30
Der Frühling hatte das Land rings um Bradbury Hall mit einer Überfülle von Blumen geschmückt. Sie blühten in allen Gärten und säumten alle Wege. Elise befand sich nun schon sechs Tage in Bradbury und hatte sich immer noch nicht an der Schönheit satt gesehen. Obwohl das Haus nun auch Nikolaus, Justin und die Ritter Sherbourne und Kenneth beherbergte, fand sie allmorgendlich eine Stunde Zeit, um sich ein wenig im Garten zu betätigen. Zu diesem Zweck zog sie stets Röcke, Blusen und geschnürte Mieder an, die der schlichten bäuerlichen Kleidung nachempfunden waren. Breitkrempige Hüte, mit Bändern geschmückt, schützten sie vor der Sonne und zogen bewundernde Blicke auf sie.
Maxim war deutlich anzumerken, wie die Spannungen von ihm wichen und einer unbeschwerten, fröhlichen Stimmung Platz machten. Er genoß die Gesellschaft seiner Gefährten, die liebevolle Aufmerksamkeit seiner Frau und freute sich, wieder in der Heimat zu sein. Sehr häufig unternahm er mit Elise Spaziergänge im Garten, aber auch die übrige Zeit waren sie fast unzertrennlich. Rief ihn die Pflicht von ihrer Seite, beeilte er sich, rasch wieder nach Hause zu kommen. Nie zuvor hatte er diese verzehrende Liebe gefühlt, eine Leidenschaft, ihr seine Liebe zu zeigen.
Es war ein Mittwochmorgen, als ein von einem Vierergespann gezogener Wagen, eskortiert von zwei Reitern, die Auffahrt entlangrollte. Elise war eben dabei, einen Blumenstrauß für das Haus zu pflücken, als das elegante Gefährt vor dem Herrenhaus anhielt. Ein Lakai sprang vom Kutschbock, öffnete den Wagenschlag und half einer alten Dame beim Aussteigen. Sie war weißhaarig, zierlich von Gestalt und stützte sich auf einen Stock. Eine steife, spitzengesäumte Halskrause zierte das dunkelgrüne Gewand, die kecke federgeschmückte Toque saß auf einer anmutigen Frisur. Ihre großen blauen Augen blickten aufmerksam und wach, und als Elise näher kam, sah die Dame ihr neugierig entgegen.
»Ich bin Anne Hall, Countess von Rutherford, und Ihr seid…?«
»Ich bin Elise Seymour, Marquise von Bradbury«, sagte Elise und machte einen Knicks.
Die blauen Augen zwinkerten ihr zu. »Angeblich besitzt Ihr ein Halsband, das mir bekannt sein soll. Darf ich es sehen?«
»Natürlich, Countess«, erwiderte Elise und deutete auf das Portal des Hauses. »Wollt Ihr nicht mit ins Haus kommen?«
»Sehr gern, meine Liebe.«
Elise lief voraus und hielt ihrer Besucherin, die ihr auf den Stock gestützt folgte, die Tür auf. Die alte Dame blieb stehen, lächelte und tat einen Blick in das anmutige Gesicht Elises.
»Meine Liebe, Ihr habt eine angenehme Ausstrahlung. Gewiß ist Euer Gemahl sehr glücklich.«
»Das hoffe ich, Mylady«, gab sie mit einem scheuen Lächeln zurück und errötete sanft.
Die alte Dame tätschelte ihre Hand. »Ich brauche nicht zu fragen, ob Ihr glücklich seid. Man sieht es Euch an.«
»Ja, Mylady.«
»Sag doch Anne zu mir, meine Liebe.« Die Frau deutete mit dem Stock auf die Tür. »Wollen wir hineingehen?«
»Ja, natürlich.« Elise geleitete die Countess ins Haus, wo sie einen Diener anwies, Tee und Erfrischungen zu bringen, ehe sie hinauf in ihr Gemach lief, um das Halsband zu holen. Dabei beeilte sie sich so, daß sie völlig außer Atem war, als sie wieder unten ankam. Als sie der Countess das Halsband über den Handrücken legte, stockte dieser buchstäblich der Atem. Mit zitternden Fingern entnahm sie ihrem Täschchen eine goldgefasste Lupe und begutachtete das juwelengefaßte Miniaturbildchen aus Emaille. Gleich darauf drückte sie das Geschmeide mit beiden Händen an die Brust und richtete den Blick freudestrahlend himmelwärts.
»Endlich!« brachte sie unter Tranen hervor. »Man hat deine Mutter als kleines Kind mit diesem Halsband gefunden?« fragte sie.
»So wurde es mir erzählt«, antwortete Elise. »Sie lag in einem Korb vor der Kapelle auf dem Anwesen der Stamfords.«
»Das Halsband gehörte meiner Tochter«, stammelte Anne bewegt. »Du gleichst meiner Tochter sehr, und ich glaube, daß du die Tochter meines Enkelkindes bist, das uns vor Jahren geraubt wurde.«
Elise strahlte übers ganze Gesicht. »Mein Vater bewahrte ein Porträt meiner Mutter in einem kleinen Landhaus unweit von hier auf«, erzählte sie aufgeregt. »Ich schickte bereits jemanden dorthin, um es zu holen. Er müßte jeden Moment eintreffen. Als mir dein Besuch angekündigt wurde, dachte ich, du würdest gern wissen wollen, wie deine Enkeltochter Deirdre aussah.«
»Ach, so nannte man deine Mutter? Wir tauften sie Catherine.«
»Möchtest du nicht bei uns bleiben?« fragte Elise hoffnungsvoll.
»Ja, ich würde gern eine Weile bleiben«, nahm Anne die Einladung an. »Ich möchte dich gern näher kennenlernen, und das braucht seine Zeit. Es gibt so vieles zu besprechen.«
Schritte nahten, und Elise stand auf. »Mein Mann kommt. Du mußt ihn kennenlernen.«
Anne wies lächelnd auf Maxims Porträt, das an der Wand neben dem Kamin hing. »Keine Frau, die je bei Hofe war, ließe sich die Gelegenheit entgehen, einen gutaussehenden Mann wie Lord Seymour kennen zu lernen. Ich bin noch nicht zu alt, um die Kavaliere zu bewundern, die Elizabeth in ihrem Hofstaat um sich schart. Alle Welt weiß, daß sie einen guten Blick für stattliche Männer hat.«
Maxims Lachen erscholl von der Tür her. »Countess Anne, so begegnen wir einander wieder!«
»Ach, da kommt der Spitzbube, der meine Urenkelin entführt und geheiratet hat«, tadelte sie ihn schmunzelnd. »Was habt Ihr zu Eurer Verteidigung vorzubringen?«
»Ich sage nur, daß mir das Glück sehr hold war. Jetzt weiß ich auch, wem Elise ihre Schönheit zu verdanken hat«, antwortete Maxim.
»Und was unternehmt Ihr, um diese Familientradition fortzusetzen?« fragte Anne mit einem Seitenblick.
Maxim lachte, den Kopf zurückgelegt, worauf Anne Elise prüfend ansah. Ihr verlegenes Erröten verriet Anne, daß ihre Wünsche schon im Begriff waren, sich zu erfüllen…
»Nun, ich habe unbestreitbar eine Vorliebe für Mädchen«, eröffnete die alte Dame dem jungen Paar.
»Einen oder zwei Jungen brauchen wir, damit sie die Mädchen vor den Strolchen schützen, die sie verfolgen werden«, frotzelte Maxim.
Anne stimmte ihm zu. »Ja, einen oder zwei mindestens.«
Elise ließ sich von Maxim umarmen und sah lächelnd zu ihm auf. »Wollen wir diese ehrgeizigen Pläne ausführen, dann mußt du viel zu Hause sein.«
»Genau das ist meine Absicht«, versicherte er.
***
Am nächsten Tag traf Spence mit Deirdres Bildnis ein und brachte es auf Elises Wunsch hinauf in den Vorraum ihrer Suite, denn Elise wollte es über den Kamin hängen. Als Spence sich an die Arbeit machte, kam Maxim staubbedeckt von einem Ritt über seine Ländereien nach Hause. Er wischte sich mit dem Arm über die Stirn und fixierte Spence mit einem so vielsagenden Blick, daß dieser vor dem Kamin stolperte.
»Hast du hier zu tun?« fragte er in einem Ton, der keine Ausflüchte zuließ.
Elise wies den plötzlich unbeholfen wirkenden Spence mit einer Handbewegung hinaus. »Sag den Dienern, sie mögen das Badewasser für Seine Lordschaft herauf schaffen. Lord Seymour wird mir helfen, das Bild aufzuhängen.«
»Sehr wohl, Mistreß.« Damit war Spence draußen.
»Du Unmensch«, schalt Elise ihn gut gelaunt. »Ich glaube, du genießt es richtig, mit deinem unheilvollen Blick alle das Fürchten zu lehren.«
»Nun, es ist eine Möglichkeit, die Leute loszuwerden, wenn ich anderes im Sinn habe.«
»Zum Beispiel?«
»Das weißt du sehr gut.« Sein glühender Blick erregte sie. »Hast du Einwände, mein Liebes?«
»Keineswegs, Mylord«, sagte Elise und küßte ihn. Dann machte sie ihn auf das verhüllte Bild aufmerksam. »Könntest du einen Augenblick mit deinem Bad warten? Ich möchte das Bild meiner Mutter aufhängen, ehe ich Anne einlade, es anzusehen.«
»Erst möchte ich mich ein wenig säubern«, erwiderte er.
Als sie zustimmend lächelte und sich entfernte, streifte Maxim Lederkoller und Hemd ab und warf die Kleidungsstücke von sich, ehe er ins Schlafgemach ging. Dort goß er Wasser in ein Becken und wusch sich Gesicht, Nacken und Arme. Als er hinter sich nach einem Handtuch griff, spürte er, wie Elise neben ihn trat. Er drehte sich zu ihr um, und sie schickte sich an, ihm Gesicht und Schultern zu trocknen. Ihre Lippen folgten dem Handtuch und bedeckten seine Haut mit warmen, zärtlichen Küssen. Sein Blick suchte ihre Augen und entdeckte darin die Glut der Leidenschaft. Einer anderen Einladung bedurfte er nicht. Er zog Elise an sich und küßte sie leidenschaftlich auf den Mund. Die steifen Rippen ihres Mieders widersetzten sich seinen suchenden Händen; spitzbübisch grinsend hob er die Fülle ihrer Röcke an und umfasste ihre bloßen Rundungen, um Elise hochzuheben und rittlings auf sich zu setzen.
»Gleich kommt dein Badewasser«, flüsterte Elise atemlos.
»Ja, ich weiß«, seufzte Maxim und sah sie mit einem einladenden Lächeln an. »Wollt Ihr das Bad mit mir teilen, Mylady?«
»Das wäre eine Möglichkeit, Mylord«, meinte sie verheißungsvoll.
Elises Lippen teilten sich unter seinem Kuß, und es dauerte eine Weile, bis sie sich voneinander losmachten und in den Vorraum zurückgingen. Während Maxim die Stelle über dem Kamin vorbereitete, entfernte Elise vorsichtig die Hülle. Ihre Augen weiteten sich erstaunt, als sie ein Bündel zusammengerollter Pergamente sah, die an der Bildrückseite befestigt waren.
»Was mag das sein?« murmelte sie, auf eine Polsterbank sinkend, und streifte das Band ab, das die Pergamentbögen zusammenhielt.
Maxim trat hinter sie und blätterte, über ihre Schulter gebeugt, die Pergamentbögen durch. Neugierig nahm er ihr die Dokumente ab, um sie sorgfältiger zu studieren, wobei ihm sofort auffiel, daß jeder Bogen sich auf einen speziellen Besitzteil der Radbornes bezog. »Elise, hast du eine Ahnung, was das ist?«
»Ich habe diese Schriftstücke noch nie in meinem Leben gesehen. Was soll das sein?«
Er ließ die Blätter auf ihren Schoß fallen, ehe er sich neben sie auf die Bank setzte. »Nun, meine Liebste, diese Dokumente berechtigen dich, den gesamten Besitz deines Vaters zu erben.«
»Cassandra und ihre Söhne haben auf der Suche nach dem Testament alles auf den Kopf gestellt«, entgegnete Elise fassungslos.
»Haben sie auch das Haus durchsucht, wo das Bild deiner Mutter war?«
»Von diesem kleinen Landhaus wissen sie gar nichts. Mein Vater wollte es so.«
»Deshalb hat er die Schriftstücke dort versteckt. Vermutlich hielt er dieses Versteck für das sicherste.«
»Aber warum gab er mir keinen Hinweis?«
»Bist du sicher, daß er dir keinen gab?«
Elise blickte ihn nachdenklich an. Ihr war eingefallen, daß ihr Vater sie gedrängt hatte, nach seinem Tod das Haus aufzusuchen und das Bild zu holen. »Vielleicht gab er mir einen Wink, ohne daß ich es merkte. Bist du sicher, daß es wichtige Dokumente sind?«
»Ja, ganz sicher. Ob dein Vater noch am Leben ist, weiß ich nicht, aber diese Dokumente machen dich zweifellos zur Alleinerbin. Sie sind von der Königin persönlich unterzeichnet und geben Ramsey Radbornes Gesuch statt, dich als Erbin einzusetzen, für den Fall, daß ihm in Ausführung seiner Pflichten etwas zustößt. Sicher hatte Walsingham dabei seine Hand im Spiel, da dein Vater direkt für ihn tätig war.«
»Es ist also wahr«, stellte Elise benommen fest, erstaunt über die Art und Weise, wie ihr Vater die Dokumente gesichert hatte. Er war vor Cassandra mehr auf der Hut gewesen, als sie geahnt hatte.
»Hier, sieh an«, sagte Maxim und deutete mit dem Finger auf eines der Pergamentblätter. »Hier steht, daß dein Vater zur Zeit seines Verschwindens noch im Besitz aller seiner Güter war: ein Haus in Bath, ein Palais in London, dazu die Ländereien, auf denen er das Haus baute, in dem er das Bild verbarg.«
»Aber was verkaufte dann mein Vater in den Stilliards? Es hieß, er habe Truhen voller Gold hingeschafft. Das behauptete auch Edward.«
»Ich wäre da nicht so sicher, meine Liebe. Walsingham wußte, was dein Vater vorhatte. Und jetzt ist klar, daß dein Vater dich versorgt wissen wollte. Er hat dies durchgesetzt, indem er das Einverständnis der Königin einholte.« Er legte seine Hand auf ihren Bauch. »Ich würde für meine Tochter nicht weniger tun.«
Elise drückte ihre Wange an seinen Arm. »Maxim, mein Leben ist dreifach gesegnet«, sagte sie nachdenklich. »Der erste Segen war mein Vater, jetzt ist Anne gekommen, am teuersten aber ist mir mein Mann. Wenn die Zukunft noch mehr solcher Freuden für mich bereithält, will ich gern jedem Tag entgegensehen, der noch kommen mag.«
***
Am Freitag darauf erreichte Maxim die königliche Aufforderung, bei Hofe zu erscheinen. Eine der Hofdamen war am Fuße einer langen Treppe tot aufgefunden worden. Unfallzeugen gab es keine, dafür aber Druckstellen an der Kehle. Weinende Zofen hatten preisgegeben, daß ihre Herrin, die dreiundvierzig Jahre alt war, sich in den vergangenen Monaten wiederholt heimlich mit einem Liebhaber getroffen hatte.
Außerdem wurde Maxim berichtet, daß im Kerker zu Newgate Hillert einem Anschlag zum Opfer gefallen war. Man hatte ihn in den frühen Morgenstunden mit durchschnittener Kehle aufgefunden. Niemand wußte, wer der Täter war, da alle Häftlinge zusammen in einer Zelle saßen und ihre Unschuld beteuerten. Darunter waren einige, die über Geld verfügten und die Wachen bestechen konnten. Es wurde gemunkelt, daß ein reicher Anwalt, dessen Namen niemand zu nennen wußte, einen Dieb im Kerker besucht hatte, um ihm von der Erbschaft eines reichen Onkels Mitteilung zu machen. Es hieß, die hinterlassene Summe sei kurz nach Hillerts Ermordung ausbezahlt worden.
Elise blieb in Bradbury zurück, da sie glaubte, Maxim werde in Kürze wieder daheim sein. Anne war ihr in seiner Abwesenheit ein echter Trost, denn zwischen den beiden Frauen war über familiäre Bindungen hinaus eine herzliche Freundschaft entstanden.
Nikolaus, Kenneth und die zwei anderen Gästen brachen drei Tage nach Maxim auf. Sie verließen Bradbury Hall mit verschiedenen Zielen. Nikolaus und Justin kehrten zum Schiff zurück, um das Verladen der neuen Fracht zu überwachen, während Kenneth und Sherbourne ihren Heimatorten in der Nähe von London zustrebten. Vor dem Abschied versprachen sie Elise, jederzeit zur Stelle zu sein, falls sie gebraucht würden. Ein wenig traurig winkte sie ihnen nach, da sie wußte, daß sie Nikolaus und Justin nun für längere Zeit nicht wieder sehen würde.
In deren Abwesenheit verbrachte Elise mit Anne viel Zeit im Garten. Die beiden lachten und schwatzten, tauschten ihre innersten Gedanken aus oder plauderten müßig vom Wetter und von anderen Belanglosigkeiten.
Es war am frühen Nachmittag des vierten Tages nach Maxims Abschied, als Elise eine Gartenschere in einen Korb tat und mit Anne hinunter in den Garten ging, um vertrocknete Zweige und verblühte Blumen abzuschneiden. Nach einer Stunde machte sie eine Pause, legte Hut und Handschuhe ab und setzte sich mit der alten Dame zum Tee an einen Gartentisch. Ihre angeregte Unterhaltung wurde plötzlich von einem leisen Winseln gestört.
»Merkwürdig, das hört sich an wie ein Hund«, bemerkte Anne, ihre schmale Hand ans Ohr haltend. »Was hat ein Hund hier zu suchen?«
»Ich weiß es nicht. Es hörte sich an, als käme es von dem Irrgarten unten am Weiher.« Elise stand auf und legte die Serviette beiseite. »Ich gehe und sehe nach.«
»Nimm deine Schere mit«, riet Anne ihr. »Das arme kleine Ding hat sich vielleicht im Dickicht verfangen.«
Mit der Gartenschere in der Schürzentasche schlüpfte Elise durch die zu bizarren Formen zurechtgestutzte Hecke, die den Garten begrenzte. Das ängstliche Winseln führte sie über eine große Rasenfläche, und als sie sich der Stelle näherte, an der die dichten Sträucher in Form eines Irrgartens gepflanzt worden waren, schien der Hund schon in unmittelbarer Nähe.
Elise beschritt nun einen langen, schmalen, beidseits von hohen Hecken gesäumten Weg, und am Ende dieses Laubganges saß kläffend und winselnd ein Hündchen. Kaum hatte das Tier sie bemerkt, sprang es auf und wollte auf sie zulaufen, wurde aber ruckartig von einer Leine, die an seinem Halsband befestigt war, zurückgehalten. Elise bückte sich, um das Tier zu befreien. Dabei bemerkte sie, daß die Leine absichtlich an einem dicken grünen Zweig in Bodennähe festgemacht worden war. Verwundert runzelte sie die Stirn, weil sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, aus welchem Grund jemand hier einen Hund festgebunden hatte.
»Du hast Tiere ja immer schon gemocht«, hörte Elise plötzlich hinter sich eine Stimme sagen.
Entsetzt fuhr sie herum und richtete sich auf… »Forsworth!«
»Sieh an, ist das nicht Kusine Elise?« höhnte er. »Und so weit weg vom Haus! Ich hätte gedacht, dein Mann würde um sein Anwesen eine hohe Steinmauer errichten, um dich zu schützen.«
Elise vergeudete keine kostbare Zeit mit Worten, denn ihr war sofort klar, in welcher Gefahr sie schwebte. Sie wandte sich zur Flucht, stolperte aber über den Hund, der an ihr hochsprang.
Forsworth war gleich bei ihr, packte ihren Arm und drehte sie zu sich herum. Wütend bleckte er die Zähne, als er ihr mit dem Handrücken heftig auf die Wange schlug. »Du Biest, du entkommst mir nicht mehr!« Elise war von dem Schlag wie benommen, ehe sie wieder klar denken konnte. Voll Abscheu sah sie zu ihm auf, während sie mit zitternder Hand über ihre blutige Lippe fuhr. Ein zufälliges Treffen war dies nicht. Forsworth hatte sie mit Absicht vom Haus fortgelockt. Nach dem Zustand seiner staubbedeckten Kleider und Stiefel zu schließen, hatte er einen weiten Ritt hinter sich.
»Was willst du von mir, Forsworth?« fragte sie kalt.
Sein Mund verzog sich zu einem selbstgefälligen Lächeln. »Aber Elise, wie kannst du so rasch vergessen?« fragte er in gespieltem Erstaunen. »Ich will von dir nur wissen, wo der Schatz verborgen ist.«
»Wie oft muß ich es dir noch sagen?« sagte sie zähneknirschend. »Ich weiß nicht, wo der Schatz ist. Mein Vater hat mir das Versteck nie verraten. Vielleicht gibt es diesen Schatz gar nicht.«
»Also wieder das alte Spiel. Du und ich. Wortwechsel und Kämpfe«, seufzte er unwillig. »Aber diesmal wird es für dich nicht so leicht werden. Ich bin nicht mehr so nachsichtig wie früher.«
»Nachsichtig? Daß ich nicht lache! Du Schlange! Wenn du aus deinem schleimigen Nest kriechst, muß man auf der Hut sein!«
»Schlange?« kläffte er. »Na, dir werde ich es zeigen!« Seine langen Finger schlossen sich um ihren Oberarm, und er fing an, wie ein Rasender auf sie einzuschlagen. Das Hündchen verzog sich ängstlich im Gebüsch. Elise kämpfte, um unter den brutalen Schlägen nicht das Bewußtsein zu verlieren. Sie schmeckte Blut und biss die Zähne gegen die Schläge zusammen, aber lang würde sie nicht mehr standhalten. Verzweifelt umklammerte sie die Gartenschere in ihrer Schürzentasche und stieß sie in den Arm, der sie umfasst hielt. Mit einem gellenden Aufschrei taumelte Forsworth rücklings. Er hielt seinen Arm fest, den Blick entsetzt auf die Schere gerichtet, die aus seinem Hemd ragte. Ein sich langsam vergrößernder roter Fleck verfärbte das Leinen. Schließlich faßte er die Schere und zog sie mit einem erneuten Schmerzensschrei heraus.
Elise wußte, daß nur Schnelligkeit sie retten konnte, und war auch schon, ihre Röcke hochraffend, auf der Flucht, hinter sich die schweren Schritte ihres Widersachers. Wäre er nicht durch seine Verletzung behindert gewesen, er hätte sie sofort eingeholt. Sie flitzte um eine Ecke und prallte plötzlich gegen eine große, kräftige Gestalt, die ihr den Weg versperrte. In panischer Angst schrie sie auf und schlug blindlings auf den Mann ein, der sie festhielt, während sie Forsworths Keuchen näher kommen hörte.
»Elise?«
Auch diesmal erkannte sie die Stimme, und als sie mit einem Ruck aufblickte, sah sie Quentins Gesicht knapp über sich.
»Was geht hier vor?« fragte er, den Blick auf ihre blutende Wange gerichtet.
»Lass sie los!« befahl Forsworth barsch und packte ihren Arm. »Sie gehört mir!«
Quentin schlug seinem Bruder auf den Unterarm und stellte sich schützend vor Elise. Als Forsworth nach ihr greifen wollte, stieß ihn Quentin weg. »Zurück!« brüllte er. »Du wirst sie nicht mehr anfassen!«
»Ich werde sie zermalmen!« heulte sein jüngerer Bruder. »Von dieser Furie mußte ich mir schon genug gefallen lassen!« Damit reckte er den Arm vor, um seine Wunde zu zeigen, und bespritzte Quentins Samtwams mit Blut. »Sieh, was sie mir angetan hat!«
Quentin verzog beim Anblick des Blutes, das sein Wams befleckte, angewidert den Mund und wischte es ab. »Wenn ich mir Elises Gesicht ansehe, weiß ich, daß du es verdient hast«, sagte er kühl. »Man kann es ihr nicht verübeln, daß sie sich verteidigt. Du benimmst dich wie ein Vieh.«
Forsworth holte mit der Faust aus, doch Quentin ließ mit einer flinken Handbewegung einen Dolch aufblitzen und richtete die Spitze gegen Forsworths Lederkoller.
»Forsworth, denk an dein Leben«, warnte er ihn. »Wenn hier und jetzt noch mehr von deinem Blut vergossen wird, dann ist es deine Schuld.«
»Überlässt du sie mir?«
»Elise steht jetzt unter meinem Schutz, und wenn du sie mit Gewalt an dich reißen willst, dann schlitze ich dir den Leib auf, das schwör' ich dir.«
»Du Verräter!« stieß Forsworth hervor und wich unter wüsten Beschimpfungen zurück. »Lass dir gesagt sein, ich komme zurück und hole sie mir, Bruderherz!«
»Wie du willst. Ich kann es verschmerzen. Im übrigen war ich immer der Meinung, wir wären nur Halbbrüder«, spottete Quentin.
»Was soll das heißen?« brauste Forsworth auf.
»Es heißt, daß ich dich für einen Bankert halte, Forsworth, für einen Bastard, der mit Bardolf Radborne nicht eines Blutes ist«, bemerkte Quentin. »Ich hatte immer schon das Gefühl, daß du deinen langsamen Verstand irgendeinem Einfaltspinsel zu verdanken hast. Daß mein Vater ein kluger Kopf war, wissen wir beide.«
»Warum hat er sich dann vergiften lassen, wenn er so klug war?« höhnte Forsworth.
»Was meinst du damit?« Drohend ging Quentin auf ihn zu.
Forsworth grinste bösartig und deutete auf Elise. »Frag sie doch.«
Quentin drehte langsam den Kopf, bis er seine Kusine über die Schulter hinweg ansehen konnte. »Was redet er da?«
Elise rang verzweifelt die Hände, da sie wußte, daß Quentin von seinem Vater eine sehr hohe Meinung hatte.
»Los, sprich!«
Sein herrischer Ton ließ sie zusammenfahren. »Vor langer Zeit wurde in meinem Vaterhaus gemunkelt, daß Cassandra meine Mutter und deinen Vater vergiftete«, kam es zögernd über ihre Lippen.
»Diese Bestie! Ich bringe sie um!«
Forsworth lachte wie von Sinnen, bis Quentin ihn vorne am Lederwams so heftig packte, daß er fast umkippte. Quentin schüttelte seinen Bruder, daß ihm die Zähne aufeinander schlugen.
»Du Bastard, wenn du nicht aufhörst zu grinsen, dann schleife ich dich mit dem Gesicht nach unten den ganzen Weg entlang. Und jetzt verschwinde!«
Verächtlich schnaubend zog sich Forsworth zurück, bestieg sein Pferd und sprengte, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, davon.
Elise atmete auf. Als Quentin sich ihr zuwandte, verriet sein schmerzlicher Blick, wie tief er verletzt war. »Die Sache mit Cassandra und Onkel Bardolf bedaure ich sehr«, versuchte sie ihn zu trösten.
»Ich hätte es mir denken können«, seufzte er schon etwas gefasster. »Zuweilen wünschte ich, sie wäre nicht meine Mutter.«
Elise legte sanft die Hand auf seinen Arm. »Ich danke dir, daß du zur Stelle warst«, murmelte sie, von echter Dankbarkeit erfüllt.
Quentin verbeugte sich vor ihr. »Madame, es war mir ein Vergnügen.«
»Aber wie kommt es, daß du hier bist?« wollte sie wissen. »Wie hast du mich gefunden?«
»Im Haus erfuhr ich, daß du im Garten bist. Und als ich mich auf die Suche machte, hörte ich das Hundegebell.« Quentins Lächeln verschwand. »Ich kam, um dir zu sagen, daß ich dahinter gekommen bin, wo dein Vater gefangen gehalten wird«, erklärte er ernst.
»Wo?« kam es tonlos von ihren Lippen.
»Der Weg läßt sich nur schwer erklären, du mußt mit mir kommen.«
»Maxim ist nicht da, und ich habe ihm hoch und heilig versprochen, das Haus nur in Begleitung zu verlassen«, wandte Elise ein.
»Gerüchten zufolge planen die Entführer, Ramsey fortzuschaffen, vielleicht sogar wieder außer Landes zu bringen. Die Zeit läuft gegen uns. Er könnte jetzt schon unterwegs zu einem wartenden Schiff sein. Wenn du dich damit aufhältst, dir eine Eskorte zu sichern, könnte es zu spät sein. Ich habe Lord Seymour nach London eine Nachricht geschickt und ihn von allem unterrichtet.«
»Aber woher soll Maxim wissen, wo ich bin, wenn ich jetzt mit dir gehe?«
»Er kennt die Gegend so genau, daß er den vereinbarten Ort finden wird. Den Rest des Weges kann ich ihn führen.«
»Aber was nützt meinem Vater mein Kommen? Wie könnte ich ihm helfen?«
»Du könntest seinen Entführern sagen, daß der Schatz schon unterwegs ist, daß dein Gemahl ihn bringen wird, um deinen Vater loszukaufen.«
Elise verspürte ein sonderbares Kribbeln im Nacken. Von weitem vernahm sie Annes Stimme, die sie rief. Argwöhnisch fragte sie: »Warum sollte Maxim den Schatz herbeischaffen?«
»Angeblich soll er wissen, wo sich der Schatz befindet. Es erscheint mir nur recht und billig, daß er Ramsey damit loskauft.«
Elise wurde von heftigen Zweifeln befallen. Wie kam es, daß Quentin dies alles wußte? Woher hatte er die Kenntnisse über Maxim und den Schatz, wenn nicht von einer der Hofdamen?
»Anne ruft mich. Ich muß zu ihr.« Mit Bedacht entfernte sie sich ganz langsam, Schritt für Schritt, von Quentin. »Außerdem muß ich mich umziehen und mein Pferd satteln lassen. Wir treffen uns vor dem Haus.«
Quentin folgte ihr auf dem Fuße. »Elise, ich nahm mir die Freiheit, deine Stute bereits satteln zu lassen. Sie steht drüben bei meinem Pferd. Du mußt augenblicklich mitkommen.«
»Nein, Quentin, erst muß ich mich umziehen«, beharrte sie und zwang sich, das Beben in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Anne wird sich meinetwegen Sorgen machen.«
Da spürte sie seine feste Hand auf ihrer Schulter. Das Herz schlug ihr bis zum Halse. »Elise, ich muß darauf bestehen, daß du auf der Stelle mitkommst.«
Da fing sie zu laufen an, ganz plötzlich, so daß Quentin im ersten Moment verdutzt stehen blieb. Als er erfasste, daß sie ihm entwischen wollte, fluchte er halblaut vor sich hin und setzte Elise nach. Er hatte sie rasch erreicht. Ihr den Mund zuhaltend, flüsterte er ihr ins Ohr: »Elise, ob du dich nun wehrst oder nicht, du kommst mit mir. Du muß deinen Vater zur Vernunft bringen. Er zeigt sich halsstarriger, als für ihn zuträglich ist.«
Ihre Antwort wurde von seiner Hand erstickt. Wieder setzte sie sich mit aller Kraft gegen ihn zur Wehr. Ihr war jetzt klar, daß Quentin der verhasste Entführer war. Sie hatte ihm echte Zuneigung entgegengebracht und konnte sich jetzt nicht genug wundern, wie gründlich sie sich hatte täuschen lassen.