sie nicht?“
„Aber nein, was heißt Injektionen oder Pillen!“ erläuterten diejenigen, die mehr zu wissen glaubten. „Es handelt sich um ein Mittel, das der Eiszeit entspricht. Um ein Eis, mit dem das Eis besiegt wird.“
Tatsächlich – die älteren Leute werden sich erinnern, daß sie als Kinder bei Lungenentzündung und hohem Fieber mit kalten Prießnitz-Umschlägen behandelt wurden und daß man ihnen, wenn sie sich angeschlagen oder eine Wespe sie gestochen hatte, eine kalte Messerschneide auf die schmerzende Stelle legte, was den Schmerz linderte und die Schwellung verringerte. Und Entzündungen der Hirnhaut und des Blinddarms werden noch heute mit Eisbeuteln behandelt. Wie bekannt, wirkt Kälte ausgezeichnet auf die Nerven und beruhigt sie. Kalte Duschen sind auch heute noch das zuverlässigste Heilmittel in Nervenkliniken – und ist uns nicht allen schon zu Recht geraten worden: ,Seid ruhig und wahrt kalte Nerven’, ,Nehmt es ganz kalt auf und erregt euch nicht vergebens’? Hatten wir nicht alle schon Gelegenheit, in der Zeitung Sätze wie diese zu lesen: ‚Kaltblütig ließ er ihn kommen und wehrte den Schlag ab’, ,Er wahrte auch in diesem Augenblick seine Kaltblütigkeit und konnte sich so retten, während alle anderen zugrunde gingen’, ,Alle seine Bitten und Beschwörungen lassen uns kalt’ … ? Und sprechen alle die angeführten Beispiele nicht von der Überlegenheit der Kälte und Kaltblütigkeit über jugendlichen Schwung und Gefühlsüberschwang? Und schließlich – hat sich in der Außenpolitik der kalte Krieg, als Erfindung unseres Jahrhunderts, nicht humaner gezeigt, als alle warmen und heißen Kriege früherer Jahrhunderte? Und wenn schon vom Krieg die Rede ist – hat den mächtigen Napoleon nicht ausgerechnet der russische Frost geschlagen und im letzten Krieg nicht der General Winter zur Zerschlagung der faschistischen Militärmacht beigetragen? Und, um mich eines uns näherliegenden Beispiels zu bedienen, hat es uns nicht allen so oft geholfen, daß wir in unangenehmen Lagen logen, ohne mit der Wimper zu zucken, oder daß wir, ohne uns zu binden und ohne im Feuer der Begeisterung und heroischer Romantik den Kopf zu verlieren, weise und kaltblütig abseits der Versuchung zu bleiben und uns vor allen Nöten zu bewahren wußten? Hat das Leben uns nicht gelehrt, daß es gefährlich ist, dem Feuer des Vertrauens, der Innigkeit und der Annäherung zu verfallen, und haben schließlich die kultivierten Engländer zum Beispiel ihren Ruf als Gentlemen nicht gerade durch ihre sprichwörtliche Kaltblütigkeit und Kühle erworben?
Und hat uns nicht grad die kühle Betrachtungsweise gelehrt, daß Wärme nur die Reibung und den Widerstand erhöht, daß wir uns durch Widerstand gegen den Strom vergebens und sinnlos erwärmen und Energien verbrauchen, ohne voranzukommen, während wir, im Gegensatz dazu, am weitesten kommen, wenn wir kühl stromabwärts gleiten und die frischen Windstöße ausnutzen? Kann man es für einen Zufall halten, daß gerade auf den höchsten, einsamen Höhen ewiger Schnee und Eis liegt? Wozu sich dann also der Eiszeit vergeblich mit Gegenmitteln widersetzen, mit Feuer und Flamme, wenn klar ist, daß man mit einem Streichholz nicht alle Eisberge der Arktik und Antarktik zum Schmelzen bringen kann? Ist es da nicht besser, sich an den Stärkeren anzulehnen, sich anzupassen und sich just der Kälte zu bedienen, wie die Ärzte das jetzt vorschlagen?
Eine medizinische Abhandlung, die in diesen Tagen in Abschriften von Hand zu Hand ging, erläuterte das ganze Verfahren auf folgende Weise:
„Die Methode ist jener ähnlich, die auch Sie sich früher, in der warmen Zeit, zunutze gemacht haben, wenn Sie Ihr Huhn über Nacht in den Kühlschrank stellten, damit es nicht verdirbt. Oder, um deutlicher und der heutigen Welt verständlicher zu sein, führen wir das Verfahren an, das die Eskimos und auch die Jäger unserer Eiszeit anwenden: Wenn sie ein größeres Wild erlegt haben, vergraben sie dessen Fleisch im Schnee und bedecken es mit Eisplatten, damit es sich ihnen monatelang frisch erhält. Für die Männer der Wissenschaft war in dieser Sache von besonderem Interesse, daß sich im Schnee und Eis Sibiriens die Kadaver der zottigen Mammute aus der Periode der vorigen Eiszeit, an die zwanzigtausend Jahre alt, derart gut erhalten haben, daß es nach ihrer Ausgrabung den Anschein hatte, sie könnten sich von selbst auf die Beine erheben und sich zu einem Spaziergang über die vereiste Tundra aufmachen.
Die ersten Versuche wurden mit Tieren vorgenommen, danach auch mit Patienten. Der Mensch wird nackt ausgezogen und in eine Wanne mit Eis gestellt. Seine Temperatur wird unter Null gesenkt, komplizierte Operationen werden an ihm vorgenommen, dann wird er langsam wieder erwärmt und zum Leben erweckt. Tiere sind auf diese Weise mehrere Tage unter Eis gehalten worden – und nun gilt es, das gleiche auch mit Menschen zu machen, aber nicht nur zum Zwecke der Heilung – also lediglich für ein paar Stunden, bis die Operation beendet ist –, sondern für die gesamte Dauer der Eiszeit von zwanzigtausend Jahren. So wird es einem gewissen, ausgesuchten Teil der Menschen gelingen, diese Zeit zu überdauern; gleichzeitig werden dafür andere am Leben bleiben können. Es wird mehr zu essen und für alle mehr Platz geben, wenn die einen über dem Eis bleiben, die anderen unter das Eis gehen. Desgleichen ist vorgesehen, daß die Eingeeisten nach einer gewissen Zeit enteist werden, damit sie, vergleichbar den Sträflingen in modernen Gefängnissen, ein wenig frische Luft schnappen und sich draußen vergnügen können, auf Urlaub, bevor sie wieder ins Eis zurückkehren. Auf diese Weise in Raten lebend, alle hundert oder tausend Jahre, werden sie die Eiszeit überstehen, ohne sich gegenseitig zur Last zu fallen. Diejenigen, die sich nicht mögen und sich nicht riechen können, brauchen einander überhaupt nicht zu begegnen – oder es wird ihnen vielleicht höchstens einmal in tausend Jahren widerfahren, was wirklich nicht viel ist.
Nur wird auch dies alles, versteht sich, nicht ohne gewisse Unliebsamkeiten und Schwierigkeiten vonstatten gehen. Etliche davon sind ganz gering und unbedeutend, so unangenehm sie dem einen oder anderen auch sein mögen, zum Beispiel die kalten Bäder aus Anlaß der Eineisung, wie auch verschiedene Rechts-, Wohnungs-– und Vermögensfragen nach der Enteisung. Das größte Problem wird aber zweifellos die Lagerung darstellen, das heißt die Unterbringung von ein paar hundert Millionen vereisten Menschen, und im Zusammenhang damit werden verschiedene Verwaltungsprobleme in bezug auf die Registrierung und Kontrolle der Vereisten, der Festsetzung ihres Enteisungsdatums und so weiter auftauchen …“
Das Neue an diesem Projekt und dessen Vorzüge riefen bei den Menschen bedeutendes Interesse und auch verschiedenartige Kommentare hervor. Das Anziehende daran, um die Wahrheit zu sagen, rührte nicht so sehr von der Möglichkeit her, anderen Platz zu machen, als vielmehr von der Aussicht, das eigene Leben wie eine Harmonika auseinanderziehn zu können, und von dem Wunsch, die Nase in die Zukunft, in ferne, kommende Jahrhunderte zu stecken.
Sofort kam der angeborene menschliche Konservatismus zum Ausdruck – aber auch der Widerstand gegen alle Neuerungen, ferner Mißtrauen, geschürt von der Erfahrung, daß der erste Katzenwurf für gewöhnlich weggeschmissen wird und es demnach besser ist, die Erprobung der neuen Methode auf der eigenen Haut anderen zu überlassen. Danach verbreitete jemand das Gerücht, es handele sich überhaupt nicht um eine vorübergehende Vereisung, sondern um die heimliche Absicht, auf listige Weise soviel Menschen wie möglich für immer zu beseitigen, und da das mit Hilfe von Freiwilligen nicht in ausreichendem Umfang gelungen sei, biete sich jetzt die Gelegenheit, auch solche zu beseitigen und zu vereisen, denen lange Zähne gemacht werden und die sich übers Ohr hauen lassen.
Die Aufregung wuchs indessen noch mehr an, nachdem die Frage gestellt worden war, wer wen hibernisieren solle: denn Vereisungen und vor allem Enteisungen könne es nur geben, wenn es auch diejenigen gibt, die sich damit befassen. Wer sollte sonst die vorübergehenden Vereisungen überwachen, sich darum kümmern, daß man nicht vor der Zeit, sondern eben genau zu der gewünschten, auf einem besonderen Blatt vermerkten Stunde wieder aufwacht – was auf jeden Fall, da es sich um Jahrhunderte handelt, kein geringes Problem darstellt und nicht das gleiche ist wie die Arbeit eines Zimmermädchens in einem Hotel oder eines Schlafwagenschaffners. Denn: Es ist eine Sache, ob ein Schaffner einen Reisenden zur rechten Zeit zu wecken vergißt und der sich nun überraschend in Ljubljana wiederfindet anstatt in Zagreb, und eine vollkommen andere, ob einer ein paar Jahrhunderte verschläft und sich, zum Beispiel, nicht zur verabredeten Zeit mit seiner Frau wiedertrifft. Aus Ljubljana kann der Reisende mit dem nächsten Zug zurückfahren und vielleicht noch zur rechten Zeit ankommen, aber was soll ein Vereister tun, der durch fremdes Verschulden drei ganze Jahrhunderte verschlafen hat, und wie soll er um dreihundert Jahre zurückkehren?
„Ich bitte Sie“, fragte mit diplomatischer Höflichkeit ein gewesener Botschaftsrat: „Ich habe eine gewisse Zeit im Ausland zugebracht und hatte hinterher gewaltige Schwierigkeiten, wieder zu einer Wohnung zu kommen. Meine Sachen waren in Magazinen verkommen – und was würde aus ihnen jetzt erst werden, wenn ich einwilligte, mich für, sagen wir einmal, tausend Jahre hibernisieren zu lassen – zu schweigen davon, was während dieser Zeit aus dem Geld werden würde, das auch jetzt schon täglich von seinem Wert verliert.“
Und seine Frau wollte wissen: „Und was soll erst aus meinem Kleidern werden? Werden sie nach drei Jahrhunderten noch in Mode sein? Heute trägt man Sack- und Trapezkleider, aber was wird modern sein, wenn man mich aus dem Eisschlaf weckt? Ich möchte nicht lächerlich altmodisch herumlaufen.“
„Beruhigen Sie sich“, tröstete sie der bissige Babic. „Sie werden dann mindestens dreihundertfünfundvierzig Jahre alt sein. In diesem Alter ist es nicht mehr unbedingt wichtig, nach der neuesten Mode gekleidet zu sein. Übrigens wird Ihnen das nach dreihundert Jahren im Eis vollkommen egal sein: Sie werden nur den Wunsch haben, so schnell und so vollständig wie möglich mit irgend etwas bedeckt zu werden.“
Man fragte sich, wie und auf Grund wessen die Auswahl getroffen werden soll, wer vereist wird und wer nicht. Man wußte, daß es nicht einmal im Eis für alle Platz gibt, und man verlangte, daß so schnell wie möglich Listen nach dem gesellschaftlichen Wert des einzelnen und bestimmter Kategorien aufgestellt werden. „Kalt und unbarmherzig vorgehen!“ schlugen die Leute vor. „Im Interesse der Menschheit und der Menschlichkeit! In die Gruppe A gehören hervorragende Intellektuelle: Wissenschaftler, Künstler und hochstehende Fachleute. Mit ihren Familien, versteht sich!“
„Und die Staatsmänner, Politiker, Direktoren, Abteilungsleiter?“ fragte Protić. „Ich möchte gern immer in ihrer Nähe sein, komme, was will. Übrigens, warum sollten die für sich etwas erwählen, das nichts taugt? Wenigstens ein paar von ihnen möchte ich neben mir haben – wenigstens als Garantie.“
Sie fingen an aufzuschreiben, in welchem Jahr und in welchem Jahrhundert sie geweckt werden wollten, und es stellte sich heraus, daß sie nicht die gleiche Zeit ausgesucht hatten und daß sie sich in der Zukunft nicht treffen würden. „Nun“, schlossen sie, „wir hängen uns sowieso gegenseitig zum Hals ‘raus. Wir hören einander nicht an und können einander nicht sehn.“ Und sie gingen wieder auseinander.
Im früheren Gästezimmer seiner Wohnung saß derweil Herr Krekić, finster und ernst. „Was meinst du“, fragte er seine Frau, und seine Stimme näselte etwas, seit ihm die Nase erfroren war, „ist diese Hibernation nicht vielleicht zu gefährlich?“
„Warum? Aus gesundheitlichen Gründen? Wegen deines Rheumas – oder weil du fürchtest, das Verfahren könnte noch nicht perfekt genug sein?“
„Nun, vielleicht ist es noch nicht genügend erprobt. Aber – es handelt sich nicht um uns, sondern um diejenigen, die in der Eiszeit am Leben bleiben. Ist das nicht zu gefährlich?“
„Gefährlich? Vielleicht. Wahrscheinlich. Aber was geht das uns an. Was geht es uns an, was aus den ungeschützten Kategorien in der Eiszeit wird.“
„Du verstehst mich nicht. Ich frage mich, ob es nicht allzu gefährlich ist, sich ihnen so auszuliefern. Auf Gedeih und Verderb. So unbeweglich, so schutzlos, eingefroren in einen Eiswürfel.“
Ihre Blicke begegneten sich, und die Frau begann zu begreifen.
„Und was“, sprach der Mann weiter, „wenn sie zu dem Schluß kommen, daß sie uns nicht mehr brauchen? Daß wir ihnen zu nichts mehr nütze sind? Und sie beschließen, uns aus unserem Eisschlaf überhaupt nicht mehr zu wecken? Sie zerren uns einfach aus unserem vereisten Magazin heraus, zusammen mit unseren Namen aus der Kartei, und werfen das alles auf einen Misthaufen, irgendwo am Stadtrand …“
Sie sahen sich an. Sie erbleichten bei diesem Gedanken und fingen von innen zu zittern an, langsam, dann stärker.
Anderntags standen sie auf dem Messegelände, am niedrigen eisernen Gitter, das die Galerie von den Geschäftsräumen trennte. Schweigend und aufmerksam sahen sie zu. Hinter ihrem Rücken hatten sich andere angesammelt, die Treppe hinauf bis ans Ende des Saales; auch sie vor Aufmerksamkeit kaum atmend.
Und unten, in der kreisförmigen Mitte, kroch langsam und stumm eine dünne Menschenschlange voran. Nur das Schlurfen der Sohlen war zu hören – laute Fragen und die etwas leiseren Antworten, und das eine wie das andere hallte vom hohen Gewölbe der Ausstellungshalle wider wie militärische Kommandos. Auf der anderen Seite der Galerie, wo die Verwandten und nächsten Freunde standen, winkte jemand von Zeit zu Zeit verschämt und ängstlich mit dem Taschentuch und biß gleich darauf hinein, um nicht aufweinen zu müssen. Zu dreien näherten sie sich den Tischen in der Mitte des freien Raumes und legten ihre Papiere vor. Die übrigen warteten. Geduldig und diszipliniert. Es gab kein Gedränge. Der Anlaß war allzu ernst, und allen war es im Grunde gleichgültig, wann sie an die Reihe kämen und wie lange sie noch würden warten müssen. Im Vergleich zu dem, was folgen würde, war das hier alles unwichtig und bedeutungslos.
Die nächsten drei kamen näher. Auf den Tischen standen Aufschriften und Fähnchen, wie auf wichtigen internationalen Konferenzen. Die drei überreichten ihre Papiere.
„Ihr Name?“
„Isaković Stojan.“
„Beruf?“
„Speiseeisverkäufer. Früher. Jetzt arbeitslos.“
„Alter?“
„Zweiundsechzig.“
„Familienstand?“
„Witwer. Alleinstehend. Die Kinder verheiratet.“
Man hörte Schreibfedern knirschen. Die Schreiber arbeiteten mit gesenkten Köpfen. Der Kandidat war ein angegrauter, magerer Mann in einem dünnen Frühjahrsmantel. Es muß ihm kalt gewesen sein, denn seine Stimme zitterte etwas.
„Kategorie?“ fragte der Oberprüfer und schaute auf.
„Drei. Überzählig!“ sagte der zweite Prüfer.
„Unbrauchbar für immer!“ schloß der dritte.
Jemand seufzte laut auf, jemand im Publikum stieß einen unterdrückten Schrei aus. „Bitte sehr!“ sagte ein uniformierter Beamter, riß eine Nummer vom Block und hielt sie dem Mann hin. Ein anderer Beamter kam auf ihn zu und heftete einen weißen Streifen an den Ärmel seines Mantels. Der dritte überreichte ihm ein größeres Blatt Papier auf dem in Blockbuchstaben sein Name geschrieben stand. Der Überzählige, für immer Unbrauchbare aus der Kategorie 3/B bog nach rechts ab und ging, ohne sich umzusehen, durch eine weißgetünchte Tür und trug das Blatt Papier so aufmerksam auf der Hand wie ein Kellner ein mit kostbarem Geschirr voller Speisen beladenes Tablett.
Automatisch und geräuschlos schloß die Tür sich hinter ihm. Die Organisation machte einen wirkungsvollen Eindruck und funktionierte anscheinend hervorragend. Das bemerkten auch einige Zuschauer, und sie konnten nicht anders, als das mit lauten Ausrufen zu bekräftigen. Der nächste trat an den Tisch, und hinten im Publikum die Neugierigen zischelten, um die anderen zum Schweigen zu bringen.
Der Kandidat übergab seine Vorladung. Es war ein kleinerer, dünner, kurzsichtiger Mann. Irgendein Krampf beutelte sein Gesicht, und um den linken Mundwinkel zuckte es ihm in einem fort.
„Sie heißen?“
„Marko Stojanović.“
„Beruf?“
„Kultur und Gesellschaft …“
„Nähere Bestimmung?“
Er zählte seine Funktionen auf. Beim Rauschen, das den Zuschauerraum erfüllte, konnte man nicht alles genau vernehmen, doch war etwas zu hören wie: „Vorsitzender … Abteilungsleiter … Berater … Ausschußmitglied … Kommissionen … Journalist, Schriftsteller, Publizist …“ Und so weiter. Sein Gesicht zuckte, seine Brillengläser funkelten. Der Oberprüfer hob den Kopf und lächelte ihn liebenswürdig an, als wolle er sagen: Entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht sofort erkannt habe. Dann nahm er wieder eine dienstliche Haltung ein.
„Ihr Alter?“
„Vierunddreißig.“
„Familienstand?“
„Verheiratet, keine Kinder. Wir leben in Scheidung.“
„Kategorie?“ fragte der Oberprüfer seine Kollegen. „Wird gebraucht?“
„Wichtig und unentbehrlich“ ergänzte der zweite Prüfer.
„Essentiell!“ rief der dritte aus und hob die Hand hoch. „Kategorie 1/A!“
„Zwanzig Jahrtausende!“ schloß der Oberprüfer und zeigte seine blanke Handfläche.
„Pavillon 1/A!“ sagte der zweite Prüfer und hob ebenfalls die Hand – wie ein Fahrdienstleiter seine Signalkelle. Alle drei hielten so für eine Zeit eine Hand hoch, näherten sie ihren Mützen, als salutierten sie, und der als essentiell eingestufte Kulturarbeiter nahm sein Täfelchen, umschritt im Kreise die Arena, drückte die Brust etwas heraus, wie eine Kandidatin bei einer Schönheitskonkurrenz oder wie ein Zirkusartist bei der Parade vor Beginn der Vorstellung, trug seine Tafel vor sich her und drehte sie dem Publikum zu, damit alle ihn bemerkten, und ging auf die in Gold gestrichene Tür zu.
Der dritte näherte sich. Ein Student, nicht gerade der jüngste. Er verlangte zwei Jahrtausende; soviel brauchte er, um seine Prüfungen zu vertagen. Man gewährte sie ihm sofort – sogar mehr, als er verlangt hatte: die Hälfte der Eiszeit. Die vierte war eine geschiedene Frau von fünfundvierzig Jahren. Sie verlangte alle zwanzigtausend Jahre und noch zehn Jahre dazu, damit sie bei der Enteisung um zehn Jahre jünger sei als ihre Altersgenossinnen. Der fünfte war ein magerer, bärtiger Mann. Er hatte etwas Interessantes an sich, etwas, das alle anhielt, ihre Ohren zu spitzen, damit sie das Ende des Gespräches mit den Offiziellen hinter den Tischen in der Arena mitbekamen.
„Was machen Sie?“
„Nichts!“
„Ihr Beruf?“
„Ohne Beruf!“
„Gut – womit haben Sie sich früher beschäftigt?“
„Mit Meteorologie. Mit Wetterberichten. Inoffiziell, als Amateur.“
„So? Verzeihung, wie sagten Sie, daß Sie heißen?“
„Nenad Koljitzki.“
„Oh!“
Man wußte nicht, wer das ausgerufen hatte: das Publikum oder die Beamten, die aufgesprungen waren. Die Zuschauer standen ohnehin schon. Die Prüfer waren verwirrt und hörten zu prüfen auf.
„Vollkommen überflüssig und unbrauchbar, jetzt und für alle Zeit!“ entschied Koljitzki selbst. „Vereisung! Vollständig und endgültig!“ verlangte er mit erhobenem Kopf.
„Sie haben sich verändert. Wir haben Sie nicht sofort erkannt!“ versuchten die Beamten in familiärem Ton, als hätten sie nicht gehört, was er gesagt hatte. Einer fügte dennoch hinzu: „Aber seien Sie doch nicht so vorschnell. Überlegen Sie es sich. Vielleicht war es doch nicht nötig.“
Aber Koljitzki ging ausgerechnet auf den Tisch dieses Beamten zu und nahm sich ein weißes Blatt Papier. Er hob es hoch und zeigte es allen wie eine Fahne: den Zuschauern, den Beamten und denen, die in der Schlange warteten.
„Genau wie ihr alle!“ rief er aus und ging mit entschlossenen Schritten auf die weiße Tür zu, hinter der für einen Augenblick, bevor sie sich lautlos schloß, Schnee und Eis zu erkennen waren.
Herr und Frau Krekić nutzten die entstandene Verwirrung aus. Sie schlugen sich irgendwie zum Ausgang durch und drängten aus dem Gewühl hinaus.
„Siehst du?“ sagte sie.
„Hast du gehört?“ sagte er.
Sie waren so durcheinander, daß sie vor Aufregung den Weg verfehlten und wie aufgescheuchte Vögel im Käfig blind gegen die Pavillonwände prallten. Sie gerieten vor eine Tür, an die mit großen blauen Buchstaben geschrieben stand:
KATEGORIE III/C: VORÜBERGEHEND
Sie konnten nicht widerstehn, sie mußten einen Blick hineinwerfen. Vom Eis, das hinter der Tür milchfarben leuchtete, war es hier fast heller als draußen. Es war ihnen, als wären sie in den Kern eines Kristalls eingedrungen oder in das Innere eines mächtigen Eisbergs. Und unbewußt schauten sie zurück, um sich nicht zu weit vom Eingang zu entfernen, dann traten sie an die in Reih und Glied im Eis Liegenden heran, um die Inschriften besser entziffern zu können, die wie in steinerne Tafeln in Katakomben eingemeißelt waren. Sie lasen:
Lfd. Nr. 60
PETAR DRAKULIC
Verwalter der Belgrader Flußbäder
Vereist 3. IX. 1960
Enteisung: … ?
Sie kannten ihn nicht, und sein Gesicht war von der Aufschrift bedeckt. Ihnen zugewandt, waren die blanken Sohlen seiner schon abgetragenen Schuhe. Offensichtlich hatte er Glück oder Protektion gehabt. Es war längst Zeit, daß sie das mit ihm machten. Der nächste trug die Nummer:
Lfd. Nr. 2597
MITAR MITROVIC
Professor
Vereist: 4. IX. 1960
Enteisung: Bei eventuell eintretendem Bedarf
Den kannten sie gut. Sie wunderten sich: Noch vor ein paar Tagen hatten sie ihn auf der Straße an ihrem Haus vorbeigehn sehen. „Schau“, hatte Krekić damals gesagt, „dieser alte Dummkopf läuft immer noch auf der Welt ‘rum“, jetzt aber betrachtete er aufmerksam die Registrierungsnummer: „Mehr als zweitausend allein an einem Tag vereist …“
Im Pavillon der Kategorie II/B, den sie danach aufsuchten, stießen sie auf etliche Journalisten und Leute vom Film: Drehbuchschreiber, Regisseure, Kameraleute und all die anderen Hilfskräfte, deren Namen im Vorspann aufgereiht sind und diesen länger machen als den ganzen Film. Danach folgten Redakteure von Rundfunk und Fernsehen, Blechbläser, Sänger, Chorknaben, Charakterdarsteller – alle bereits schön sortiert, aneinandergereiht nach Nummer, Datum, Beruf. Abteilungsleiter, höhere Referenten, praktische Ärzte, Maler, Fußballspieler, Zahnärzte, Ingenieure. Seine Kollegen, die Schriftsteller, konnte Herr Krekić auch im folgenden Pavillon nicht entdecken.
Beide blieben betreten stehen und schauten sich an – sie wußten selbst nicht, ob befriedigt oder besorgt. Und sie wußten nicht, was das zu bedeuten hatte.
„Aber wo sind sie denn dann“? fragte er, während sie den zwischen Mauern verlaufenden Pfad entlanggingen. „In welchem Pavillon?“ fügte er fast schreiend hinzu.
„In diesem!“ sagte die Frau müde und zeigte mit der Hand auf das gewaltige weiße Tor des nächsten Pavillons. Darauf stand mit großen weißen Buchstaben:
VEREIST FÜR IMMER
Der frühere Generaldirektor Plećasch blieb an diesem Tage bei seinem Haustor stehn und sah sich jäh um. Vom Zaun bis zum Hause führten frische Spuren durch den tiefen Schnee. Das war seltsam. Wer hatte jetzt Grund und Anlaß, nach ihm zu suchen? Er bückte sich, betrachtete die Spur und tastete sie ab; mit Mühe widerstand er dem Wunsch, sie auch noch zu beschnüffeln. Die Spur war ohne Zweifel frisch; ein Mensch war vor höchstens einer halben Stunde hier entlanggegangen – zu einer Zeit, da er sich für gewöhnlich im Hause befand. Das heißt, der andere kannte seine Gewohnheiten und verfolgte seine Bewegungen.
Die Stapfen führten schnurstracks zur Haustür – und dort, am Schloß, war irgendein Brief oder eine Nachricht befestigt; ein Stück Papier, das er zögernd und mit zitternden Händen entfaltete. Es war genau das, was er befürchtet hatte. Eine Aufforderung, sich schleunigst, ohne Aufschub – bei Androhung von Bestrafung und Zwangsvorführung – bei der Abteilung für Bevölkerungsregulierung zu melden.
Er betrat sein Haus – sich vorsichtig anschleichend, als stehle er sich in eine fremdes. Und er war gegen Hinterhalte und unangenehme Überraschungen auf der Hut. Nichts. Nirgends. Nirgends ein Mensch. Alles wüst und leer. Übrigens war nichts mehr da, dem er hätte nachtrauern können: alles längst verfeuert – die Möbel, die Bilder, die Zimmertüren, das Parkett und schließlich auch die bloßen Fensterrahmen. Durch das verödete Haus bliesen die Winde, verwehten die Zimmer mit Schnee, und von der Decke herab und vom Fußboden hinauf waren, als einziges Mobiliar und einziger Zierrat, Stalagmiten und Stalagtiten gewachsen. Also, dachte er betrübt, auch von hier haben sie mich schließlich vertrieben.
Er rührte nichts an; auch die paar Lumpen bei der Feuerstelle nicht, auf denen er zu schlafen pflegte. Vorsichtig zog er die Haustür hinter sich zu und heftete die Vorladung wieder an die gleiche Stelle, von der er sie abgenommen hatte. Niemand würde auch nur bemerken, daß er dagewesen war. Sie würden nicht erfahren, daß er die Vorladung erhalten hatte, und sie würden ihn nicht zur Verantwortung ziehen können. Sie würden ganz einfach nicht wissen, was mit ihm passiert war. Vielleicht war er für längere Zeit irgendwohin verreist, vielleicht aber auch ohne ihre Mithilfe irgendwo von selbst erfroren. Und so würde er einfach verschwinden, wunderschön verduften, als habe es ihn nie gegeben. Stumm und ohne eine Spur zu hinterlassen.
Als war ihm jetzt plötzlich leicht zumut – wie befreit von langer Bangnis und Ungewißheit. Befreit von jener quälenden Erwartung, ob auch an ihn die Reihe kommen würde. Ob auch er ohne jede Verwendung, Beschäftigung und Stellung bleiben würde. Ob auch er auf diese Weise tatsächlich völlig unbrauchbar und überflüssig werden und ob sie eines Tages auch ihn, den gewesenen Generaldirektor, für unnütz und überzählig halten würden. Nun brauchte er nicht länger für die Erhaltung irgendeines Amtes und Ansehens in der Gesellschaft zu kämpfen. Endlich frei und unabhängig, würde er nicht mehr das Bedürfnis haben, sich wichtig zu machen, sich aufzunötigen, sich in die Höhe zu recken – dies alles ohne die Möglichkeit, sich auch nur für einen Augenblick auszuruhn, sich wie ein Igel einzurollen oder sich gehnzulassen, sondern statt dessen dauernd so zu tun, als war er mehr, als er war, gewichtiger und wichtiger, als er es je gewesen. Und dies alles verbunden mit der unangenehmen Empfindung, die anderen durchschauten schon, daß er sie belog und betrog und errieten in Wirklichkeit längst, daß er nichts mehr bedeutete und nichts mehr vorstellte. Warum sollte er sich vergebens lächerlich machen? Er würde jetzt wieder ruhiger, sorgloser werden, mit besserer Verdauung und gesünderem Schlaf, befreit von der Notwendigkeit, sich um diese Ruine zu kümmern, von der ohnehin nur vereiste Betonwände übriggeblieben waren.
Vorsichtig kehrte er in der alten Spur zum Tor zurück und drehte sich zum Abschied noch einmal, ein letztes Mal, um. Der Garten unter dem tiefen Schnee, jetzt ohne Bäume, ja selbst ohne Sträucher, glich einem abgeernteten Krautacker. Er erinnerte sich der Zeit, als er den Garten in Ordnung gebracht und gepflegt hatte in dem Bestreben, eine Art botanischen Garten daraus zu machen; aber das war schon die letzte Empfindung dieser Sorte. Fröhlich und leicht stieg er in die Stadt hinab, und zum erstenmal war ihm, als unterscheide er sich durch nichts von der Mehrzahl der übrigen Passanten und als sei er vollkommen mit ihnen verschmolzen. Es schien ihm, als könne ihn jetzt niemand erkennen und anhalten. Und dennoch zog er die Pelzmütze tiefer in die Stirn. Für alle Fälle.
Der Tag war heiter. Einer jener schönen, angenehmen, warmen Eiszeittage, an denen das Quecksilber im Thermometer sogar bis auf zehn Grad unter Null anstieg. Ein paar jüngere Menschen flogen auf Skiern an ihm vorbei. Auch ein paar Hundeschlitten fuhren in Richtung Stadt; die Leute kehrten von der Jagd zurück. Manche sogar mit schwerer Ladung. Wirklich schade, daß er eines kalten Tages sogar den Kolben seines Gewehrs aus den Kriegstagen verheizt hatte. Aber im übrigen würde die Waffe ihm jetzt sowieso nichts nützen: Lauf und Schloß waren längst zugefroren. Er erinnerte sich, daß auch er als Knabe mit Geschick Gummischleudern, Pfeil und Bogen gebastelt, auf Vögel geschossen, Fallen gestellt und Erdzeiselchen gejagt hatte. Vielleicht könnte er’s wieder versuchen, w« weiß, vielleicht hatte er doch nicht alles vergessen, vielleicht könnte auch er jetzt ein Jäger werden, fähig, sich selbst zu ernähren. Nur fragte er sich, ob er nicht schon zu alt, zu weich, zu fett und zu schwächlich geworden sei, um wieder ein notwendiges und nützliches Mitglied der Gemeinschaft zu werden – womöglich sogar (es war ihm angenehm zu fantasieren) ein herausragender Jäger, der Anführer einer Jägerkumpanei, der Häuptling eines Jägerstammes. Ach, wie würde er’s dann all denen heimzahlen, die ihn für gewesen, überflüssig und unbrauchbar erklärt hatten! Im feinsten Zobelpelz würde er vor sie hintreten, geschmückt mit den aufgereihten Zähnen und Krallen wilder Tiere, und ohne sie anzuschauen, würde er ihnen die gröbsten, schmutzigsten, erniedrigendsten Arbeiten zuweisen, Häuteabzieher und Darmwäscher, und selbst dafür würden sie ihm dankbar sein, denn auch das wär für sie besser, als überflüssig und somit vereist zu werden. Er würde seinen Freunden zeigen, was er noch wert war, und den Krekić’s, Babić und den andern würde er je eine schwerere Keule schicken, Dara auch einen guten Bärenschinken dazu.
Er rutschte aus und fiel hin; in Gedanken versunken, hatte er nicht aufgepaßt, wo er hintrat. Er spürte im Fuß einen abscheulichen Schmerz und war fast bewußtlos geworden. Er versuchte aufzustehn. Sein linker Fuß versagte ihm den Dienst, und es gelang ihm nicht, sich aufzurichten. So lag er da und suchte mit den Augen vergebens nach etwas, woran er sich festhalten konnte. Ein paar Leute eilten vorbei, ihren Geschäften nach, und kümmerten sich nicht um ihn, der da im Schnee lag. Einer, dem er im Weg lag, übersprang ihn, besser gesagt: ging um ihn ‘rum und lief weiter, ohne ihn anzuschaun. Er rief ein paar Vorübergehende um Hilfe an und streckte vergebens die Hand nach ihnen aus. Sie taten, als bemerkten sie ihn nicht. „Laß ihn“, sagte eine Mutter zu ihrem Kind, das sich ihm genähert hatte, um zu helfen; „wer weiß, was für eine Schererei daraus werden kann.“ Ein kräftiger Mann, den er am Hosenbein zu packen bekam, riß sich grob los und setzte seinen Weg in die Stadt fort. „Laß diese Dummheiten, Freundchen“, sagte er. „Jetzt ist Eiszeit. Jetzt kümmert sich jeder um sich selbst.“
„Bleib du nur liegen!“ empfahl ihm ein anderer. „Ich verständige den öffentlichen Rettungsdienst. Gleich kommen sie mit dem Schinderwagen, um dich zu vereisen.“
Er erschrak. Noch einmal, mit letzter Kraft, versuchte er aufzustehn, wälzte sich ein paar Schritte und biß vor Schmerzen in den Schnee. Ein Jäger mit Pfeil und Bogen in der Hand kam heran und beugte sich über ihn. Ach! dachte er, der wird mich jetzt erschlagen. Er wird mich hier auf der Straße im Schnee totschießen wie einen räudigen, erschöpften, überflüssigen und unbrauchbaren Hund. Er wird mich fertigmachen, aus dem Weg schaffen, in einen Graben werfen mit tiefem Schnee. Hilfe, Hilfe! Rettet, rettet, ihr Leute! Ich bin Generaldirektor! Ich bin euer, ein Hiesiger, ein Mensch, um Gottes willen, doch kein Hund!
Das wollte er schreien. Aus Leibeskräften. Aber vor Angst zog sich ihm die Kehle zusammen, und nur irgendein hündisches Gejauner und Gewinsel kam ihm über die Lippen. Und mit hervorgetretenen, weit aufgerissenen Augen beschwor er: Nicht, nicht, nicht! Aber der andere beugte sich drohend weiter über ihn. Er schloß die Augen, um wenigstens nicht sehen zu müssen, wie die scharfe Pfeilspitze ihn durchstach und tötete. Er spürte, wie ihn etwas von der Erde aufhob, wie er hochstieg, schwerelos, als war er schon tot und seine Seele, vom Leib befreit, steige in den blauen Himmel auf. Schließlich, so dachte er, ist sterben nicht einmal so schrecklich! Der Tod ist irgendeine Art vollkommenen Vergessens – des schönsten, allmächtigsten Vergessens; denn offenbar verspürte er nicht einmal den gewaltige^ Schmerz, den der Jäger, ihn mit dem Pfeil durchbohrend, ihm zugefügt haben mußte. Er schlug die Augen auf, um zu sehen, wie diese andere Welt, in der er gelandet war, aussah. Paradies oder Hölle? fragte er sich, und fast wünschte er sich diesen zweiten, den wärmeren Ort.
Aber – das erste, das er auch hier erblickte, war Schnee und Eis. Das heißt, nicht einmal das Sterben hatte einen Sinn gehabt. Anscheinend war auch in der anderen Welt Eiszeit. Dann spürte er über sich irgend jemandes kräftige, dicke und schwarze, teuflische, beziehungsweise luziferische Haare und Stacheln. Er spürte Bärengeruch in der Nase und eine haarige Berührung, und davon mußte er niesen, sosehr er auch versuchte, es zu unterdrücken – als etwas Unanständiges und Unpassendes bei der ersten Begegnung mit der anderen Welt, und wenn’s die Welt des Teufels war.
„He, Brüderchen“, hörte er Luzifers vorwurfsvolle, rauhe Stimme, „du bist aber verweichlicht, fett geworden und verwahrlost. Für dich würde ich keine fünf Heller geben.“
Na gut denn, dachte er. Wer weiß – vielleicht ist das um so besser für mich, obwohl ich mich im Fegefeuer der Hölle vermutlich ordentlich aufwärmen würde. Und ich gestehe, ich würde mich weder beschweren noch jammern, so sehr es auch weh tun und brennen würde, wenn’s nur anständig warm und heiß genug war. Aber wenn ich nicht einmal mehr fünf Heller wert bin, wird mir nichts übrigbleiben, als mich in das kalte und ehrbare Paradies zu verlangen. Ohnehin schätzt man dort mehr die Niedrigen, die Armen, die nicht einmal fünf Heller haben.
„Nein“, fuhr Luzifer fort, „nicht einen Tag tat ich dich in meiner Horde halten. Was bist du von Beruf?“
„Generaldirektor!“ sagte er. „Generaldirektor der Direktion für allgemeinen Verkehr.“ Er erinnerte sich, daß es im Himmel, aber auch in der Hölle, keinen Sinn hatte zu lügen, denn vom Himmel her sieht man ohnehin alles, und aus der Hölle stammen ja die Lügen, dort sind sie als heimisches Produkt bestens bekannt. „Gewesen“, fügte er deshalb hinzu. „Gewesener Direktor einer gewesenen Direktion.“
„Schau an!“ sagte der andere. „Wie heißt du denn?“
„Plećasch. Stojan Plećasch, genannt Stole.“
„Nicht möglich! Wer hätt das gedacht! Nie hätt ich dich wiedererkannt. Als du Direktor warst, hast du viel höher und größer ausgesehn. Und ich armer Teufel hab von unten zu dir aufgeschaut.“
„Nun gut“, getraute er sich zu fragen und machte die Augen weit auf. „Nun gut, verzeihen Sie, aber wer sind Sie denn?“ Es erschien ihm doch zuviel, daß Luzifer ihn kannte und daß er, Plećasch, sogar Luzifers Direktor gewesen sein sollte. Es stimmt, daß ich damals irgendein Herrgott war, rechnete er nach; und die Direktion hat ja auch manches Teufelsgeschäft gemacht – aber was zuviel ist, ist zuviel.
„Ich? Ja, kennen Sie mich denn nicht, Genosse Direktor? Ihr Heizer aus dem Keller der Direktion Markovic.“
„So? Der war allerdings immer schwarz und rußig, genau wie ein Luzifer. Und doch, wer hätte das gedacht! Man weiß nie, mit wem der Mensch es zu tun bekommt.“
Er stand jetzt an einen früheren Leitungsmast gelehnt. Die Straße um ihn her war sein eigen: eine irdische Straße. Keinen halben Schritt von ihm entfernt ragte der mächtige, gewaltig gewachsene Heizer Milan empor mit seiner hohen spitzen serbischen Pelzkappe und dem Bärenfell um, das ihn noch wuchtiger machte. Der hielt ihn an den Schultern fest, dann ließ er ihn los und trat zurück, und er, Plećasch, spürte sofort die eigene, irdische Schwere in seinen linken Fuß zurückkehren. Und es tat ihm fast leid, daß es so war.
„Schau, schau! Wer hätt das gedacht?“ wunderte der Jäger sich und maß ihn von weitem. „Was in nur sechs Monaten alles werden kann! Es ist noch wie gestern, daß Sie mir wie ein ganzer Berg vorkamen, und nun schauen Sie, zu was Sie zusammengeschrumpft sind!“
Er setzte sich in Bewegung, wälzte sich massig und schwer die Straße hinab. Und er, der gewesene Generaldirektor an den Mast hinter sich gelehnt wie ein Bettler, Krüppel oder Besoffener, wagte sich nicht zu rühren und jammerte nur hinter dem anderen her:
„Warten Sie, warten Sie doch, ich bitt Sie! Helfen Sie mir, daß ich zu meinem Freund Krekić komme. Und vielleicht könnt ich Ihnen in Ihrer Horde noch von Nutzen sein; wenn nichts anderes, so könnt ich Ihnen die Hunde hüten. So schwach und so klein bin ich nun auch wieder nicht! Ich komm Ihnen jetzt nur so vor, weil ich ohne Titel und Stellung geblieben bin.“
Aber der Jäger mochte nicht warten. „Gut, gut! Wir werden sehn, wir werden’s vielleicht versuchen. Melden Sie sich morgen oder übermorgen bei mir!“ sagte er und warf ihm einen Stock zu. „Bedienen Sie sich damit!“ fügte er hinzu und rannte hinter seinem großen, vollbeladenen Jagdschlitten her. „Hej! Hej!“ hörte man ihn die Hunde anfeuern und mit der Peitsche knallen.
Humpelnd, auf den Stock gestützt, sein Gesicht vor den Menschen verbergend, gelang es ihm gegen Abend, bis zur Skopska-Gasse vorzudringen. Zu dieser späten Stunde, da alles sich beeilte, unter das eigene Dach zu kommen, war es hier schon wüst und leer. Diejenigen, die mit Vorladungen in der Hand zum Messegelände gegangen waren, hatten ihren Bestimmungsort längst erreicht. Die Boten hatten die Vorladungen für den nächsten Tag ausgetragen, die Jäger saßen mit ihren Horden beim Nachtmahl, richteten Waffen und Ausrüstungen für die morgige Jagd her, hüllten sich in ihre Pelze und streckten sich neben den Feuerstellen nieder. Es gab keine Abendgesellschaften und keine Unterhaltungen mehr; auch mitten in der Stadt ging man nach ländlicher Art schlafen, bei Einbruch der Dunkelheit, und erhob sich bei Tagesanbruch.
Alles war tot. Über den Häusern kein Rauchfähnchen, keine Lichtspur an den Wänden. Kein Ton, keine Stimme in der ewigen Stille. Nur als er eben in die Skopska-Gasse einbog, erscholl jener schon bekannte langgezogene Schrei, der wer weiß woher kam, vielleicht direkt vom Nordpol. Jenes besondere, an- und abschwellende Gebrüll, von dem den Menschen das Blut in den Adern gefror; jenes Wolfsgeheul, das mit der Abenddämmerung einsetzte und die ganze Nacht andauerte, bis es wieder hell wurde. Und seit einiger Zeit ließ das Geheul sich immer früher vernehmen, schon während des Tages, es kam immer näher, ertönte aus immer mehr Kehlen und von immer mehr Seiten. Von überallher. Bei Nacht schleppte der Schrei sich bereits durch die Straßen, strich um vereinsamte Häuser, stieg zu den Fenstern hinauf und kratzte mit Fingernägeln an den Türen. Und geheimnisvolle, kalte Flämmchen, seltsame paarweise Glühwürmchen tanzten in der Polarnacht zu dieser nördlichen, heulenden, gewundenen Musik.
Er schaute sich um. Es war ihm, als bewegten sich hinter seinem Rücken irgendwelche niedrigen, flinken Schatten, näherten sich ihm – und zogen sich zurück, sobald er sich umdrehte und seinen Stock schwang. Er beeilte sich, und es kam ihn an, auch seinerseits zu schreien und zu heulen, um diese Schreie zu übertönen und seine Einsamkeit und seine Angst loszuwerden. In einem Hof waren noch frische und blutige Häute zum Trocknen aufgehängt, und ein großgewachsener Mann, den er in der Dämmerung nicht mehr erkennen konnte, nahm sie eben mit Hilfe von zwei hochaufgeschossenen Buben von der Leine und trug sie ins Haus. „Sie fressen sie, wenn wir sie nicht hineinschaffen“, sagte er zu den Buben. „Sie werden immer mehr und immer frecher. Jetzt streunen sie schon vor Nacht hier ‘rum.“ Dann bemerkte er den Mann, der sich die Straße entlangschleppte, und rief: „He, machen Sie schnell! Es ist nicht gut, zu dieser Zeit allein auf der Straße zu sein. Schnell, sag ich, hören Sie sie denn nicht?“
Aber er machte schon von selbst, so schnell er konnte. Er überquerte die Straße, stahl sich an dem Eishügel vorbei, unter dem sein Wagen noch an jenem Tage bestattet wurde, als der erste Schnee fiel und die Eiszeit begann, und er konnte nicht widerstehn, er mußte mit dem Stock ein bißchen dran ‘rumstochern. Die Hintertür kam zum Vorschein. Ein schöner Wagen einst, groß und geräumig, lederbezogen, mit weichen, bequemen Sitzen. „Ein ganzes Zimmer!“ hatten seine Gäste gesagt, wenn er sie ausfuhr, und sich in den parfümierten Sitzen gerekelt.
Endlich ertastete er das Tor und klopfte an Krekićs Haustür. Längere Zeit und ohne Erfolg. Niemand meldete sich, aber er mit seinem schon geschärften Geruchs- und Gehörsinn spürte, daß hier, hinter dieser Tür, noch irgendwelche lebendigen menschlichen Wesen atmeten. Er begann mit aller Kraft zu hauen, als wolle er die Tür einschlagen. Etwas raschelte, die Tür wurde aufgeschlossen. Bleich und verstört zeigte Frau Krekuf sich darin. Hinter ihrem Rücken guckte Herrn Krekids spitze Nase hervor.
„Was wollen Sie?“ fragte sie.
„Ich bin Plećasch, der Generaldirektor.“
„Der gewesene“, ergänzte Krekić mit schriller Stimme.
„Ich war bei Ihrer Verwandten Dara. Ich hab sie nicht daheim angetroffen. Ich fürchte, sie ist vereist worden.“
„Wir wissen das. Na und? Was kümmert es uns, was aus ihr geworden ist? Wir haben schon lange keine Verbindung mehr. Wir gehören, damit Sie’s wissen, zur ersten, zur geschützten Kategorie.“
„Ich wollte hineingehn, die Tür war verschlossen, und ich konnte sie nicht öffnen. Dann hab ich den Genossen Babic gesucht.“
„Auch er interessiert uns nicht. Wollen Sie uns vielleicht sagen, daß auch er vereist worden ist?“
„Nein, wieso denn? Er stellt doch die Listen zusammen und bestimmt die Kategorien. Aber er war nicht daheim. Auch in seine Wohnung konnte ich nicht.“
„Da schau her! Wer hätte das gedacht. Und warum haben Sie ihn nicht bei Protić gesucht? Vielleicht macht der die gleiche Arbeit.“
„Auch bei ihm bin ich gewesen, aber auch dort konnte ich nicht hinein.“ Er verstummte, stahl sich an die Tür heran und fügte mit gesenktem Kopf hinzu: „Er wollte mich nicht einlassen. Er sagte, er habe Damenbesuch, und schlug mir die Tür vor der Nase zu.“
Sie antworteten nicht. Sie taten, als hätten sie’s überhört, obwohl es sie doch interessieren mußte, und Frau Krekić zog die Tür noch etwas mehr zu. Jetzt waren von den beiden nur noch die Nasen zu sehn.
„Aber wer zwingt Sie, von Haus zu Haus zu gehn?“ fragte sie. „Wo hat man je gesehn, daß man so was in der Eiszeit tut?“
„Was suchten Sie denn bei Protić?“ fragte Krekić, hinter dem Rücken seiner Frau versteckt. „Und warum wollen Sie überall hineingehn?“
„Nur so, wegen gar nichts“, log er. „Wir haben uns ganz einfach lange nicht mehr gesehn. Ich wollte ein freundschaftliches Gespräch führen – zum Beispiel über zeitgenössische Lyrik und moderne Malerei. Und er, ich bitt Sie, mußte mir grad das antun! Vor der Nase!“
Er gab sich Mühe, möglichst natürlich und frei zu sprechen, im Plauderton, wie vor einem halben Jahr, als er bei ihnen auf dem Sofa saß, aber er spürte, daß seine Stimme zitterte und seine Erregung verriet und daß die beiden merkten, daß er sie belog. Und schon zogen sie, für alle Fälle, die Tür um ein paar weitere Millimeter zu, und nun sah er nur noch ihre Augen in der Dunkelheit blinken. Langsam schob er den rechten, den gesunden Fuß vor und gestand:
„Ich muß irgendwo übernachten. Nach Hause kann ich nicht mehr. Die haben mir heute eine Vorladung hinterlassen. Sie haben mich gesucht. Ich wollte mich nur für diese eine Nacht bei irgendeinem Freund in Sicherheit bringen. Bis ich mich irgendwie zurechtgefunden hab.“
Die Tür quietschte nur und verengte sich abermals um ein paar Millimeter. Und hinter dem Rücken von Frau Krekić ertönte ein heiseres „So?“
„Glauben Sie mir“, sagte er mit bittendem, beschwörendem Ton und bewegte sich vorwärts, auf die Tür zu, „die können nichts gegen mich haben. Immerhin hab ich mich in der Stellung eines Generaldirektors befunden; also ist es unmöglich, daß ich so plötzlich, so über Nacht vollkommen unbrauchbar und überflüssig werde. Alles das, ich bin überzeugt, ist nur irgendein Mißverständnis. Ich muß mich nur für diese Nacht irgendwo in Sicherheit bringen, morgen wird sich dann alles aufklären und regeln.“
Er wollte eintreten. Er wollte auf jeden Fall eintreten. Er mußte eintreten – das hier war die letzte Gelegenheit. Während er sprach, näherte er sich Millimeter um Millimeter, und wie unabsichtlich streckte er den Stock aus, um ihn im günstigen Augenblick zwischen Tür und Angel zu schieben. Aber noch bevor er das letzte Wort ausgesprochen hatte, schloß die Tür sich vollständig. Ohne vorausgegangene Warnung. Eisig und stumm breitete sie sich vor ihm aus.
Ein paarmal schlug er mit aller Kraft dagegen. Aber auch jetzt gab sie keine Antwort. Sie gab unter den Schlägen keinen Ton von sich – als liege keinerlei Hohlraum mehr dahinter. Als war der gesamte Raum hinter der Tür schon mit Eis ausgefüllt.
„Auch euch werden sie vereisen!“ rief er mit der Stimme eines Unheilverkünders. „Auch ihr seid überflüssig. Unbrauchbar. Und das seid ihr immer gewesen. Von Anfang an. Wegen euch ist die Eiszeit gekommen – damit auch ihr euer wahres Gesicht zeigt. Damit alle sich davon überzeugen, wie sehr eure Seelen und Herzen vereist sind. Aber: Auch an euch wird die Reihe kommen. Schon morgen werden sie auch zu euch einen Boten schicken, der euch auf das Messegelände bestellt. Ich werde heut nacht auf der Straße erfrieren, und bis morgen früh werden die Wölfe mich zerrissen haben. Aber auch ihr werdet nicht viel länger leben! Was nutzt es euch, daß ihr vielleicht einige Stunden länger leben werdet als ich? Was nutzt euch das?!“
Er entfernte sich, humpelnd, torkelnd. Durch den verschneiten früheren Garten, über die mit Eis bedeckten Blumenbeete und Rabatten. Aber die Krekićs konnten ihn auch hinter der verschlossenen Tür genau hören. Zusammengepfercht standen sie in dem kleinen Raum zwischen der Tür und der Eiswand, die fast schon den letzten Meter des letzten Zimmers ausfüllte und sie auf den Hauflur verbannte. Und Krekić brachte es nicht über sich, dem anderen nicht durch die geschlossene Tür nachzuschreien: „Ein paar Stunden länger! Das ist nicht einmal wenig. Und auch nicht bedeutungslos. Schließlich – wenn wir die Dinge so betrachten, war es uns egal, ob ein paar Stunden, ein paar Monate oder ein paar Jahre länger. Hauptsache: wir alle trachten je länger zu leben.“
Der Mann, der sich hinkend entfernte, winkte nur ab. Ihm war nicht einmal mehr an diesen einigen Stunden gelegen. Er hatte nicht mehr den Willen zu kämpfen. Das Geheul war schon aus nächster Nähe zu hören, der Mond ging blaßgelb, riesig groß und gedunsen auf, wie das Gesicht eines Ertrunkenen, und in seinem Licht war deutlich zu sehen, wie die schlanken, flinken Wölfe, den Schatten unerlöster Seelen gleich, auf und ab tanzten, näherkamen und den Mann bereits umspielten.
Die ersten Schreie hatte man schon vor langem vernommen, in hellen Nächten, wenn der Mond aufgegangen und das Getöse der Stadt verstummt war. Die Bewohner der Peripherie spitzten die Ohren und hielten lauschend den Schritt an, wenn sie aus dem Kaffeehaus heimgingen oder wenn sie frühmorgens, vor Sonnenaufgang, auf den Hof traten, um sich zu waschen und für die Arbeit fertigzumachen.
Anfangs war es ein kaum hörbares, entferntes Heulen gewesen. Etwas wie der Ruf des Käuzchens zu tauber Nachtzeit oder wie der Klagelaut eines Kindes irgendwo weit weg im unbegrenzten Raum. Der Wind pflegte nach Nord zu drehen, brachte von den Feldern Schneestaub mit und verwob dahinein Ausschnitte dieses geheimnisvollen Gezeters, das nirgendwo herrührte. Nichts daran war ungewöhnlich oder gar schrecklich, und doch schüttelten die Menschen sich davor, ließen die Arbeit stehn und lauschten. Eine unbestimmte Qual erfaßte sie – wie vor einem Unglück, das wir kommen spüren, ohne die Mittel, die Kraft und den Willen zu haben, uns dagegen zu wehren –, und mit einem stummen Seufzer zogen sie sich in ihre Häuser zurück, und sie sagten niemandem, was sie gehört hatten und was sie empfanden. „Vampire – Alp – Pest!“ tuschelten die alten Wahrsagerinnen und bekreuzigten sich; empfindsame Naturen aber behaupteten, es winsle da weit weg von hier ein lebendes Wesen in der Folter. Vielleicht ruft ein verirrter Wandersmann vergeblich um Hilfe? fragten sich die Frauen, während sie ihren Familien das Abendbrot zurechtmachten; oder trennt sich da tatsächlich in diesem Augenblick eine Seele von ihrem Leib? „Nord!“ sprachen hart und karg die Männer – wie sie das machen, wenn sie mit fest zusammengepreßtem Herzen von einem großen Unglück sprechen –, und man wußte nicht genau, woran sie dabei dachten: an den Frost und das Eis, an Schnee und Nordwind oder an die Schreie, die der Nordwind in seinem kalten Schoß mit sich führte. Einzig die Kinder waren noch ruhig. Nichtsahnend schliefen sie, die Wangen gerötet, in ihren Betten. Nur zuweilen zuckten sie im Traum zusammen, während die bekümmerten Blicke der Eltern auf ihnen ruhten.
Seltsam, wirklich. Irgendwas kam näher, wurde stärker und häufiger, aber niemand sprach deutlich darüber, von amtlicher Seite wurde nicht ein einziges Wort darüber verloren, noch in der Zeitung darüber geschrieben. Die Leute verhielten sich dieser Erscheinung gegenüber wie die Verwandten und Freunde gegenüber einem Kranken, an dem allmählich, aber immer ausgeprägter, die Anzeichen eines verhängnisvollen Leidens zu bemerken sind, und obwohl alle dessen Siegel schon deutlich sehen, will niemand es erwähnen: alle halten sich an den primitiven Glauben, daß man durch Verschweigen etwas verhindern oder beseitigen könne. Aber wie hartnäckige Krankheiten weder von Ärzten noch von Medizinmännern durch Beschwörung gebannt werden können, so ließen diese Schreie sich weder durch Schweigen noch durch Verschweigen zum Verstummen bringen. Die geheimnisvollen nächtlichen Stimmen waren immer weniger zu verheimlichen. Gegen Abend, kaum daß es zu dämmern begonnen hatte, stieg der erste einsame Aufschrei wie Sirenenalarm zum Himmel auf. Und als habe damit der Anführer irgendwelcher Dämonen seinen Aufruf und die Übernahme der Kommandogewalt über die Nacht verkündet, zog alles Lebendige sich sofort zwischen seine vier Wände zurück.
Doch auch hier fühlte sich niemand mehr vollkommen sicher. Der unangenehme Ruf des Nordens war auch hier im Zimmer unter den Menschen. Die Scheiben schienen davon zu erzittern, das Licht zu flimmern und die Flammen der Feuerstelle zu flackern. Und die Nacht, die Nacht wurde zur Nachtwache: fürs Lauschen, Lauern, Bangen und Feuerhüten, aber nicht zum Ausruhn und zum Schutz vor den Nöten des Tages. Die Menschen lagen auch nachts wach wie die übrigen Kreaturen.
Sie legten sich näher ans Feuer, solang es noch Feuer gab. Sie saßen beim Fenster und starrten in die Nacht wie aus Fuchsbauten. Der Wind wirbelte den Schnee zu Gebilden zusammen, die wie Bären, Mammute, Wisente, Rentiere aussahen, und zerstreute sie wieder. Aber es war, als hielten sich in jedem seiner Atemzüge ein Paar helle Augen und jener Aufschrei verborgen, der einmündete in ein einziges Aufheulen der kalten Polarnacht.
Von Zeit zu Zeit verschwand irgendein Mensch, stumm und spurlos. Er war auf den Hof gegangen, um aus dem Schuppen noch ein Stückchen Holz zu holen, und kehrte nicht wieder. Er verflüchtigte sich in der Nacht, wie in ein tiefes dunkles Wasser geworfen, und nichts blieb von ihm zurück; nicht einmal seine Spuren im Schnee. Auch die hatte der Wind bis zum Morgen verweht. Man sagte: Die Finsternis hat ihn verschlungen, die Pest ihn gefressen – und so weiter.
Eines Tages, am frühen Nachmittag, lief, neugierig nach allen Seiten schnuppernd, ein Eisbärenpaar über den Platz Terazije, und bevor sich noch jemand fassen konnte, war es in den Straßen oberhalb des Platzes Slavija verschwunden. Und kaum hatte die erste Bestürzung sich gelegt, jagte in vollem Lauf, durch weite Nüstern schnaubend und Schneestaub aufwirbelnd, ein kleines Rudel Wisente durch die Stadt, von denen man geglaubt hatte, sie seien längst ausgestorben und hätten sich in Europa nur noch in einigen zoologischen Gärten erhalten. Schon Tags darauf wurde am vereisten Ufer der Save ein Robbenpaar gesichtet, und am gleichen Tag, kurz vor Abend, trottete würdevoll und langsam in Richtung Slavija auch ein altes, zahnloses Mammut durch die Straßen, ganz abgewetzt vom langjährigen Liegen unter dem arktischen Eis. Hinterher erwies sich, daß es sich um entlaufene Tiere aus zoologischen Gärten gehandelt hatte, und die Welt beruhigte sich für ein paar Tage, aber dann verschwanden bei Nacht wieder ein paar Menschen, die unvorsichtig und zur Unzeit das Haus verlassen hatten. Eine Frau schwor, sie habe gesehen, wie eine weiße, vollkommen menschenähnliche Erscheinung ihren Mann um die Hüfte gefaßt, hochgehoben, auf die Arme genommen und davongetragen habe. Und am andern Tag stieß die Witwe im Hof auf gewaltige Fußstapfen, die tatsächlich Ähnlichkeit mit menschlichen hatte. Die geheimnisvolle weiße Erscheinung wurde danach auch in anderen Stadtteilen gesehen. Ihre Spuren wurden später in verschiedenen verlassenen städtischen Räumlichkeiten entdeckt. Aus gewesenen Kino- und Theatersälen, Werkstätten und Lagerräumen hatte sie vollkommen unbrauchbare und unnütze Gegenstände mitgenommen: Telefone, Radios, Fernsehgeräte, Ventilatoren, Staubsauger – vermutlich aus Neugierde, um zu sehen, was das sein und wozu das dienen könnte –, und nach der Befriedigung ihrer Wißbegier all die Sächelchen stehngelassen und auf Höfen und Straßen weggeschmissen, wo die verwunderten Bürger sie am andern Morgen fanden.
„Yeti!“ riefen die Leute. „Der Schneemensch!“ Endlich, nach so vielen Meinungsverschiedenheiten, war seine Existenz erwiesen. Der Eiszeitmensch, der sich aus der verrußten, stinkenden, verseuchten, brodelnden Atmosphäre der Zivilisation in die Ruhe, Frische und Sauberkeit der Bergesgipfel im Altai, in Pamir und im Himalaja zurückgezogen und dort gelebt hatte, die Menschen meidend und nur von Zeit zu Zeit Bergsteiger und buddhistische Mönche erschreckend, hatte jetzt, ermuntert von Schnee und Eis der neuen Eiszeit, seine alten Schlupfwinkel verlassen und war in die Städte herabgestiegen. Was die Menschen, an Frost und Eis nicht gewöhnt, heute stört, das ist ihm angenehm, und es war kein Wunder, wenn er wieder die Herrschaft über die Welt übernähme und die alte menschliche Rasse ablöste, die es sich in ihrer Entartung abgewöhnt hat, für ihren Fortbestand zu kämpfen, und es nicht versteht, sich zurechtzufinden und der neuen Zeit anzupassen.
Alles das gab es, und alles das ist wirklich vorgekommen. Und von einer Zeit an scharrte etwas nachts an den Wohnungstüren. Man hörte, wie es mit leichten und flinken Hundeschritten ums Haus tanzte, schnaufte, keifte und schnüffelte. Gelbe Augenpaare färbten die Nacht; das verängstigte, durchgefrorene Menschengeschlecht zitterte in seinen elenden Löchern. Und genau zu dieser Zeit, als nach langer Finsternis der nackte und bleiche Mond sich über den verwüsteten, verlassenen Häusern zeigte, war von irgendwo unten, von der zugefrorenen Save und Donau her, wahrscheinlich aus dem schneebedeckten Tiefland kommend, groß und fahl der Wolf aufgetaucht und die steilen Straßen in die Stadt heraufgekommen. Er drang bis mitten auf die leeren Terazije vor und bestieg hier einen Schneehaufen. Still stand er da, erhob seinen großen, mächtigen Kopf und klappte die Kiefern auseinander. Er zeigte seine großen, weißen Eckzähne und streckte sich. Er hob die Schnauze zum Mond, ließ irgendein schmerzliches Winseln ertönen und stieß gleich darauf mit weit aufgerissenem Rachen aus voller Brust einen mit Blut und Haß getränkten, wütenden, sieghaften Eroberungsschrei aus. Auf die Vorderläufe gestützt, wartete er so ab und meldete sich noch dreimal, dann antworteten ihm bellend und heulend die Wölfe von allen Seiten. Aus allen Straßen und Zugängen, die hier zusammenfließen, begannen die Rudel zu quellen, als machten sie sich zum letzten, entscheidenden Sturm auf. Da – schon waren die ersten auf den Terazije angekommen, und mit hechelnden langen roten Zungen rannten sie auf den Führer zu. Graue Leiber überfluteten den ganzen Platz, und auf die Schreie des Führers antworteten die anderen mit ihrem Geheul. Eine Kundgebung wurde gemacht, der Sieger hielt Gericht über die belagerte, unterjochte Stadt, und die wenigen nicht vereisten Menschen starben in ihren Schlupfwinkeln vor Angst.
Er wußte nicht mehr wohin. Er hatte nicht mehr wohin, zu wem zu gehen. Es war spät geworden, zu spät, um zu seinem Haus zurückzukehren, die Vorladung vom Türgriff zu nehmen, freiwillig zum Messegelände zu gehen, sich vorzustellen und zu sagen: „Ich bin gekommen. Bitte sehr – macht mit mir, was ihr wollt. Ich weiß, ich bin unbrauchbar und überflüssig, jetzt und für alle Zeiten und in alle Ewigkeit!“ Nein, jetzt würde er dort niemanden antreffen – und bei einer solchen Sache muß man in Reih und Glied warten und sich an die Arbeitszeit halten –, und es war auch schwer zu glauben, daß er überhaupt bis dorthin kommen würde: Um seine Beine, sich fast an ihm reibend, strichen graue Schatten, und in der Dunkelheit blitzten weiße Hauer auf.
Er blieb stehn – er wußte nicht, nach welcher Seite. Jemand rief ihn leise an, tuschelte kaum hörbar seinen Namen, und er hätte sich nicht einmal umgedreht – es war ihm, als habe er sich da selbst zum letztenmal erwähnt –, wenn nicht jemandes Hand seine Schulter berührt hätte. Jemandes leichte, unwirkliche Finger griffen nach ihm. „In Ordnung“, sagte er, „ich bin bereit. Ich werd mich nicht zur Wehr setzen“, und er drehte sich langsam um, und der Unbekannte trat zurück und winkte ihm mit dünner Hand wie mit einer Nebelschwade. „Hierher! Hierher!“ rief er ihm zu. „Schnell, schnell!“ Und verschwand irgendwo in Finsternis und Schnee, wie darin untergetaucht. „Hierher, Stole! Hierher! Mach schnell, Pledasch!“ war von dorther noch zu hören, wie ein Raunen aus einem Grab. Aus Plećaschs eigenem, eisigem Grab.
Aus der Stadt kam ein schrecklicher Schrei. Ein langer Heulton, wie er ihn noch nicht gehört hatte; der hielt an, wand sich, schwoll an und ab und drehte sich um sich selbst wie der Klang einer metallenen Sirene. Anderes Gebrüll antwortete von allen Seiten, und ein dicker Strom grauer Leiber floß nur so an den Beinen des Mannes vorbei wie ein pralles Gewässer.
Er taumelte, als habe der Schrei ihn mitten in die Brust getroffen. Etwas schnitt ihn abscheulich ins Bein, riß ihm ein Stück Hosenbein und ein Stück Fleisch ab. Auch er schrie auf verzweifelt, wölfisch, torkelte abermals, und wie er in diesen grauen Leiberstrom stürzte, ergab er sich ihm und erwartete nun schon ohne Bangen einen neuen Biß in die Kehle. „In Ordnung!“ sprach er. „Nehmt mich. Nehmt wenigstens ihr mich. Damit ich wenigstens jemandem von Nutzen bin.“ Und er fügte sich ihnen und spürte in der Nase bereits den wilden, herben und säuerlichen Geruch von Wolfsfell.
„Bück dich! Paß auf den Kopf auf!“ schrie ihm jemand ins Ohr, und genau in diesem Augenblick schlug seine Stirn mit aller Kraft gegen etwas Dunkles, Schwarzes und Hartes. Da ist’s, dachte er; da ist’s also; das ist die Finsternis, die uns mitnimmt. Und schloß die Augen.
Aber es war es nicht. Anscheinend war es das noch nicht. Er lag. Er lag auf etwas Weichem und Warmem, auf etwas Intimem und Angenehmem. Ach, ist das die Grube? Oder die Wolke, auf der die Seelen in der anderen Welt sich wiegen? Aber nein, das war es nicht, denn das, worauf er lag, flüsterte ihm mit sanfter, beruhigender Stimme zu: „Fürchte dich nicht. Ich bin es, Plećasch!“ Eine weiche, warme Hand strich langsam über sein Gesicht und nestelte an seinem schmerzenden, zerbissenen Bein herum.
„Uff, die haben dich abscheulich zugerichtet!“ murmelte eine tiefe, warme menschliche Stimme, und man hörte, wie der Mensch irgendwelche Tücher zerriß, mit denen er ihm das Bein zu verbinden begann. „Ach, diese Bestien, diese tollgewordenen Eiszeitwölfe!“
„Wer bist du?“ fragte Plećasch, nachdem er zu sich gekommen war. Vergebens versuchte er, die Dunkelheit um sich her zu durchdringen. Der Mann hatte ihn beim Namen genannt: er mußte ihn kennen.
„Tomić!“ sagte er. „Pavel Tomić.“
Er wunderte sich nicht. Nicht im geringsten. Es erschien ihm vollkommen natürlich, daß ausgerechnet Tomić sich hier eingefunden hatte, bei ihm. Denn schließlich waren sie alte Freunde, und wer hätte es sonst auch sein können. Wer sonst hätte ihn auffangen und seine Wunden pflegen können? Nein – an keinen anderen konnte er sich auch nur erinnern. Und dennoch fragte er: „Sind wir nicht vereist? Nicht überflüssig?“
„Nein, Stole. Und wir werden es auch nicht.“
„Aber wo sind wir dann? Sie haben uns doch wohl nicht beide aufgefressen?“
„Nein, noch haben sie uns nicht aufgefressen. Wir sind bei mir. Im Iglo. In meinem Iglo, Stole.“
„Im Iglo? Was sagtest du, Tomić, wo wir sind?“
„In einem Eskimohaus. In deinem Wagen, den das Eis zugedeckt hat. Hörst du? Hörst du sie draußen heulen, scharren und rennen?“
Tatsächlich, auch hier unten unter dem Eisdach hörte man, wie ihre Pfoten im Lauf über das Eis kratzten und wie sie in einem fort vorbeizogen, wie ein strömender Fluß. Irgendwo über den Köpfen der beiden vermischten sich die Aufschreie und Heultöne, mit denen die Rudel sich gegenseitig den Sieg zuriefen und das bevorstehende Siegesmahl ankündigten.
„Ich hatte, erinnerst du dich, eine schlechte, feuchte Wohnung. Eine vollkommen schlechte Kellerwohnung. Aber auch aus ihr hat das Eis mich vertrieben. Ich erinnerte mich deines verschütteten Wagens, grub mich zu ihm durch und sah, daß es drinnen, unter dem Schnee, viel wärmer und angenehmer war als draußen. Die Eskimos hatten recht! Und dieser Iglo hier ist sogar mit Leder gepolstert, hat ein Dach, Tür und Fenster. Nur die Beleuchtung ist kaputt. Hast du dich etwas erholt? Ist dir jetzt besser?“
„Mir ist besser. Hier werden sie uns hoffentlich nicht finden?“
„Die Wölfe? Nein, hier herein können sie nicht.“
„Die Boten. Mich haben sie heut morgen schon gesucht. Als überflüssig und unbrauchbar.“
„Nein, auch die finden uns hier nicht. Hörst du, was da droben los ist? Morgen wird es auch keine Boten mehr geben.“
„Und heut nacht? Werden wir zwei hier nicht erfrieren über Nacht?“
„Nein – wir werden einer den anderen wärmen. Mit dem eigenen Hauch. Tief, aus voller Brust und vollem Herzen. Komm näher, daß ich dich umarme.“
Und so machten sie’s. Sie zogen einer den anderen an sich, umarmten sich, schmiegten sich aneinander, hauchten sich gegenseitig in die erstarrten Hände. Und der Freund fühlte, wie vom Hauch des Freundes seine Finger wärmer wurden und wie ihm davon überall, überall wärmer wurde. Wärmer und heller ums Herz. Draußen, über ihren Köpfen, tobte ein Sturm. Der Nordwind pfiff und wirbelte den Schnee. Mit diesem Pfeifen vermischten sich die wütenden Schreie der Wölfe, die da oben, über den Köpfen der Freunde, ihren blutigen, bacchanalischen Kolo tanzten. Der Polarfrost zog an; es knackten davon und erloschen selbst die Sterne am Himmel, aber die beiden da unten in ihrem Versteck, umarmt, Brust an Brust, Kopf an Kopf, bliesen sich gegenseitig in die Hände und, noch zitternd vor Angst und Kälte, wärmte und schützte einer den anderen vor Frost und Eis.