Baby, du warst fabelhaft
 
(Kate Wilhelm)

 

 

John Lewisohn dachte, daß ihm, wenn jetzt noch eine Tür zuschlug oder noch eine Klingel läutete oder noch eine Stimme fragte, wie er sich fühle, der Kopf zerspringen würde. Er verließ seine Laboratorien, ging durch den gekachelten Flur zum Aufzug, der weit aufglitt, um ihn lautlos hinein zu lassen, wurde sanft zwei Stockwerke tiefer getragen, wo die Korridore nicht mehr ausgelegt waren. An der Tür, die er aufstieß, war ein sachliches Schild ›Teststudio‹. Drinnen winkten ihn drei Mädchen, die genau wußten, daß es klüger war, ihn nicht anzureden, wenn er sie nicht anredete, durch den Empfangsraum. Sie waren überrascht, ihn zu sehen; es war sein erster Besuch seit sieben oder acht Monaten. Der Innenraum, in dem er stehenblieb, war verdunkelt, schien auf den ersten Blick leer zu sein, enthüllte einen anderen Anwesenden erst, nachdem seine Augen Zeit gehabt hatten, sich an die trübe Beleuchtung zu gewöhnen.

John setzte sich, immer noch wortlos, in den Sessel neben Herb Javits. Herb trug den Helm und starrte auf einen breiten Bildschirm, der in Wirklichkeit eine EinRichtungs-Glasscheibe war, durch die er der im Nebenraum stattfindenden Probe zuschauen konnte. John stülpte sich ebenfalls einen Helm über den Kopf. Der Helm paßte genau und stellte sofort den Kontakt mit den acht präparierten Punkten seines Schädels her. Sobald er ihn angeschaltet hatte, war der Helm als solcher vergessen.

Ein Mädchen war in den Nebenraum getreten. Sie war atemberaubend hübsch, eine langbeinige Honigblondine mit schrägen grünen Augen und Aprikosenhaut. Der Raum war wie ein Wohnzimmer eingerichtet: zwei Couches, einige Stühle, Regale und ein Kaffeetisch, alles geschmackvoll und leblos, wie ein Bild in einem Möbelprospekt. Das Mädchen blieb in der Tür stehen, und John fühlte ihre stark mit Nervosität und Angst vermischte Unschlüssigkeit. Nach außen hin wirkte sie gelassen und erwartungsvoll, ihr glattes Gesicht verriet keines ihrer Gefühle. Sie machte einen zögernden Schritt hinüber zur Couch, und ein Draht wurde sichtbar, der hinter ihr herschleifte. Er war an ihrem Kopf befestigt. Gleichzeitig öffnete sich eine zweite Tür. Ein junger Mann stürmte herein und knallte die Tür hinter sich zu; er wirkte wild und besessen.Das Mädchen empfand Überraschung, wachsende Nervosität; sie tastete hinter sich nach der Klinke, fand sie und versuchte sie niederzudrücken. Abgeschlossen. John konnte nicht hören, was im Zimmer gesprochen wurde; er fühlte nur die Reaktion des Mädchens auf diesen unerwarteten Zwischenfall. Der Mann mit rollenden Augen näherte sich ihr, fuchtelte mit den Händen in der Luft, warf funkelnde Blicke um sich. Plötzlich stürzte er sich auf sie, zog sie an sich, küßte ungestüm ihr Gesicht und ihren Hals. Einige Sekunden war sie vor Furcht wie gelähmt, dann kam etwas anderes hinzu, eine völlige Gefühlsleere, wie sie manchmal die Langeweile begleitet, oder allzu vollkommene Selbstsicherheit. Als die Hände des Mannes ihre Bluse im Rücken packten und zerrissen, schlang sie ihre Arme um ihn, und ihr Gesicht zeigte Leidenschaft, die sie nirgends, nicht in ihrem Gemüt und nicht in ihrem Blut, empfand.

»Cut!« sagte Herb ruhig.

Der Mann wich zurück und ließ das Mädchen wortlos stehen. Sie schaute sich verstört um, ihre zerfetzte Bluse hing ihr um die Hüften, ein Träger war gerissen. Sie war sehr schön. Der Probeleiter kam herein, gefolgt von einem Garderobier mit einem Kleid, das er ihr über die Schultern warf. Sie sah bestürzt aus; ärgerliche Aufwallungen steigerten sich zu Wut, als sie aus dem Raum gezogen wurde, der leer zurückblieb. Die beiden Zuschauer setzten ihre Helme ab.

»Die vierte bisher«, brummte Herb. »Gestern sechzehn; vorgestern zwanzig … Alle nichts.« Er warf John einen seltsamen Blick zu. »Was hat dich aus deinem Labor vertrieben?«

»Anne hat es diesmal erwischt«, sagte John. »Die ganze Nacht und den ganzen Morgen hängt sie am Telefon.«

»Wieso das?«

»Diese verdammten Haie! Ich habe dir ja gesagt, daß das nach dem Flugzeugabsturz vorige Woche einfach zuviel war. Sie kann kaum mehr davon ertragen.«

»Einen Augenblick, Johnny«, sagte Herb. »Bringen wir erst die drei nächsten Mädchen hinter uns, und reden wir dann darüber.« Er drückte auf einen Knopf an seiner Sessellehne, und der Raum hinter dem Bildschirm nahm ihre Aufmerksamkeit wieder in Anspruch.

Diesmal war das Mädchen nicht ganz so schön, kleiner, eine Brünette mit Grübchen, lachenden blauen Augen und Stupsnase. John mochte sie. Er rückte seinen Helm zurecht und fühlte mit ihr mit.

Sie war aufgeregt; die Probe regte sie immer auf. Etwas Angst und Nervosität, nicht zuviel. Vermutlich neugierig, wie die Probe ablief. Der junge Mann stürmte ins Zimmer, und ihr Gesicht erbleichte. Sonst änderte sich nichts. Ihre Nervosität nahm zu, nicht unangenehm. Als er sie packte, war das einzige Gefühl, das sie vermittelte, Nervosität.

»Cut«, sagte Herb.

Das nächste Mädchen war ebenfalls eine Brünette mit hinreißend langen Beinen. Sie war sehr kühl, eine echte Profi. Ihr bewegliches Gesicht spiegelte die Skala der zu erwartenden Gefühle wider, während die Szene durchgespielt wurde, aber in ihr regte sich nichts. Sie war von all dem Millionen Meilen weit entfernt.

Die nächste nahm John auf Anhieb gefangen. Sie trat langsam in das Zimmer, schaute sich neugierig um, nervös wie alle. Sie war jünger als die anderen Mädchen, weniger gefaßt. Sie hatte mattgoldenes Haar, das sich in kunstvollen Wellen auf ihrem Kopf türmte. Ihre Augen waren braun, ihre Haut hübsch getönt. Als der Mann hereinstürmte, verwandelte sich ihr Gefühl schnell in Angst, dann in Entsetzen. John wußte nicht, wann er die Augen schloß. Er war das Mädchen, von unsäglichem Entsetzen erfüllt; sein Herz hämmerte, Adrenalin pumpte durch seinen Körper; er wollte schreien, konnte aber nicht. Aus den dunklen unergründlichen Tiefen seiner Psyche wallte etwas anderes auf, das sich mit dem Entsetzen so vermischte, daß beides emporstieg und zu einem einzigen Gefühl wurde, das pulsierte und pochte und forderte. Mit einem Ruck öffnete er die Augen und starrte die Scheibe an. Das Mädchen war auf eine der Couches geworfen worden, und der Mann kniete neben ihr auf dem Boden, ließ seine Hände über ihren nackten Körper spielen, preßte das Gesicht gegen ihre Haut.

»Cut!« sagte Herb. Seine Stimme bebte. »Engagiert sie«, sagte er. Der Mann stand auf, betrachtete das nun schluchzende Mädchen, beugte sich rasch vor und küßte sie auf die Wange. Ihr Schluchzen wurde stärker. Ihr goldenes Haar war herabgefallen, rahmte ihr Gesicht ein; sie sah wie ein Kind aus. John riß den Helm herunter. Er schwitzte.

Herb erhob sich, knipste das Licht im Raum an, und die Scheibe verschwand, ging in die Wand über. Er schaute John nicht an. Als er sich das Gesicht abwischte, zitterte seine Hand. Er steckte sie heftig in die Tasche.

»Wann hast du mit diesen Tests angefangen?« fragte John nach einigen Augenblicken des Schweigens.

»Vor ein paar Monaten. Ich habe dir davon erzählt. Zum Teufel, wir mußten es tun, John. Das ist das sechshundertneunzehnte Mädchen, das wir ausprobiert haben. Sechshundertneunzehn! Alles Schwindlerinnen, bis auf diese eine! Hohl vom Hals an aufwärts. Hast du eine Ahnung, wie lange wir gebraucht haben, um das herauszufinden? Für jede einzelne Stunden. Hiermit ist es nur noch eine Frage von Minuten.«

John seufzte. Er wußte es. Ja, er hatte es selbst vorgeschlagen, als er sagte: »Finde eine Grundsituation der Angst für den Test.« Er hatte nicht wissen wollen, was sich Herb ausgedacht hatte.

Er sagte: »Okay, aber sie ist noch ein Kind. Was ist mit ihren Eltern, den Rechten und so weiter?«

»Das regeln wir schon. Mach dir darüber keine Sorgen. Was ist mit Anne?«

»Sie hat mich seit gestern fünfmal angerufen. Die Haie waren zuviel für sie. Sie möchte uns beide heute nachmittag sehen.«

»Du scherzt wohl! Ich kann doch jetzt nicht von hier fort!«

»Quatsch! Ich scherze nicht. Sie sagt, kein Einstöpseln, wenn wir nicht auftauchen. Sie will Pillen nehmen und schlafen, bis wir bei ihr sind.«

»Mein Gott! Das wagt sie nicht!«

»Ich habe Plätze reserviert. Wir fliegen um zwölf fünfunddreißig.« Sie starrten sich einen Augenblick stumm an, dann zuckte Herb die Achseln. Er war ein kleiner Mann, nicht dick, aber kräftig. John war über sechs Fuß groß, muskulös und hatte ein Temperament, das er, wie er wußte, zügeln mußte. Andere hatten den Verdacht, daß bald lauter Leichen herumlägen, wenn er ihm einmal freien Lauf ließe, aber er beherrschte es.

Früher war es ein physischer Akt, eine Anstrengung des Körpers und des Willens gewesen, dieses Temperament zu unterdrücken; jetzt war es etwas so Automatisches, daß er sich nicht einmal an eine Gelegenheit erinnern konnte, bei der es wieder auszubrechen drohte.

»Also, Johnny, wenn wir Anne sehen, so überlaß mir ihre Behandlung. Einverstanden? Ich werde es kurz machen.«

»Was willst du tun?«

»Ich werde ihr eine tüchtige Standpauke halten. Wenn sie anfängt, ihre Launen an mir auszulassen, werde ich sie so in Grund und Boden reden, daß sie eine Woche nicht mehr hochkommt.«

Er grinste. »Sie hat bisher immer ihren Willen durchgesetzt. Sie wußte, daß wir keinen Ersatz für sie hatten, wenn sie zickig wurde. Aber das soll sie jetzt einmal versuchen. Ja, das soll sie nur versuchen.« Herb ging mit raschen, ruckartigen Schritten auf und ab.

John erkannte mit einem Schock, daß er diesen untersetzten Mann mit dem roten Gesicht haßte. Das Gefühl war neu; er schien den Haß, den er empfand, fast schmecken zu können, und der Geschmack war fremd und angenehm.

Herb blieb stehen und starrte ihn kurz an. »Warum hat sie dich angerufen? Warum möchte sie, daß auch du hinkommst? Sie weiß doch, daß du mit dieser Sache nichts zu tun hast.«

»Sie weiß, daß ich dein Partner bin«, sagte John.

»Ja, aber das ist es nicht.« Herb verzerrte sein Gesicht zu einem Grinsen. »Sie glaubt, daß du noch immer scharf auf sie bist, nicht wahr? Sie weiß, daß du ihr einmal verfallen warst, am Anfang, als du sie bearbeitet hast, damit der Trick klappte.« Das Grinsen widerspiegelte keinen Humor mehr. »Hat sie recht, Johnny? Ist es das?«

»Wir haben ein Abkommen getroffen«, sagte John. »Du machst deine Sache, ich mache meine. Sie möchte, daß ich mitkomme, weil sie dir nicht traut oder dir kein Wort mehr glaubt. Sie möchte einen Zeugen haben.«

»Ja, Johnny. Aber vergiß unser Abkommen nicht.« Plötzlich brach Herb in Lachen aus. »Weißt du, wie es war, euch beide zusammen zu sehen? Wie eine Flamme, die versuchte, sich an einen Eiszapfen zu schmiegen.«

Um halb vier waren sie in Annes Suite im Skyline Hotel in Grand Bahama. Herb hatte den Rückflug nach New York um sechs Uhr gebucht. Anne hatte erst um vier Uhr frei, deshalb machten sie es sich in ihren Zimmern gemütlich und warteten. Herb schaltete den Bildschirm ein, reichte John einen Helm, doch der schüttelte den Kopf, und so setzten sie sich beide hin. John betrachtete einige Minuten den Bildschirm, dann stülpte auch er sich einen Helm über.

Anne schaute auf die Wogen weit draußen auf dem Meer, dort wo sie noch lang, grün, gewellt waren; dann holte sie den Blick zurück bis zu den blaugrünen und aufgewühlten Strandbrechern und schließlich zu den Sandbänken, wo sie in Schaum ausliefen, der einem fest genug aussah, um darauf gehen zu können. Sie war friedlich, schaukelte mit dem Boot mit, die heiße Sonne auf dem Rücken, die schwere Angelrute in den Händen. Sie schien ein träges Tier zu sein, das mit seiner Welt in Frieden, in ihr heimisch, mit ihr eins war. Nach wenigen Sekunden legte sie die Angel hin, drehte sich um und sah einen großen lächelnden Mann in Badehose an. Er streckte die Hand aus, und sie nahm sie. Sie gingen in die Kajüte, in der Getränke auf sie warteten. Ihre heitere Gelassenheit und Glückseligkeit brachen jäh ab, wichen schockierter Ungläubigkeit und beginnender Angst.

»Was zum Teufel …?« murmelte John und drehte an dem Lautverstärker. Man brauchte bei Anne den Lautverstärker nur selten.

»… Captain Brothers mußte sie laufen lassen. Schließlich hatten sie noch nichts ausgefressen –«, sagte der Mann trocken.

»Aber warum, meinst du, wollen sie mich berauben?«

»Wer hat denn hier sonst Schmuck im Wert von einer Million Dollar?«

John schaltete aus und sagte: »Du bist ein Narr! Mit so etwas kommst du nicht durch!«

Herb stand auf und ging zur Fensterwand, die Aussicht auf einen Streifen glitzernden blauen Ozeans jenseits der blendendweißen Strände bot. »Du weißt doch, was sich jede Frau wünscht? Etwas zu besitzen, das sich zu stehlen lohnt.« Er kicherte, ein Laut ohne Heiterkeit. »Unter anderem, natürlich. Sie möchten ein- oder zweimal grob angefaßt und in die Knie gezwungen werden … Unser neuer Psychologe ist nicht übel, weißt du. Hat uns bisher noch nicht falsch gesteuert. Vielleicht sträubt sich Anne ein bißchen, aber das gibt sich bald.«

»Sie wird einen echten Diebstahl nicht zulassen.« Er fügte lauter, nachdrücklich hinzu. »Und ich werde es auch nicht zulassen.«

»Wir können ihn ja vortäuschen«, sagte Herb. »Alles, was wir nötig haben, Johnny, ist, die Idee einzutrichtern und das übrige vorzutäuschen.«

John starrte Herbs Rücken an. Er wollte es glauben. Er verlangte danach, es zu glauben. Seine Stimme war ruhig, als er sagte: »So hat es nicht angefangen, Herb. Was ist passiert?«

Herb drehte sich um. Sein Gesicht hob sich dunkel von der Helle hinter ihm ab. »Okay, Johnny, so hat es nicht angefangen. Aber die Dinge überstürzten sich, das war alles. Du hattest dir einen Trick ausgedacht, und alles klang großartig, als wir ihn planten, aber er funktionierte nicht lange. Wir haben ihnen das Gefühl des Glückspiels, des Skilaufenlernens, des Autorennens vermittelt, ja alles, was uns nur einfiel, aber es genügte nicht. Wie oft kann man im Leben den ersten Skisprung machen? Für dich war es großartig, oder etwa nicht? Du hast dir ein funkelnagelneues Labor gekauft und die Tür hinter dir zugemacht. Du hast dir Zeit und Ausrüstung gekauft, und wenn etwas schiefging, konntest du es schießen lassen und von vorne anfangen, und kein Mensch kümmerte sich darum. Aber denke einmal daran, wie es für mich war! Ich muß immer etwas Neues bringen, etwas, das Anne einen Schock versetzt und durch sie all diesen netten braven Leuten, die nicht einmal leben, wenn sie nicht eingestöpselt sind. Glaubst du vielleicht, das sei einfach gewesen? Anne war ein grünes Ding. Für sie war alles neu und aufregend, aber, Boy, das ist es nicht mehr. Du solltest mir lieber glauben, daß es nicht mehr so ist. Du weißt doch, was sie mir letzten Monat gesagt hat? Sie habe die Männer satt. Unsere kleine, hitzige Annie! Die Männer satt!«

John trat zu ihm und riß ihn zum Licht herum. »Warum hast du mir das nicht erzählt?«

»Warum, Johnny? Was hättest du getan, das ich nicht schon getan habe? Ich habe mich eifriger nach dem richtigen Kerl umgesehen. Was würdest du denn tun, um ihr eine neue Sensation zu verschaffen? Ich habe mich dafür abgerackert. Von Anfang an hast du mir gesagt, ich solle dich in Ruhe lassen. Okay. Ich habe dich in Ruhe gelassen. Hast du je irgendeines der Memos gelesen, die ich dir geschickt habe? Du hast dein Zeichen darunter gesetzt. Alles, was getan wurde, haben wir beide unterzeichnet. Also komm’ mir nicht mit diesem ›Warum hast du mir das nicht erzählt?‹ Das zieht nicht!« Sein Gesicht war widerlich rot, und an seinem Hals trat eine Ader hervor. John fragte sich, ob er wohl zu hohen Blutdruck habe, ob er bei einem seiner Wutanfälle einen Herzschlag bekäme.

John ließ ihn beim Fenster stehen. Er hatte die Memoranden gelesen. Herb hatte recht; er wünschte sich nur, in Ruhe gelassen zu werden. Es war seine Idee gewesen; nach zwölfjähriger Laboratoriumsarbeit über Prototypen hatte er Herb Javits seinen – Trick – gezeigt. Herb war damals einer der größten Fernsehproduzenten gewesen; jetzt war er der größte Produzent der Welt.

Der Trick war ganz einfach. Eine Person, in deren Gehirn Elektroden angebracht waren, konnte über sie ihre Gefühle vermitteln, die dann ausgestrahlt und von den Helmen empfangen wurden, so daß das Publikum sie mitempfand. Weder Worte noch Gedanken wurden gesendet, sondern nur Elementargefühle – Angst, Liebe, Wut, Haß … Das in Verbindung mit einer Kamera, die zeigte, was die Person sah, mit einer synchronisierten Stimme, und schon war man die Person, die das Erlebnis hatte, allerdings mit dem wichtigen Unterschied – man konnte abschalten, wenn es einem zuviel wurde. Der ›Darsteller‹ konnte das nicht. Ein einfacher Trick. Man brauchte eigentlich Kamera und Tonband gar nicht; viele Teilnehmer schalteten sie nie ein, sondern ergänzten die Gefühlssendung mit ihrer eigenen Phantasie.

Die Helme wurden nicht verkauft, sondern, nach einer kurzen, mühelosen Anprobe, nur vermietet. Die Jahresmiete betrug fünfzig Dollar, und es gab über siebenunddreißig Millionen Teilnehmer. Herb hatte sein eigenes Netz geschaffen, als die Nachfrage nach mehr Sendezeit ihn aus dem normalen Fernsehen verdrängte. Aus einer einstündigen Show in der Woche wurde eine Stunde jeden Abend, und jetzt waren es täglich acht Stunden Direktübertragung und weitere acht Stunden Aufzeichnungen.

Was als EIN TAG IM LEBEN DER ANNE BEAUMONT begonnen hatte, war nun ein Leben im Leben der Anne Beaumont, und das Publikum war unersättlich.

Anne kam mit ihrem Gefolge herein, das sie Tag für Tag umlagerte – Friseure, Masseure, Schneider, Scriptmen … Sie sah müde aus. Sie schickte die Schar mit einem Wink hinaus, als sie John und Herb erblickte. »Hallo, John«, sagte sie. »Herb.«

»Anne Baby, du siehst fabelhaft aus!« sagte Herb. Er nahm sie in die Arme und küßte sie fest. Sie hielt still, die Hände an den Hüften.

Sie war groß, sehr schlank, hatte weizenblondes Haar und graue Augen. Ihre Backenknochen waren breit und hoch, ihr Mund hart und fast ein wenig zu breit. Gegen ihre rotgoldene Sonnenbräune wirkten ihre Zähne weißer, als John sie in Erinnerung hatte. Obwohl sie zu straff und stark war, um je als hübsch zu gelten, wirkte sie als eine sehr schöne Frau. Nachdem Herb sie losgelassen hatte, wandte sie sich zu John, zögerte einen Augenblick, streckte dann ihre schlanke, sonnengebräunte Hand aus. Sie lag kühl und trocken in seiner Hand.

»Wie ist es dir ergangen, John? Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen.«

Er war heilfroh, daß sie ihn nicht küßte oder Darling nannte. Sie lächelte nur leise und zog ihre Hand sanft aus seiner zurück. Er ging zur Bar, als sie sich Herb zuwandte.

»Ich mache Schluß, Herb.« Ihre Stimme klang allzu ruhig. Sie nahm einen Whisky Sour von John entgegen, ohne Herb aus den Augen zu lassen.

»Was ist denn los, Honey? Ich habe dir gerade zugeschaut, Baby. Du warst heute fabelhaft, wie immer. Du hast es immer noch, Kid. Es kommt an, wie immer.«

»Was ist mit diesem Diebstahl? Du mußt völlig übergeschnappt sein …«

»Tja, das. Hör zu, Anne Baby, ich schwöre dir, daß ich nichts davon weiß. Laughton muß dir das aufgehalst haben. Du weißt doch, daß wir übereingekommen sind, daß du in der restlichen Woche eine schöne Zeit haben sollst, erinnerst du dich? Das kommt auch gut an, Baby. Wenn du eine schöne Zeit hast und dich entspannst, haben siebenunddreißig Millionen Leute ein herrliches Leben und entspannen sich. Das ist gut. Sie können nicht dauernd aufgeputscht werden. Sie lieben die Abwechslung.« Wortlos hielt John ihm ein Glas hin, Scotch mit Wasser. Herb nahm es, ohne hinzusehen.

Anne beobachtete ihn kühl. Plötzlich lachte sie. Es war ein zynischer, bitterer Laut. »Du bist kein verdammter Narr, Herb. Versuche also nicht, dich wie einer zu benehmen.« Sie nippte nochmals an ihrem Getränk und starrte ihn über ihren Brillenrand an. »Ich warne dich, wenn irgend jemand auftaucht, um mich zu berauben, dann behandele ich ihn wie einen richtigen Dieb. Ich habe gestern nach der Sendung einen Revolver gekauft, und ich habe schon mit zehn Jahren schießen gelernt. Ich kann es immer noch. Ich werde ihn töten, Herb, wer immer es ist.«

»Baby«, fing Herb an, aber sie unterbrach ihn.

»Und das ist meine letzte Woche. Am Samstag mache ich Schluß.«

»Das kannst du nicht tun, Anne«, sagte Herb. John musterte ihn scharf, um ein Anzeichen von Schwäche zu entdecken; er fand keins. Herb strahlte Zuversicht aus. »Anne, sieh dir doch dieses Zimmer an, deine Kleider, alles … Du bist die reichste Frau der Welt, hast die schönste Zeit deines Lebens, kannst überall hin, alles tun …«

»Während die ganze Welt mir dabei zuschaut …«

»Na und? Du läßt es doch deswegen nicht bleiben, oder?«

Herb begann mit seinen raschen, ruckartigen Schritten auf und ab zu gehen. »Das wußtest du, als du den Vertrag unterschrieben hast. Du bist ein ungewöhnliches Mädchen, Anne, schön, gefühlvoll, intelligent. Denk an all die Frauen, die nur dich haben. Was sollen sie tun, wenn du sie im Stich läßt? Sterben? Kann sein, weißt du das? Zum erstenmal in ihrem Leben sind sie imstande, das Gefühl zu haben zu leben. Du gibst ihnen das, was ihnen noch nie jemand gegeben hat, was die Bücher und Filme von früher nur andeuteten. Plötzlich wissen sie, was für ein Gefühl es ist, der Gefahr ausgesetzt zu sein, Liebe zu erfahren, zufrieden und erfüllt zu sein. Denk an sie, Anne, die sonst leer sind, die in ihrem Leben nichts außer dir haben, nichts außer dem, was du ihnen zu geben vermagst. Siebenunddreißig Millionen Nieten, Anne, die nur Langeweile und Frustration empfunden haben, bis du ihnen das Leben geschenkt hast. Was haben sie denn? Arbeit, Kinder, Rechnungen! Du hast ihnen die Welt geschenkt, Baby! Ohne dich hätten sie nicht einmal den Wunsch weiterzuleben.«

Sie hörte nicht zu. Fast verträumt sagte sie: »Ich werde mit meinen Rechtsanwälten reden, Herb, und der Vertrag ist bedeutungslos. Du hast ihn schon zigmal gebrochen. Ich habe mich einverstanden erklärt, viel Neues zu lernen. Das habe ich auch getan. Mein Gott! Ich habe Berge bestiegen, Löwen gejagt, Ski-und Wasserskilaufen gelernt, aber jetzt verlangst du, das ich jede Woche ein kleines bißchen sterbe … Dieser Flugzeugabsturz, nicht schlecht, gerade gut genug, um mich zu Tode zu ängstigen. Dann die Haie. Ich glaube wirklich, daß dieses Auftauchen der Haie, während ich Wasserski lief, daß das mir den Rest gab, Herb. Weißt du, du bringst mich um. Dazu kommt es, und das kannst du nicht übertreffen, Herb. Niemals.«

Eine grimmige, abwartende Stille folgte ihren Worten. Nein! schrie John lautlos. Er sah Herb an, der stehengeblieben war, als sie zu reden begann. Etwaszuckte über sein Gesicht – Überraschung, Angst, etwas nicht leicht zu Definierendes. Dann wurde sein Gesicht ausdruckslos, und er setzte sein Glas an die Lippen, kippte den Scotch mit Wasser und stellte das Glas dann auf die Bar. Als er sich umdrehte, lächelte er ungläubig. »Was wurmt dich denn wirklich, Anne? Es hat schon vorher Tricks gegeben. Du hast davon gewußt. Weißt du, diese Löwen erschienen nicht zufällig. Und die Lawine brauchte etwas Nachhilfe. Das weißt du. Was wurmt dich also sonst noch?«

»Ich liebe, Herb.«

Herb fegte das ungehalten weg. »Hast du dir je deine eigene Show angesehen, Anne?« Sie schüttelte den Kopf. »Das habe ich mir gedacht. Du weißt also nichts von der Erweiterung, die vorigen Monat stattfand, als wir einen neuen Sender in deinen Kopf einbauten. Johnny war nicht untätig, Anne. Du kennst diese Wissenschaftler, die nie zufrieden sind, die immer verbessern, verändern. Wo ist die Kamera, Anne? Weißt du je, wo sie jetzt ist? Hast du in den letzten Wochen je eine Kamera oder irgendein Aufnahmegerät gesehen? Das hast du nicht und wirst es nie mehr tun. Du bist auch jetzt eingeschaltet.« Seine Stimme war leise, klang fast belustigt. »Ja, die einzige Zeit, in der du nicht eingeschaltet bist, ist, wenn du schläfst. Ich weiß, daß du liebst. Ich weiß auch, wen du liebst. Ich weiß, welche Gefühle er in dir erweckt. Ich weiß sogar, wieviel Geld er in der Woche verdient. Ich muß das wissen, Anne Baby. Ich bezahle ihn.« Er hatte sich ihr bei jedem Wort weiter genähert, und beim letzten war sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Er hatte keine Möglichkeit, dem klatschenden Schlag auszuweichen, der seinen Kopf herumriß, und ehe sie sich’s versahen, hatte er zurückgeschlagen, so daß sie in einen Sessel sank.

Die Stille wurde haßerfüllt und schwer, als würden Worte geboren und stürben unausgesprochen, weil sie zu brutal waren, als daß der menschliche Geist sie ertragen könnte. Ein Blutfleck war auf Herbs Mund, da wo Annes Diamantring ihn geritzt hatte. Er faßte hin und betrachtete seinen Finger. »Alles wird jetzt aufgenommen, Honey, sogar das«, sagte er. Er kehrte ihr den Rücken und ging zur Bar.

Auf ihrer Wange war ein großer, roter Abdruck. Ihre grauen Augen waren vor Wut schwarz geworden.

»Honey, reg dich ab«, sagte Herb nach einigen Sekunden. »Es macht für dich bei dem, was du tust oder treibst, überhaupt keinen Unterschied. Du weißt, daß wir das meiste Material nicht verwenden können, aber es bietet den Redakteuren eine größere Auswahl. Es kam soweit, daß das interessanteste Material erst aufgenommen wurde, als du schon abgegangen warst. Etwa der Kauf des Revolvers. Das war großartiges Material, Baby. Du hast nichts vertuscht, und alles kam wie reines Gold heraus.« Er beendete das Mixen seines Drinks, probierte ihn und kippte ihn dann zur Hälfte hinunter. »Wie viele Frauen müssen in ein Geschäft gehen und einen Revolver kaufen, um sich selbst zu schützen? Denk an sie alle, die diesen Revolver fühlen, die das fühlen, was du gefühlt hast, als du ihn in die Hand genommen, ihn betrachtet hast …«

»Seit wann nimmst du dauernd auf?« fragte sie. John spürte, wie es ihm kalt über den Rücken lief. Er wußte, was der Miniatursender ausstrahlte, kannte die aufwallenden Gefühle, die sie empfand. Nur eine Spur davon zeigte sich auf ihrem glatten Gesicht, aber die in ihrem Innern wütende Qual wurde getreulich aufgenommen. Ihre ruhige Stimme und ihr ruhiger Körper waren Lügen; die Aufzeichnungen logen nie.

Herb spürte es auch. Er stellte sein Glas hin, trat zu ihr, kniete sich neben dem Sessel hin und nahm ihre Hand in seine beiden Hände. »Anne, sei mir bitte nicht böse. Ich hatte neues Material verzweifelt nötig. Als Johnny mit diesem letzten Trick erschien, und als wir wußten, daß wir vierundzwanzig Stunden aufnehmen konnten, mußten wir es ausprobieren, und es hätte keinen Sinn gehabt, wenn du Bescheid gewußt hättest. So kann man nichts testen. Du wußtest, daß wir den Sender eingebaut haben …«

»Seit wann?«

»Seit einem knappen Monat.«

»Und Stuart? Er ist einer deiner Leute? Er sendet auch? Du hast ihn engagiert, … um mich zu lieben? Stimmt das?«

Herb nickte. Sie riß ihre Hand los und wandte das Gesicht ab. Er stand auf und ging zum Fenster. »Aber was macht es denn für einen Unterschied?« rief er. »Wenn ich euch auf einer Party miteinander bekannt gemacht hätte, hättest du dir nichts dabei gedacht. Was ist denn der Unterschied, daß ich es auf diese Art getan habe? Ich wußte, daß ihr euch gern haben würdet. Er ist brillant wie du, mag die gleichen Dinge wie du. Stammt aus einer armen Familie, wie du … Alles sprach dafür, daß ihr gut miteinander auskommen würdet.«

»O ja«, sagte sie fast geistesabwesend. »Wir kommen gut miteinander aus.« Sie griff sich ins Haar, und ihre Finger tasteten nach den Narben.

»Sie sind schon alle verheilt«, sagte John. Sie sah ihn an, als hätte sie seine Anwesenheit vergessen.

»Ich werde schon einen Chirurgen finden«, sagte sie und stand, die weißen Finger um ihr Glas gekrallt, auf. »Einen Gehirnchirurgen …«

»Es war eine neue Prozedur«, sagte John langsam. »Es wäre gefährlich, sie herauszuoperieren.«

Sie sah ihn lange an. »Gefährlich?«

Er nickte.

»Du könntest sie herausnehmen.«

Er erinnerte sich, wie er zu Beginn ihre Angst vor den Elektroden und Drähten beschwichtigt hatte. Sie hatte die Angst eines Kindes vor dem Unbekannten und Unkenntlichen. Immer wieder hatte er bewiesen, daß sie ihm vertrauen konnte, daß er sie nicht anlog. Er hatte sie damals nicht belogen. In ihren Augen lag nun dasselbe Vertrauen, derselbe Glauben. Sie würde ihm glauben. Sie würde, ohne eine weitere Frage zu stellen, das glauben, was er sagte. Herb hatte ihn als Eiszapfen bezeichnet, aber das war falsch. Ein Eiszapfen wäre in ihrem Feuer geschmolzen. Eher ein Stalaktit, von Jahrhunderten der Zivilisation geformt, Schicht um Schicht, bis er vergessen hatte, wie man sich beugt, wie man sich von den Regungen befreit, die er irgendwo in seinem hohlen, starren Innern verspürte. Sie hatte es versucht und sich, frustriert, von ihm abgewandt, gekränkt, aber dennoch außerstande, einem Menschen später nicht zu vertrauen, den sie einmal geliebt hatte. Jetzt wartete sie. Er konnte sie freilassen und wieder verlieren, diesmal unwiderruflich. Oder er konnte sie halten, solange sie lebte.

Angst und jenes Vertrauen, das er ihr eingeflößt hatte, verdunkelten ihre schönen grauen Augen. Langsam schüttelte er den Kopf.

»Ich kann es nicht«, sagte er. »Keiner kann es.«

»Ich verstehe«, murmelte sie, und Schwärze füllte ihre Augen. »Ich würde sterben, nicht wahr? Dann hättest du eine herrliche Serie, nicht wahr, Herb?« Sie wirbelte herum, weg von John. »Natürlich müßtest du die Handlung fälschen, aber das kannst du ja so gut. Ein Unfall, dringende Gehirnoperation, alles, was ich empfinde, wird den armseligen kleinen Nieten ausgestrahlt, die nie einer Gehirnoperation unterzogen werden. Wirklich ganz ausgezeichnet«, sagte sie bewundernd. Ihre Augen wurden schwarz. »Tatsächlich wirst du, was ich fortan tue, verwenden, nicht wahr? Wenn ich dich umbringe, wird das einfach Material für deine Redakteure sein. Gerichtsverhandlung, Gefängnis, höchst dramatisch … Wenn ich mich andererseits umbringe …«

John fröstelte; ein kaltes hartes Gewicht schien ihn auszufüllen. Herb lachte. »Ja, die Handlung wird etwa so sein«, sagte er. »Anne hat sich in einen Fremden verliebt, liebt ihn tief und aufrichtig. Jeder weiß, wie tief diese Liebe ist, auch sie haben sie empfunden, weißt du? Sie ertappt ihn dabei, wie er ein Kind, ein reizendes halbwüchsiges Mädchen vergewaltigt. Stuart sagt ihr, daß es zwischen ihnen aus sei. Er liebe die kleine Nymphe. In einem Anfall der Leidenschaft bringt sie sich um. Du sendest augenblicklich einen wahren Sturm der Leidenschaft, wie, Honey? Laß nur, wenn ich mir diese Szene vorspielen lasse, werde ich es feststellen.« Sie warf ihr Glas nach ihm, Eiswürfel und Orangenscheiben flogen durch das Zimmer, Herb duckte sich grinsend.

»Das ist großartig, Baby. Zwar etwas pikant, aber davon können sie gar nicht genug kriegen, nicht wahr? Sie werden hellbegeistert davon sein, wenn sie den Schock über deinen Verlust überwunden haben. Und sie werden ihn überwinden, weißt du? Das tun sie immer. Ich frage mich, ob das auch stimmt, was da angeblich jemand erlebt, der eines gewaltsamen Todes stirbt?«

Anne biß sich auf die Lippe und setzte sich, die Augen fest geschlossen, langsam hin. Herb beobachtete sie flüchtig, dann sagte er noch heiterer: »Wir haben die Kleine schon. Wenn man ihnen einen Tod vorsetzt, muß man ihnen ein neues Leben schenken. Peng, Schluß mit der einen. Peng, Startschuß für die andere. Wir werden die Kleine Aschi nennen, denn schließlich ist es eine richtige Aschenbrödelgeschichte. Sie werden auch sie lieben.«

Anne öffnete die nun schwarz verschleierten Augen; die Spannung in ihr war so groß, daß John spürte, wie sich seine eigenen Muskeln zusammenzogen. Er fragte sich, ob er fähig sein würde, die Aufzeichnung dessen, was sie jetzt sendete, auszuhalten. Eine Welle der Erregung überspülte ihn, und er wußte, daß er alles mitspielen, mitempfinden würde, die unglaublich gebändigte Wut, die Angst, das Entsetzen, ihnen einen Tod anzubieten, über den sie sich hämisch freuten, und schließlich die Qual. Er würde es alles erfahren. Er beobachtete Anne und wünschte, daß sie jetzt zusammenbrechen würde. Sie tat es nicht. Sie stand steif auf, den Rücken gestrafft, während ein harter Muskel an ihrem Kinn hervortrat. Ihre Stimme war tonlos als sie sagte: »Stuart ist in einer halben Stunde hier. Ich muß mich umziehen.« Sie ließ sie stehen, ohne sich umzusehen.

Herb winkte John und ging zur Tür. »Begleitest du mich zum Flugplatz, Kid?« Im Taxi sagte er: »Bleibe ein paar Tage in ihrer Nähe, Johnny. Vielleicht kommt eine noch heftigere Reaktion später, wenn sie erkennt, wie fest sie an der Angel hängt.« Er kicherte. »Mein Gott! Nur gut, daß sie dir vertraut, Johnny Boy!«

Während sie in der Abflughalle aus Chrom und Marmor darauf warteten, daß die Linienmaschine ihre Passagiere auslud, sagte John: »Glaubst du, daß sie nach all dem noch gut sein wird?«

»Sie kann nicht anders. Sie ist zu lebensgebunden, um freiwillig sterben zu wollen. Sie ist innen wie ein Dschungel, urwüchsig, wild, unberührt von der glatten Schicht der Zivilisation, die sie nach außen hin zur Schau trägt. Es ist eine dünne Schicht, Kid, sehr dünn. Sie wird kämpfen, um am Leben zu bleiben. Sie wird wachsamer sein, stärker auf der Hut vor Gefahren, aufregender, immer aufregender. Sie wird wirklich in die Brüche gehen, wenn er sie heute abend berührt. Sie ist echt geladen. Vielleicht müssen wir sogar ein bißchen redigieren, es etwas abschwächen.« Seine Stimme klang überaus glücklich. »Er berührt sie, wo sie lebt, und sie reagiert. Eine echte Wilde. Das ist sie; das ist die neue Kleine; Stuart … Es gibt nur wenige, Vereinzelte, Johnny. Wir müssen sie finden. Gott weiß, ob wir nicht alle brauchen, die wir aufstöbern können.« Seine Miene wurde nachdenklich und in sich gekehrt. »Weißt du, meine Idee mit der Vergewaltigung und der Kleinen war gar nicht so übel. Wer hätte es sich träumen lassen, daß wir ihr eine solche Reaktion entlocken würden? Wenn wir es richtig anpacken …« Er mußte rennen, um sein Flugzeug zu bekommen.

John eilte zum Hotel zurück, um in Annes Nähe zu sein, falls sie ihn nötig hatte. Aber er hoffte, sie würde ihn in Ruhe lassen. Seine Finger zitterten, als er den Bildschirm anschaltete; plötzlich hatte er eine klare Erinnerung an die Kleine, die geweint hatte, und er hoffte, daß Stuart Anne wenigstens ein bißchen weh tat. Das Zittern seiner Finger nahm zu; Stuart trat von sechs bis zwölf auf, und er hatte schon fast eine Stunde der Show versäumt. Er setzte den Helm auf und sank in einen tiefen Sessel zurück. Er drehte den Ton nicht an, sondern ließ seine eigenen Worte, seine eigenen Gedanken die Lücken ausfüllen.

Anne beugte sich zu ihm, sprudelnden Champagner an den Lippen, die Augen geweitet und sanft. Sie redete, sprach mit ihm, John, nannte ihn beim Namen. Er fühlte, wie ein Prickeln irgendwo tief in ihm aufstieg, und sein Blick senkte sich, um auf ihrer sonnengebräunten, in seiner Hand liegenden Hand ruhen zu bleiben, die elektrische Stöße durch ihn sandte. Ihre Hand zitterte, als er mit den Fingern über ihre Handfläche zu ihrem Handgelenk glitt, an dem eine blaue Ader pochte. Das leichte Pochen wurde zu einem Hämmern, das immer stärker wurde, und als er ihr wieder in die Augen schaute waren sie dunkel und sehr tief. Sie tanzten, und er fühlte ihren Körper, hingebungsvoll, flehend, an seinem. Das Zimmer wurde dunkel, und sie zeichnete sich als Silhouette gegen das Fenster ab, als ihr Kleid an ihr herabglitt. Die Dunkelheit wurde dichter, oder er machte die Augen zu, und als sie ihren Körper diesmal an seinen schmiegte, war nichts mehr dazwischen, und das Hämmern war überall.

In dem tiefen Sessel, den Helm auf dem Kopf, schloß John die Hände, öffnete sie, schloß sie, immer und immer wieder.