Die Tiefen
 
(Keith Roberts)

 

 

Es mußte so kommen. Generationen hindurch hatte sich die Kettenreaktion der Bevölkerungsexplosion ununterbrochen fortgesetzt. Während die Medizin rapide Fortschritte machte, während die Lebenserwartung fast unglaublich anstieg, vermehrte sich die Menschheit weiter und weiter. Um die neuen unermeßlichen Märkte zu versorgen, breiteten sich Häuser, Besitzungen und Fabriken nach allen Richtungen hin aus, überwucherten gutes und schlechtes Land, kletterten Berge hoch, erstickten Flüsse. Stadt reihte sich an Stadt, und die rosa Polypenarme der Häuser wuchsen und verdickten sich, während die Maschinen planierten und schürften und hämmerten. Grüngürtel und Parks verschwanden, Felder wurden über Nacht verschluckt. Hier und da wurden Stimmen laut, die Stimmen von Volkswirtschaftlern, von Naturwissenschaftlern und Philosophen und zuletzt sogar von Theologen. Aber sie gingen in dem allgemeinen Aufschrei unter.

Gebt uns Raum … Tag und Nacht stieg dieser Schrei aus hundert Millionen Kehlen auf, Lautsprecher plärrten ihn als Slogan heraus, Reklamewände verkündeten ihn im betrügerischen Kampf der Parteien um die Macht. Mehr und mehr konzentrierten sich ihre Versprechungen darauf, Platz zu schaffen. Platz für mehr Häuser, mehr Besitzungen, Platz, um neue Familien aufzuziehen, die dann ihrerseits wieder nach Platz und immer noch mehr Platz schrien … Auf der ganzen Welt verschwanden die Landschaften, alle verschluckt. Während die Völker ihre Grenzen vorzuschieben suchten, flammten Kriege auf, aber die Städte wuchsen noch immer. Die großen Besitzungen wurden durchsucht und gezwungen, ihre letzten Morgen, ihre geheimen Gärten abzugeben. Aber alles umsonst, denn noch immer war der Ruf nach Raum zu hören. Wolkenkratzer strebten fünfzig, siebzig, hundert Stockwerke in die Höhe, und es war nicht genug. Bis zum Bersten gefüllt, bauchten sich die Städte, voll von Musiklärm und den Geräuschen menschlichen Lebens. Über hundert Meter hoch waren sie, von grellem Licht überflutet, von einem Netz übereinander angelegter funkelnder Avenuen durchzogen. Heiser, in Technicolor, schlaflos. Überall stießen sie ans Meer.

Und sie mußten weiter. Der Druck, der Platzmangel, trieb sie voran. Die Häuser sanken wie silberne Glocken in Bläue und Stille, und endlich gab es Platz genug.

Mary Franklin saß im Wohnraum ihres Bungalows. Das Strickzeug ruhte ausnahmsweise in ihrem Schoß, und sie versuchte, das Geschehen auf dem Teleschirm am anderen Ende des Raumes zu verfolgen. Vor ihr durchquerte Jen, die sich für eine Party bei den Belmonts am anderen Ende der Stadt fertigmachte und wie gewöhnlich zu spät dran war, eilig das Zimmer und kam gleich darauf wieder zurück. Die nackten Füße tappten über den Teppich, die Riemen ihrer Lunge baumelten um ihre Schultern, während sie mittlerweile in wahnsinniger Eile hin und her stürzte. Mary verdrehte die Augen zum Himmel, der einstweilen durch eine geschwungene Stahlhülle repräsentiert wurde. Sie konzentrierte sich auf den Bildschirm, auf dem eine Vorführdame in leuchtenden Farben ihr Publikum mit den Geheimnissen einer Variante von Krabbenmayonnaise bekannt machte. Jen kreischte etwas Unverständliches aus dem Schlafzimmer und bummerte gegen die Wand. (Warum …?) Sie tappte wieder quer durch den Raum und zurück. Mary erhob plötzlich die Stimme. »Jen …?«

Bummern. Gemurmel.

»Jen!«

»Mami, ich finde meine …« Nicht zu verstehen.

»Jen, komm nicht zu spät nach Hause. Nicht später als neun, hörst du?«

»Ja …«

»Und um Landeswillen, zieh dir etwas an …«

»Ja, Mami …« Das mit hoher, matter Stimme. Und fast sofort das Brausen der Meeresschleuse. Mary sprang in einer zornigen Aufwallung auf und ging auf das Funkgerät zu, überlegte es sich auf halbem Wege anders und kehrte wieder zu ihrem Stuhl zurück. Sie wußte zu gut, daß Jen bequemerweise ihre Mikrofonkabel vergessen haben würde.

Im Vorbeigehen schaltete sie nervös um. Das Bild auf dem Teleschirm wechselte in einen Western über. Mary lehnte sich zurück und schloß die Augen bis auf einen kleinen Spalt, in Gedanken halb bei dem uralten Film, halb bei der Bläue über ihr. Der endlosen Bläue.

Allen Ermahnungen zum Trotz nackt, schwebte Jen sieben Meter über dem halbkugelförmigen Dach ihres Elternhauses. Luftblasen stiegen in einer Kette schimmernder, schwach erkennbarer Sicheln zur Oberfläche auf. Wie immer ließ das Meer sie ihren Zwang zur Eile vergessen. Sie begann langsam zu paddeln, die Füße in den langen Flossen griffen aus und durchfurchten das Wasser. Im Dahingleiten blickte sie unter sich auf die Reihen von Kuppeln mit ihren gepflegten, fast vorstädtischen Gärten voller wogender Wasserpflanzen. Sie sah die verschwommenen Quadrate ihrer Fenster und die helleren grünlichblauen Kugeln der Straßenlampen, die an dünnen Drähten über dem Meeresboden baumelten. Warnungen für Schwimmer hingen an langen Drahtstreifen. Entsprechend den Straßen der Stadtkomplexe, an die Jen sich kaum noch erinnerte, gab es deutlich gekennzeichnete Bahnen, aber viele ignorierten sie. Und fast alle Kinder. Genaugenommen befand sie sich jetzt außerhalb der Stadtgrenze, denn sie glitt mittlerweile nur wenige Meter unter der Oberfläche dahin.

Die Sicht war gut heute abend. Auflandige Winde verursachten zuweilen eine Trübung, die tagelang anhielt, aber jetzt war es seit fast einer Woche windstill gewesen. In dem beinahe ungetrübten Wasser konnte sie den fernen Schimmer ausmachen, wo die Ingenieure, unter ihnen ihr Vater, an dem neuen Theateranbau und dem Kulturzentrum arbeiteten. Wenn die Anlage einmal fertiggestellt sein würde, würde sie der Stolz der Siedlung Achtzig sein, die von ihren Bewohnern Oceanville genannt wurde. Allein an diesem Küsten-streifen gab es noch ein Dutzend anderer Oceanvilles und wahrscheinlich Hunderte in allen Meeren der Welt. Sie erschauerte leicht, obwohl das Wasser nicht kalt war.

Jenseits der Lichter, jenseits der von Tauchern umschwebten großen Stahlgerüste, gab es lange abschüssige Strecken, wo die Häuser der Stadt allmählich aufhörten und die Korallen und der Sand der Küstengewässer dem Treibsand des eigentlichen Ozeans Platz machten. Dort befand sich ein bis jetzt noch sehr kleiner Friedhof mit ein paar die Toten bergenden Metallbehältern. Und jenseits dieses Friedhofs, hinter grauen Dünen, wo das Licht unmerklich in Marineblau und Schwarz überging, lagen Die Tiefen. Mehr als alles andere liebte es Jen, zu den Neubauten hinüberzuschwimmen, sich auf einen der Träger zu setzen und in das vage Dunkel des eigentlichen Meeres, das bodenlos und unermeßlich war, herabzustarren. Bloß zu starren, zu horchen und zu warten. Vielleicht würde sie heute abend nach der Party dorthin schwimmen.

Sie ließ sich erschlaffen, pumpte Luft in die Lunge und hielt den Atem an, um den Auftrieb zu verstärken. Mit lockeren Armen und Beinen trieb ihr Körper nachoben. Über ihr erschien die Oberfläche, eine schwach leuchtende, umgekehrte Ebene. Lichtpunkte glitzerten, wo der Mondstrahl sich in der Tiefe brach. Jen paddelte träge mit den Flossen, einmal, zweimal, ihr Körper durchbrach die Oberfläche, und sie spürte, wie sie von einem leichten Wellengang weitergetragen wurde.

Sie blickte um sich. Das Meer war ganz ruhig, zum Horizont hin dunkel, bläulich phosphoreszierend um ihre Schultern und den Hals. Wenn sie genau hinsah, konnte sie kleinste Lebewesen erkennen, die wie leuchtende Körner um sie aufstiegen. In weiter Ferne die orangefarbene Wolkenspiegelung über dem Land, wo die universalen Städte brüllten und jammerten. Jen legte sich auf den Rücken und ließ sich vom Wasser tragen. Früher hatte sie die Maske heruntergezogen und das feuchte Salz der gewöhnlichen Luft eingeatmet. Jetzt spürte sie kein Verlangen mehr danach. Wassertretend drehte sie sich langsam um, warf noch einen letzten Blick auf den Mond und tauchte. Ihre Fersen rührten einen flüchtigen Lichterwirbel auf. Unter Wasser schwamm sie mit kräftigen Stößen vorwärts. Sie schoß zur Westterrasse hinunter, wo die Kuppel der Belmonts lag. Die Party war sicher schon in vollem Gange! Sie verlor kostbare Tanzzeit.

Stunden später angelte sich Mary eine ihrer seltenen Zigaretten aus dem Wandspender. Mit leicht gerunzelter Stirn zog sie den Rauch ein und blies ihn langsam durch die Nase aus. Sie lehnte sich zurück und beobachtete, wie der Rauch durch den Deckenventilator abzog. Der Teleschirm war abgestellt, der letzte Bösewicht hatte ins Gras gebissen, und sie war des Zusehens müde geworden. Der Bungalow schien sehr still. Das Summen der Klimaanlage klang ungewöhnlich laut und genauso das periodische Klirr-Bumm der Kühlschranksolenoiden aus der Küche.

Sie stand unentschlossen auf, betastete ihren Hals, machte einen Schritt vorwärts und blieb wieder stehen. Sie ging zu der Nische neben der Küche, in der die Funksprechanlage und das Telefon untergebracht waren. Neben dem Hörer glucksten die Meßinstrumente der Kuppel leise. In den grauen Gehäusen drehten sich gestreifte Scheiben, zitterten Zeiger über ihre Skalen. Die Macht der Gewohnheit ließ sie die Meßwerte ablesen. Alles normal, natürlich … Sie streckte die Hand nach dem Telefon aus, kaute auf ihrer Lippe herum und zog die Hand wieder zurück. Eine Viertelstunde, das war nichts. Wenn Jen tanzte, vergaß sie die Zeit. Das taten sie alle. Sie würde in ein paar Minuten zu Hause sein, spätestens um halb zehn. Sie wußte genau, wieviel sie zu spät kommen durfte … Mary ging in den Wohnraum zurück, schaltete den Teleschirm an und stellte den fünften Kanal ein. Während das Gerät warm wurde, ging sie zu Davids Schlafraum und warf einen Blick hinein. Er schlief, das Haar zerzaust auf dem Kissen. Neun Uhr fünfzig.

Mary stand wieder auf und trat an das Fenster in der gewölbten Wand. Sie zog die Vorhänge auf, sah durch das leicht getrübte Wasser hinüber zu den Nachbarhäusern auf der anderen Straßenseite. Eine leise Angst regte sich irgendwo in ihrem Hinterkopf, pochte, legte sich wieder. Angst wovor? fragte sie sich. Vor einem Unfall vielleicht. Auch in einer durchorganisierten Stadt gab es Unfälle. Jack – aber das war es nicht. Sie lachte leise über sich selbst und versuchte, ihre Nervosität mit einem Achselzucken abzutun.

Diese Spätschichten ihres Mannes waren ein Fluch, aber es ging nicht anders. Der neue Bau ging rasch voran, und als Kontrollingenieur mußte er fast ständig auf dem Baugelände sein. Sie sagte sich, daß ihr Mann körperlich nicht weit weg war. Wenn nötig, konnte sie ihn anrufen. Wie weit weg war der neue Komplex? Hundertundfünfzig, zweihundert Meter? Auf dem Land war das keine Entfernung … Aber wie lang waren hundert Meter hier unter dem Meer? Unter Umständen ein Leben lang oder eine ganze Epoche. Sie schnitt eine Grimasse. Davor hatte sie Angst, daher kam vielleicht dieses … Pochen. Daß kontinentale Gesetzmäßigkeiten und Werte unter Wasser radikal anders wirkten.

Sie setzte sich, schlug die Beine übereinander und lehnte den Kopf gegen den Stuhlrücken. Nach einer Weile griff sie nach dem Strickzeug und starrte es an. Sie strickte einen Pullover, obwohl das völlig überflüssig war. Die Kuppeln hatten alle Klimaanlagen, und die Meerestemperatur änderte sich im Laufe des Jahres nur um wenige Grad. Hier unten brauchte man keine Pullover, und das Garn war teuer, es kam von der Oberfläche, und alles, was von dort kam, war kostspielig. Aber so hatte sie wenigstens etwas zu tun, waren ihre Hände beschäftigt. Und vor allem war es ein Bindeglied zur Vergangenheit …

Viertel nach zehn.

Das Zifferblatt der Uhr war rund und meerblau, die Zeiger einfache weiße Nadeln, die in Abständen von einer Minute vorrückten. Mary meinte, das jedem Satz vorangehende unmerkliche Zittern sehen zu können. Sie drückte die Zigarette aus. Die Party mußte inzwischen längst zu Ende sein, die Tänzer sich zerstreut haben …

Tänzer? Sie schüttelte den Kopf, erinnerte sich an die Tänze in den Städten, an die pulsierenden Rhythmen, die rasenden Zuckungen. Auch das hatte sich, wie alles andere, geändert. Sie erinnerte sich daran, wie entgeistert sie gewesen war, als sie das, was sie Meer-Jazz nannten, zum ersten Mal gehört hatte. Jen hatte einen Recorder in ihrem Schlafzimmer, der die halbe Nacht wimmerte und bummerte, aber die Rhythmen, die Melodien waren mit nichts vergleichbar, was sie je an Land gehört hatte. Langgezogene, heulende Töne, ein Beat mit einem Timing, das jeder Notation spottete, Klänge, die etwas von dem langsamen Drängen der Gezeiten hatten. Es war Musik zum Schwimmen.

Die Belmonts hatten eine Tanzfläche, aber die lag draußen im Meer. Sie war von Luftpfosten und Lautsprechergehäusen umgeben, um die sich die Jungen und Mädchen wie helle Flocken unter den Schwärmen von Fischen, die anscheinend immer angezogen wurden, tummelten. »Aber Mami«, sagte Jen, wenn sie Einwände machte. »Du wellst einfach nicht, du bist nicht woogig …« Das war alles Teil der neuen Phraseologie. Der Junge, der ein paar Häuser weiter wohnte, Kev Hartford, war nicht etwa Klasse, nein er wellte für Jen, er war eine Woge, aber der Bursche von der Klimaanlage, Cy Scheinger, der ein- oder zweimal bei ihnen gewesen war, war in Ungnade gefallen. Er war ebbig, ein Frosch (Froschfisch?). Ihr ganzes Leben und Denken war jetzt bis hin zu ihrer Sprache vom Meer durchdrungen. Was nur natürlich und verständlich war …

Warum haben wir sie Jennifer genannt? Wie sind wir ausgerechnet auf diesen Namen verfallen? Die Jennifer war ein Meereswesen und verflucht …

Es hatte keinen Sinn. Mary stellte den Teleschirm ab, ging zum Telefon zurück, hob den Hörer ab und wählte. Sie horchte auf das Klicken der Relais, das ferne Summen am anderen Ende der Leitung. Eine Ewigkeit, und der Hörer wurde abgehoben.

»Ja-a?« Die ein wenig girrende Stimme war selbst durch das verzerrende Meeresbranden unverkennbar. Die Belmonts waren sich ihrer Stellung nicht eben unbewußt. Alan Belmont war Fischereidirektor des Gebiets. Marys Zunge fuhr über die trockenen Lippen. »Hallo? Guten Tag, Anne, hier spricht Mary. Mary Franklin … Was? Ja, gut, vielen Dank … Anne … ist Jen vielleicht zufällig noch bei Ihnen? Ich habe ihr gesagt, sie soll um neun zu Hause sein. Sie ist noch nicht zurück, und ich …«

Anne Belmont schien ein wenig erstaunt. »Meine Liebe, ich habe sie bestimmt schon vor Stunden nach Hause gescheucht. Na ja, vor einer Stunde … Einen Augenblick …«

Unverständliche menschliche Laute. Ein schwacher Ruf. Das Branden … Tosen … des Meeres.

»Hallo?«

»Ja …«

»Kurz vor neun«, sagte das Telefon. »Wir haben sie alle nach Hause geschickt, es ist niemand mehr hier … Sie sagen, sie ist noch nicht zurück?«

»Nein«, erwiderte Mary. »Nein, sie ist noch nicht zurück.« Sie umklammerte den Hörer so, daß ihre Knöchel weiß wurden.

Das Telefon gluckste. »Meine Liebe, sie sind doch alle gleich. Bei unseren ist es hoffnungslos, Zeit bedeutet ihnen nichts, absolut nichts … Aber ich bin ganz sicher, daß Sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Sie wird bestimmt gleich kommen. Vielleicht war sie bei diesem Cy oder wie heißt … ja …« Eisig kroch es ihr das Rückgrat hoch. »Vielen Dank«, sagte Mary. »Nein, nein, natürlich nicht. Ja, ich sage Ihnen Bescheid … Ja, auf Wiedersehen, Anne …« Sie legte den Hörer auf die Gabel und stand da und starrte ihn an und wußte nicht, was sie tun sollte. Das Meer drängte sacht, schleifend gegen die Kuppel. Viertel vor elf.

Mit gespitztem Mund stand Mary ganz still in der Mitte des Wohnraumes. Sie hatte die Luftwerke angerufen. Cy hatte dienstfrei, und niemand dort wußte, wo er war. Und zwei oder drei Nachbarn und Freunde ebenfalls nicht. Keine Spur von Jen. Sie konnte doch Jack im Baubüro nicht anrufen, nicht schon wieder. Hier unten stand man seinem Mann zur Seite, setzte sich voll ein. Man geriet nicht wegen jeder Kleinigkeit in Panik … Ihre Beine fingen an zu zittern. Unbewußt massierte sie die Schenkel über dem Kleid. Sie streckte die Hand nach ihrem Haar aus, das sie zu einem Knoten im Nacken zusammengesteckt trug. Auf der Fensterbank vor ihr tänzelte ein Gipsfohlen, die Hufe hoben sich gegen Grün ab. Das Grüne war das Meer.

Entschluß. Sie löste das Haar und schüttelte den Kopf, so daß es lose auf die Schultern fiel. Sie hakte ihr Kleid im Nacken auf und zog es über den Kopf. Darunter trug sie das übliche blaue Trikot der verheirateten Frauen. Sie zog es mechanisch an den Oberschenkeln herunter, schleuderte die Sandalen weg, ging zu dem Schrank mit der Ausrüstung hinüber und holte ihr Meerzeug, Lunge, Maske und Flossen. Sie zog sich schnell an, befestigte die breiten Gurte um die Taille und zwischen den Beinen, dann das leichtere Schultergeschirr mit den Armaturen vor der Brust. Gewohnheitsmäßig las sie die Uhren ab, kontrollierte die Luft, tippte auf den roten Streifen auf ihrer Schulter. Das war ein weiterer Sicherheitsfaktor. Wenn die Luftzufuhr aus dem Tornister aus irgendeinem Grunde aussetzte und dieser Streifen nicht berührt wurde, brachte eine eingebaute Funkbake die Stadtwachen zu dem Träger.

Sie sah noch einmal bei David herein und überzeugte sich, daß er noch schlief. Auf dem Weg zur Meerschleuse blieb sie vor dem Spiegel stehen. Sie war schwerer geworden, ihre Hüften hatten sich verbreitert, und um den Mund deuteten sich Sorgenfalten an, aber ihr Haar war braun und weich. An Land wäre sie immer noch eine begehrenswerte Frau gewesen.

Sie sah sich langsam in der Kuppel um und hatte plötzlich das Gefühl, vertraute Dinge in einem Licht zu sehen, das ungewohnt hell und seltsam war. Der Bungalow besaß doppelte Wände, die innere Decke endete in achteckigen Platten aus weißem und hellblauem Kunststoff. Die aus Rücksicht auf den Druck notwendige Form des Halbrunds hatte daneben den Vorteil, daß der zur Verfügung stehende Raum maximal genutzt werden konnte. Dicke Florteppiche bedeckten die Böden, die Möbel waren niedrig und stromlinienförmig, bequem zum Leben. Der Teleschirm war geschickt in einer Nische untergebracht, daneben befanden sich zu beiden Seiten in die Wand eingelassene Behälter mit Fischen und Seeanemonen. Durch die halboffene Tür konnte sie die Küche sehen. Sie war winzig klein, aber gut ausgestattet, mit viel rostfreiem Stahl, wie die Kombüse eines Schiffs.

Der ganze Bungalow war ebenso sicher wie zweckmäßig. Falls, was unwahrscheinlich war, ein Riß in der Außenhülle aufträte, würde die zweite Hülle das Meer abhalten, während die Nachricht sofort an eine Zentrale durchgegeben werden würde, die innerhalb von Minuten für Hilfe sorgen konnte. Nicht, daß irgend etwas schiefgehen konnte, natürlich nicht, dafür war das Ganze zu gut durchdacht. Die Menschen lebten jetzt schon seit Jahren unter Wasser, und es gab hier weit weniger Unglücksfälle als auf dem überfüllten Land.

Mary schnitt eine Grimasse, trat in die Schleuse und schloß das innere Schott. Die Deckenbeleuchtung schaltete sich ein. Sie drückte auf den Füll-Knopf. Zischend entwich die Luft durch die Auslaßventile.

Sie hockte sich im steigenden Wasser nieder, um die Riemen der Flossen über die Fersen zu ziehen. Dann richtete sie sich auf. Die Kühle berührte ihre Hüften. Sie strich das Haar zurück, tauchte die Maske unter und spülte sie aus, drückte das durchsichtige Visier aufs Gesicht. Die Plastikmaske haftete selbst, ihrer Kopfform angepaßt, und reichte von der Stirn bis zum Kinn. Sie setzte die Kopfhörer ein, griff unter ihren Arm nach den Mikrofonkabeln und schloß die Enden an die Magnetkontakte in ihrem Hals an. Die Kammer füllte sich, Wasser stieg grünlich über ihren Kopf. Als der Druck sich ausgeglichen hatte, glitt der äußere Wandabschnitt automatisch beiseite und ließ das dunstige Licht der Straßenlampen herein. Mary stieß sich ab und spürte, wie das Meer ihr Gewicht aufhob und sie hochtrug. Haarsträhnen wogten wie schwarze Farnwedel anmutig vor ihren Augen.

Langsam schwamm sie durch die Stadt. Aus dem Dunst stiegen zu beiden Seiten Reihen kuppelförmiger Gebäude auf. Einige der Häuser waren noch neu, mit glänzenden Stahlhüllen, andere hatten sich mit einer dichten, wogenden Schicht von Algen überzogen. Die Schaufenster entlang der Hauptstraße waren hell erleuchtet. In den Spiegelglasfenstern lagen auf weißen Tellern mit Krautwedeln garnierte Fische, Muscheln und Krebse aus. Dort wurden Unterwasser-Atmungsgeräte und Bücher, Schallplatten, Puppen und Spielzeug angeboten. Hier unten war der Sand vom Meeresboden bis zu dem darunterliegenden Gestein abgetragen worden. Oben spannten sich schmale Bögen, an denen die Schlitten von Auswärtigen vertäut lagen, von Fischhirten und Meeresforschern, die von einsamen, über den Meeresboden verstreuten Kuppeln aus ihrer Arbeit nachgingen. Die Blöcke waren erleuchtet; jede Kugel stand strahlend im Grün, umschwärmt von einer tanzenden Wolke winziger Fische wie eine Lampe auf der Erde von Motten. Über allem lag Friede, träumerischer Friede der Dämmerung auf einer alten, unverdorbenen Erde.

Nur wenig menschliche Schwimmer waren jetzt unterwegs, aber hier und da schwebte eine schimmernde Gestalt über den Dächern der Häuser. Delphine – sie hatten die Gemeinschaften am Meeresboden schnell entdeckt und Nutzen daraus gezogen. Manche Familien hielten sich sogar einen oder mehrere als halbzahme Haustiere und hingen sehr an ihnen. Gelegentlich tauchten auch andere Geschöpfe in den Stadtgebieten auf – Haie, Rochen, der kuriose Tintenfisch. Aber die von den Schwimmern mitgeführten Abwehrmittel waren mittlerweile so weit entwickelt worden, daß es wenig zu befürchten gab. Und die Stadtwachen harpunierten oder verscheuchten jeden der großen Burschen, die sich zu lange oder zu nahe bei der Stadt herumtrieben. In der Hauptsache gab es jedoch wenig, was Räuber anziehen konnte.

Die Abfallbeseitigung wurde streng kontrolliert. Abfall ins Meer zu schleusen, war so ungefähr das schlimmste Verbrechen, dessen man sich schuldig machen konnte; man konnte dafür an Land geschickt werden.

Die »Ungeheuer der Tiefe«, soweit sie überhaupt existierten, mieden die Kolonien. Sie mochten die Helligkeit und den Lärm nicht, die Geschäftigkeit und die dumpfen Töne der vielen, sich im Wasser überlagernden Vibrationen. Wie Jack nie müde wurde zu betonen, war das Leben hier unten sicherer als an Land.

Mary machte kehrt, passierte die Superkuppeln, die das städtische Destillationswerk enthielten. Der Pro-Kopf-Verbrauch von Süßwasser lag bei den Meermenschen um fünfzig Prozent höher als bei den Landmenschen. Häufiges Baden war notwendig, um Salzrückstände von der Haut zu entfernen. Die Versorgung mit salzfreiem Wasser stellte eines der größten Probleme der Siedlungen auf dem Meeresboden dar. Hinter der Destillerie lagen die Luftwerke. Die Elektrolyten reichten halb bis zur Oberfläche, jedes Rohrbündel von einer isolierenden Heliumhülle umgeben. Der Strom für die Sauerstoffgewinnung kam von nah gelegenen Gezeiten-Kraftwerken entlang der Küste. Viele Kuppeln ließen sich bereits vom Werk versorgen, und schließlich würden sie alle den neuen Versorgungsdienst der Stadt in Anspruch nehmen, aber ihre eigenen Anlagen als Reserve für den Notfall behalten.

Mary schwamm um die riesigen Schornsteine herum, spähte in verschlossenes Dunkel, rief leise durch die Maske: »Jen … Jen …« Der Tornister strahlte das Wort ins Wasser aus, trug es viel weiter, als eine menschliche Stimme in der Luft, aber sie bekam keine Antwort. Sie klammerte sich an einen Stahlträger, ein paar Meter über dem Meeresboden und versuchte, ruhiger zu atmen. Blasen stiegen in einer schimmernden Kette von ihr auf. Eine Gruppe von Kindern kam vorbei, verspätet und schnell schwimmend. Sie hörte sie schwatzen und erkannte plötzlich mit einem Schock, wie sehr ihr Geschnatter dem eines Fischschwarms in Unterwasserschallempfängern ähnelte. Sie erschauerte. Solche Gedanken quälten sie schon seit Monaten, vielleicht seit Jahren. Sie rief eindringlich, aber der Kinderschwarm wich aus, beschleunigte und verschwand in der Dunkelheit. Es war still. Neben ihr vibrierten die großen Behälter, was sie mehr spürte als hörte. Der Träger schien unter ihren Fingern zu summen.

Sie ließ schnell los. Elektrolyte verursachen keine Geräusche. Sie horchte angestrengt. Dieses tiefe, dumpfe Dröhnen … War das ihr Herz oder bloße Angst oder war da etwas … etwas anderes … Nein, es hatte aufgehört. War über die Wahrnehmungsgrenze hinweg ins Schweigen getaucht. Sie begann wieder zu schwimmen, während ihre Gedanken wirr durcheinander gingen. Sie erinnerte sich an ein Gespräch, das sie vor Wochen mit ihrem Mann geführt hatte. Sie hatten im Bett gelegen, nachdem er von seiner Schicht nach Hause gekommen war. Im Haus war es still gewesen, so still, wie es da eben werden konnte. Nur die Klimaanlage, im Dunkeln summend …

Sie hatte in die Nacht hineingesprochen. »Jack«, hatte sie gesagt und sich dabei über sich selbst gewundert, »Die Tiefen. Hast du gehört, was man sich darüber erzählt – daß sie reden?«

»Ich hab schon eine Menge Unsinn gehört.«

»Sie reden. Das sagen jedenfalls die Kinder. Jen … sie sagt, daß sie es gehört hat, ein … Etwas, ich weiß nicht, was. Einen Ruf. Jack, sei ernst, hör mir zu …«

»Ich bin ernst«, sagte er. »Vollkommen ernst. Mary, in Den Tiefen ist nichts außer einer Unmasse Wasser unter einer Unmasse Druck. Oh, da könnte irgendwo eine Verwerfung sein, Vulkantätigkeit vielleicht, ganz weit unten, von der aus Druckwellen nach oben gehen, und die kann man unter Umständen fühlen, aber das ist alles. Ich bin Ingenieur, ich habe so viele Jahre mit dem Meer gearbeitet, daß ich lieber gar nicht daran denken will. Du kannst mir glauben, ich weiß. Dieses … Ding ist im Augenblick große Mode bei den Kindern. Sie schwimmen in kleinen Banden hinaus und warten auf Offenbarungen. Ich habe sie gesehen. Ich weiß nicht, wie es angefangen hat, aber es ist bloß ein Tick, der sich geben wird, wenn etwas Neues auftaucht …«

Sie war still, dachte an all die Städte entlang der Kontinentalsockel in den warmen Meeren der Welt. Die vollautomatisierten Kuppeln waren gemütlich und sicher. Aber, was, wenn … was, wenn es einen Feind gab, etwas, das heimtückischer war als der Druck? Etwas in den Menschen, in mir, sagte sie zu sich, oder in Jen. Etwas, das sich von den Wurzeln des Gehirns nach außen arbeitete … Sie sagte jäh: »Jack, wie kannst du so verdammt sicher sein, daß du immer recht hast?«

Das Bett quietschte, als er sich umdrehte. »Kommst du mir festländisch, Mary?«

Sie antwortete nicht. Seine Hand streckte sich nach den Kontakten an ihrem Hals aus, streichelte sie. »Du weißt doch noch, was ich dir gesagt habe. Worüber wir uns einig waren, als sie das hier einsetzten. Einmal unten, immer unten.« Er schwieg. Dann sagte er leise: »Was gibt es für uns an Land?«

Sie lag da und erinnerte sich der niedrig überdachten Stadtstraßen, der endlosen fluoreszierenden Bahnen, des bedrückenden Gefühls, in der Menge zu ersticken. Platzangst eines übervölkerten Planeten.

Er konnte ihre Gedanken lenken, das konnte er immer. »Höre«, sagte er. »Man kann es noch weit unten hören. Das Dröhnen. Rolltreppen, Laufbänder. Verkehr. Tanzlokale. Gellende Bildschirme, die sich gegenseitig bekämpfen. Kaufen Sie dies. Kaufen Sie dies. Kaufen Sie das. Stimmt für die Freiheit. Benutzen Sie unsere Zahnpasta. Verzichten Sie auf den Geschlechtsverkehr … Erinnere dich nur, Mary! Märkte. Kinos. Der ganze Firlefanz. Lohnt es sich, dahin zurückzugehen? Die Kinder dahin zu bringen? Nun?«

Keine Antwort. Er sprach weiter. Die alten Argumente. »Hier unten haben wir Frieden. Wir haben Sicherheit. Na ja, so viel Sicherheit, wie Menschen überhaupt irgendwo finden können. Und, was noch wichtiger ist, wir haben eine Demokratie. Eine richtige, praktisch angewandte Demokratie, vielleicht die erste überhaupt. Hier unten steht dir das Haus deines Nachbarn immer offen, weil es so sein muß. Wir können es uns nicht leisten, einander zu bekämpfen, dafür sorgt das Meer. Und das Meer ist ewig.«

»Hier unten ziehen wir also vereint an einem Strang. Du meinst vielleicht, daß wir jetzt viele sind, aber ich sage dir, wir sind bloß Dörfer, Siedlungen. Wir sind auf die Oberfläche angewiesen, vieles müssen wir immer noch oben einkaufen. Aber das wird nicht immer so sein. In allen Meeren der Welt werden sich Völker und Stämme von uns ausbreiten. Bis hinunter in Die Tiefen. Wir werden unabhängig sein. Wir werden alles, was wir brauchen, direkt aus dem Meer beziehen. Gold, Zinn, Blei, Kupfer, Uran, was du nur willst, du findest es hier unten im Meer. Billionen von Tonnen, die darauf warten, genutzt zu werden. Im kleinen haben wir schon angefangen. Das Land ist alt, verbraucht. Sollen die Festländer es behalten …« Er lachte in sich hinein. »Ich sag dir was, eines Tages, in tausend Jahren vielleicht, tauchen wir auf, um ein bißchen Handel zu treiben. Und sie? Sie sind verschwunden. Alle. Haben sich gegenseitig aus der Welt gebombt, sind verhungert, zu anderen Planeten gezogen, irgendwohin. Wir hätten keine Ahnung davon. Wenn die ganze Welt in Flammen aufginge, woher sollten wir das wissen? Es ginge uns nichts an …«

Sie zeichnete Muster in die Dunkelheit, malte mit einem Finger auf das Kissen. Biß sich auf die Lippe. Er berührte ihr Haar. Seine Hand fand die überhängende Wärme einer Brust, und sie machte eine gereizte Bewegung, rückte von ihm ab. »Ich dachte«, sagte sie, »an die Kinder. Alle Kinder hier unten –«

»Alle Kinder«, sagte er müde. »Mary, alle Kinder hier haben sich verändert. An ihre neue Umgebung angepaßt, und das ist das Natürlichste von der Welt. Wir hätten Grund zur Sorge, wenn dem nicht so wäre. Diese Umwelt ist immerhin fremd. Eine neue Erfahrung für unsere Rasse. In gewissem Sinne leben wir wie auf einem anderen Planeten. Wir müssen neue Fähigkeiten, Umstellungen erwarten, und das wird sich an den Kindern schneller vollziehen, weil sie gar nichts anderes gekannt haben. Das muß so sein, das ist richtig so. Mary, das rumort schon lange in dir, merkst du nicht, was mit dir los ist?«

»Doch«, sagte sie bitter. »Oder nicht?«

»Mary, hör mir einen Augenblick zu …«

Sie spürte, daß er irgendwo immer noch auswich. Möglich, daß sein Geist automatisch alles ausklammerte, was nicht gemessen und klassifiziert werden konnte. Sie wollte schreien. Diese Zuversichtlichkeit, diese Sachkenntnis, all das schien ihr plötzlich so selbstgefällig. Das Meer war grenzenlos, und grenzenlos waren die Ängste, die es hervorbringen mochte. »Wir alle … es heißt, wir sind alle aus dem Meer gekommen«, sagte sie. »Könnte es da nicht sein … Rückschritt, verstehst du, so eine Art Rückfall …«

Er knipste die Bettlampe an. »Mary, ist dir überhaupt klar, was du da sagst?«

Sie nickte lebhaft und versuchte, sich ihm verständlich zu machen. »Ich habe lange darüber nachgedacht, Jack. Ich meine, wie Vögel ihre Schwingen verlieren, und die Robben – sind die Robben nicht ins Meer zurückgegangen, irgendwie degeneriert? Und jetzt wir, die Kinder, sie … schwimmen wie Fische, immer mehr wie Fische …«

»Aber Teufel noch mal«, sagte er, »weißt du, Mary, wie lange so etwas dauert? Eine biologische Degeneration? Wie viele Millionen … Also hör mal, Mary, hör mir mal zu. Eine Million Jahre. So lange gibt es uns, vielleicht ein paar tausend mehr oder weniger. Und das ist nichts, überhaupt nichts. Das ist … so viel.« Er schnippte mit den Fingern. »Du denkst in den falschen Kategorien, in historischen Kategorien. Diese ganze Zeit, diese Millionen Jahre haben uns nicht einmal den kleinen Zeh verlieren lassen. Die Erde ist ja nur einen Tag alt. Sie hat vierundzwanzig Stunden gebraucht, um zu entstehen, alle Entwicklungsstufen durchzumachen und zu uns zu gelangen. Weißt du, was wir sind, was unsere ganze Geschichte ist? Das letzte Ticken der Uhr … So lange braucht die Evolution, das ist eine ganz große Sache …«

Aber es hatte keinen Sinn, all das hatte sie schon gehört. »Vielleicht wird es diesmal nicht so sein«, sagte sie. »Wir … haben uns am Ende so schnell entwickelt.

Vielleicht entwickeln wir uns jetzt genauso schnell zurück …«

»Das hat überhaupt nichts miteinander zu tun«, sagteer. »Überhaupt nichts.«

Sie sagte verzweifelt: »Wir waren so schlau, Jack, uns so aus der Affäre zu ziehen, im Meer zu leben. Eine neue Welt zu schaffen. Aber vielleicht … könnte das nicht irgendwie genau das sein, was das Meer wollte? Wozu wir ausersehen waren? Oh, ich weiß, es klingt verrückt, aber glaub mir, wenn ich die Kinder sehe … Neulich ist Jen in der Küche ausgerutscht. Als sie aufstehen wollte, da hat sie wohl versucht sich umzudrehen, als ob sie im Wasser wäre – sie vergaß, daß sie in der Luft war … Und David, er schwimmt genau wie eine kleine Krabbe … Wenn ich so etwas sehe, denke ich … Ach, ich weiß nicht, was ich manchmal denke – vielleicht sind wir gar keine … Pioniere. Das mit Den Tiefen, es heißt, sie rufen, sie ziehen … Vielleicht werden wir bloß zurückgezogen, dahin, wo wir hingehören …«

Schließlich wurde er wütend. »Na schön. Sagen wir, dieser ganze Unsinn stimmt. Wir besitzen ein rassisches Erinnerungsvermögen in unseren Gehirnen, in unserem Nervensystem. Wir erinnern uns an die Anfänge des Lebens, die so viele Jahre zurückliegen, so viele Jahre, daß wir nicht einmal die Tausende zählen können. Nun, dann sind wir schon wieder nach Hause zurück, Mary. Genau hier, wo wir sind, hier hat das Leben angefangen. In den Untiefen, die Sonne trinkend. Nicht in Den Tiefen. Dahin hat es sich ausgebreitet, genau wie zum Land hin, und zwar gleichzeitig. Es gibt nichts, was uns von dort hinten rufen könnte. Wir gehören nicht dorthin, haben nie dorthin gehört.«

Sie zitterte ein wenig, betrachtete das Kissen, sah seine Struktur. Jeden Faden in dem Gewebe. »Ich wollte menschlich bleiben«, sagte sie. »Das war alles. Bloß menschlich bleiben, und die Kinder …«

Er streckte die Hand nach ihr aus. »Du bist menschlich. Du bist schon richtig.«

Sie sah ihn nicht an. »Ich glaube«, sagte sie, »ich glaube, jetzt … würde ich die Städte vorziehen. Jack …«

Er antwortete nicht, und sie wußte, ohne hinzusehen, was für ein Gesicht er machte. Etwas in ihr schien sich zu verbiegen und zu erkalten. Er würde vielleicht alles für sie tun, aber das nicht. Er würde nicht an Land gehen, nicht jetzt. Die Reiche, die Herden und Stämme des Meeres, er hatte sie im Kopf, auch sie riefen. Der Traum war zu stark, er konnte ihn nicht fahrenlassen.

Er stieß die Bettdecke beiseite und schwang die Beine aus dem Bett. Sie horchte auf das leise Rascheln, als er nach seinem Morgenrock griff. »Mary«, sagte er. »Warum gehst du nicht mal zum Arzt und läßt dich untersuchen? Du bist erschöpft, das ist meine Schuld, ich hätte das merken müssen … Zu viel allein, du hast keine Abwechslung. Nicht mehr. Vielleicht solltest du eine Reise an Land machen, deine Familie besuchen. Ich sag dir was – ich nehm mir ein paar Tage Urlaub, und wir fahren nach Siebenundfünfzig. Die Kinder nehmen wir mit, was sagst du dazu? Sie haben das neue Theater da oben, eine Menge Kitsch. Na, was sagst du?«

Sie antwortete nicht. »Ich werde mit Jen reden«, sagte sie. »Gleich morgen. Diese Albernheiten müssen aufhören …« Er ging hinaus, machte Licht. Fing an, in der Küche zu hantieren. Er brachte ihr eine Tasse Kaffee mit einem Schuß Rum. Sie hängte sich ein Bettjäckchen über die Schultern, setzte sich auf und trank, die Hände um die warme Tasse gelegt. Fühlte das Zittern noch tief in ihrem Körper, hörte das Summen der Klimaanlage, dachte an die dummen, dämlichen Meßinstrumente, wie sie kontrollierten und berichteten. Druck, Feuchtigkeit, Sauerstoffstand, dieser ganze Kram. Während Jack dasaß und sie beobachtete, rauchte und lächelte und nicht verstand …

Langsam durchschwamm Mary die Stadt noch einmal der Länge nach, blickte nach rechts und links zu den in den Schatten geschmiegten Kuppeln mit ihren Fenstern wie viereckige helle Augen. Das Meer war jetzt dunkler. In der wirklichen Welt, da oben, ging der Mond unter. Die Oberfläche war bloß als ein gräulicher Schimmer zu sehen. Große Farne zeichneten sich gegen sie ab, neigten sich majestätisch mit der Strömung wie von einem endlosen Wind gebogene Bäume. Der Ebbestrom hatte eingesetzt, das Meer zog zu Den Tiefen hin.

Nach jenem Gespräch mit ihrem Mann war ihre Ruhelosigkeit schlimmer geworden. Plötzlich erschien ihr die ganze Einrichtung der Kuppel bedrückend und lächerlich. Zuerst hatte sie die Vorhänge abgenommen. Der glänzende blaue Stoff mit den blassen, übereinandergreifenden Gezeitenmustern verschwand im Schrank. Mary hatte einen neuen gelben Stoff aufgehängt, sonnengelb, mit Knospen und blühenden Bäumen bedruckt. Dann verbrannte sie die stachligen, bernsteingefleckten Muschelschalen und die Seeigellampen, Jens schlampige Sammlung von Meeresbodenfossilien und sogar die Kissenhüllen, auf die sie selbst einst wogende minoische Muster aus Wasserpflanzen und Polypen gestickt hatte. Statt dessen stellte sie Dinge vom Land auf, Pferde- und Katzenfigurinen, keuchende Porzellanhunde. Längst verschwundene Geschöpfe, aber sie erinnerten sie an die Erde und daran, wie die Menschen einst gelebt hatten.

Jeder Zierat, jeder Meter Stoff mußte von der Oberfläche gekauft werden. Die Kosten waren ungeheuerlich gewesen, aber nachdem sie einmal angefangen hatte, schien sie nicht mehr aufhören zu können. Jack hatte die Augenbrauen hochgezogen, aber nichts gesagt. Jen hatte geräuschvoller protestiert.

Ihren Höhepunkt hatte die Krise an jenem Tage erreicht, an dem Mary in dem Wandaquarium von Jens Zimmer ein Stück eines alten, korallenverkrusteten menschlichen Schädels, in dem Jen ihre Krebse angesiedelt hatte, fand. Sie hatte ihre Tochter deswegen geschlagen, etwas, das sie noch nie getan hatte, und den Behälter samt Inhalt durch die Schleuse ausgeleert. Jen war laut heulend ins Meer geflüchtet und stundenlang nicht nach Hause gekommen. Danach verbrachte Mary eine Woche damit, die ganze Kuppel ihres Hauses zu scheuern und den samtigen Tang zu entfernen, bis die kunststoffüberzogenen Platten wie neu glänzten. Aber je mehr sie tat, je mehr sie versuchte, die See aus ihrem Haus zu vertreiben, desto gegenwärtiger schien sie zu werden. Nachts, wenn sie still dalag, glaubte sie fühlen zu können, wie die Wellen langsam gegen den Bungalow andrängten, ihn hierhin und dorthin bogen, langsam, langsam, hierhin … dann dorthin …

Sie hielt auf die Westterrasse zu, die, auf einem abfallenden Felsenrücken erbaut, etwas höher als der Rest der Stadt lag. Ständig rufend, schwamm sie fast bis zur Kuppel der Belmonts und wieder zurück. Jen war nicht in der Stadt; oder sie wollte nur nicht antworten. Marys Gesicht war jetzt unter der Maske schweißnaß, und ihre Lungen arbeiteten schwer. Alle möglichen Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Stickstoffnarkose, das, was sie früher den Tiefenrausch nannten … aber das war unmöglich geworden, die Lungen lieferten eine Sauerstoff-Helium-Mischung. Dann vielleicht Sauerstoff Vergiftung; dabei konnte es passieren, daß man sich die Maske abriß, das Wasser einatmete und starb. Aber das war praktisch noch nie vorgekommen. Ganz unten an Marys Rücken, und auch an Jens, befanden sich andere Kontakte. Sie führten zu tief im Körper gelegenen Zellen, die das Blut selbst maßen und auf seinen Sauerstoffgehalt prüften, und die Lungen sorgten von sich aus für Ausgleich. Tornisterversagen? Unsinn, die Flasche an ihrem Gürtel hätte sie noch zwanzig Minuten mit Atemluft versorgt. Und die Funkbake, da war ja die Funkbake. Aber Baken können ausgehen …

Mary machte kehrt, unterschwamm das Drahtnetz der Straßenlampen. Dorthin, wo sie die Taucher an dem neuen Gebäudekomplex arbeiten sehen konnte. Im Schein der Straßenlampen umschwebten die Körper fern und winzig klein die geschwungenen Rippen wie silberne Fische. Unter ihr tauchten gerade die Fenster des Baubüros aus der Dunkelheit auf. Bald würde ihr nichts anderes übrigbleiben als Jack zu rufen … Sie spürte die Angst wieder wie eine Kälte um die Herzgegend. Es gab nur eine Stelle, an der sie noch nicht gewesen war. Sie begann zielbewußt von der Stadt und ihren Lichtern weg auf Die Tiefen zuzuschwimmen.

Gleich hinter den Kuppeln fiel der Meeresboden in einer Reihe von meilenweiten und meilenlangen Gräben ab. Selbst unsichtbar, waren ihre Umrisse immer noch furchteinflößend. Dies war die Grenze, vielleicht die letzte Grenze auf diesem Planeten. Sie überschwamm den Friedhof, versuchte die zerbrechlichen, aus dem Treibsand aufragenden Kreuze mit ihren wie graue Blätter in der Strömung flatternden Namensschildchen nicht zu sehen. Dorthin, wo das letzte Licht verblaßte und weiter …

Sie befand sich in einer leeren, abgrundtiefenSchwärze. Über ihr ein vages Dunkel, das nur um eine Nuance weniger dunkel als die Dunkelheit selbst war. Nicht heller, irgendein Nachzügler vielleicht, der hinter dem Licht herhinkte. Mary ging verzweifelt tiefer, spürte, wie der Druck ihren Körper wie mit kalten Händen zusammenpreßte. Sie keuchte, aber hören konnte sie davon nichts, ihr Atem allein setzte das Kehlkopfmikrofon nicht in Betrieb. Sie rief wieder. Ihre Stimme war ein in der Unendlichkeit fast verlorener Strahl.

Aber da war etwas, ein Fleck über dem Abgrund. Winzig, fast unsichtbar, etwas, das so verschwommen war, daß es die Netzhaut narrte. Mary schwamm darauf zu, und da war etwas Langes, etwas Blasses wie ein Körper, der gefangen auf einer dichteren Schicht des Meeres trieb. Tief unten, weit weg …

»Jen!«

Verzweifelt strampelte Mary vorwärts. Ihre Bewegungen verloren die Grazie und Harmonie. Sie kämpfte gegen den Druck an, und es war, als ob sie gegen eine Wand rannte. Es kam ihr vor, als ob ihr ganzer Körper schrumpfte, sich verdichtete, winzig wie ein Fisch wurde.

»Jen!«

Sie hatte das Ding erreicht und streckte die Hand danach aus, als es sich bewegte, sich ihrem Griff entwand, drehte … Sie sah die plötzlich aufsteigenden hellen Atemwölkchen, das Paddeln der Flossen. Hörte ihre Tochter im Kopfhörer kichern.

Angst verwandelte sich in Zorn. Mary bog sich im Wasser. »Jen, komm sofort zurück …« Sie wollte wieder zupacken, aber das Mädchen entwand sich ihr so schnell wie ein Fisch. »Mami, horch …« Die Stimme sprudelte durch das Meer. »Es ist laut heute nacht, horch …«

Mary machte den Mund auf, um wieder zu rufen und hielt ein. Das Geräusch … war da ein Geräusch?

Sie horchte angestrengt. Hielt den Atem an. Es war unmöglich; kein Außengeräusch konnte durch ihre abgeblockten Ohren kommen. Und dennoch … Da und jetzt wieder … Ein dumpfes Pochen, aber doch kein Pochen. Eine Art Druck, wie ein Stoß gegen das Gehirn. Unermeßlich langsam und gewaltig und irgendwie uralt … Mit ihrem Herzen pulsierend, vergehend und wieder anschwellend, um ihren Körper zu berühren. Ein Erdbeben oder ein Vulkan, sie hatte keine Ahnung. Es war ihr auch völlig gleichgültig. Irgendwie war es ihr genug, daß die Empfindung, das Nicht-Geräusch da war. Es war etwas Uraltes, Ewiges. Die wahre, dunkle, schwarzblaue Stimme des Meeres …

Die Frau und das Mädchen schwebten ein wenig abseits voneinander, die Körper verschwommen, leuchtende Pünktchen in den Wassermassen. Mary hatte das Gefühl, die ganze Nacht so liegen zu können, ohne zu sprechen, sich nur der Fremdheit überlassend, die sie in vollen Stoßen vom Kopf bis zu den Füßen erfüllte. Rhythmen zu hören, die keine Rhythmen waren, die sich miteinander verbanden und überkreuzten, die ineinander aufgingen wie die Töne des Meer-Jazz. Tröstend, beruhigend, irgendwie warm

Sie konnte Jen rufen hören, aber die Stimme war unwichtig, fern. Erst als das Mädchen zu ihr hinschwamm, sie bei den Schultern packte und auf die Meßgeräte zwischen ihren Brüsten deutete, löste sie sich aus ihrer Halbtrance. Das Etwas da unten rief und pochte noch immer. Mary drehte sich widerstrebend um, merkte, daß Jen sie bei der Hand hielt. Sie ließ sich treiben, während Jen langsam paddelte und wieder vergnügt lachte, in ihren Kopfhörer hineingluckste. Ihre wogenden Haare berührten und vermischten sich. Mary blickte zurück und hinab, und plötzlich wußte sie, daß ihr innerer Kampf vorüber war.

In dem Geräusch, in dem Etwas, das sie gehört oder gefühlt hatte, war nichts Beängstigendes gewesen. Nur ein sonderbares und gewaltiges Versprechen. Die Meermenschen würden ihre Kuppeln weiter immer tiefer in die Nacht hinein bauen und Druck und Kälte bekämpfen, bis alle Meere der Welt wahrhaft voll sein würden. Und die Zukunft würde, was immer auch geschehen sollte, für sich selbst sorgen. Vielleicht würden die Techniker eines Tages ein Wunder vollbringen, und dann würden sie die Kuppeln unter Wasser setzen, und das Meer würde ihr Element sein, in, dem sie lebten und atmeten. Sie versuchte, sich Jen mit vom Hals herabwallenden hellen Kiemenfedern vorzustellen. Sie umfaßte die Hand ihrer Tochter fester und ließ sich sanft durch die Dunkelheit ziehen.