Die seligen Gefilde
(Richard
McKenna)
Am Morgen des fünften Tages erwachte Kinross und wußte, daß einer von ihnen aufgefressen sein würde, ehe die Sonne unterging. Er überlegte sich, wie das wohl wäre.
Gestern hatten sich die acht kattun- und khakibekleideten Seeleute mit vor Durst brüchigen Stimmen unentwegt darüber gestritten. Acht vom Schicksal verschonte Überlebende, die ohne Nahrung und Wasser in einem seeuntüchtigen Rettungsboot steuerlos auf den Wogen des Indischen Ozeans trieben. Die SS Ixion, ein 6000-Tonnen-Trampdampfer, der Sprengstoffe zu den Roten in Sumatra schmuggelte, war in der Nacht des 23. Dezember 1959 explodiert und innerhalb von zehn Minuten gesunken. Fettwanst John Krüger, der Funker, hatte kein Notsignal mehr geben können. Vier Tage unter der senkrechten Sonne des Wendekreises des Steinbocks, abseits der Schiffahrtslinien und tausend Meilen vom Land entfernt, ohne Regen und kaum Hoffnung darauf – Grund und Zeit genug für finstere Gedanken.
Kinross, hager und drahtig in den verschlissenen Kattunhosen eines Maschinisten, betrachtete die anderen und überlegte sich, wie es wohl vor sich ginge. Sie nahmen ungefähr die gleichen Haltungen ein wie gestern, schliefen noch oder taten so. Er betrachtete die stoppelbärtigen Gesichter, die aufgesprungenen Lippen und eingesunkenen Augen, und er wußte, was sie empfanden. Die Haut gespannt und ledern, die Zunge an Zähnen und Gaumen klebend, die ausgetrocknete Kehle ein Grauen pfeifenden Atems und jede Zelle im Körper jammernd.
Durst war schlimmer als Schmerz, dachte er. Webers Gesetz des Schmerzes. Der Schmerz nahm zu wie der Logarithmus seiner Ursache; ein Mensch konnte damit Schritt halten. Aber der Durst potenzierte sich, stieg und stieg unaufhörlich. Gestern hatten sie den kritischen Punkt erreicht, und heute mußte etwas geschehen.
Der kleine Fay mit dem Rattengesicht und der vorspringenden Stirn hatte gestern davon angefangen. In Meerwasser gekochtes Menschenfleisch, hatte er gesagt, nehme das meiste Salz fort und lasse eine Brühe zurück, die trinkbar sei. Kinross erinnerte sich an dieses Seemannsgarn, das auf seiner ersten Fahrt vor vielen Jahren unter den Schiffsjungen gesponnen wurde, aber jetzt war es kein Leckerbissen mehr für die morbide Neugier der Jugend. Es drängte sich als neunter Passagier in das Boot und setzte sich zwischen ihn und all die anderen.
»Nix kleine Stock, Fay«, hatte der hünenhafte Schwede Kerbeck gebrummt. »Wenn wir jemand müssen essen, dann wir essen du.«
Kinross betrachtete jetzt Kerbeck, der links am Heck saß und dessen riesiger bronzefarbener Arm die nutzlose Ruderpinne umschlang. Er trug ein weißes Unterhemd und Khakihosen, und Kinross fragte sich, ob er wach sei. Auch bei Krüger, ihm genau gegenüber, ließ sich das nicht mit Sicherheit sagen. Der Funker hatte während der vier Tage meistens so geschlafen, die plumpen unbeharrten Hände über dem leeren Magen unter dem weißen Trikot verschränkt. Er hatte nicht an dem rastlosen Hin und Her und dem Gerede der anderen teilgenommen, sondern sich nur bewegt, um das Taschentuch wieder anzufeuchten, das auf seinem fast kahlen Kopf lag.
»Ihr werdet mich nicht aufessen!« hatte Fay geschrien. »Und auch keine Lose ziehen. Ein Freiwilliger soll es sein, jemand, der an diesem Schlamassel schuld ist.«
Fay hatte Kerbeck die Schuld dafür gegeben, daß sich kein Proviant im Boot befand. Der Schwede entgegnete wütend, er habe das schon gewußt als sie aus Mossamedes ausgelaufen seien. Fay gab Kinross die Schuld dafür, daß der Motor des Rettungsboots nicht funktionierte. Kinross erklärte, mit kribbelnder Haut, recht milde, daß die Batterie zwei Tage vor dem Sinken noch geladen und der Dieselmotor in Ordnung gewesen sei. Da wandte sich Fay an Krüger und warf ihm vor, kein Notsignal gefunkt zu haben. Krüger beharrte darauf, daß die Explosion ihn von der Funkkabine abgeschnitten habe und daß, wenn er nicht sofort das Rettungsboot ausgesetzt hätte, vielleicht keiner von ihnen mit dem Leben davon gekommen wäre.
Kinross betrachtete jetzt den neben dem Motor schlafenden Fay. Auf der anderen Seite, ebenfalls schlafend, lag Bo Bo, der gigantische senegalesische Heizer, nur mit Kattunshorts bekleidet. Gestern hatte Kinross den Eindruck gehabt, daß irgendein Einverständnis zwischen Fay und dem mächtigen Neger bestünde. Bo Bo hatte Fays Beschuldigungen brummend beigepflichtet, ebenso wie die drei Männer am Vordersteven.
Erstaunlicherweise hatte Krüger die Drohung abgewehrt. Ohne Heftigkeit sagte er mit seiner schrillen durchdringenden Stimme zu ihnen: »Kommt nur an einen von uns hier achtern, dann kämpfen wir alle drei.« Kerbeck hatte genickt und die schwere Ruderpinne aus Messing herausgezogen.
Während sie schwankten, ging Krüger zum Angriff über. »Na, such doch einen aus, Fay, warum zögerst du? Wer hat denn schon am meisten vom Leben gehabt? Nimm den ältesten.«
Silva, der runzlige, glotzäugige Portugiese am Bug, krächzte seinen wilden Protest heraus. Neben ihm lachte der untersetzte Mexikaner Garcia rauh.
»Okay, wer stirbt am schnellsten? Nimm den Schwächsten«, sagte Klüger. »Nimm Whelan.«
Der Schiffsjunge Whelan, ebenfalls am Bug, fand die Kraft, um Gnade zu winseln. Kinross betrachtete, während er sich an gestern erinnerte, die beiden am Bug ausgestreckten Männer. Er meinte halb, daß der Mexikaner seinen Blick erwidere. Sein gedrungener, kattunbekleideter Körper paßte sich dem Stampfen des Bootes an, während es über die Wellen glitt, im Gegensatz zu der Schlaffheit des alten Portugiesen.
Schließlich hatte Garcia gesagt: »Du hast verloren, Fay. Du mußt mit uns übrigen dein Glück beim Losziehen versuchen. Ich stelle mich auf Krügers Seite.«
Die drei Männer am Heck hatten gegen das Losziehen gestimmt, fügten sich dann aber der Mehrheit. Danach hatte Krüger an jeder vorgeschlagenen Methode etwas auszusetzen, indem er darauf hinwies, daß sich dabei Betrug einschleichen könnte. Der Tag ging unter Kabbeleien zur Neige. Kinross dachte an die erstaunlich mühelose, fließende Beschaffenheit von Krüger an jeder vorgeschlagenen Methode etwas auszusetzen, Krächzen der anderen kontrastierte. Er schien in besserer Verfassung zu sein als die übrigen und die Dinge irgendwie in der Hand zu haben.
Kurz vor Sonnenuntergang, als sie die Sache auf den nächsten Tag verschoben hatten und während Silva seinen Rosenkranz durch die Finger gleiten ließ und um Regen betete, hatte der Schiffsjunge Whelan backbords grüne Felder erblickt. Er schrie seine Entdeckung heraus, warf seinen Körper über das Schandeck und versank wie ein Stein.
»Da hast du es, Krüger!« hatte Fay bitter geröchelt. »Bis jetzt hatte dein fetter Leib eine Chance auf acht.« Kinross erinnerte sich an seinen eigenen Anflug des Bedauerns.
Kinross spürte, wie die steigende Sonne an seinen trockenen Augäpfeln saugte, und der Durst flammte dreidimensional durch ihn, verzehrte Verstand und Vernunft. Er wußte, daß heute der Tag war und daß er es so wollte. Er schaute wieder vor sich, und der Mexikaner sah ihn tatsächlich aus seinen rotumränderten Augen an.
»Ich weiß, was du denkst, Kinross« rief er nach achtern. Seine Stimme weckte die anderen. Sie setzten sich allmählich auf.
Der kleine Fay übernahm mit wackelndem Kopf, roten Augen, die um Zustimmung baten, die Führung. »Auslosen«, sagte er. »Kein Palaver mehr. Jetzt sofort, sonst sieht keiner von uns die Sonne untergehen.«
Krüger stimmte zu. Er klimperte mit Shillingstücken in der Hand und reichte sie herum. Nur eines trug das Bildnis Georges V. Er schlug vor, Bo Bo, dem Dümmsten, die Augen zu verbinden und ihn die Münzen nacheinander aus dem Schöpfeimer nehmen zu lassen. Fay sollte Rücken an Rücken mit ihm sitzen und sobald Bo Bo eine Münze herausgenommen hatte, aber bevor jemand sie sehen konnte, den Namen des Mannes nennen, der sie bekommen sollte. Wer den Bart bekam, war das Schlachtopfer.
Alle erklärten sich einverstanden. Silva bat um Zeit zum Beten, und Fay machte sich über ihn lustig. Der kleine Mann hockte auf dem Maschinenhaus, Rücken an Rücken mit Bo Bo, und betrachtete berechnend die Runde. Kinross konnte die Bosheit seines Blickes spüren.
›Das Gesetz der Wahrscheinlichkeit‹ dachte Kinross. ›In der Mitte der Serie. Nummer drei oder vier. Natürlich Unsinn.‹ Offensichtlich dachte Fay das gleiche. Als der Neger die erste Münze herauskramte und fragte: »Wer soll die bekommen?«, antwortete Fay: »Die nehme ich.« Es war eine Königin, und Kinross haßte Fay.
Die nächste wies Fay Bo Bo zu, und der gigantische Schwarze war gerettet. Bei der nächsten nannte Fay, während Kinross den Atem anhielt, Kerbeck. Auch gerettet. Jedesmal lief ein Seufzen durch das Boot.
Dann die vierte Prüfung, und Fay rief: »Kinross.« Der Maschinist blinzelte mit seinen trockenen Augen und bemühte sich, die Münze in den dicken schwarzen Fingern zu erkennen. Er wußte es zuerst durch die Erleichterung auf Silvas Gesicht und dann sah er es selbst deutlich. Es war der Bart.
Alle außer Fay und Bo Bo mieden seinen Blick. Kinross wußte kaum, was er empfand. Der Gedanke kam: ›das Ende der Qual‹ und dann: ›Ich werde anständig sterben‹. Aber vage verübelte er Fay immer noch die hämische Miene des Triumphes.
Fay klappte sein Messer auf und schob den Schöpfeimer neben das Maschinenhaus. »Halt ihn über das Maschinenhaus, Bo Bo«, befahl er. »Wir dürfen keinen Tropfen Blut verlieren.«
»Verdammt, Fay, noch lebe ich«, sagte Kinross. Seine ausgedorrten Gesichtsmuskeln arbeiteten mühsam, und sein Adamsapfel zuckte bei dem vergeblichen Versuch zu schlucken.
»Haut mir erst eins über den Schädel, Kameraden«, flehte er. »Du, Kerbeck, benutz die Ruderpinne.«
»Ja«, sagte der Schwede, ohne seinen Blick zu erwidern. »Du noch warten ein wenig, Fay.«
»Hört mir alle zu« sagte Krüger. »Ich weiß einen Weg, wie wir in wenigen Minuten so viel Süßwasser bekommen können, wie wir trinken können, ohne daß jemand zu sterben braucht.« Seine helle Stimme klang mühelos, flüssig, tröpfelte die Wörter in ihre verblüfften Ohren.
Alle starrten Krüger mißtrauisch an, haßten ihn halb wegen seiner kühlen Stimme und des Mangels an sichtbarem Leiden. Kinross fühlte ein Fünkchen Hoffnung.
»Ich meine es wirklich«, sagte Krüger ernst. »Kaltes Süßwasser ist überall um uns herum, wartet auf uns, wenn wir nur eine Kleinigkeit wissen, die uns nicht einfallen will. Ihr habt es gestern den ganzen Tag gefühlt. Ihr fühlt es auch jetzt.«
Sie stierten. Fay fuhr mit dem Finger auf der Klinge seines Klappmessers hin und her. Dann sagte Garcia aufgebracht: »Du bist verrückt, Krüger. Bei dir ist eine Sicherung durchgebrannt.«
»Nein, Garcia«, sagte Krüger. »Ich war noch nie klarer im Kopf. Ich wußte es die ganze Zeit, sogar schon, bevor das Schiff explodierte, aber ich mußte den richtigen Augenblick abwarten. Schlafen, nicht reden, mich nicht bewegen, nichts tun, um die Körperflüssigkeit nicht zu vergeuden, damit ich reden könnte, wenn die Zeit dazu reif war. Das ist sie jetzt. Ihr fühlt es, nicht wahr? Hört mich jetzt an.« Krügers klare, helle Stimme plätscherte wie Wasser über Kieselsteine. Er kletterte auf den Achtersteven und sah auf die zu einem lebenden Bild um das Maschinenhaus herum erstarrten sechs Männer hinab. Kinross bemerkte, daß sein spärliches weißes Haar glatt war, und sah die Spur gespannter Muskeln unter dem fetten Gesicht.
»Ich werde euch eine wahre Geschichte erzählen, damit ihr es leichter verstehen könnt«, fuhr Krüger fort. »Vor sehr, sehr langer Zeit verirrten sich einige Soldaten im Tibesti-Hochland in Afrika und waren dem Verdursten nahe, wie wir jetzt. Sie stiegen ein Tal hinauf, ein ausgetrocknetes Flußbett voller Gebeine, und gelangten zu zwei großen Felsen, die wie Säulen nebeneinander aufragten. Dort taten sie etwas, und als sie zwischen den beiden großen Felsen hindurchgingen, kamen sie in eine andere Welt mit grünen Bäumen und fließendem Wasser. Dort lebten sie alle, und ein paar von ihnen kehrten zurück.«
»Ich habe diese Geschichte schon irgendwo einmal gehört«, sagte Kinross.
Fay wirbelte zu ihm herum. »Du lügst, Kinross! Du begaunerst uns! Krüger, das ist nur ein Aufschub!«
»Ich habe die Geschichte nicht geglaubt«, sagte Kinross sanft. »Ich glaube sie auch heute nicht.«
»Ich glaube sie«, sagte Krüger scharf. »Ich weiß, daß sie wahr ist. Ich bin dort gewesen. Ich habe einen Blick in diese Welt geworfen. Wir können einfach das tun, was diese Soldaten getan haben.«
»Quatsch, Krüger!« knurrte Garcia. »Wie kann es eine solche Welt geben? Wie bist du hineingelangt?«
»Ich bin nicht hineingelangt, Garcia. Ich konnte sie sehen und hören, aber als ich sie betrat, verblaßte alles um mich herum.«
»Was für einen Sinn hat es also …«
»Wartet. Laßt mich ausreden. Damals fehlte mir etwas, das wir jetzt hier haben. Ich war allein, nicht halbtot vor Durst, und ich konnte nicht ganz das glauben, was ich sah und hörte.«
»Was soll dann …«
»Wartet. Hört mich bis zu Ende an. Glaube mir, Garcia, glaubt mir alle. Wir sind hier zu siebt, ohne eine andere Menschenseele im Umkreis von tausend Meilen. Unsere Not ist unerträglich. Wir können glauben. Wir müssen glauben, sonst sterben wir. Habt Vertrauen zu mir. Ich weiß es.«
Der Mexikaner kratzte sich die schwarzen Stoppeln auf seinem schweren Kiefer. »Krüger, ich glaube, du bist genauso verrückt wie Whelan«, sagte er langsam.
»Whelan war nicht verrückt«, sagte Krüger. »Er war noch ein Kind und konnte nicht warten. Er sah die grünen Wiesen. Glaubt mir jetzt, alle von euch, wenn wir alle diese Wiese zur gleichen Zeit wie Whelan gesehen hätten, so würden wir in diesem Augenblick durch ihr Gras gehen.«
»Ja, wie Whelan jetzt«, warf Kerbeck ein.
»Wir haben Whelan umgebracht, versteht ihr das? Wir haben ihn umgebracht, weil wir nicht das glauben konnten, was er sah, und dadurch war es nicht wahr.« Die helle sprudelnde Stimme brauste auf.
»Ich glaube, ich kapiere dich, Krüger«, sagte Garcia langsam.
»Ich nicht«, sagte Kinross, »es sei denn, du willst uns alle in einer Massenhalluzination sterben lassen.«
»Ich möchte uns in einer Massenhalluzination leben lassen. Das können wir. Das müssen wir, sonst sterben wir. Glaubt mir. Ich weiß es.«
»Du meinst also, daß wir in einem glücklichen Traum sterben, ohne zu wissen, wann das Ende naht?«
»Verdammt, Kinross, du besitzt etwas Bildung. Darum fällt dir so schwer, es zu verstehen. Aber laß dir das gesagt sein, diese Welt, dieser Indische Ozean, ist auch eine Halluzination. Die ganze menschliche Rasse hat sie in Millionen Jahren aufgebaut, sich selbst gedrillt, sie zu sehen und daran zu glauben, die Welt genügend gefestigt, damit sie jeder Erschütterung widerstehen kann. Es ist wie ein Traum, aus dem wir nicht erwachen können. Aber glaube mir, Kinross, du kannst aus diesem Alpdruck erwachen. Habe Vertrauen zu mir. Ich weiß den Weg.«
Kinross dachte: ›Es ist töricht von mir, darüber zu diskutieren. Auf alle Fälle ist es ein Aufschub für mich. Aber vielleicht … vielleicht …‹ Laut sagte er. »Was du da sagst … Ja, ich kenne den Gedanken … aber das einzige, was man tun kann, ist darüber zu reden. Es gibt keinen Weg, danach zu handeln.«
»Je mehr Wortgeplänkel, desto weniger Handlung – deshalb! Aber wir können handeln, wie die Soldaten von Tibesti.«
»Ein Märchen. Eine romantische Legende.«
»Eine wahre Geschichte. Ich bin dort gewesen, habe es gesehen, gehört. Es ist lange her, noch vor den Römern, als das Netz der Welt noch nicht so eng gewebt war. In der damaligen Welt gab es weniger Menschen deiner Art, Kinross.«
»Krüger«, unterbrach Kerbeck ihn. »Ich habe diese Geschieht schon mal hören. Bist du jetzt sicher, Krüger?«
»Ja, sicher, sicher, sicher. Kerbeck, ich weiß es.«
»Ich mitkommen, Krüger«, sagte der hünenhafte Schwede entschlossen. Garcia sagte: »Ich versuche es, Krüger. Sprich weiter.«
Die klare, helle Stimme nahm ihre flüssige Kadenz wieder auf. »Du, Kinross, bist der Hemmschuh. Du bist der Verstand, du bist der Maschinist mit einem Rechenschieber am Logtisch. Du bist ein Symbol und hältst uns andere zurück. Du mußt glauben oder wir schneiden dir die Kehle durch und versuchen es zu sechst. Das meine ich, Kinross.«
»Ich möchte glauben, Krüger. Etwas in mir weiß es genau, aber ich fühle, wie es mir entgleitet. Beschwöre es herauf. Hilf mir.«
»Nun gut. Du weißt es bereits. Du lernst nichts Neues, sondern erinnerst dich an etwas, das zu vergessen dir eingetrichtert wurde. Aber hör zu. Manchmal bricht die Wirklichkeit auf. Indianern in visionärer Selbstvergessenheit, Heiligen in der thebanischen Wüste, Märtyrern in den Flammen. Stets nach Entbehrung, anhaltendem Schmerz, wie heute bei uns, gestern bei Whelan. Aber immer heilt die Welt sich selbst, fügt sich wieder zusammen, durch die Macht der Menschen, die nicht sehen, die nicht glauben wollen, weil sie meinen, daß sie nicht glauben können. So wie du mitgeholfen hast, Whelan gestern umzubringen.
Du verstehst etwas von Elektrizität. Also, es ist wie ein Magnetfeld, das dort am stärksten ist, wo die meisten Menschen sind. Keine Wunder in Städten. Die Menschen halten die Welt zusammen. Von der Wiege an sind sie dazu gedrillt, sie zusammenzuhalten. Unsere Sprache ist das Gerippe der Welt. Die Wörter, die wir reden, sind Backsteine und Mörtel, um ein Gefängnis zu erbauen, in dem wir zu Kannibalen werden und vor Durst umkommen. Kinross, kannst du mir folgen?«
»Ja, ich kann dir folgen, aber …«
»Kein Aber. Hör zu. Hier sind wir, 18 Grad Süd, 82 Grad Ost, sieben Männer auf zehn Millionen Quadratmeilen Leere. Das Wirklichkeitsfeld ist hier schwach. Es ist ein dünner Fleck auf der Erde, Kinross, verstehst du das? Wir sind an der Grenze des Erträglichen. Es ist uns egal, ob die Welt sich an tausend Stellen spaltet, wenn wir nur hier aus ihr ausbrechen, unser Leben retten, kühles Süßwasser trinken können …«
Kinross durchfuhr ein Schauder der Angst. »Halt ein«, sagte er. »Mir ist es, glaube ich, nicht egal, ob die Welt sich spaltet …«
»Oh! Du fängst an zu glauben!« Die klare, flüssige Stimme sprudelte triumphierend empor. »Es sickert ein, unter den Worten und hinter den Gedanken. Es ängstigt dich. Nun gut. Glaube mir jetzt, Kinross. Ich habe mich ein halbes Leben damit befaßt. Wir fügen der Welt kein Leid zu, wenn wir ihr heimlich entschlüpfen. Wir lassen eine kleine Öffnung zurück, wie in Tibesti, aber wer wird die je finden?«
Der alte Portugiese fuchtelte mit seinen dürren Armen und krächzte. Dann fand er seine Stimme wieder und sagte: »Ich kenne die Geschichte von Tibesti. Meine Vorfahren haben sechshundert Jahre in Mogador gelebt. Es ist eine Berbergeschichte, und sie ist unheilig.«
»Aber wahr, Silva«, sagte Krüger sanft. »Nur darauf kommt es uns an. Wir alle wissen, daß sie wahr ist.«
»Du willst ein schwarzes Wunder, Krüger. Gott läßt es nicht zu. Wir werden unsere Seelen verlieren.«
»Wir werden unsere Seelen zu unserem persönlichen Besitz machen, Silva. Das habe ich ja Kinross gerade erklärt. Gott ist 18 Grad Süd, 82 Grad Ost recht dünn gesät.«
»Nein, nein«, jammerte der alte Mann. »Wir sollten lieber für ein weißes Wunder beten, ein Schiff, Regen …«
»Was immer mich am Leben läßt, ist ein weißes Wunder«, sagte Garcia aufbrausend. »Krüger hat recht, Silva. Ich habe jedes Gebet, das du in den letzten vier Tagen zum Himmel geschickt hast, einfach durch meine Gegenwart sabotiert. Es ist unser einziger Ausweg, Silva.«
»Hörst du das, Kinross?« fragte Krüger. »Sie glauben. Sie sind bereit. Sie können nicht länger auf dich warten.«
»Ich glaube«, sagte Kinross und schluckte schmerzhaft, »aber ich muß wissen, wie. Okay, schwarze Magie, aber welche Worte, welche Gedanken, welche Taten?«
»Keine Worte. Keine Gedanken. Sie sind Mauern, die man durchbricht. Nur eine einzige Tat. Eine unaussprechliche, undenkbare Tat. Ich weiß, was dich beunruhigt, Kinross. Hör zu. Ich meine Massenhypnose, gemeinsame Halluzination, etwas, das irgendwo auf der Welt Tag für Tag geschieht. Hier gibt es keine Menschenmenge, um die Umwelt intakt zu halten. Unsere Halluzination wird zu unserer Umwelt, mit Wasser und Früchten und Gras. Wir fühlen sie schon seit Tagen um uns, sie wartet auf uns …«
Die Männer um Kinross murmelten und schnauften. Ungeheuere Erregung stieg in ihm auf.
»Ich glaube, Krüger. Ich fühle es jetzt. Aber woher weißt du, was für eine Welt …?«
»Verdammt, Kinross, es ist keine schon vorhandene Welt. Es ist eine mögliche. Wir erschaffen sie auf unserem Wege dorthin, füllen sie mit dem, was wir uns wünschen … Die seligen Gefilde.«
»Ja«, sagte Kerbeck. »Die seligen Gefilde. Habe auch schon davon hören. Du eilen, Kinross.«
»Ich bin bereit«, sagte Kinross. »Und ob ich bereit bin!«
»Nun gut«, sagte Krüger. »Jetzt gehen wir hinüber zu unserer eigenen Welt und dem frischen, kühlen Wasser. Legt euch alle hin, macht es euch möglichst bequem, als wolltet ihr euch ausruhen.«
Kinross streckte sich am Achtersteven aus, neben Kerbeck. Krüger schaute mit seinem Vollmondgesicht, das jetzt wie aus Granit gehauen zu sein schien, auf sie herab. Er schwankte an der Heckreling im regelmäßigen Auf und Ab des Bootes.
»Ruht euch aus«, sagte er. »Bemüht euch nicht, strengt euch nicht an, sonst werdet ihr es verpassen. Kinross, versuche nicht, dich selbst zu beobachten. Ruh dich aus. Denke nicht. Laßt eure Bäuche einsinken und eure Finger sich spreizen …
Eure Körper sind schwer, zu schwer für euch. Ihr sinkt flach auf das weiche Holz. Ihr laßt euch gehen, sinkt herab …«
Kinross spürte die Trägheit und Schwere. Krügers Stimme klang von ferner, aber immer noch klar, flüssig, unaufhörlich. »… ruht euch aus. Der Schmerz verschwindet. Die Angst verschwindet … immer weiter … glücklich … zuversichtlich … ihr glaubt mir, weil ich es weiß … ihr glaubt mir, weil ich es weiß …«
Kinross fühlte einen zuckenden Mund, und es war sein eigener. Der schlaffe, schwere Körper war irgendwie auch sein eigener. Ein Singsang hob und senkte sich, wie die Wellen, Krügers dahinplätschernde Stimme …
»… ruhen … g-a-a-a-nz entspannt … ihr könnt nicht mehr mit den Augen blinzeln … versucht es nur … versucht es, so fest ihr könnt …«
Kinross fühlte ein Prickeln in den Händen und Füßen des Körpers, der nicht mehr mit den Augen blinzeln konnte. Aber natürlich …
»… die Kiefer sind zusammengepreßt … versucht, so fest ihr könnt … ihr könnt sie nicht öffnen … eine Hand hebt sich … höher und höher und höher … wie eine Feder … höher und höher … versucht … so fest ihr könnt … KINROSS, versuch deine Hand zu senken!«
Die Hand schwebte in Kinross’ Gesichtsfeld. Sie hatte etwas mit ihm zu tun. Er wollte sie senken, aber sie gehorchte ihm nicht. Sein Blick vibrierte im Rhythmus der Wellen und Krügers an- und abschwellender Stimme. Erst sah er Krüger in der Ferne, aber klar und deutlich, wie durch die falsche Seite eines Feldstechers, und die Stimme war klar, sprudelnd, wie ein Wasserfall über Felsen. Dann drang der dicke Mann näher und näher, ragte höher und höher auf, wurde verschwommener und undeutlicher, als er den Himmel ausfüllte, und die Stimme verklang. Dann kehrte sie zurück …
»… senkt die Hände … entspannt euch auf dem weichen, ruhespendenden Holz … entspannt euch alle … jetzt ist es fast so weit … bleibt entspannt, bis ich euch das Zeichen gebe … Hört gut zu: zum Zeichen werde ich zweimal in die Hände klatschen und sagen: ›Handelt.‹ Ihr werdet wissen, was ihr zu tun habt, und ihr werdet es tun … Nehmt mich mit … streckt jeder eine Hand aus und nehmt mich mit … blind, wo ihr seht, taub, wo ihr hört … ihr dürft es nicht versäumen, mich mitzunehmen … VERGESST DAS NICHT.
… das Meer ist verschwunden, der Himmel ist verschwunden, nichts ist mehr da außer dem Boot und grauem Nebel. Kinross, was siehst du?«
Grauer wirbelnder Nebel, schwarzes Boot, keine Farbe, keine Einzelheit, eine Traumskizze … keine Bewegung … kein Pulsen der Dinge mehr … das endlose Geplätscher und Gemurmel der Stimme, und dann eine andere Stimme: »Ich sehe um mich herum nur grauen Nebel.«
»Ringsherum nur grauer Nebel, und von dem Nebel hebt sich jetzt etwas ab. Du siehst etwas. Silva, was siehst du?«
»Ein Gesicht. Ich sehe ein Gesicht.«
»Fay, du siehst ein Gesicht. Beschreibe das Gesicht.«
»Das Gesicht eines Riesen. Größer als das Boot. Es ist bekümmert und ernst.«
»Kerbeck, du siehst ein Gesicht. Welche Form hat es?«
»Rund und dick. Mit was Härchen drauf.«
»Garcia, du siehst das Gesicht. Nenne uns die Farben.«
»Blaue Augen. Fast weißes Haar. Glatte und weiße Haut. Schmale und rote Lippen.«
»KINROSS, du siehst das Gesicht. Beschreibe die Einzelheiten.«
»Dünne, hochgewölbte Augenbrauen, weiß auf weiß. Breite Stirn. Pausbacken. Flache, platte Nase, bebende Nasenflügel. Breiter Mund, schmale Lippen.«
»Bo Bo, du siehst das Gesicht. Wer ist es, Bo Bo? Sage uns, wer es ist.«
»Du bist es, Boß Krüger.«
»Ja«, sagte das Gesicht und bewegte dabei die großen Lippen. »Jetzt seid ihr bereit. Jetzt seid ihr nahe daran. Erinnert euch an das Zeichen. Ihr müßt euch gehenlassen, indem ihr euch mir unterordnet. Jetzt werde ich das für euch tun, was kein Mensch für sich selbst tun kann: ich werde euch befreien. Erinnert euch an das Zeichen. Erinnert euch an die Befehle.
Ihr seid durstig. Durst kratzt in euren Kehlen, zerrt an euren Eingeweiden. Ihr müßt trinken. Was, ist euch egal, ihr besinnt euch nicht. Ihr würdet das Blut eurer Kinder oder eurer Väter trinken, und es wäre euch egal. Wasser, kaltes, nasses, sprudelndes Wasser, Bäche voll Wasser sind rings um euch, warten auf euch, grüne Bäume und Gras und Wasser.
Ihr wißt bereits, wie ihr hingelangt. Ihr habt es immer gewußt, ihr habt es schon in der Vorzeit gewußt, und jetzt erinnert euch daran und seid für das Zeichen bereit. Alle gemeinsam, und nehmt mich mit. Ihr wißt, was ihr zu tun habt. Nicht in Worten, nicht in Gedanken, nicht in Bildern, sondern tiefer, älter, weit unter diesen wißt ihr es. Vor der Welt, vor dem Gedanken war die Tat.«
Der große Mund sperrte sich bei dem letzten Wort auf, und grünes Licht loderte in seiner inneren Dunkelheit. Der Nebel wirbelte näher, und Kinross schwebte darin auf einer unerträglichen Nadelspitze des Durstes. Große blaufunkelnde Augen von furchtbarer Intensität, das Gesicht sprach wieder:
»AM ANFANG IST DIE TAT!«
Es schrie das letzte Wort gewaltig hinaus. Ein krachender Doppeldonner ertönte, und grüne Blitze flitzten durch die über dem Wort aufgerissene Rachenhöhle, bis es das Blickfeld füllte. Die grünen Blitze verdichteten sich zu Bäumen, bemoosten Felsen, einem rauschenden Bach … Kinross zerrte den schweren Leib an einem Arm hinter sich her, platsch, platsch, in das kalte klare Wasser.
Kinross trank gierig. Die Kühle floß in ihn und durch seine Adern, und das Feuer erlosch. Er konnte die anderen in oder neben dem klaren Bach kauern sehen, der friedlich über runde Kiesel und weißen Sand strömte. Dann überfiel ihn große Müdigkeit. Er trank nochmals kurz, legte sich auf das weiche grasbewachsene Ufer und schlief ein.
Als er erwachte, saß Garcia neben ihm, aß Bananen und bot ihm welche an. Kinross schaute sich um, während er aß. Flacher Boden dehnte sich etwa zehn Meter zu beiden Seiten des Baches aus; dann erhoben sich jäh konvexgewölbte Ufer hundert Fuß in die Höhe. In dem diffusen, wäßrigen Licht trug das Land das helle Grün des Grases und das Dunkelgrün der Bäume und Büsche. Die Farben waren matt und eintönig. Es gab keine zufälligen Unebenheiten auf dem Land wie Schluchten oder Felsblöcke. Die Bäume erschienen als verschwommene, niemals deutlich erkennbare Massen. Auch das Gras blieb verschwommen und vage.
Garcia aber konnte er absolut klar sehen.
Kinross schüttelte den Kopf und blinzelte. Garcia kicherte.
»Stör dich nicht daran«, sagte er. »Warum soll man neugierig sein?«
»Vermutlich kann ich nicht anders«, erwiderte Kinross. Dann erblickte er zu seiner Linken Krügers auf dem Rücken liegende Gestalt und sagte: »Komm, wir wollen Krüger wecken.«
»Das habe ich schon versucht«, sagte der Mexikaner. »Er ist weder tot noch lebendig. Sieh ihn dir an und sag mir, was du davon hältst.«
Kinross war alarmiert. Krüger wurde hier gebraucht. Er stand auf, ging hin und untersuchte den Körper. Er war warm und geschmeidig, aber ohne Reaktion. Kinross schüttelte nochmals den Kopf.
Flüche erklangen hinter dem undeutlichen Gebüsch am anderen Ufer. Fays Stimme. Dann kam der kleine Mann neben dem gigantischen Neger zum Vorschein. Sie hatten Papayas und Guavas in den Händen.
»Schläft Krüger immer noch?« fragte Fay. »Zum Teufel mit ihm und seiner Welt! Alles, was ich pflücke, ist voller Wurmstiche oder fauler Stellen.«
»Versuch einmal meine Bananen«, sagte Garcia. Fay aß eine und murmelte widerwillig seinen Dank.
»Wir müssen irgend etwas mit Krüger anfangen«, sagte Kinross. »Kommt, wir wollen darüber beratschlagen.«
»Silva! Kerbeck! Kommt her!« rief der Mexikaner.
Die beiden kamen zum Ufer herunter. Kerbeck aß mit Hilfe seines Fahrtenmessers eine große Rübe. Silva befingerte seinen Rosenkranz.
»Ich glaube, Krüger ist in einer Art Trance«, sagte Kinross. »Wir müssen eine Unterkunft für ihn errichten.«
»Hier wird es kein Wetter geben«, sagte Silva. »Weder Tag, noch Nacht, noch Schatten. Dieser Ort ist unheilig. Er ist nicht echt.«
»Unsinn«, entgegnete Kinross. »Er ist echt genug.« Er stampfte mit dem Fuß ins Gras, ohne eine Spur zu hinterlassen.
»Nein!« schrie Silva. »Nichts ist hier wirklich. Ich kann an keinen Baumstamm herankommen. Sie weichen vor mir zurück.« Kerbeck und Fay pflichteten ihm murmelnd bei.
»Kommt, wir wollen für Silva einen Baum fangen«, sagte Garcia lachend. »Da drüben steht ein kleiner. Bildet einen Kreis um ihn und laßt ihn nicht aus den Augen, damit er nicht entwischen kann.«
Kinross glaubte an den Gesichtsausdrücken der anderen ablesen zu können, daß sie seine ängstliche Erregung, sein Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, teilten. Alle außer dem spottenden Mexikaner. Sie umzingelten den Baum, und Kinross konnte Kerbeck dahinter gut sehen, aber der glatte grüne Stamm schien sich dem Brennpunkt des Blickes zu entziehen.
»Wir haben ihn für dich, Silva«, sagte Garcia. »Komm her. Nimm ihn und rieche daran.«
Silva eilte zu dem Baum. Sein altes runzliges Gesicht hatte einen wachsamen Ausdruck, und seine Lippen bewegten sich. »Du bist nicht ich, Baum«, sagte er leise. »Du mußt durch dich selbst du selbst sein. Du bist zu glatt und zu grün.«
Plötzlich umarmte der alte Mann den Stamm, hielt das Gesicht einen Fuß davon ab und musterte ihn scharf. Seine Stimme hob sich. »Zeig mir Flecken und Risse und Sprünge und rauhe Stellen und Knorren …«
Angst durchfuhr Kinross. Er hörte ein fernes Grollen, und die leuchtende Wolkenschicht senkte sich in grauen Wirbeln herab. Das Licht wurde trübe, und die matten Grüntöne der Landschaft gingen ins Gräuliche über.
»Silvia, hör auf!« rief er.
»Laß es gut sein, Silva!« schrie der Mexikaner.
»… zeig mir Büschel und Stacheln und Runzeln und Furchen und Löcher …« Silvas Stimme schwoll hemmungslos an.
Der Nebel wirbelte näher. Mit ihm ein leises Pochen und Rascheln. Dann sprach eine Stimme klar und silberhell aus der Luft über ihnen.
»Silva! Hör damit auf, Silva, sonst blende ich dich!«
»Unheilig!« kreischte Silva. »Ich will dich durchschauen!«
»Silva! Erblinde!« befahl die silberhelle Stimme. Sie schien das Wort fast zu singen.
Silva verstummte und erstarrte. Dann hielt er die Hände vor die Augen und schrie: »Ich bin blind! Schiffskameraden, es ist dunkel! Ist es nicht dunkel? Die Sonne ist untergegangen …«
Zitternd trat Kinross zu Silva, als der Nebel sich wieder auflöste.
»Beruhige dich, Silva. Du wirst bald wieder gesund sein«, tröstete er den alten Mann.
»Diese Stimme«, sagte Garcia leise. »Ich kenne diese Stimme.«
»Ja«, sagte Bo Bo. »Es war Boß Krüger.«
Okay, Kinross und Garcia kamen überein, sich nichts genauer zu betrachten. Der Realitätssinn der anderen schien sich schon von selbst so verflüchtigt zu haben, daß sie kaum die Bedeutung dieses Tabus verstehen konnten. Kinross versuchte es nicht zu erklären. Fay erbot sich, bei Silva und Krüger zu bleiben und für sie zu sorgen, vorausgesetzt daß die anderen ihm Nahrung brächten, denn was er selbst fände, sei ungenießbar. »Kinross, laß uns Spazierengehen«, sagte Garcia. »Du hast dich noch nicht umgeschaut.«
Sie gingen flußabwärts. »Was ist soeben geschehen?« fragte Garcia.
»Ich weiß es nicht«, sagte Kinross. »Es war Krügers Stimme, kein Zweifel. Vielleicht sitzen wir in Wirklichkeit immer noch in diesem Boot, und Krüger gaukelt uns das nur vor.«
»Wenn dem so wäre, möchte ich nicht aus diesem Traum erwachen«, sagte der Mexikaner beschwörend, »aber ich glaube es nicht. Ich bin wirklich, auch wenn diese Welt es nicht ist. Wenn ich mich zwicke, tut es weh. Meine Eingeweide arbeiten.«
»Ich auch. Aber ich konnte bestimmt vorhin dort drüben ein paar Sekunden lang Salzwasser und Dieselöl riechen. Um ein Haar hätte Silva uns zurückrutschen lassen.«
»Krüger hatte wohl recht«, sagte der Mexikaner langsam »aber es ist sehr hart für den alten Silva.«
Sie gingen schweigend neben dem gekräuselten Bach her. Dann sagte Kinross: »Ich habe einen Heißhunger auf Äpfel. Ob es hier welche gibt?«
»Natürlich«, sagte Garcia, »da drüben.« Er überquerte den Bach und zeigte auf die Äpfel an einem herabhängenden Zweig. Sie waren groß, hellrot und makellos. Kinross tat sich an mehreren gütlich, ehe er bemerkte, daß sie keine Kerne hatten, und das dem Mexikaner sagte.
»Paß auf«, warnte Garcia. »Nicht zu genau hinsehen.«
»Jedenfalls schmecken sie köstlich«, sagte Kinross.
»Ich will dir etwas sagen«, sagte der Mexikaner abrupt. »Es gibt nur einen einzigen Baum hier. Man findet ihn, wo immer man ihn sucht, und er trägt immer genau das, was man sich gerade wünscht. Ich entdeckte das, als du schliefst. Ich habe ein bißchen herum experimentiert.«
Kinross spürte, wie ihn eine seltsame Angst durchlief. »Das könnte gefährlich werden«, warnte er.
»Ich habe nicht versucht, zwei Bäume daraus zu machen«, beruhigte der Mexikaner ihn. »Irgend etwas in mir hat mir schon da gesagt, nicht zu genau hinzusehen.«
»Es ist noch etwas«, sagte Garcia, als Kinross darauf nichts erwiderte. »Ich überlasse es dir, selbst dahinterzukommen. Wir wollen dieses Ufer hinaufsteigen und sehen, was da oben ist.«
»Eine gute Idee«, stimmte Kinross bei und ging voran.
Das Ufer war steil, konvex, glatt und ebenmäßig. Kinross kletterte schräg hinauf, um einen sanfteren Winkel zu haben, und stellte plötzlich fest, daß er beinahe wieder unten am Bach war. Er fluchte leise über seine Unachtsamkeit und wandte sich wieder dem Hang zu, diesmal senkrechter. Nach einigen Minuten drehte er sich um, um zu sehen, wie weit unten der Bach lag, und gewahrte mit einem Schock, daß er in Wirklichkeit das Ufer emporschaute. Er blickte wieder vor sich, und da lag das Bett des kleinen Baches fast zu seinen Füßen. Er konnte sich nicht erinnern, in welcher Richtung er gegangen war, und Panik ergriff ihn.
»Gib es auf«, sagte Garcia. »Fühlst du es jetzt?«
»Ich fühle etwas, aber was es ist …«
»Fühlst du dich vielleicht verirrt?« fragte der Mexikaner.
»Nein, nicht verirrt. Das Lager, oder jedenfalls Krüger, ist dort.« Kinross zeigte flußaufwärts.
»Bist du sicher, daß es nicht flußabwärts ist?«
»Todsicher«, beharrte Kinross.
»Na, dann geh zurück, ich werde dich dort treffen«, sagte der Mexikaner und ging flußabwärts. »Achte unterwegs auf Kennzeichen«, rief er über die Schulter.
Kinross entdeckte keine Kennzeichen. Nichts hob sich von der allgemeinen Weite ab. Als er sich der Gruppe um Krügers Gestalt näherte, sah er Garcia aus der entgegengesetzten Richtung am Ufer herankommen.
»Garcia, fließt dieser verflixte Bach im Kreis?« rief er verblüfft aus.
»Nein«, sagte der Mexikaner. »Jetzt fühlst du es, nicht wahr? Diese Welt ist in sich geschlossen, und man kann sie nicht besser einrichten. Jedesmal, wenn man die Uferböschung hinaufsteigt, führt es einen hinab zum Bachbett. Welche Richtung man auch am Bach einschlägt, man gelangt zu Krüger.«
Kinross erwachte und sah, wie Kerbeck sich im Bach Wasser über den Kopf spritzte. Garcia lag in der Nähe, und Kinross weckte ihn.
»Was wollen wir heute morgen essen?« fragte er. »Was meinst du zu Papayas?«
»Bacon und Eier«, gähnte der Mexikaner. »Laß uns einen Bacon-und-Eierbaum finden.«
»Mach keine Witze«, sagte Kinross. »Krüger mag das nicht.«
»Na, dann eben Papayas«, sagte Garcia. Er ging hinab zum Bach und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Dann gingen die beiden Männer das kleine Tal hinauf.
»Was meinst du mit ›heute morgen‹?« fragte Garcia plötzlich.
»Ich kann mich an keine Nacht erinnern.«
Die Nacht war pechschwarz. »Kinross«, rief Garcia aus der Finsternis.
»Ja?«
»Erinnerst du dich, wie es eben auf einmal ganz dunkel wurde?«
»Ja, aber es liegt schon eine ganze Weile zurück.«
»Ich wette, daß du dich am Morgen nicht mehr daran erinnerst.«
»Gibt es einen Morgen?« fragte Kinross. »Ich bin schon ewig wach.« Schlaf war eine Verteidigung.
»Wach auf, Kinross«, sagte Garcia und schüttelte ihn. »Es ist ein schöner Morgen, um Papayas zu pflücken.«
»Ist es ein Morgen?« fragte Kinross. »Ich kann mich an keine Nacht erinnern.«
»Wir müssen reden«, brummte der Mexikaner. »Es sei denn, wir singen vor uns hin wie Kerbeck oder stöhnen und weinen wie Silva dort drüben.«
»Silva? Ich dachte, das wäre der Wind.«
»Es gibt keinen Wind in dieser Welt, Kinross.«
Kinross biß in Papaya-Pulp. »Wie lange, meinst du, sind wir schon hier?« fragte Garcia.
»Schon eine ganze Weile.«
»Ich kann mich an keinen ganzen Tag erinnern. Silva erblindete. War das gestern? Kerbeck hörte auf zu sprechen und begann zu singen. War das gestern?«
»Ich weiß es nicht«, sagte der Mexikaner. »Es scheint als wäre alles gestern geschehen. Mein Bart ist gestern einen halben Inch gewachsen.«
Kinross rieb sich sein Kinn. Die braunen Barthaare waren lang genug, um flach anzuliegen, und schmiegsam.
Er ging allein spazieren, als ein Flüstern hinter seinem Kopf ertönte. »Kinross, hier ist Krüger. Komm und sprich mit mir.« Kinross wirbelte herum und blickte ins Nichts. »Wo?« flüsterte er.
»Geh einfach weiter«, lautete die Antwort, immer noch von hinten.
Kinross nahm das Ufer in Angriff. Er lief stetig bergauf, erinnerte sich vage an seinen letzten Versuch und schaute sich plötzlich um. Der Bach lag tief unten, verloren unter dem konvexen Ufer, das tatsächlich eine Talwand war. Meilenweit jenseits des Tals erhob sich eine andere Wand, wölbte sich als Gegenstück zu jenem Hang empor, den er eben erkletterte. Er kletterte verwundert weiter und erreichte eine Anhöhe, ähnlich einer Wasserscheide. Glatte, geschwungene Rundungen fielen gewaltig zu beiden Seiten in diesige Dunkelheit ab.
Er folgte der Anhöhe nach rechts. Auch hier dieselbe Bodenbeschaffenheit, fahles Gras und undeutliche Büsche und Bäume, matte Grüntöne, von denen sich nichts abzeichnete. Nach einer Weile erblickte er einen sanftgewölbten Hügel zu seiner Linken, aber das Flüstern führte ihn einen langen sanften Hang zu seiner Rechten hinab und dann einen kürzeren, steileren Hang zu einer Hochebene hinauf. Sie war weit geschwungen, fast unfaßbar groß, aber der Horizont zur Linken schien niedriger zu sein als der zur Rechten. Er ging stetig weiter.
Kinross verspürte keinerlei Ermüdung. Er wußte nicht, wie lange er schon unterwegs war. Er stieg noch einen steilen Hang hinauf, und eine Reihe seichter, aber riesiger Querfurchen trat an die Stelle des gerundeten Plateaus. Das Land neigte sich immer noch nach links. In der Ferne erhob sich klar ein Gebirgsmassiv.
Auch das war grün. Er ging einen konkaven Hang hinauf, der dann zum steilen Überhang wurde, so daß er beim Anstieg die Schwerkraft zu überwinden schien. Dann flachte der Berg beträchtlich ab, und er näherte sich einer dunklen Waldwand, hinter der eine rötlich-schwarze Felsspitze in den Himmel ragte.
Er drang in den Wald ein und stellte fest, daß der Baumgürtel nur eine halbe Meile breit war und dann einer Wüste wich, einer fahlroten, sanft ansteigenden Ebene, bedeckt mit riesigen rötlichen Felsblöcken von vielfacher Größe. Er bahnte sich den Weg zwischen ihnen über einen Boden, der zu glühen und zu beben schien, bis er zu dem Fuß der Felsspitze gelangte. Als er näher kam, erkannte er an einem Muster sich schneidender Kurven, daß der Gipfel ein Krater war.
Es war ein senkrechter Anstieg, aber Kinross bewältigte ihn mit derselben unerklärlichen Leichtigkeit wie die bisherigen. Er stieg ein kurzes Stück in den Krater hinab und sagte: »Hier bin ich, Krüger.«
Krügers natürliche Stimme sprach aus der Luft direkt über seinem Kopf. »Setz dich, Kinross. Sage mir, was du denkst.«
Kinross setzte sich mit gekreuzten Beinen auf die rauhe Felsoberfläche. »Ich denke, daß du es bist, der diese Schau veranstaltet, Krüger«, sagte er. »Ich denke daß du mir vielleicht das Leben gerettet hast. Aber darüber hinaus weiß ich nicht, was ich denken soll.«
»Du bist neugierig, was mich angeht, nicht wahr? Tja, das bin ich auch. Teilweise stellte ich die Gesetze auf, teilweise entdecke ich sie selber erst. Das hier ist eine sehr primitive Welt, Kinross.«
»Sie ist vormenschlich«, sagte Kinross. »Du hast uns sehr tief hinabgezogen.«
»Das mußte ich, bei Leuten wie uns.«
»Du bist für mich nur eine Stimme in der Luft«, sagte Kinross. »Wie empfindest du das selbst?«
»Ich habe einen Körper, aber ich vermute, es handelt sich um eine persönliche Halluzination. Ich kann meinen wirklichen Körper nicht beleben. Das muß wohl daher kommen, daß ich mich nicht in tiefer Trance befand als wir übersetzten.«
»Ist das für dich gut oder schlecht?«
»Das hängt davon ab. Ich habe einzigartige Kräfte, aber auch besondere Verantwortlichkeiten. Ich bin zum Beispiel gezwungen, diese Welt zu beleben, und meine Fähigkeit ist begrenzt. Daher das Tabu, nicht zu genau hinzuschauen oder Dinge benutzen zu wollen.«
»Oh, Silva also … kannst du ihm das Augenlicht wiedergeben?«
»Ja, sein Blindheit ist rein funktionell. Aber ich werde es nicht tun. Er würde uns alle vernichten. Er würde schauen und schauen, bis unsere Welt auseinanderfällt. Er hat mir große Sorge bereitet, Kinross.«
»Auch ich hatte Angst. Sag mir, was wäre geschehen, wenn …?«
»Vielleicht zurück ins Boot. Oder in irgendeine Vorhölle.«
»Ist dein Dasein jetzt rein geistig, Krüger?«
»Nein. Ich habe dir schon gesagt, daß ich einen halluzinierten Körper habe, der mir völlig wirklich vorkommt. Aber er kann die Substanz dieser Welt nicht so verwenden wie du und die anderen. Kinross, ich habeimmer noch den gleichen Durst wie vor unserem Übersetzen. Er ist so – wie du ihn in Erinnerung hast. Ich kann ihn nicht löschen und ich kann ihn nicht aushalten. Diese Welt ist für mich eine Art Hölle …«
»Heiliger Himmel, Krüger! Das ist ja schrecklich. Können wir irgend etwas tun?«
»Ich habe eine einzige Hoffnung. Deshalb habe ich dich hierher geführt.«
»Sag es mir.«
»Ich möchte dich in noch tiefere Hypnose versetzen, so tief, wie der Mensch nur gehen kann. Ich möchte eine so tiefe Beziehung zwischen uns herstellen, daß ich die Belebung deines Körpers mit dir teile und du die Belebung dieser Welt mit mir teilst. Dann werde ich essen und trinken können.«
»Angenommen, das wäre möglich, was würde ich dann empfinden?«
»Meinst du bei der Belebung der Welt? Ich kann es dir nicht beschreiben. Eine unsagbare Freude.«
»Nein, ich meine in meinem Körper. Woher weißt du, daß ich dann nicht deinen Durst habe? Wer von uns hätte die Vorherrschaft?«
»Wir könnten den Durst löschen, das ist es ja eben. Ich würde dir die Vorherrschaft im Körper überlassen und meine Vorherrschaft in der Welt behalten.«
Kinross zupfte an seinen zerzausten braunen Haaren.
»Ich weiß nicht«, sagte er bedächtig. »Du machst mir angst, Krüger. Warum ich?«
»Wegen deines Verstandes, Kinross. Du bist Maschinist. Wir müssen Naturgesetze in diese Welt einbauen, wenn ich je Frieden finden soll. Ich brauche unmittelbaren Zugang zu deinem Weltbild, um es dieser Welt zu vermitteln.«
»Warum kann ich dir nicht einfach so helfen wie ich bin?«
»Das kannst du, aber nicht genug. Ich muß dein Weltbild in völliger Wechselwirkung auf mein eigenes übertragen.«
Der Entschluß stieg in Kinross auf. »Nein«, sagte er. »Nimm einen der anderen. Außer Garcia und vielleicht Silva scheinen sie kaum zu wissen, daß sie leben, aber sie essen und trinken.«
»Ich habe bereits einen großen Teil von ihnen in diese Welt hineingenommen, und auch etwas von dir und Garcia. Aber dich will ich intakt, als Ganzheit.«
»Nein.«
»Denke an die Macht und die Freude. Es ist etwas Unbeschreibliches, Kinross.«
»Nein.«
»Denke daran, was du verlieren kannst. Ich kann dich blenden, dich lähmen.«
»Zugegeben. Aber du wirst es nicht tun. Ich kann es zwar nicht erklären, aber irgendwie weiß ich, daß du uns brauchst, Krüger. Du brauchst unsere Augen und Ohren und unsere verständnisvolle Vernunft, um diese deine Welt zu sehen und zu würdigen. Deine Sehkraft: wurde trübe, als du Silvia mit Blindheit geschlagen hast.«
»Das stimmt nicht ganz. Ich brauchte euch unbedingt, um überzusetzen, um diese Welt zu schaffen, aber jetzt nicht mehr.«
»Ich möchte wetten, daß du lügst, Krüger. Deine Bevölkerung ist nicht groß genug, als daß du es dir leisten könntest, den Tyrannen zu spielen.«
»Unterschätz’ mich nicht, Kinross. Du kennst mich nicht und wirst mich nie kennen. Ich habe in dieser Sache einen ungestümen Willen, das läßt sich nicht abstreiten. Seit meiner Kindheit habe ich rücksichtslos auf diesen Höhepunkt hingearbeitet. Ich habe absichtlich keinen Notruf von der Ixion gesendet, um eben die Chance zu bekommen, die ich jetzt habe. Beeindruckt dich das nicht?«
»Nicht zu deinen Gunsten, Krüger. Das kleine Rattengesicht hatte also recht …«
»Ich will weder deine Gunst noch dein Mitleid. Ich will deine Überzeugung, daß du dich nicht gegen mich auflehnen kannst. Ich will dir noch etwas sagen. Ich habe auch die Bombe unter die Fracht der Ixion gelegt. Ich habe den Proviant und das Wasser aus dem Rettungsboot geworfen. Ich ließ die Batterie leerlaufen und beschädigte die Treibstoffpumpe. Ich wählte die Zeit der Explosion so, daß du gerade von der Wache kamst. Überzeugt dich das?! Jetzt weißt du, daß du dich gegen einen Willen wie den meinen nicht auflehnen kannst.«
Kinross stand auf und bohrte den Blick in die Leere vor sich. »Ich bin überzeugt daß du deine eigene Welt erschaffen hast, aber du kannst nicht ganz in sie hineingelangen. Ich bin überzeugt, daß du das auch nicht solltest. Krüger, scher dich zum Teufel.«
»Es ist meine Welt, und ich werde, ob du willst oder nicht, ganz in sie hineingelangen«, sagte Krüger. »Sieh mich an!« Bei diesem Befehl klang die Stimme stark und silberhell, wie ein erhabener Gesang.
»Du bist nicht da«, sagte Kinross.
»Doch, ich bin da. Sieh mich an!«
Die Luft vor Kinross wurde halb sichtbar, eine geisterhafte Aufwärtsströmung.
»Sieh mich an!« wiederholte die glockenreine, silberhelle Stimme.
Ein Geräusch ertönte, als würde Seide zerrissen. Das Haar stand in Kinross’ Nacken zu Berge, und es fuhr ihm kalt über den Rücken. Die strömende Luft verdichtete sich wirbelnd, wurde eine quirlige und umrissene Oberfläche in der dritten Dimension, wogte lebendig, nahm die Gestalt eines großen Gesichts an.
»Kinross, sieh mich an!« befahl das Gesicht mit einer wie Kirchenglocken läutenden Stimme.
Kinross holte tief Luft. »Ich bin ein gelehriger Schüler, Krüger«, sagte er mit zitternder Stimme. »Du bist nicht da. Ich sehe dich nicht.«
Er schritt schnurstracks in das Gesicht und durch es hindurch, wobei sein verkrampfter Körper einen elektrischen Schlag verspürte. Dann kletterte er die kahle Fläche der Felsspitze hinab.
Als Kinross auf seinem Rückweg die Hochebene überquerte, begann Regen aus der Wolkenschicht zu fallen. Windstöße trafen ihn. Es gab aber keinen Abfluß für den Regen im Boden und auch keine klare Auswirkung des Windes auf die undeutlichen Bäume und Büsche. »Krüger lernt dazu«, sagte er sich. Dann wurde es plötzlich dunkel, und er legte sich hin und schlief. Als er erwachte, war er wieder bei dem kleinen Bach, und Garcia sagte ihm, er sei vier Tage fort gewesen.
»Vier Tage?« fragte Kinross erstaunt. »Passiert nicht mehr alles gestern?«
»Nein, nicht mehr«, sagte der Mexikaner. »Wo, zum Teufel, bist du gewesen?«
»Irgendwo draußen, um mit Krüger zu diskutieren«, sagte Kinross und schaute umher. »Verdammt, dieser Ort wirkt anders. Und wo sind Krügers Körper und die anderen?«
»Er ist anders«, sagte Garcia. »Laß es dir erzählen. Erst einmal fand Fay eine Höhle …«
In der Höhle war die Quelle des Baches, der jetzt daraus hervorfloß, erklärte Garcia. Fay und Bo Bo hatten Krügers Körper dorthin gebracht und blieben die meiste Zeit im Inneren. Fay behauptete, Krüger erwache dann und wann, um etwas zu essen und zu trinken, und habe ihn, Fay, zu seinem Wortführer gemacht. Fay und Bo Bo hatten einen Steinhügel vor dem Eingang der Höhle errichtet und Kerbeck hatte Garcia befohlen, jeden Morgen Früchte zu bringen und sie darauf zu legen. Silva hockte jetzt, wiegend und weinend wie zuvor, neben dem Steinhügel.
».Ich konnte es Kerbeck nicht verständlich machen«, fügte Garcia hinzu. »Er streift jetzt wie ein wilder Mann durch die Hügel. Deshalb habe ich sie ganz allein versorgt.«
»Der Ort ist größer«, stellte Kinross fest. Das Talbecken dehnte sich nun mehrere hundert Meter zu beiden Seiten des Baches aus und die Wände erhoben sich Hunderte von Fuß in die Höhe. Die bedrückende Regelmäßigkeit des Horizontes wurde durch die Andeutung von Verwitterungen und ansehnliche Pflanzengruppen aufgelockert.
»Auch der Raum ist besser abgesteckt«, sagte Garcia. »Es gibt allerlei Bäume, die stehenbleiben und betrachtet werden können.« Er schlug nach einer Fliege, die um seinen Kopf schwirrte.
»Hallo!« rief Kinross. »Insekten!«
»Ja«, gab Garcia sauer zu. »Auch kleine Tiere im Gestrüpp. Ratten und Eidechsen, glaube ich. Und einmal wurde ich vom Regen durchnäßt. Es ist nicht alles gut, Kinross.«
»Komm, wir wollen uns diese Höhle einmal ansehen«, schlug Kinross vor. »Ich werde dir unterwegs erzählen, was ich erlebt habe.«
Sie gingen eine halbe Meile flußaufwärts. Das Tal wurde enger, seine Wände ragten senkrechter empor. Ein Gewirr von dunklen Nutzholzbäumen füllte es. Das diffuse Licht aus dem stets bedeckten Himmel drang kaum in diese Finsternis ein. Dann kamen sie zu einer Lichtung mit einem Durchmesser von etwa hundert Metern, und Kinross sah, daß die dunkelbewaldeten Hänge an drei Seiten steil emporragten. Direkt vor ihnen lag die Höhle.
Die verhältnismäßig schmalen Basaltkanten liefen schräg über hundert Meter den Hang hinauf und vereinigten sich oben, um ein umgekehrtes V zu bilden. An ihrem Fuß floß der Bach aus dem Höhlendunkel, teilte die Lichtung und verlor sich im dunklen Wald. Neben der Stelle, an der der Bach hervortrat, erblickte Kinross den podestartigen, etwa zwei Meter breiten Steinhügel, und er konnte Silva sehen und hören, der jammernd daneben hockte.
»Ich kann mit Silva genausowenig reden wie mit Kerbeck«, sagte Garcia. »Silva glaubt, ich wäre ein Teufel.«
Sie überquerten die Lichtung. Bo Bo kam ihnen aus der Höhle entgegen.
»Ihr habt keine Früchte mitgebracht«, sagte er in Worten, die, wie Kinross wußte, nicht seine eigenen waren. »Geht fort und kehrt mit Früchten zurück.«
»Okay, Krüger«, sagte Kinross. »So viel werde ich für dich tun.«
Tage verstrichen. Kinross kamen sie endlos vor, aber dennoch merkwürdig bar jeglicher erinnerlichen Beschäftigung. Er und Garcia versuchten, die Zeit mit Kieseln aus dem Bach zu markieren, aber nachts verschwanden die Kiesel. Ebenso die Bananenschalen und Papaya-Hülsen. Das Land bewahrte keine Markierung. Die beiden Männer stritten sich darüber, was in den vergangenen Tagen passiert war, und schließlich sagte Kinross: »Es ist genau wie vorher, nur daß jetzt alles vorige Woche passiert ist.«
»Dann ist mein Bart vorige Woche zwei Finger breit gewachsen«, sagte Garcia und strich sich durch das Blauschwarz. Kinross’ Bart war gekräuselt und rötlich und kinnlang.
»Wie soll das enden?« fragte der Mexikaner einmal. »Sollen wir ewig in dieser zwei Quadratmeilen großen Welt herumlaufen?«
»Ich nehme an, daß wir altern und sterben«, sagte Kinross.
»Nicht einmal dessen bin ich sicher«, sagte Garcia. »Ich habe das Gefühl, jünger zu werden. Ich möchte ein Steak und eine Flasche Bier und eine Frau.«
»Ich auch«, pflichtete Kinross ihm bei, »aber es ist immer noch besser als im Boot.«
»Ja«, sagte Gracia sinnend. »Das muß man Krüger lassen, auch wenn er uns die ganze Sache eingebrockt hat.«
»Ich glaube, daß Krüger wesentlich weniger glücklich ist als wir«, sagte Kinross.
»Keiner ist glücklich, außer Kerbeck«, brummte Garcia.
Sie sahen Kerbeck oft, wenn sie Früchte sammelten oder innerhalb der Grenze des kleinen Tales herumstreiften, um sich ihre Langeweile zu vertreiben. Der hünenhafte Schwede irrte wie ein Elementargeist durch das Land. Er trug die Überreste seiner Khakihose und seines Unterhemds, und sein gelbes Haar und sein roter Bart waren lang und zerzaust. Er schien Garcia und Kinross zu erkennen, antwortete aber auf ihre Worte nur mit Summlauten.
Kinross hatte oft das Gefühl, daß die ungebrochene Schwärze der Nächte ihn am meisten bedrückte. Er wollte Sterne und einen Mond. Eines Nachts erwachte er unruhig und erblickte eine seltsame Konstellation von Sternen am Himmel. Er machte eine Bewegung, um Garcia zu wecken, aber der Schlaf übermannte ihn wieder, und er träumte, soweit er sich erinnern konnte, zum erstenmal in dieser Welt. Er war wieder auf der Felsspitze in der Wüste und sprach mit Krüger. Krüger hatte Fays Körper und war besorgt. »Etwas ist vorgefallen, Kinross«, sagte er. »Es gibt Sterne, und ich habe sie nicht geschaffen; ich konnte es nicht. Diese Welt ist plötzlich in großem Ausmaß belebt worden, und ich habe nicht alles in meiner Gewalt.«
»Was kann ich daran ändern? Oder was geht es mich an?«
»Es geht dich etwas an. Wir sind zusammen in dieser Welt, wie in einem Rettungsboot, Kinross. Und ich habe jetzt Angst. Es gibt hier eine fremde Gegenwart, vielleicht mehrere, die unsere Welt suchen. Möglicherweise sind sie uns feindlich gesinnt.«
»Das bezweifle ich, wenn sie uns Sterne bringen«, sagte Kinross. »Wo sind sie denn?«
»Ich weiß es nicht. Ich nehme an, daß sie außerhalb unseres Raumes herumstreifen und uns suchen. Ich möchte, daß du mit Garcia ausziehst und sie findest.«
»Warum kannst du das nicht?«
»Deine Vermutung war teilweise richtig, Kinross. Ich habe meine Grenzen und brauche Männer wie dich und Garcia. Ich bitte und befehle nicht. Vergiß nicht, wir sitzen immer noch im selben Boot.«
»Ja. Okay, ich gehe. Aber wie …«
»Zieh einfach los. Ich werde dich wieder durch die Rückkehrschranke hereinlassen.«
Kinross schrak hoch. Die Sterne waren immer noch am Himmel, und ein zunehmender Mond hing jenseits des Bachs über dem Horizont. Garcia schnarchte in der Nähe.
»Wach auf!« sagte Kinross und schüttelte ihn. Der Mexikaner schnaubte und setzte sich auf.
»Madre de Dios!« stieß er hervor. »Sterne und ein Mond! Kinross, sind wir wieder …?«
»Nein«, sagte Kinross. »Laß uns jagen gehen. Ich habe gerade mit Krüger gesprochen.«
»Jagen? Mitten in der Nacht? Auf was denn?«
»Vielleicht auf das, was die Sterne geschaffen hat. Woher soll ich das wissen? Komm, Garcia, mir jucken schon die Füße.«
Kinross setzte sich in Marsch, sprang über den Bach und schlug die Richtung des zunehmenden Mondes ein. Der Mexikaner stolperte, Spanisch murmelnd, hinter ihm her.
Zum zweitenmal erreichte Kinross nun die Anhöhe, und der Mond hing jetzt voller rechts über dem Horizont, in der gleichen Richtung, in die Kinross schon einmal gegangen war. Er schritt weit aus, der Mexikaner folgte schweigend. Einmal stieß Garcia einen Schrei aus und zeigte rechts in die Tiefe. Kinross schaute hinab und erblickte weit unten die Öffnung der Höhle, die winzige Lichtung und den gewaltigen Hang, der sich von dort bis hinauf zu ihnen wölbte.
Der Mondschein versilberte die dunklen Baumkronen.
Unterwegs erzählte Kinross Garcia seinen Traum. Der Mexikaner zweifelte nicht an dessen Echtheit. Kinross warnte ihn vor der besonderen Zeitlosigkeit der Erfahrung außerhalb der Rückkehrschranke. »Es ist so, als wäre alles vor zwei Minuten passiert«, sagte er.
»Ja«, sagte Garcia. »Sieh dir nur diesen Mond an, dreiviertel voll. Vielleicht sind wir schon einen Monat unterwegs.«
»Oder eine Minute«, sagte Kinross.
Es wurde nicht derselbe Weg wie damals. Auf der sanft gerundeten Hochebene, an die er sich erinnerte, stellte er fest, daß sie eine scharfe Biegung nach rechts machten und einen sanften Hang hinaufstiegen. Dann neigte sich das Land zur anderen Seite, und sie überquerten flache Schluchten, auf deren Grund Wasser floß. Das Land wurde rauher, die Schluchten wurden tiefer, bis Kinross, als sie eine davon überquerten, sah, daß sie direkt zum Mond führte. Sie folgten dem Bachbett in knöcheltiefem Wasser, statt hinauf in die Schlucht zu klettern.
Die Ufer waren aus feuchtem, dunklem Gestein und wurden steiler und höher. Der Bach wurde schmaler und knietief, und die Strömung zerrte so heftig an ihnen, daß sie gezwungen waren, sich an die Steine zu klammern, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Das spitze V der Schlucht vor ihnen bettete den Vollmond fast ein, und Kinross konnte das ferne Tosen eines Wasserfalls hören.
»Sieht vor uns schwierig aus, Garcia«, rief er dem zehn Fuß hinter ihm watenden Mexikaner zu. »Paß auf!«
Er ging weitere hundert Meter dem zunehmenden Getöse entgegen und bog um einen Felsvorsprung, gegen den das Wasser wütend strudelte. Die Kraft der Strömung beschleunigte sich plötzlich, riß beinahe die Beine unter ihm weg, so daß er sich an den Fels pressen mußte und Garcia eine Warnung zurief.
Über die spiegelglatte, geäderte Schwelle des Wasserfalls zwanzig Fuß vor sich schaute Kinross in einen viele Meilen breiten, steilen, trichterförmigen Abgrund. Das unter gewaltigem Rauschen hinabstürzende Wasser säumte den Rand mit Perlen und rann in Schnüren die Seiten hinunter. Der Vollmond, senkrecht darüber, tauchte das Ganze in Silber. Auf dem Boden des Abgrunds war noch ein Mond, was, wie Kinross flüchtig dachte, ein widerspiegelnder Teich oder See sein mußte.
Garcia rief hinter ihm. »Was siehst du, Kinross? Warum bist du stehengeblieben?«
»Ich sehe noch einen Schritt und dann den Tod, glaube ich«, rief Kinross zurück. »Es ist ein Wasserfall. Wir müssen, wenn irgend möglich, hier das Ufer hinaufsteigen.«
Er rührte sich nicht, sondern starrte in den Abgrund. Plötzlich drängte es ihn, sich ihm preiszugeben, sich vom Wasser über die Schwelle spülen zu lassen. Es kam abrupt und überwältigend, fast wie ein sexueller Trieb, ein heftiger Angriff auf seinen Geist. Er klammerte sich verzweifelt an die Felswand und sandte ein Stoßgebet empor: »Heilige Mutter Gottes, steh mir bei.«
Die immer noch mächtige Verlockung zog sich ein Stück zurück. »Garcia«, rief er, »steig um Himmels willen hinauf. Sprich mit mir.«
»Hier ist eine schräge Kante«, sagte Garcia von oben. »Komm zu mir, dann gebe ich dir eine Hand.«
Kinross tastete sich um den Felsvorsprung zurück und kletterte nach oben, um sich zu Garcia zu gesellen. Der Mexikaner übernahm die Führung auf dem schmalen Grat.
»Vor uns liegt etwas, bei dem dir der Atem stockt«, warnte Kinross ihn. »Ein Abgrund. Warte nur, bis du ihn erblickst. Und wenn du es tust, nimm deine ganze Kraft zusammen.«
Garcia brummte und stieg weiter. Der Grat hörte auf, und der Weg wurde noch schwieriger und gefährlicher. Dann standen sie auf einer felsigen Landzunge, die an drei Seiten steil in den weiten Abgrund abfiel, der sie überall umgab.
»Madre de Dios!« stieß Garcia hervor. Er wiederholte es mehrmals, sonst aber hatte es ihm die Sprache verschlagen. Beide Männer starrten schweigend in den Abgrund. Schließlich hob Garcia die Hand und flüsterte: »Horch!«
Kinross horchte. Er hörte ein Knacken im Gestrüpp und herabprasselndes Geröll. Es kam von links, offenbar aus nicht allzu großer Entfernung.
»Etwas kommt aus dem Abgrund herauf«, flüsterte er.
»Was denn? Kinross, wir sind nicht mehr allein in dieser Welt.«
»Wir müssen näher heran«, sagte Kinross. »Feststellen, was es ist. Geh vorsichtig weiter.«
Sie pirschten sich an das Geräusch heran, wobei sie sich von der Landzunge zurückzogen und dem Rand des Abgrunds folgten. Als sie sich der Quelle des Geräusches näherten, wurde das Gestrüpp dichter und hüfthoch, so daß sie unvermeidlich selbst Geräusche machten. Dann war alles still, und Kinross befürchtete schon, daß ihre Beute gewarnt war, bis er einen keuchenden, wimmernden Laut hörte, der seine Nerven bis zum äußersten spannte. Sie schlichen näher. Jetzt packte Garcia ihn beim Arm, duckte sich, und zog ihn zu sich hinunter.
Kinross starrte angestrengt in die Richtung, in die der Mexikaner deutete. Plötzlich hob sich eine verschwommene Form von dem silbrigen Licht und Schatten ab, und er erblickte keine zwanzig Meter vor sich eine menschliche Gestalt. »Wir wollen sie fangen«, bedeutete er Garcia mit Zeichen. Der Mexikaner nickte. Beide Männer sprangen auf und stürzten los.
Kinross’ längere Beine ließen ihn als ersten ankommen. Die Gestalt richtete sich auf und flüchtete ein oder zwei Schritte, ehe er sie im Sprung zu Boden riß. Einen Sekundenbruchteil später mischte der untersetzte Mexikaner sein beträchtliches Gewicht in das Gewirr der Arme und Beine, und dann stieß das Opfer einen verzweifelten, angstvollen Schrei aus. Kinross war wie elektrisiert.
»Laß los, Garcia«, befahl er. »Steh auf. Es ist eine Frau!«
Sie sei Mary Chadwick und habe drei starke Brüder, die jeden Mann in Queensland zusammenschlagen könnten, und sie, Kinross und Garcia, seien Bestien und Wilde, und sie sollten sie gefälligst sofort nach Hause bringen, sonst hätten sie nichts zu lachen. Dann klammerte sie sich an Kinross und weinte hysterisch.
Während Kinross sie linkisch zu trösten versuchte, wurde es Tag, weniger jäh als sonst, aber immerhin schnell genug, um Kinross daran zu erinnern, wie unerklärlich immer noch die Zeit verrann. Das Licht war hell und grell, und er sah zum erstenmal die Sonnenscheibe. Die vertraute Wolkenschicht war verschwunden, der Himmel klar und blau. Der Anblick der beiden bärtigen Männer flößte der Frau nicht gerade Vertrauen ein.
Sie schien noch recht jung zu sein und trug Reitkleidung, Khakihemd und -hose, Schnürstiefel, und wirkte groß und üppig. Honigfarbenes Haar fiel lose auf ihre Schultern. Ihre vom Weinen geschwollenen Augen waren tiefblau mit einem leicht violetten Ton. Ihre helle Haut war von der Sonne mattgold gebräunt, und Sommersprossen sprenkelten den Rücken ihrer kräftigen Nase.
Sie gewann rasch ihre Fassung wieder. »Wer sind Sie?« fragte sie mit klarer, aber tiefer Stimme. »Was ist das für ein Ort? Ich habe in den Coast Ranges noch nie etwas davon gehört.«
Die Männer stellten sich vor. Kinross versagte kläglich, als er ihr die Beschaffenheit der Welt um sie herum zu erklären versuchte.
»Schiffe? Seeleute? Stuß!« rief sie aus. »Sie behaupten, es selbst nicht zu verstehen, also hört mir mit diesem Quatsch auf. Wir brauchen nur loszumarschieren, bis wir eine Spur finden oder Rauch sehen oder … ach, das wissen Sie ja alles selbst.«
»Okay, wir haben uns also verirrt«, gestand Kinross ihr zu. »Wir sind vermutlich irgendwo in Australien?«
»Ja, in Queensland, irgendwo bei der südlichen Gabelung des Herbert River. Ich bin ausgeritten und muß eingeschlafen sein … Und ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo mein Pferd ist.«
Kinross und Garcia wechselten Blicke. »Entschuldige bitte, Mary«, sagte er Mexikaner, und seine schwarzen Augen funkelten vor Erregung. »Ich muß eine Minute mit meinem Freund hier verrücktes Zeug reden.« Dann zu Kinross. »Wie ist das nur möglich?
Laut den Soldaten von Tibesti soll das Tor im Indischen Ozean sein. Meinst du, daß diese Welt mehr als ein Loch hat?«
»Darüber wundere ich mich auch. So wie ich es immer verstanden habe – ohne je daran zu glauben, vergiß das nicht! –, überschneiden sich die beiden Welten nicht. Sie haben nur einen einzigen Berührungspunkt, nämlich das Tor …«
»Nun gut, wenn es sich auf dem Festland öffnet …«
»Ich weiß, was du denkst. Aber wir müssen Kerbeck und Silva eine Chance geben. Auf alle Fälle diesen beiden.« Kinross wandte sich an das Mädchen.
»Mary«, fragte er, »kannst du dich erinnern, wo genau du dich anfangs in dem Abgrund befunden hast? Hast du die Stelle markiert?«
»Nein, warum sollte ich? Nicht einmal sämtliche verrückten Goldgräber im ganzen Norden bringen mich dahin zurück. Bring mich zu euerm Lager oder euern Goldfeldern oder was immer es sein mag. Ich hoffe, daß da jemand vernünftig mit mir redet.«
Der Mexikaner brach plötzlich in Lachen aus. »Mir fällt gerade ein, daß der alte Bart Garcia, mein erster Vorfahre in Mexiko, auch ein Digger war«, sagte er. »Es war eine neue Welt, und er mußte sich dort tüchtig abrackern. Geh uns voran, Kinross.«
»Alle Wege führen zu Krüger«, sagte Kinross und setzte sich in Marsch.
»Alle außer einem«, verbesserte Garcia ihn und schaute zurück zu dem weiten, nun von schrägen Sonnenstrahlen in Schatten getauchten Abgrund.
Der Rückweg war erst beschwerlich, dann weniger anstrengend. Kinross stieß einen Freudenschrei aus, als ein Vogel durch das Gestrüpp flatterte, und Garcia sagte: »Das habe ich also gehört.« Da hörte Kinross es auch, ein vielstimmiges Tschilpen und Zwitschern um sie herum. Aber die Vögel waren, wie die undeutlichen Bäume und Büsche, ärgerlicherweise nie vom Auge unmittelbar einzufangen. Sie blieben Flügelgeflatter, vorbeihuschende Farben am Rande des Gesichtsfeldes.
»Irritiert es dich nicht, sie nicht sehen zu können?« fragte er das Mädchen.
»Aber ich kann sie doch sehen«, sagte sie. »Ihr komischen Käuze …«
Keck-keck-keck-keck-kie-RECK! erklang es aus dem Gestrüpp, und Kinross fuhr zusammen.
»Da drüben!« zeigte das Mädchen. »Es ist eine Spottdrossel. Kannst du sie jetzt sehen?«
Kinross konnte es nicht. »Dort«, beharrte sie, »sie hüpft in den Akazien herum. Mach doch die Augen auf!«
Garcia sah sie zuerst. Schließlich glaubte Kinross die Gestalt der kleinen dunkelgrünen Drossel mit der weißen Kehle, dem langen kecken Schwanz und der schwarzen Haube zu sehen. Aber er hatte das beunruhigende Gefühl, in Wirklichkeit nur eine verbale Beschreibung zu sehen. Keck-keck-keck-kie-RECK! Er fuhr wieder zusammen und kam sich wie ein Narr vor.
Unterwegs fragte Kinross das Mädchen aus. Sie lebte mit ihrem Vater und drei Brüdern auf einer kleinen Viehfarm in den Bergen südlich von Cairns. Sie war vierundzwanzig und unverheiratet, hatte ein Jahr die Schule in Brisbane besucht, konnte aber Städte nicht leiden. Ihre Brüder arbeiteten nebenher in den Minen. Das hier wäre ein erstklassiges Gebiet für die Viehzucht, und es sei ihr unverständlich, wieso die Landvermesser es übersehen hätten.
»Schau dir die Sonne an, Kinross«, sagte Garcia einmal. »Wir gehen nach Westen. Es tut gut, das sagen zu können.«
Die Sonne stand tief, als sie die Anhöhe über dem Tal erreichten. »Krüger-Tal«, nannte Kinross es, da das Mädchen ihn nach dem Namen fragte. Der ungeheuere bewaldete Hang, der von der Höhlenöffnung an drei Seiten aufragte, badete im Glanz der untergehenden Sonne, und Marys sachliche Bestimmtheit wurde nochmals erschüttert.
»So etwas gibt es nicht in den Coast Ranges«, flüsterte sie. »Das weiß ich genau.«
Als sie den Hang westlich des Waldgebietes hinabstiegen, war auch Kinross beeindruckt. Bäume waren deutlich sichtbar, einzeln, individuell. Das dicke Gras war deutlich sichtbar, ebenso wie die Blumenbüschel in leuchtenden Farben. Kleine, bunte Vögel schwirrten vor ihnen her, und Kinross wußte, daß er sie wirklich sah. Die fahle Einfarbigkeit und die glatte regelmäßige Form des Landes waren verschwunden. Kinross zeigte mit wachsender Erregung Garcia Felsblöcke, Schluchten und Streifen ausgewaschenen Bodens.
»Etwas ist geschehen, Garcia«, sagte er. »Hier, innerhalb der Rückkehrschranke, reicht das Land jetzt in die Zeit zurück.«
»Es sieht real genug aus«, gab der Mexikaner zu. »Ob wir wohl heute abend ein Feuer machen können?«
»Ja, und Bäume fällen«, schrie Kinross fast. »Mary hat eine Unterkunft nötig.«
»Natürlich ein Feuer«, sagte das Mädchen. »Wir wollen doch sicher etwas braten.«
»Vielleicht erschlage ich ein paar Vögel«, sagte Garcia. »Ich habe Heißhunger auf Fleisch.«
»Nein!« rief das Mädchen zornig. »Das wagst du nicht!«
»Nicht diese hübschen kleinen«, beschwichtigte Garcia sie hastig. »Wie nennst du sie eigentlich?«
»Das sind Pittas«, sagte sie. »Lärmende kleine Farbtöpfe, nicht wahr? Sie sagen ›geh-ans-WERK, geh-ans-WERK‹.«
»Und das wollen wir auch tun, nehme ich an«, kicherte Garcia. Sie bahnten sich den Weg den ziemlich steilen Hang hinunter, und Kinross bereitete das Mädchen währenddessen auf das vor, was sie unten am Bach erwartete, als sie ihn unterbrach.
»Wer sind denn die da?« fragte sie und zeigte nach links.
Kinross und Garcia konnten nichts erblicken. »Was siehst du denn?« fragte Kinross.
»Eine ganze Horde von Schwarzen«, flüsterte sie offensichtlich beunruhigt. »Auf ihren Knien, im Gestrüpp.«
»Jetzt kann ich sie teilweise sehen«, sagte der Mexikaner. »Es ist schlimmer als die Vögel heute morgen.«
»Ich kann überhaupt nichts sehen«, klagte Kinross. »Nur Bäume und Büsche.«
»Schau schräg«, drängte ihn Garcia. »Senke die Augen und schiele vor dich. Jedes Kind weiß, wie man das anstellt.«
Kinross versuchte zu schielen, und plötzlich erblickte er sie, Dutzende von ihnen. Schwarze Zwerge mit roten Augen. Nackt und grotesk gebaut, unverhältnismäßig große Hände und Füße, knorrige Gelenke, Muskelbündel an den Gliedern. Sie erwiderten seinen Blick, aber ohne sichtbares Interesse. Panik ergriff ihn.
»Mein Gott!« stieß er hervor.
»Sie sind ein Teufelspack«, murmelte Garcia. »Kinross, verdammt noch mal, wer sind die?«
»Es sind Schwarze«, sagte das Mädchen. »Früher pflegten sie manchmal Weiße in den Coast Ranges aufzuspießen, aber jetzt sind sie recht zahm. Wir müssen einfach an ihnen vorbeigehen und so tun, als sähen wir sie nicht. Eigentlich sollten sie in der Geisterwelt sein.«
»Es sind Zwerge, Pygmäen«, wandte Kinross ein. »Gibt es Pygmäen in Queensland?«
»Sie kauern auf den Knien«, erwiderte sie scharf, »und sie verstecken sich vor uns an einer ihrer Geisterstätten. Kommt jetzt! Geht vorbei und tut so, als würdet ihr sie nicht sehen.«
»Na, versuchen wir es«, stimmte Kinross zu.
Sie erreichten die Talsohle ohne Zwischenfall. Als sie ihr folgten, spähte Garcia wachsam nach links und rechts.
»Kinross, irgend etwas beschattet uns, schleicht auf beiden Seiten im Gestrüpp hinter uns her«, sagte er.
»Diese schwarzen Dinger?« fragte Kinross, und seine Magenmuskeln verkrampften sich.
»Nein, ich kann sie nicht genau erkennen, aber sie sind größer und gräulich.«
»Ich kann sie sehen«, sagte das Mädchen. »Es sind Dschinninnen, Binghi-Frauen dieser Horde, an der wir gerade vorbeigegangen sind. Sie sehen wie Geister aus, wenn sie sich mit Holzasche einreiben.«
»Hinter was sind sie her?« fragte Kinross, der die flüchtigen Gestalten aus den Augenwinkeln halb sah.
»Sie wollen uns zum Lager folgen, damit sie dort betteln und stehlen können«, sagte das Mädchen. »Paßt nur auf, daß ihr sie gleich wegschickt, wenn sie kommen.«
Garcia sagte: »Sie haben hübsche Figuren, nachdem ich weiß, daß es Frauen sind. Kinross, kannst du sie jetzt sehen?«
»Nur teilweise«, sagte Kinross.
Die huschenden Gestalten ließen von ihnen ab, als sie an den Bach gelangten. Während sie unschlüssig am Ufer standen, erklang Geschrei von dem Hang, den sie gerade hinabgestiegen waren. Kinross sah, wie Kerbeck durch das Gestrüpp stürmte und schwarze Pünktchen vor sich her jagte.
»Mein Gott!« stieß er hervor. »Kerbeck kämpft mit diesen schwarzen Dingern!«
»Und siegt«, stellte Garcia, weniger beunruhigt als Kinross, fest. »Guck nur, wie sie davonrennen.«
»Das sollte er nicht tun«, sagte das Mädchen. »Heute nacht werden sie sich zurückschleichen und ihn aufspießen. Vielleicht uns alle.« Sie erschauderte.
Kerbeck kam in großen Sprüngen den Hang hinunter. Er durchquerte das eine Viertelmeile breite Talbecken, tauchte bronzefarben und hünenhaft auf und verschwand wieder, tauchte auf und verschwand. Sein flatterndes Haar und sein wallender Bart bildeten eine Aureole im Licht der westlichen Sonne. Er schubste Kinross beiseite, packte das Mädchen bei den Oberarmen und starrte ihr in die Augen. Er summte und brummte wild.
Kinross zerrte vergeblich an einem der Riesenarme und protestierte. Dann beruhigte sich der Schwede, ließ das Mädchen los, lächelte und summte friedlich.
»Es ist schon gut«, sagte das Mädchen. »Er wollte sich nur davon überzeugen, daß meine Augen Pupillen haben.«
Kinross schaute verständnislos von ihren blauvioletten Augen zu den mattblauen Augen des hünenhaften Nordländers.
»Er hat Jagd auf die Teufel-Teufel gemacht«, erklärte sie. »Er dachte, ich wäre vielleicht einer davon. Ihre Augen haben keine Pupillen, nur schwarze Flecken auf weißen Augäpfeln.«
Kerbeck summte glücklich. Kinross schüttelte den Kopf.
»Sie hat recht, Kinross«, sagte Garcia. »Ich habe esteilweise mitbekommen. Übrigens noch etwas, man muß seitlich hinhören.«
»Sie verwandeln sich in Bäume und Felsen, wenn er sie fängt«, fügte das Mädchen hinzu. »Er hat ihretwegen tagelang auf einem Gummibaum gehockt und freut sich, daß ihr beide wieder da seid.«
»Mein Gott!« stöhnte Kinross. »Ich komme mir wie ein verdammter Idiot vor. Du gibst jetzt also zu, daß sie Teufel sind?«
»Nicht mehr!« sagte sie scharf. »Sie sind Ureinwohner auf einem Geisterrundgang. Ihr seid alle völlig übergeschnappt.«
»Laß uns ein Feuer machen«, sagte Kinross und wandte sich ab.
Es gab reichlich trockenes Gras und herabgefallene Zweige, im Gegensatz zu früher. Garcia hatte Streichhölzer, und schon bald brannte ein Feuer. Kinross lieh sichKerbecks Fahrtenmesser, um Pfähle aus den Ästen zu schnitzen, die der hünenhafte Schwede diensteifrig von den Bäumen abriß, und die Arbeit an einer kleinen Hütte machte gute Fortschritte. Garcia schnitt Wedel von einer Art Palmettopalme, um sie zwischen die aufgerichteten Pfähle zu flechten, und das Mädchen pflückte Fasern aus der Palmettokrone, um sich daraus ein Bett zu machen. »Burrawang«, nannte sie es. Sie bezeichnete das fertige Machwerk als »ganz annehmbare Bude«.
In der Dunkelheit rösteten sie klumpige Brotfrüchte und geschälte Bananen in der Glut. Kerbeck tauchte in der Nacht unter. Sie aßen schweigend. Schließlich sagte das Mädchen: »Wo sind wir? Aber jetzt die reine Wahrheit. Wo sind wir?«
»Ich habe dir doch schon heute morgen gesagt …« begann Kinross, aber sie unterbrach ihn.
»Ich weiß. Ich glaube sogar, daß es euch so vorkommen muß. Aber wißt ihr, wo ich bin?«
Beide Männer murmelten ihre Fragen.
»In Alcheringa«, sagte sie. »Im Binghi-Geisterland. Ich fiel irgendwie hinein, ich ritt durch eine dieser alten heiligen Stellen. Der South Herbert River ist mit lauter Bilderschriften gesäumt. Heute, als ich die Ureinwohner sah, wußte ich es … .«
»Mary, demnach waren sie Zwerge«, sagte Kinross. »Sie waren keine Menschen.«
»Wenn die Ureinwohner in das Geisterland zurückkehren, sind sie auch keine Menschen«, sagte sie. »Und gleichzeitig mehr als Menschen. Ich habe die Horde darüber reden hören. Aber diese Dschinninnen – die sollten nicht hier sein. Auch ich nicht. Für eine Frau ist es ein großes Pech, ins Geisterland zu geraten. Als ich ein kleines Mädchen war, fand ich das einfach unfair …«
»Wie gelangen die Eingeborenen von … Alcheringa hinein und hinaus?« fragte Kinross mit wachsendem Interesse.
»Sie bahnen sich mit Singen und Tanzen den Weg, bemalen sich, benutzen Churingas, das heißt Amulette … ach, lauter solche Riten«, sagte sie. »Niemand darf in der Nähe sein, vor allem keine Frauen.«
Aus der Dunkelheit über ihren Köpfen senkte sich eine unheimlich heulende Klage herab. Beide Männer sprangen auf.
»Setzt euch«, bat das Mädchen. »Zu Hause, auf der Chadwick Farm, würde ich diesen Schrei für den einer Schnepfe halten. Sie fliegen herum und rufen in der Dunkelheit. Die Schwarzen halten sie für die Seelen der Kinder, die aus der Geisterwelt auszubrechen versuchen, um geboren zu werden. Ich frage mich, was sie hier sind.«
Sie schaute in die Höhe. Kinross und Garcia setzten sich wieder hin. Dann strich ein schlanker Vogel mit dünnen Beinen und langem gebogenem Schnabel in den Schein des Feuers nieder und hockte sich auf ihre Schulter.
»Armes kleines Nachtbaby«, redete das Mädchen ihn an, »du wirst mich bewachen, nicht wahr?«
Sie stand plötzlich auf, sagte gute Nacht und ging in die Hütte. Kinross sah Garcia an.
»Es ist unsere Schuld, daß sie hier ist«, sagte er. »Wir müssen sie wieder zu ihrer Familie zurückbringen.«
»Es ist Krügers Schuld«, sagte Garcia.
»Auch unsere. Wenn Krüger heute nacht nicht zu mir kommt und mit mir redet, gehe ich morgen früh zu der Höhle. Kommst du mit?«
»Natürlich«, sagte der Mexikaner gähnend. »Angenehme Träume.«
Morgenröte über den großen Hang talaufwärts weckte Kinross aus einem traumlosen Schlaf. Er blies in die glühende Asche und entfachte das Feuer. Verkohlte Brotfruchthülsen lagen am Boden herum, und er dachte bitter, daß diese Welt sich nun nicht mehr selbst säuberte. Er warf die Hülsen in die Flammen.
Irgendwo auf dem Hang jenseits des Baches brüllte Kerbeck, und es knackte im Gestrüpp. Garcia stand auf, und das Mädchen lugte aus ihrer Hütte, während Kinross unschlüssig dastand. Dann erschien Kerbeck. Er trug ein Bündel gelber Bananen auf der linken Schulter und hielt mit der rechten Hand einen kleinen Mann im Nacken fest. Halb stieß er, halb kickte er den kleinen Mann den Hang hinunter.
Der hünenhafte Nordländer summte aufgeregt, als er sich dem Talgrund näherte. Plötzlich hörte Kinross, noch halb schlafend, Worte in dem Gesumm, wie er manchmal Windstimmen im Summen von Telegrafendrähten gehört hatte, als er noch ein Junge auf den Hochebenen von Nebraska war.
»Ich fange mir einen Teufel«, sagte Kerbeck.
Der Teufel war ein dunkelhäutiger kleiner Mann mit breitem Gesicht in schlotterndem grauem Wollzeug. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht vor Angst verzogen, und er plapperte vor sich hin. Garcia spitzte plötzlich die Ohren, und schnauzte dann den Mann auf spanisch an. Ein Wortschwall war die Antwort.
»Er ist ein Peruaner«, übersetzte Garcia. »Er kommt aus den Bergen oberhalb von Tacna. Er ist tagelang herumgeirrt. Er glaubt, daß er tot und Kerbeck der Oberteufel wäre.«
»Das scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen«, sagte Kinross. »Sag ihm, daß er keine Angst mehr zu haben braucht. Ich frage mich, wie viele noch …«
Kerbeck trottete summend und brummend davon. Der kleine, immer noch schrecklich verängstigte Peruaner kauerte sich ans Feuer und aß mit ihnen Bananen. Dann erklärte Kinross dem Mädchen seine Absicht und schlug Garcia vor, die Höhle aufzusuchen.
»Nicht mit leeren Händen«, erinnerte ihn der Mexikaner. »Vergiß nicht, daß wir eine Pflicht haben.«
Unterwegs sammelten sie Guavas und Papayas in Kinross’ Hemd, durchquerten den Wald und legten die Früchte auf das Steinpodest. Silva saß wiegend und fast unhörbar wimmernd daneben. Kinross klopfte ihm auf die Schulter.
»Kopf hoch, Silva, alter Knabe«, sagte er. »Wir gehen jetzt zu Krüger. Vielleicht bringen wir gute Nachrichten für dich mit.«
»Unheilig«, stöhnte der alte Mann. »Voller Teufel. Du bist ein Teufel.«
Die beiden Männer gingen zum Eingang der Höhle und blieben stehen. Sie sahen sich an.
»Worauf warten wir noch?« fragte Garcia.
»Ich weiß nicht. Ich habe wohl erwartet, daß Fay oder Bo Bo Wache hält«, sagte Kinross. »Zum Teufel damit. Wir gehen einfach hinein.«
Die Höhle bog sich scharf nach innen und bildete einen fast runden, etwa fünf Meter hohen Tunnel. Der Bach plätscherte über den Grund, so daß sie waten mußten. Das Wasser glänzte sanft, und Feuchtigkeit, die aus Rissen im schwarzen Fels sickerte, rief hier und dort funkelnde Flecken an den Wänden hervor. Der Fels hatte das wuchtige, amorphe Aussehen von Basalt. Die Luft war kühl und bis auf das Murmeln des Baches völlig still.
Die beiden Männer wateten ein ganzes Stück, ehe sie das klare Geräusch sprudelnden Wassers irgendwo vor ihnen hörten. Dann kamen sie in eine unermeßlich große Kammer, über deren Rückwand glitzerndes Wasser aus der Dunkelheit hinabstürzte. Fay und Bo Bo schliefen auf den kahlen Terrassen neben dem Bach.
»Was hast du mir zu sagen, Kinross?« fragte Krügers Stimme aus der Finsternis. Sie schien das Geräusch des hinabstürzenden Wassers zu Worten zu formen.
»Wir haben eine Frau gefunden«, sagte Kinross.
»Ich weiß. Viele andere, sowohl Männer als auch Frauen, sind noch auf dem Wege hierher. Ich bin sehr gestärkt worden. Habt ihr nicht bemerkt, wie sich die Welt gefestigt und in die Zeit ausgedehnt hat?«
»Doch. Aber wie gelangen diese Leute hierher? Gibt es mehrere Pforten?«
»Nein. Die eine muß sich verrückt haben.«
»Wohin denn? Die eine ist aus Australien, der andere aus Peru.«
»So?« Die silberhelle, flüssige Stimme klang erstaunt. »Dann bewegt sie sich vielleicht.«
»Aber Tibesti …«
»Sie wußten nicht, daß die Erde sich dreht. Die Sonne von Tibesti kreist um eine stillstehende Erde. Aber als wir – als ich hier einen Ablauf der Tage geschaffen habe, muß ich dieser Welt eine Achse verliehen haben. Vielleicht ist sie nicht genau im gleichen Takt mit unserer alten Welt. Dann wandert die Pforte …«
»Du scheinst dich darüber zu freuen«, sagte Kinross.
»Das tue ich auch. Es sind viele Leute nötig, um eine Welt aufrechtzuerhalten, Kinross. In wenigen Jahrhunderten gibt es vielleicht genügend hier, so daß ich mich wirklich ausruhen kann. Sie werden sich natürlich vermehren und hier langlebig sein.«
»Wie groß, meinst du, ist die Pforte?«
»Ich nehme an, so groß wie ein Boot. Vielleicht eine Ellipse mit einer zehn Meter langen Hauptachse.«
»Wie gelangen die Leute hindurch, wenn sie nicht wissen …?«
»Mehrere Arten sind möglich. Vielleicht überkommt es sie in einem Augenblick intensiven Weltekels, in jenen Augenblicken, die der Mensch höchstens ein oder zwei Sekunden ertragen kann. Es reißt sie empor. Oder es sind vielleicht Tagträumer, deren Wirklichkeitssinn auf keinen festen Punkt gerichtet ist und deren Ankertaue zu ihrer wirklichen Welt sich lockern oder losmachen. Sie wollen nur ein Stück hinaustreiben, aber die Pforte kommt vorbei und schnappt sie sich. Ich weiß es wirklich nicht, Kinross. Vielleicht werden Dichter und Selbsthasser diese Welt bevölkern.«
»Aber die Pforte? Können wir in umgekehrter Richtung hindurchgelangen?«
»Ja. Manche Soldaten von Tibesti kehrten zurück – oder flohen zurück oder wurden zurückgejagt – die alten Geschichten widersprechen sich darin. Aber jeder, der durch diese Pforte zurückkehrt, läuft Gefahr, in den Ozean zu stürzen. Ich vermute, daß die Pforte den achtzehnten Breitengrad streift oder dessen Nähe.«
»Krüger, die Frau möchte zurückkehren. Wir müssen einen Weg finden.«
»Nein. Niemand darf zurückkehren. Vor allem keine Frauen.«
»Krüger, wir haben kein Recht …«
»Wir haben das Recht und außerdem eine Pflicht. Sie wäre nicht hier, wenn sie nicht, wenigstens für einen Augenblick, ihre eigene Welt verleugnet oder verworfen hätte. Sie gehört jetzt uns, und wir brauchen sie.«
»Krüger, vielleicht gehorche ich dir dabei nicht. Ich …«
»Du mußt gehorchen. Du kannst die Rückkehrschranke nicht ohne meine Hilfe überschreiten.«
»Dann wollen wir es jetzt auf sich beruhen lassen«, gab Kinross nach. »Ich habe andere Fragen. Was sind die schwarzen Männer und die perlgrauen Frauen?«
»Man könnte sie Naturgeister nennen. Ich habe sie von Fay und Bo Bo abgeschnitten, sie ihnen in Millionen abgeschält, bis nur noch der kahle Kern der Nichtigkeit übrigblieb. Was die beiden jetzt sind, kann ich euch nicht beschreiben. Aber die Welt funktioniert nun teilweise von selbst, und meine Last ist leichter geworden.«
Garcia redete zum erstenmal. »Hart für Fay, obwohl ich diese kleine Ratte hasse.«
»War es das, was du mit mir vorhattest?« fragte Kinross und erschauderte.
»Nein«, sagte die klare, flüssige Stimme ernst, »du bist ein anderer Menschenschlag, Kinross. Du hättest mir helfen können, die Last zu tragen, und vielleicht hätten wir es so lange ausgehalten, bis die Hilfe eingetroffen wäre, die jetzt eintrifft.
Wasche, was Fay und Bo Bo angeht, deine Hände nicht in Unschuld, Kinross.«
»Krüger«, sagte Garcia zögernd, »glaubst du, daß all diese Teufel wirklich Fay und Bo Bo sind?«
»Die meisten von ihnen«, bestätigte die silberhelle Stimme, »aber viele von ihnen sind Kerbeck. Er löst sich ohne mein Zutun auf. Und manche sind auch du, Garcia; manche sind Kinross, die Frau, ihr alle. Ihr seid weiter in diese Welt eingebaut, als ihr wißt.«
»Mir gefällt das nicht«, sagte Garcia. »Krüger, ich will meine Teufel nicht hergeben.«
»Du kannst nichts daran ändern, Garcia. Aber du kannst Millionen entbehren, und weißt du, du verlierst außerdem nicht wirklich sie. Du streust dich gewissermaßen nur in die Welt aus. Jedesmal, wenn du einen Zwang auf diese Welt ausübst, indem du etwas erwartest, kostet es dich ein oder zwei Teufel. Verstehst du das?«
»Nein!« murrte der Mexikaner.
»Ich glaube doch. Wenn nicht, so rede nachher mit Kinross darüber. Aber es ist nicht so schlimm, Garcia. Wenn du ein loser Schwarm Teufel und kein glänzender schwarzer Stein wirst, so wirst du ein Dichter oder ein Waldgott.«
»Krüger«, schaltete Kinross sich ein, »nimmst du es mir übel, daß ich dir damals meine Hilfe verweigert habe?«
»Nimmst du es mir übel, daß ich das alles versucht habe, indem ich die Ixion in die Luft fliegen ließ?«
»Ich weiß nicht … Ich weiß es einfach nicht …«
»Ich weiß es auch nicht, Kinross. Vielleicht sind wir quitt. Und ich habe dich immer noch nötig.«
»Wo ist dein Körper, Krüger? Kannst du ihn jetzt beleben?«
»Er ist über dem Wasserfall. Ich sehe jetzt undeutlich vor mir, wie er sich in ferner Zukunft belebt und gleichsam triumphierend in seine Welt tritt. Aber noch nicht, noch nicht …«
»Und dein Durst, Krüger? Bist du immer noch durstig?«
»Ja, Kinross. Er verzehrt mich immer noch. Ich weiß nicht, wie lange ich ihn noch ertragen muß.«
»Hat die Beziehung zu Fay …?«
»Keiner außer dir, Kinross. Und jetzt nicht einmal mehr du. Du hast mir einmal nicht gehorcht.«
»Krüger, es tut mir leid. Ich wollte, es wäre nicht nötig gewesen. Dürfen wir jetzt gehen?«
»Ja. Geht und dient dieser Welt. Versucht zufrieden zu sein.«
»Laß uns gehen, Garcia«, sagte Kinross und machte kehrt. Der Mexikaner setzte sich in Marsch, übernahm die Führung. Als sie den dunklen Wald durchquerten, blieb Kinross stehen. »Wollen wir uns nicht hier hinsetzen und uns eine Weile über die Teufel unterhalten, Garcia?« schlug er vor. »Ich kann Mary Chadwick einfach noch nicht ins Gesicht sehen.«
Als die beiden Männer zum Feuer zurückkehrten, standen über ein Dutzend Leute darum herum. Mehrere waren Frauen. Ein großer schlanker Mann, der eine Lederjacke und graue, in Stulpenstiefeln steckende Hosen trug, kam ihnen aus der Gruppe entgegen. Er hatte rötlich-blondes Haar.
»Mister Kinross?« fragte er. »Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle, und entschuldigen Sie bitte, daß ich so frei war, mich Ihres Feuers zu bedienen. Mein Name ist Friedrich von Lankenau.«
Sie schüttelten sich die Hände. Der Neuankömmling hatte einen kräftigen Griff in seinen langen Fingern. Sein Gesicht war starr, straff, hager, hatte schmale Lippen und eine feingeschnittene Hakennase. Kinross schaute ihn forschend an, und tiefliegende graue Augen unter buschigen Brauen erwiderten seinen Blick fest. Die schmalen Lippen lächelten leise.
»Miss Chadwick hat mir gesagt, daß Sie gewissermaßen Mister Krügers Adjutant sind«, sagte der Mann. »Wir sind eine Gruppe, die sich unterwegs zufällig getroffen hat. Wir sind begierig auf eine vernünftige, naturwissenschaftliche Erklärung dessen, was mit uns vorgeht.«
Ein Stimmengewirr erhob sich aus der Gruppe. »Ruhe!« schnauzte der große Mann. »Wenn Mister Kinross es uns erklärt, können alle, die Englisch verstehen, zuhören. Danach übersetze ich es den anderen.« Das Stimmengewirr verstummte.
Kinross erzählte die Geschichte der Soldaten von Tibesti und der Seeleute von der Ixion. Beim Reden beobachtete er von Lankenau genau. Der Mann änderte nicht seine straffe Miene, aber seine Augen leuchteten, und er nickte dauernd verständnisvoll mit dem Kopf. Als er geendet hatte, unterdrückte Kinross ein erneutes Geplapper, indem er Garcia die Geschichte auf Spanisch erzählen ließ. Dann zog er von Lankenau beiseite.
»Könnten Sie mir bitte sagen, wo Sie sich befanden, als Sie hierher gelangten?« fragte er.
»Ich war fast auf dem Gipfel des Sajama in Bolivien, den ich allein bestieg.«
»Und die anderen?«
»Sie kommen von überall. Brasilien, den Neu-Hebriden, Mozambique, Australien, Rhodesien …«
»Vermutlich hat Krüger recht, und die Pforte folgt tatsächlich dem achtzehnten Breitengrad«, dachte Kinross laut.
»Das können wir zweifellos ziemlich genau durch ein kurzes Verhör feststellen«, sagte von Lankenau zuversichtlich. »Aber früher oder später, Mister Kinross, möchte ich gern mit Mister Krüger persönlich sprechen, wenn sich das einrichten läßt. Es beschäftigt mich sehr …«
»Dann brauchen Sie ihn nur aufzusuchen, Herr von Lankenau. Ich bin nicht sein Sekretär. Aber so viel kann ich Ihnen jetzt schon sagen: er erlaubt es keinem, in die alte Welt zurückzukehren.«
»Um keinen Preis möchte ich in die alte Welt zurückkehren!« Von Lankenau sprach mit Gefühl, durchbrach seine steife Haltung.
»Seit meinem Knabenalter kenne ich die Geschichte der Soldaten von Tibesti«, fuhr er fort. »Als Jüngling suchte ich die Pforte in ganz Tibesti, und vielleicht fand ich sogar die Stelle, aber es offenbarte sich mir nicht wie Mister Krüger. Deshalb suchte ich eine eigene Pforte, auf winterlichen Bergspitzen, auf Gipfeln wie dem Sajama. Ich bin zwar nicht ganz sicher, daß ich durch Ihre Pforte kam, Mister Kinross, aber ich bin sicher, daß ich hierher kam, um zu bleiben.«
»Mary – Miss Chadwick – hat irgendwie das gleiche Gefühl«, sagte Kinross. »Ich habe nie gewußt, daß so viele Leute …« Seine Stimme verlor sich.
»Verzeihen Sie mir meinen Ausbruch«, sagte von Lankenau und gewann seine Fassung wieder. »Für mich ist dies eine letzte Hoffnung, die sich plötzlich verwirklicht hat, und ich bin davon ein wenig überwältigt. Wollen Sie mich jetzt bitte entschuldigen, ich möchte Mister Krüger einen Besuch abstatten.«
Er verbeugte sich und schritt, federnd davon. Kinross bemerkte das australische Mädchen an seiner Seite.
»Mary«, sagte er, »hast du gehört, was er gesagt hat? Aber ich sage dir, daß wir dich in deine Welt zurückschaffen, obwohl es gefährlich sein wird. Ich werde mich darum kümmern und dich auf dem laufenden halten.«
Sie schien ihm kaum zuzuhören und starrte der entschwindenden Gestalt nach. »Eine Wucht!« sagte sie. »Da geht ein Mann!«
Kinross wandte sich etwas irritiert von ihr ab. Garcia sprach mit einer Gruppe von Lateinamerikanern, darunter drei Frauen. Kinross suchte den Rhodesier heraus, einen untersetzten, auffälligen Mann mit karierten Shorts. Er hieß Peter White. »Was meinen Sie zu all dem?« fragte Kinross.
»Sie haben es recht gut hier«, antwortete der Mann. »So als wäre man wieder ein Kind, nicht wahr?«
Kinross brummte und fragte ihn, was er von v. Lankenau halte. White sagte, daß er von Lankenau bewundere, daß er sich ziemlich verloren und ziellos gefühlt habe, ehe er sich von Lankenaus Gruppe angeschlossen habe. Kinross plauderte ein paar Minuten über Banalitäten und sagte schließlich: »Wissen Sie, White, wir können durch diese Pforte zurückkehren, wenn wir es richtig anpacken.«
»Ich möchte noch gar nicht zurück«, sagte White trocken. »Mir macht es Spaß hier.«
»Aber zu gegebener Zeit … wenn Sie es satt haben …«
»Satt? Das werden wir sehen. Wissen Sie, Kinross, als letztes aus der alten Welt erinnere ich mich, daß ich fast tot vor Fieber im Busch lag. Träume … Visionen … Ich bin nicht bereit, wieder dort zu erwachen …«
»Sie halten das also für einen Traum?«
»Ja. Einen anderen und besseren.«
Kinross entschuldigte sich und entfernte sich, wobei er den Kopf schüttelte. Garcia plapperte immer noch Spanisch. Er lief eine Weile ziellos herum, legte sich dann unter einen Brotbaum beim Feuer und versuchte zu schlafen. Er empfand Langeweile und Ärger. Er sah zwei Neuankömmlinge, beides Frauen, den Hang herabkommen und überließ es Garcia, sie willkommen zu heißen.
Stunden später kehrte von Lankenau mit einem begeisterten Ausdruck auf seinem hageren Gesicht aus dem Wald zurück. Er rief seine Gruppe zusammen und wies ihnen ihre Pflichten in mehreren Sprachen zu. Alle mußten jeden Morgen eine Handvoll Früchte oder Beeren sammeln und sie auf den Steinhügel vor dem Höhleneingang legen. Dann sprach er von Hütten und sanitären Anlagen. White besaß eine Axt. Einer der Neger aus Mozambique hatte ein Buschmesser, und der andere eine Hacke. Als die Fortschritte der Arbeit von Lankenau befriedigten, gesellte er sich unter dem Brotbaum zu Kinross. Garcia begleitete ihn.
»Ich habe mich lange mit Mister Krüger unterhalten«, sagte von Lankenau, setzte sich und schlang seine Arme um seine Knie. »Er hat mir viel erzählt, auch über Sie, Mister Kinross.«
»Was denn über mich?« fragte Kinross und kniff die Augen zusammen.
»Über das besondere Verhältnis zwischen Ihnen und ihm. Etwas über die Wechselwirkung, durch die Sie und er in diese Welt gelangt sind. Er versteht es selbst nicht. Aber er weiß, daß Sie sein Adjutant unter den Leuten sein sollten.«
Kinross schwieg. Von Lankenau betrachtete ihn einen Augenblick ernst, und fuhr fort: »Ich unterwerfe mich gern Ihrer Autorität, Mister Kinross, und werde Ihnen helfen, so gut ich kann.«
»Ich möchte weder Autorität noch Verantwortung haben«, sagte Kinross. »Kümmern Sie sich ruhig weiter um die Dinge, Herr von Lankenau, aber lassen Sie mich dabei aus dem Spiel.«
»Wenn es, durch Ihre Weigerung, sein muß, werde ich das tun. Aber ich hoffe doch, daß ich mich mit Ihnen beraten darf.«
»Aber selbstverständlich«, sagte Kinross. »Aufs Reden verstehe ich mich.«
»Lassen Sie uns dann reden. Wissen Sie, Mister Kinross, diese Situation ist einfach faszinierend. Spüren Sie nicht, wie es Ihre Gedanken in Feuer und Flamme setzt?«
»Vermutlich weiß ich, was Sie meinen. Wir rühren an einige der letzten Geheimnisse. Ich gebe zu, daß ich seinerzeit auch darüber nachgedacht und seltsame Bücher gelesen habe. Aber jetzt überlege ich …«
»Bitte jetzt keine moralischen Skrupel, Mister Kinross. Sonst quälen Sie sich völlig sinnlos wie dieser unglückliche Portugiese. Wir haben eine Welt aufgebaut, und sie braucht keine Nachahmung der alten zu sein. Vielleicht gelingt es uns, die Chemie zu vereinfachen, die Mineralogie zu systematisieren … reizt Sie dieser Gedanke nicht, Mister Kinross?«
»Ho! Sie können nicht die Energiegesetze überwinden, Herr von Lankenau. Je mehr Leute hierher kommen, desto strikter treten sie in Kraft. Das hat mir Krüger selbst gesagt, und ich kann sehen, daß sie schon jetzt Fuß fassen.«
»Mister Krüger hat aber das zweite Gesetz nie beachtet. Sonst wäre keiner von uns hier. Und die meisten Menschen, die herkommen, bleiben, wie Sie wissen, keine Menschen.«
Von Lankenau warf Garcia einen zweifelnden Blick zu und fuhr fort: »Das ist auch so etwas Faszinierendes, zu beobachten, wie die Persönlichkeitselemente allmählich in die äußere Natur zurückfließen, bis sich die Grenze zwischen Subjekt und Objekt fast verwischt. Denken Sie nur an die Macht der Massenbeeinflussung, über die wir dann verfügen! Diese Bäume und Felsen werden unserem Einfluß unterworfen, jeder mit dem ihm innewohnenden Fragment menschlichen Geistes! Oh, Kinross … Ihr zweites Gesetz … Ihre dürre, an Worten erstickende Welt … das hier wird lange Zeit eine Welt der Magie sein, ehe sie zu einer Welt der Wissenschaft wird.«
Kinross runzelte die Stirn. »Welches Recht haben wir, Persönlichkeiten auf diese Weise aufzulösen? Oder es zuzulassen? Fay und Bo Bo …«
»Das sind zwei Sonderfälle, einem Notfall geopfert, der nicht mehr eintreten wird. Was die anderen betrifft, so werden wir uns eine Reihe ritueller Lebensmuster ausdenken, die sie auf einer niedrigeren Stufe festigt.
Darüber habe ich mich mit Mister Krüger am ausführlichsten unterhalten.«
»Darf ich hier mal was einwenden?« brummte Garcia. »Glaubt ihr Spinner etwa, daß mir das passiert? Angenommen, ich falle euretwegen nicht auseinander – was dann?«
»Vielleicht können Sie nichts daran ändern, Señor Garcia. Und vielleicht fühlen Sie sich wesentlich glücklicher, wenn Sie … auseinanderfallen.«
»Sie reden wie Krüger! Kinross, was meint er damit?«
»Er meint, daß die Leere dieser Welt dich auseinanderreißt, ob es dir paßt oder nicht. So wie ein Salzklumpen, den man in eine Tasse Süßwasser wirft, sich allmählich auflöst.«
»Leere? Nicht in der alten Welt?«
»Nur selten, an Stellen wie der Antarktis, auf einem Rettungsfloß im Meer, an leeren Stellen.«
»Ich verstehe. So wie die meisten Stellen der alten Welt schon so salzig sind, daß sie nichts mehr aufnehmen können.«
»Ganz richtig. Die Salzklumpen nehmen, statt sich aufzulösen, zu.«
»Hm. Wie wir es heute morgen beredet haben. Wir pflegten unsere Teufel aufeinander abzuwälzen.«
»Teufel. Das ist Mister Krügers Analogie«, unterbrach von Lankenau.
»Komisch, daß ich einfach weiß, was er damit meinte, ohne es anders ausdrücken zu können«, sagte Garcia.
»Du hast ein paar Teufel verlieren müssen, ehe es soweit war«, sagte Kinross zu ihm.
»Okay, ich habe ein paar verloren. Aber ich bin immer noch Joe Garcia, und meine Eingeweide funktionieren.«
»Namensmagie ist eines der ältesten und mächtigsten Mittel, die eigenen Teufel zu einer Einheit zu verbinden, Señor Garcia«, versicherte ihm von Lankenau. »Wir werden die Dorfbewohner hoffentlich ein ganzes Stück über dem Namensniveau festigen.«
»Warum finden Sie und Kinross es ganz selbstverständlich, daß Sie für dieses … dieses Teufelsverlieren nicht in Betracht kommen?«
»Und ob wir dafür in Betracht kommen. Wir verlieren lustig Teufel, aber es handelt sich dabei um einen Verlust nach Auswahl. Ich, und ich nehme an, auch Mister Kinross, wir halten uns durch eine höhere Magie zusammen.«
»Es ist so, Garcia«, sagte Kinross. »Man kann entweder einfach all seine Teufel sein oder man kann man selbst sein und eine Reservelast von Teufeln mit sich herumschleppen.«
»Teufel, Señor Garcia«, sagte von Lankenau ernst, »sind Erfahrungsstücke, große oder kleine, fröhliche oder betrübliche.«
»Die gelebten Erfahrungen, die guten oder schlechten, binden wir an uns selbst«, sagte Kinross. »Die ungelebten Erfahrungen, die Leider-Nicht, Es-hätte-dochso-schön-sein-Können, die knapp-versäumten Dinge tragen wir auf dem Buckel herum. Aber wir wissen es.«
»Eigentlich erklären wir es uns gegenseitig, nicht wahr, Mister Kinross?« sagte von Lankenau. »Wir verlieren die Teufel, die uns reiten, und behalten diejenigen, die uns Macht verleihen. Die Dorfbewohner müssen unterschiedslos beiden Arten verlieren.«
»Ich bin noch da«, sagte Garcia. »Reden Sie weiter.«
»Um auf Ihre frühere Analogie zurückzukommen, Mister Kinross«, sagte von Lankenau, »so möchte ich behaupten, daß Teufel einen osmotischen Druck ausüben. Er ist auf Berggipfeln stark nach außen gerichtet, und an solchen Orten, an denen ich tausend Teufel abgeschüttelt habe. Aber in Berlin oder Paris … kehrten sie zu Zehntausenden zurück.«
»Das kapiere ich«, sagte Garcia. »Es macht einen großen Unterschied, ob man auf einer langen Fahrt ist oder einen Monat an Land geht. Es gibt mir immer einen Stich, wenn ich mich ausschiffe.«
»Ich glaube, du bist in Ordnung, Garcia«, sagte Kinross. »Wenn du das nicht wärst, dann wärst du schon zerstoben wie Kerbeck.«
»Ist Kerbeck nicht phantastisch?« fragte von Lankenau. »Das Endprodukt der Teufelausstreuung, eine Elementargewalt mit kaum geahnten Kräften. Auch das schwarze und wilde Bo-Bo-Ding. Mister Kinross, wir zahlen einen Preis für unseren Verstand. Aber wir dürfen nicht zulassen, daß dies mit unseren Dorfbewohnern geschieht.«
»Vermutlich nicht«, pflichtet Kinross ihm bei. »Sie sprachen von Riten …«
»Ja, ein Schema von Gruppenriten, um sie durch ihre Tage und Nächte zu bringen, später vielleicht durch Jahreszeiten. Wir halten sie als Masse zusammen, konzentrieren die Teufel örtlich durch gegenseitige Stärkung oder stufenweises Wiedereinfangen … ich weiß nicht genau, wie ich es ausdrücken soll.«
»Ich verstehe. Die Vorstellung beunruhigt mich, Herr von Lankenau.«
»Das ist unnötig. Ich finde sie erheiternd. Ich hoffe, daß Sie und Señor Garcia mir dabei helfen werden.« Von Lankenau erhob sich und schaute auf die Bauarbeiten an den Hütten.
»Wir werden es uns überlegen«, sagte Kinross und stand ebenfalls auf.
»Ich werde mein möglichstes tun«, sagte der Mexikaner. Von Lankenau entschuldigte sich und ging zu den Dorfbewohnern. »Kinross, irgend etwas sagt mir, daß du bei all deinem Grips noch einen Teufel am Halse hast, der so groß wie die Queen Mary ist.«
Krügertown, wie sie es nannten, wurde in einem Tag erbaut. Mary hatte eine große Hütte aus Fachwerk neben dem von Steinen eingefaßten Gemeinschaftsfeuer und etwas abseits vom Dorfkern, der näher bei dem dunklen Wald und dem Höhleneingang lag. Kinross und Garcia bauten sich eine ähnliche Unterkunft, ein Stück flußabwärts vom Feuer. Von Lankenau wohnte im Dorf. Jeden Morgen brachten Kinross und Garcia ein paar Bananen oder eine Brotfrucht zu dem Steinhügel. Danach half Garcia oft von Lankenau mit den Dorfbewohnern, aber Kinross ging mit gemischten Gefühlen seiner Wege. Er stieg auf den Hängen herum und kümmerte sich nicht um die wachsende Anzahl der schwarzen Dinger und grauen Frauen, die dort lauerten. Manchmal sah er Kerheck, der unermüdlich die Zwerge und Rauchfrauen verfolgte, und versuchte, mit ihm zu reden. Er versuchte, Kerbeck klarzumachen, was Krüger ihm angetan hatte, indem er ihm seine Menschlichkeit nahm. Der hünenhafte Schwede summte und brummte, und Kinross wußte nicht, inwieweit er ihn verstand.
Auch Mary ging ihrer Wege, immer umflattert von Vögeln. Er sah zierliche grüne und blaue Sonnenvögel, grüne und weiße Pittas, grüne und bronzefarbene Drongos und die scheuen weißen Muskattauben, die sie am meisten liebte. Wenn sie sich begegneten, versuchte er, mit ihr zu reden, fand sie aber ausweichend und geistesabwesend.
»Diese Welt ist schädlich für dich, Mary«, beschwor er sie eines Tages. »Sie löst dich auf, läßt dich Teile von dir verlieren. Möchtest du nicht nach Queensland zurückkehren, solange du es noch kannst? Ehe es zu spät ist?«
»Ich schicke meine Vögel aus und rufe sie zurück«, erwiderte sie. »Hier ist nichts schädlich.«
»Das ist keine Antwort, Mary«, protestierte er. Er betrachtete ihr sorgloses Gesicht mit den roten Lippen und der glatten Stirn und legte den Arm um ihre Schultern. Sie entschlüpfte ihm.
»Mary, ich werde dich nach Queensland zurückbringen«, sagte Kinross scharf. »Das bin ich dir schuldig.«
Sie summte wie Kerbeck und entfernte sich. Kinross schaute ihr verdrossen nach. Kurz danach sah er sie hoch oben auf dem Hang mit Kerbeck reden … Oder summen.
Neuankömmlinge trafen fast täglich ein, einzeln oder zu zweit, und verschmolzen sofort mit dem Dorfschema. Eines Tages fragte Kinross von Lankenau, wie lange das, seiner Meinung nach, noch weitergehen werde.
»Die Rate nimmt ab«, sagte von Lankenau. »Ich nehme an, daß sie sich asymptotisch vermindern und nie ganz aufhören wird. Aber offenbar folgt die Pforte einem recht schmalen Pfad und hat bereits die meisten der dafür Empfänglichen eingefangen. Es kann auch sein, daß in dem Maße, wie diese Welt sich füllt, ihre Anziehungskraft geringer wird.«
»Wann wird sie voll sein?«
»Hoffentlich nie. Wir wollen Tausende, einen großen Gen-Vorrat, eine weite Welt. Ich schätze, daß unsere jetzige Oberfläche höchstens einen Durchmesser von fünf Meilen hat, Mister Kinross.«
»Kann Krüger sie nicht größer machen, wenn er will?«
»Nur auf Kosten einer inneren Einengung. Er hat ein brauchbares Gleichgewicht hergestellt. Aber sie ist durch die Rückkehrschranke unermeßlich, und ist das nicht eine höchst faszinierende Erfahrung, Mister Kinross?«
»Anfangs fand ich es störend, dann beklemmend«, sagte Kinross.
»Ach, die Grenzen! Aber mit mehr Leuten können wir unsere Oberfläche zu bequemeren Grenzen ausdehnen. Ich nehme an, daß wir sie schließlich sphärisch machen und die Rückkehrschranke in eine höhere Dimension erheben. Aber es wird mir ein bißchen leid tun, wenn wir das ausführen. Verstehen Sie meine Gefühle, Mister Kinross?«
»Wer sind eigentlich ›wir‹?« fragte Kinross mit plötzlicher Schärfe. »Sie und Krüger?«
»Oh nein. Wir alle. Die Kultur, Mister Krüger … auch Sie werden daran teilhaben.«
»Sie sind sehr gütig, Herr von Lankenau.«
Der große Mann musterte ihn scharf. »Mister Kinross«, sagte er feierlich, »sobald Sie wollen, können Sie Ihren rechtmäßigen Platz in dieser Welt einnehmen. Ich beschwöre Sie, es zu tun. Ich befehlige hier nur, weil Sie sich weigern, und das wissen Sie genau.«
»Ich werde nicht daran teilhaben«, sagte Kinross. »Zum Teufel mit Krüger und seiner Welt, die sich einfach eine junge Frau wie Mary Chadwick schnappt …«
»Mister Krüger liebt Sie, Mister Kinross. Sie und Señor Garcia sind dank den besonderen Umständen Ihres Hierhergelangens sein Sensorium. Durch uns andere und durch die Kabeiroi auf dem Hang kann er sich seiner Welt nur undeutlich bewußt werden.«
»Also ich liebe Mister Krüger nicht. Ich hoffe, daß der Durst ihn noch immer wahnsinnig macht.«
Von Lankenau hob warnend die Hand. »Er leidet noch immer Durst«, sagte er leise, »aber Ihre Worte sind Ihrer nicht würdig, Mister Kinross. Hassen Sie mich, wenn Sie müssen, aber nicht Mister Krüger.«
»Warum, zum Teufel, rasieren Sie sich jeden Tag?« fragte Kinross wütend, als er sich abwandte.
Er schaute aus einiger Entfernung zurück und zupfte sich den Bart. Mary Chadwick redete mit von Lankenau, stand dicht vor ihm, sah zu ihm auf. Der Gedanke, daß sie nie so zu ihm aufgeblickt harte, gab Kinross einen Stich. Dann fiel ihm ein, daß sie genauso groß war wie er, es also auch gar nicht konnte. Er schluckte einen Fluch hinunter und setzte seinen Weg fort.
In dieser Nacht schlug Kinross Garcia in ihrer gemeinsamen Hütte vor, daß sie am nächsten Tag versuchen sollten, die Rückkehrschranke zu durchbrechen. Der Mexikaner lehnte ab, indem er sagte, er und von Lankenau arbeiteten gerade einen Wegmarkierungsritus mit den Dorfbewohnern aus.
»Ich will es jedenfalls versuchen«, sagte Kinross. »Ich steige hinauf und gehe schnurstracks hindurch, indem ich einfach nicht glaube, daß sie da ist, genauso wie ich es im Boot hätte tun sollen.«
»Ja, und dir wird die Kehle durchgeschnitten«, sagte Garcia. »Aber sie ist da. Du wirst es schon sehen.«
Kinross sah es. Er stieß den ganzen Tag gegen die Schranke, erkannte die Unmöglichkeit, suchte die genaue Stelle der Rückkehr, um dann kühn hindurchzuschreiten. Fast war er soweit. Immer wieder sah er, von einem flüchtigen Schwindelgefühl ergriffen, die ihn boshaft anschielenden Kabeiroi an sich vorbeihuschen und Vögel darüber fliegen, aber jedesmal wurde er zurückgedrängt, befand sich plötzlich eine halbe Meile hangabwärts und schlug die falsche Richtung ein. Abends kehrte er verdrossen und erschöpft heim.
›Von Lankenau nannte sie eine Welt der Magie‹, dachte er. ›Dann also Magie. Vögel fliegen durch die Schranke. Ich tue es für Mary. Wenn sie mir nur helfen würde …‹
Er beschloß, es beim nächsten Gewitter nochmals zu versuchen, wenn, wie er hoffte, Krüger zuviel mit seinen Gewitterteufeln zu tun hätte, um die Schranke zu bewachen. Mehrere Tage danach verdunkelte sich eines Morgens der Himmel und seltsames Licht lag über dem Land, so daß er wußte, daß sich ein Gewitter zusammenballte. Die schwarzen Dinger vom Hang drangen mit den feuchten Windstößen in das Tal ein, huschten und schlichen – eben noch außer Sichtweite – durch das Gestrüpp. Auf Felsen, Baumwipfeln und allen spitzen Dingen reckten sich die grauen Frauen halb sichtbar empor. Als die ersten Regentropfen fielen, begann Kinross den Anstieg.
Als er sich der Schrankenzone näherte, wurde das Gewitter heftiger. Donner polterte und brüllte ihn an, strömender Regen peitschte ihn, Zickzackblitze ließen ihn Blicke von den Gewitterteufeln erhaschen. Die Kabeiroi wimmelten mit obszönen Drohungen um ihn herum; über seinem Kopf strömten die grauen Frauen auf dem böigen Wind vorbei. Einmal sah er Kerbeck, den Kopf in den Nacken geworfen, die breite Brust dem Sturm entblößt.
Den ganzen Tag kämpfte er gegen die Schranke, spie Flüche in das Unwetter, und den ganzen Tag spie und donnerte das Unwetter zurück. Er fiel und rollte hinab und rappelte sich immer wieder auf, um sich mit schmerzender Brust den Hang hinaufzuschleppen. ImWind wirbelnde Zweige und Äste geißelten sein Gesicht und seinen Körper. Erstickender Regen überschüttete ihn; der Sturm riß ihm den Atem aus dem Mund. Schließlich überzeugten ihn sein hämmerndes Herz und seine zitternden Knie, daß er geschlagen war. Er machte kehrt. »Na, Krüger, ich habe dir einen Kampf geliefert«, keuchte er laut. Der Sturm legte sich, als er den Hang hinunterhinkte, und er sah entwurzelte Bäume und verstreute Äste und strudelnde Wasserrinnen. Dann kam ihm der Gedanke, daß er Krüger zumindest gezwungen hatte, von Lankenaus kostbares Dorf zu zerstören. Als er das Talbecken erreichte, hatte sich das Gewitter ganz verzogen, und er konnte eine halbe Meile vor sich das offenbar unversehrte Dorf und seine Bäume sehen.
Als er sich seiner Hütte näherte, trat Mary aus dem Gebüsch hervor. Weiße Muskattauben hockten auf ihrem Kopf und auf ihren Schultern. Sie lächelte ihn seltsam an.
»Ein Höllenkrach da oben, was, Allan?«
Er sah sie verblüfft an. »Hat es denn hier unten nicht geregnet?« fragte er.
»Kein Tröpfchen«, sagte sie lächelnd. »Geh ans Feuer und trockne deine Sachen. Du siehst müde aus.«
Mit verstauchtem Knöchel hinkte er durchnäßt und verdreckt weiter. ›Sie hat gelächelt und mich Allan genannt‹ dachte er. ›Kein Gewitter hier. Hat mich Allan genannt. Ach, zum Teufel …‹
Eines Morgens hörte Kinross Schläge außerhalb des Dorfes. Auf einer Lichtung fand er Peter White und zwei andere, die mit runden Stöcken Maulbeerbaumrinde flach klopften. Der bärtige Rhodesier sah sonnengebräunt und gesund und heiter aus. Die drei Männer vermieden es, wie es alle Dorfbewohner zu tun pflegten, Kinross anzuschauen, aber sie waren sich seiner Gegenwart bewußt, und der Rhythmus ihrer Schläge wurde unregelmäßig.
Aus einem Impuls heraus rief Kinross: »White! Komm hierher!«
White hörte nicht auf ihn. Kinross hob die Stimme. White murmelte etwas von Mister Krüger, ohne sich dabei umzuschauen.
»Ich befehle es dir in Krügers Namen!« brüllte Kinross jähzornig. »Komm hierher!«
Widerwillig kam der Mann zum Rande der Lichtung. Er blickte zu Boden, schien aber keine Angst zu haben. Der Bantu und der Kanaka klopften weiter.
»White, du bist einmal ein Mann gewesen«, sagte Kinross. »Würdest du nicht gern wieder ein Mann sein?«
»Ich bin ein Mann, Mister Kinross«, sagte White trocken.
»Ein Mann braucht eine Frau. Hast du eine Frau, White?«
»Mister Krüger wird mir bald eine geben.«
»Ich meine zu Hause. Hast du da eine Frau?«
»In meiner Hütte ist keine Frau, aber Mister Krüger wird mir bald …«
»Zum Teufel mit deiner Hütte. Ich meine dort, woher du kommst, in Rhodesien.«
»Ich bin immer hier gewesen.«
»Nein, das bist du nicht. Du bist aus einer anderen Welt, und wenn du dir Mühe gibst, kannst du dich daran erinnern. Kannst du es jetzt?«
Der Mann sah auf. »Ja, aber ich war damals ganz anders. Es war keine gute Welt.«
»Erinnere dich daran. Ich befehle dir in Krügers Namen, dich daran zu erinnern. Erinnere dich an deine Frau und deine Kinder.«
Der Mann wand sich, und sein Gesicht verdüsterte sich. »Es gab dort viele Frauen und Kinder. Es war eine unterirdische Welt. Alle lebten in Tunnels, die gradlinig verliefen. Sie waren zusammengebündelt wie Stroh, und manchmal überschnitten sie sich, aber keine verliefen Seite an Seite. Einer meiner Tunnel mündete in der Krügerwelt. Ich kroch ihn entlang und aus der Erde hervor, und jetzt bin ich hier. Das ist alles, an was ich mich erinnern kann.«
»Okay, geh wieder an die Arbeit«, sagte Kinross.
White rührte sich nicht. »Erst müssen Sie Mister Krügers Namen von mir nehmen«, sagte er.
»Also gut, ich nehme den Namen von dir«, sagte Kinross.
»Noch einmal. Sie haben ihn mir zweimal auferlegt.«
»Okay, dann nehme ich ihn noch mal von dir«, fauchte Kinross. »Geh jetzt und mach weiter.«
Er ging davon. Hinter ihm nahm ein dritter Stock das Klopfen wieder auf, und der Rhythmus wurde wieder regelmäßig.
Allein in seiner Hütte zermarterte er sich das Hirn, statt zu schlafen. Eine Welt der Magie … aber welcher Magie? Krügers Lehre … vor dem Wort, vor dem Gedanken … welche Tat könnte ihm jetzt nützlich sein? Welche blinde, wortlose, undenkbare Tat?
Er beschloß, sich zu weigern, am nächsten Morgen seine übliche Fruchtgabe auf den Steinhügel zu legen, und auf einmal konnte er einschlafen.
Kinross erwachte früh und ging durch mehrere Obstgärten, aß unterwegs, bis sein Hunger gestillt war. Sein zielloses Herumwandern hatte ihn zum Saum des dunklen Nutzholzwaldes geführt, der den Eingang der Höhle verdeckte. Aus einem Impuls heraus durchquerte er den Wald bis zur Lichtung und entdeckte unterwegs zu seinem Erstaunen, daß er eine kleine Guava in der Tasche hatte. Er warf sie weg. Zwei Dorfbewohner, ein Mann und eine Frau, legten Früchte auf den Steinhügel. Kinross fragte sich, ob sie wohl ein Paar waren.
Silva hockte wie üblich neben dem Steinhügel. Kinross versuchte mit dem alten Mann zu reden, klopfte ihm auf die Schulter, aber Silva stieß ihn mit einem unzusammenhängenden Gejammer über Teufel zurück. Kinross zuckte die Achsel und kehrte durch das Tal zurück.
Es war ein schöner Morgen, Vögel und Blumen tüpfelten das Grün bunt, durch das die kaum bekleideten gutgebauten Dorfbewohner zu zweit oder zu dritt gingen. Rauch stieg von der deutlich sichtbaren roten Flamme vor Marys Hütte auf. Die Luft duftete nach Blumen, wurde von Vogelstimmen erfüllt und vom Holzrauch gewürzt. Kinross versuchte sich wohl zu fühlen, aber eine Unrast trieb ihn weiter.
Er ging kreuz und quer, setzte sich und sprang wieder auf, suchte nach irgendeiner Beschäftigung, die er nicht in die Tat umwandeln würde, die von ihm verlangt wurde. Er pflückte Früchte und warf sie fort, näherte sich dem dunklen Wald und entfernte sich resolut. Endlich beschloß er, den Kampf in seiner Hütte auszufechten. Er ging hinein und flocht vor seine Tür eine Barrikade aus Burrawangwedeln.
Stundenlang lief er in der Dunkelheit mit geballten Fäusten hin und her oder streckte sich der Länge nach aus und rang mit seinen rebellischen Muskeln und seinen aufbegehrenden Eingeweiden. Schließlich sprach die vertraute silberhelle Stimme, die er so lange nicht gehört hatte, aus der Luft zu ihm.
»Kinross, ich bin hungrig und durstig. Bring mir Früchte.«
»Nein. Du bekommst sie von hundert anderen.«
»Ich brauche sie von dir, Kinross. Wir haben eine Beziehung. Ich habe dir ein verlorenes Leben zurückgegeben. Du hast mit deiner eigenen Kraft meinen Körper hierher geschleppt. Du schuldest mir eine Pflicht.«
»Das streite ich ab. Wenn ich es je tat, so widerrufe ich es.«
»Ich besitze Macht, Kinross. Silva und Kerbeck bringen mir keine Früchte. Möchtest du so sein wie sie?«
»Du lügst, Krüger. Du besitzt nicht einmal die Macht, meinen Muskeln zu befehlen.«
»Ich möchte ihnen nicht direkt befehlen. Ich möchte dir, mit deiner Zustimmung, in dieser einen kleinen Sache befehlen.«
»Nein. Ich habe deine Macht schon früher auf die Probe gestellt.«
»Nicht in ihrem vollen Ausmaß, Kinross. Nicht in ihrem Ausmaß. Es widerstrebt mir, dich zu verletzen.«
Während Kinross plötzlich gewahr wurde, daß die Spannung gewichen war, dehnte sich die Stille aus. Er fühlte sich genauso müde wie an den Tagen, an denen er mit der Rückkehrschranke gekämpft hatte. Er legte sich zurück, um sich auszuruhen.
›Die erste Runde ist für mich‹, dachte er behaglich.
In der Ferne rollte Donner. ›Die zweite Runde?‹
dachte er beunruhigt und entfernte die Barrikade vor seiner Tür. Schwarze Wolken brodelten an dem großen Grat über der Höhlenöffnung empor. Schwarze Gewitterteufel trieften die Hügel hinab, und graue Frauen tanzten einzeln oder in Gruppen auf den Spitzen der Dinge. Kinross schleppte hastig Holz in seine Hütte, auch Steine für eine Feuerstelle und einen Kien, um es zu entfachen.
Das Gewitter ballte sich mit gewaltigem Donner und zuckenden Blitzen rasch zusammen. Kinross fühlte sich geborgen und versorgte unbeirrt sein Feuer. Der prasselnde Regen verwandelte sich in Nieseln und Kälte. Der Tag wurde ohne sichtbaren Sonnenuntergang zur Nacht. Kinross fröstelte, unter süßem Gras verkrochen, den Bauch gegen die warmen Steine seiner Feuerstelle gepreßt, die lange Nacht hindurch.
Der Morgen war klar und kalt. Reif lag auf dem Gras, Blütenblätter hingen herab und das Laub glitzerte silbrig. Kinross stand in seiner Hüttentür, fröstelte und stampfte mit den Füßen auf, als er knirschende Schritte hörte. Es war von Lankenau, noch unrasiert.
»Guten Morgen, Mister Kinross«, begrüßte von Lankenau ihn. »Entschuldigen Sie bitte mein mehr oder weniger gewaltsames Eindringen in Ihr Privatleben.«
»Schon gut. Es ist kein Eindringen.«
»So? Ich habe geglaubt, daß Sie sich in den letzten Wochen absichtlich ganz für sich hielten. Aber ich möchte mit Ihnen über diese Kälte reden …«
»Lassen Sie sich doch einen Bart wachsen wie ich, wenn Sie sie nicht vertragen können.«
»Ich bin gegen Kälte abgehärtet, Mister Kinross. In dem Augenblick, in dem ich diese Welt betrat, war ich gezwungen, in einer Höhe von fünftausend Metern dreißig Stunden auf einem Felsgrat zu verbringen. Meine Arme und meine Beine waren erfroren. Die Visionen hatten eingesetzt … Sie rühren, mit Verlaub, an meinem Stolz, Mister Kinross.«
Kinross schwieg.
»Wie lang gedenken Sie, Mister Krüger noch herauszufordern?« fragte von Lankenau.
»Vielleicht so lange, bis die Hölle zufriert.« Kinross lachte bitter und fügte dann hinzu: »Nein. Bis Krüger mich durch die Rückkehrschranke läßt. Mich und Mary Chadwick.«
»Er wird Sie nie gehen lassen, Mister Kinross. Und Miss Chadwick möchte gar nicht gehen.«
»Das Ding, das diese verdammte Krügerwelt aus ihr gemacht hat, möchte vielleicht nicht. Aber wenn Krüger sie sich selbst zurückgeben würde …«
»Sie hat nie aufgehört, sie selbst zu sein, Mister Kinross. Wir haben uns in letzter Zeit häufiger miteinander unterhalten, und ich kenne sie gut, werde sie noch besser kennenlernen. Aber ich weiß, was Sie meinen …«
»Ersparen Sie sich, was ich meine. Hat Krüger Sie zu mir geschickt?«
»O nein. Ich fürchte, es ist meine eigene Neugier. Sie interessieren mich, Mister Kinross, und indem ich Sie studiere, lerne ich viel über Mister Krüger. Sagen Sie, Sie wissen doch, daß die Dorfbewohner unter der Kälte leiden und bald hungrig sein werden: fühlen Sie sich nicht irgendwie für ihre Leiden verantwortlich?«
»Nein. Krüger ist dafür verantwortlich. Er soll nachgeben.«
»Das wird er nicht tun, dessen bin ich sicher. Was dann?«
»Dann erfrieren und verhungern wir. Wenn Ihre hirnlosen Dorfbewohner ganz verzweifelt sind, helfen sie mir vielleicht, die Rückkehrschranke zu durchbrechen, und bekommen ihren Verstand und ihre eigene Welt wieder.«
»Das werden sie nicht. Das weiß ich. Aber lassen Sie mich Ihnen zu Ihren Anstrengungen gratulieren, die Schranke zu durchbrechen, Mister Kinross. Wußten Sie, daß Sie diese ein ganzes Stück vorgestoßen und diesen Winkel der Krügerwelt ein für allemal verbogen haben? Sie sind ein starker und entschlossener Mann, Mister Kinross. Ich wollte, Sie würden Ihren rechtmäßigen Platz unter uns einnehmen.«
»Ich werde auf meinem rechtmäßigen Ausbruch bestehen oder bei dem Versuch umkommen.«
»Mister Kinross, auch die Dorfbewohner haben eine Daseinsberechtigung. Weder ich noch Señor Garcia werden sie aufwiegeln. Das haben wir vereinbart. Aber wir werden uns auch dann abseits halten, wenn Mister Krüger sie unmittelbar durch Träume erreicht und ihnen Ratschläge einflüstert, und der Kollektivwille sich gegen Sie richtet.«
»Das ist fair«, brummte Kinross.
»Noch etwas, Mister Kinross. Ich fürchte, Sie rennen blindlings in ein trügerisches Licht. Mehr will ich nicht sagen.«
Kinross antwortete nichts. Von Lankenau deutete ein Lächeln an und grüßte, dann kehrte er sich um und ging schweigend davon. Innerhalb einer Minute nahten andere Schritte, leicht und schnell.
Es war Mary Chadwick, und sie war wütend. Ihre Bluse war halb aufgeknöpft, und sie drückte ein Dutzend oder mehr weiße Muskattauben mit schwarzen Flügel- und Schwanzspitzen an ihren Busen.
»Vom Eis flügellahm. Halb erfroren!« tobte sie und verzerrte dabei das Gesicht vor Mitleid und Zorn.
»Es tut mir leid …« begann Kinross.
»Dann mach Schluß damit, du Narr! Mach sofort Schluß damit! Bring diese lächerliche Frucht zu diesem albernen Altar und beende diesen ganzen Unsinn!«
»Hat von Lankenau oder Krüger dich auf mich gehetzt?«
Sie funkelte ihn, verächtlich verneinend, an. Kinross schluckte und spürte, daß sein Gesicht unter dem Bart brannte.
»Warum gibst du mir die Schuld und nicht Krüger?«
»Weil ich nicht an Mister Krüger herankommen kann, an dich dagegen wohl. Na los!«
»Nun gut«, sagte Kinross. »Ich tue es für dich, Mary. Verstehst du, daß ich es für dich tue, Mary, und nicht für Krüger? Glaubst du mir?« Er nahm ihre Hand zwischen den raschelnden Tauben und schaute ihr in die blau-violetten, vom abflauenden Zorn getrübten Augen.
»Natürlich für mich«, sagte sie. »Deshalb bin ich ja zu dir gekommen, du Idiot.«
»Ach, du liebe Güte«, stieß Kinross hervor und ging rasch davon. Als er durch den Wald zurückkehrte, war der Reif unter der wärmenden Sonne schon fast geschmolzen.
›Die zweite Runde ist zumindest unentschieden‹, dachte er, ›aber irgendwie glaube ich, daß ich auch die gewonnen habe.‹
Aus Wochen wurden Monate, und das Land lächelte. Morgen für Morgen legte Kinross Früchte auf den Steinhügel und murmelte dabei: »Für dich, Mary.« Morgen für Morgen legte er auch Blumen auf den Quarz, den er aus dem Bach vor Marys Hütte getragen hatte. Die Blumen verschwanden immer, obwohl er niemals sah, daß sie sie nahm.
Alle paar Tage trafen Nachzügler einzeln oder zu zweit in der Krügerwelt ein, und die Bevölkerung von Krügertown ging auf die dreihundert zu. Von Zeit zu Zeit unterhielt sich Kinross freundlich mit Garcia und von Lankenau. Von Lankenau besprach mit ihm die Ausdehnung der Krügerwelt durch die zunehmende Bevölkerung. Er glaubte, daß sie an einem bestimmten Punkt genügend angewachsen sein würde, um noch ein Dorf zu gründen, und daß die Welt wohl eher die Form einer Hantel als die einer Ellipse habe. Garcia erzählte Kinross stolz, daß Pilar schwanger sei, und daß er auf einen Sohn hoffe.
Manchmal unterhielt sich Kinross mit den Dorfbewohnern. Sie alle hatten die Erinnerung an ihre Herkunft verloren. Sie glaubten, sie seien aus dem Unterirdischen gekommen, in der Tiefe eines Abgrunds aus Erdsubstanz geformt worden, zu dem sie vielleicht irgendwann zurückkehren würden, um wieder zu schlafen. Sie hatten keine klare Vorstellung vom Tode. Kinross streifte nicht mehr ziellos umher. Eine Meile talabwärts vom Dorf erbaute er eine Steinhütte. Er baute sie solide, indem er große Steine aus dem Bach in Lehm und festgestampfte Erde bettete, die verschiedenen Zimmer mit Hartholzbalken abstützte und sie mit einer dicken Schicht Nipa-Wedeln abdeckte. Er errichtete aus Steinen eine Feuerstelle und fertigte primitive Möbel an.
Mehrmals am Tage kam Mary vorbei, interessierte sich aber kaum für seine Arbeit. Als das Haus fertig war, weigerte sie sich, hineinzugehen und es sich anzuschauen.
»Eine reine Kraftvergeudung und Zeitverplemperung«, sagte sie lachend. »Allan, Allan, geh wieder unter den Bäumen spazieren.«
»Gehst du mit mir spazieren?« fragte er.
Sie lachte und wandte sich ab.
Kinross legte um seine Hütte einen Garten an und faßte ihn mit einer Mauer ein. Er bewässerte ihn mit einem Dräniergraben, der von dem niedrigen Damm abzweigte, den er in dem Bach errichtet hatte. Er drosch den Samen aus Grashalmen und streute ihn, sowie Beeren auf die Steinplatten seines Gartens. Vögel kamen und pickten sie auf, aber Mary weigerte sich, hereinzukommen.
Er sah sie immer häufiger in von Lankenaus Gesellschaft und mied allmählich beide, denn eine Frage wurmte ihn, die er aus Angst vor der Antwort nicht zu stellen wagte. Die düsteren Stimmungen stellten sich wieder ein, und er vernachlässigte seine Hütte, um wie früher über die Hügel zu streifen. Manchmal traf er Kerbeck, leeräugig und hünenhaft, wild und zottelig wie ein Bär, und verfluchte bitter Krüger, während Kerbeck summte und brummte. Er versäumte es nicht, jeden Morgen Früchte auf den Steinhügel zu legen.
Eines Tages, nachdem er Kerbeck und die Kabeiroi auf dem Hang zurückgelassen hatte, kam er in ein Tal und erblickte eine Frau aus dem Dorf, die allein die Weinstöcke am Fuße des Hügels pflegte. Sie war jung, geschmeidig und braun und hatte nur einen Papierrindenrock an. Sie unterbrach ihre Arbeit, senkte den Kopf und wartete, daß er vorbeiginge. Er blieb stehen und suchte in seinem Gedächtnis seine bescheidenen Spanischkenntnisse.
»Cómo te llamas?«
»Milagros, Señor.« Ihre Stimme war sehr leise, und sie sah nicht zu ihm auf.
»Bueno. Tu estas muy bonita, Milagros.« »Por favor, tengo que trabajar … el Señor Krüger …«
»Ven conmigo, Milagros. Yo te mando por el nombre del Señor Krüger.«
Sie errötete tief, dann erbleichte sie. Sie sah mit flehenden, tränenglänzenden Augen zu ihm auf.
»Por favor, por gran favor, no me mande usted …«
»Quien te manda?« fragte eine neue Stimme hinter den Reben, und dann: »O du, Kinross?«
Garcia trat aus den Reben hervor. Wie Kinross war er barfuß und trug nur eine verschlissene Kattunhose.
»Was soll das Ganze?« fragte er.
»Ich habe versucht, mich mit ihr zu unterhalten …«
Garcia rasselte auf Spanisch herunter, und die Frau antwortete mit ängstlicher Stimme. Der untersetzte Mexikaner wandte sich, die Fäuste in die Hüften gestemmt, wieder Kinross zu.
»Nimm Krügers Namen von ihr, Kinross!«
»Ich nehme den Namen von dir, Milagros«, sagte Kinross. »Garcia, ich …«
»Nimm ihn auf Spanisch von ihr«, unterbrach Garcia ihn. »Du hast ihn ihr auf Spanisch auferlegt.«
Kinross stammelte einen spanischen Satz. Garcia war immer noch wütend. Er schickte die Frau fort.
»Kinross, ich kann dir zwar nicht die Macht nehmen, Krügers Namen zu benutzen. Aber wenn du Mißbrauch damit treibst, kann ich dich halbtot prügeln. Vielleicht sogar ganz tot. Hast du mich verstanden?«
»Verurteile mich nicht so verdammt voreilig. Woher weißt du, was ich vorhatte?«
»Milagros wußte es. Sie wußte es genau. Und ich glaube ihr.«
»Von mir aus kannst du glauben, was du willst.«
»Hör zu, Kinross, laß die Dorfbewohner in Ruhe. Das befehle ich dir im Namen Garcias und seiner beiden Fäuste. Du bist mir im Reden und Denken überlegen, aber …« Der gedrungene Mexikaner schlug sich mit der rechten Faust dumpf klatschend auf den linken Bizeps.
Kinross biß die Zähne zusammen und atmete tief durch seine bebenden Nasenflügel. Dann sagte er: »Okay, Garcia. Ich akzeptiere deinen Standpunkt. Der einzige Mann, mit dem ich mich tatsächlich schlagen möchte, hat keinen Körper.«
»Na schön«, sagte der Mexikaner. »Schwamm drüber. Aber laß trotzdem die Dorfbewohner in Ruhe, eine Art Abkommen zwischen dir und mir. Okay?«
»Okay«, sagte Kinross und ging davon.
Als er in seinen ummauerten Garten kam, sah er, daß Muskattauben an den überreifen Mangonen pickten, die er dort für sie hingelegt hatte. Furchtlos machten sie seinen jäh verlangsamten Schritten kaum Platz. Die beiden flatterten kurz, als er sich unbewußt bückte und sie ergriff. Sie beruhigten sich in seinen Händen, und er trug sie in seine Hütte, wobei er sich fragte, warum.
Nach Einbruch der Dunkelheit saß er stundenlang vor seinem Feuer und starrte in die rote Glut. Im Denken und Reden war er also Garcia überlegen? Ja, das war er. Aber die Tat? Was tun? Wie an einen körperlosen Mann herankommen?
Wo war Krüger verwundbar? Welche Kraft konnte er gegen Krüger ins Feld führen? Nur einmal hatte er Krüger getroffen, und zwar, als er ihm eine Tat abschlug. Das war negativ. Was war nun die positive Seite? Welche Tat, welche undenkbare, namenlose Tat … und es überkam ihn, und er nahm die Tauben und verließ die Hütte und ging durch den dunklen Wald zu dem Steinhügel, neben dem Silva im Schlaf stöhnte, und tat, was zu tun war, und kehrte zurück und schlief, um erinnerungslos zu erwachen.
Der Tag war schon fortgeschritten, als Kinross aus seiner Hütte trat. Er folgte dem Tal, überquerte den Bach, um das Dorf zu meiden, und pflückte zwei überreife Mangonen, die er durch den Wald zu dem Steinhügel trug. Silva wiegte hin und her und wimmerte in tiefstem Weh. Rechts drängte sich ein Haufen stummer Dorfbewohner.
Auf dem Steinhügel erblickte er die geköpften Tauben mit bluttriefenden Federn und das schwarze klebrige Blut auf den Steinen. Finger zerrten an seinem Gedächtnis, und er runzelte die Stirn, weigerte sich aber, daran zu denken, was diese sonderbare Sache zu bedeuten hatte. Er warf seine Mangonen so heftig in die Blutlachen, daß sie platzten, und sagte laut: »Für dich, Mary.« Dann starrte er den Haufen Dorfbewohner hochmütig an und schritt davon. Aber es widerstrebte ihm, den Wald zu verlassen, in dessen wirren Schatten er, abseits des Weges und des Baches, über eine Stunde herumlungerte, ehe er in Richtung Dorf zurückging.
Seltsame Stille lag über dem Land. Kein Lüftchen regte sich. Die Dorfbewohner zogen ohne das übliche Singen und Plaudern in kleinen Gruppen zum Wald. Er vernahm kein Vogelgezwitscher. Dann hörte er, als er sich dem Dorf näherte, eine Frauenstimme, schrill vor Kummer und Zorn. Es war Mary.
»Was für Mördergesetze habt ihr denn hier, du und dein Krüger, du glattrasierter Blutsäufer?«
Dann von Lankenaus Stimme, besänftigend und undeutlich hinter den Hütten, und dann wieder Mary schmerzerfüllt: »Oh, meine süßen weißen Täubchen! Ihr armen Lieblinge, ihr armen Lieblinge, ich werde euch alle von hier fortbringen. Das wirst du mir büßen! Das wirst du mir büßen!«
Sie brach in lautes Summen aus, kam zum Vorschein und rannte zum Hügel. Ihr langes Haar flatterte hinter ihr her, ihr sonst so liebliches Gesicht war schrecklich verzerrt und drohend. Kinross bemerkte mit neuem Schrecken, daß die schwarzen Gnomen vom Hügel in das Talbecken eingedrungen waren und um das Dorf herumwimmelten. Sie machten der rasenden Frau Platz, und auf einmal erhoben die Vögel ihre Stimmen, ohrenbetäubend, und stürzten sich in Riesenschwärmen krächzend und kreischend auf die schwarzen Dinger.
Kinross schaute unschlüssig umher. Niemals hatte er die Sonne der Krügerwelt wärmer und lächelnder gesehen, niemals die Blumen üppiger, die Bäume fruchtbeladener. Zu seinen Füßen wölbte sich der Boden und brach auf, und ein rothütiger Pilz stieß hervor, wuchs und entfaltete sich zusehends. Von Lankenau kam, Sorgenfalten auf dem glattrasierten Gesicht, aus dem Troß der Hütten zu Kinross. Ehe er etwas sagen konnte, rief Garcia aus der Richtung des Waldes, und sie sahen ihn auf sie zurennen.
»Mit den Dorfbewohnern stimmt irgend etwas nicht«, erzählte er keuchend von Lankenau. »Sie folgen nicht dem Ritus. Sie gehorchen mir nicht.«
»Was tun sie denn?« fragte von Lankenau.
»Nichts. Sie stehen einfach herum. Aber irgendwie gefällt mir das nicht, frag mich nur nicht, warum.«
»Etwas von wirklich ungeheurer Bedeutung ist geschehen, Joe. Ich weiß nicht, was … Ich wollte gerade Mister Kinross nach seiner Meinung fragen. Diese Tauben … aber du hast recht, wir müssen die Dorfbewohner wieder in ihre Hütten und in die Obstgärten schaffen. Vielleicht hilft uns Mister Kinross dabei.«
»Woher wissen Sie, daß ich nicht den Rattenfänger spiele und sie einfach aus der Krügerwelt hinausführe?« fragte Kinross, dessen Gedanken sich verhedderten.
»Vielleicht wäre das jetzt das Barmherzigste. Ich weiß es wirklich nicht, Mister Kinross. Aber wir wollen sehen, was sich machen läßt.«
Ein ferner Schrei drang aus dem dunklen Wald, wiederholte sich, eine Salve von Schreien.
»Silvas Stimme!« rief Garcia. »Por Dios, was jetzt?«
Er rannte zum Wald. Kinross und von Lankenau folgten ihm. Das Geschrei verstummte plötzlich.
Auf der Lichtung standen die Dorfbewohner in schweigenden Gruppen zu beiden Seiten des Steinpodests und auch sonst ringsherum. Auf dem Altar lag die zusammengesunkene, zerbrechliche Leiche des alten Portugiesen. Sein Kopf war fürchterlich zermalmt.
Garcia fluchte leise auf Spanisch. Von Lankenau sagte nachdenklich: »Solange die Krügerwelt noch besteht … muß ich es fertigbringen, es zu verstehen. Ich muß!« Eine dunkle Erinnerung juckte in Kinross’ Fingern.
»Kinross«, flüsterte es direkt hinter ihren Köpfen. Die Männer wirbelten gleichzeitig herum, konnten aber nichts erblicken.
Das Flüstern fuhr fort, immer noch hinter ihren Köpfen, so daß sie nochmals herumwirbelten, vergeblich. »Vielen Dank, Kinross, daß du mich gelehrt hast, wie ich meinen Durst stillen kann. Meinen schrecklichen Durst. Ich werde meine Welt vom Durst befreien. Kinross, mit deiner Hilfe.«
Von Lankenau ergriff Kinross’ Arm mit eisernen Fingern. »Was haben Sie getan, Kinross?« flehte er. »Sagen Sie es mir. Ich muß es wissen. Was haben sie getan?«
»Das werden Sie nie erfahren«, sagte Kinross schroff.
»Schauen Sie sich um.«
Die Männer drehten sich nochmals um. Die Dorfbewohner hatten sich zu einer Meute zusammengerottet, deren Front sie langsam umzingelte. Von Lankenau befahl ihnen mit peitschender Stimme vergebens zurückzuweichen. Er wandte sich mit blassem, grimmigem Gesicht zu Kinross.
»Befehlen Sie es Ihnen in Mister Krügers Namen, wenn Sie können. Uns bleibt kein anderer Ausweg.«
»Verdammt noch mal, halt, in Krügers Namen«, schrie Kinross. Seine Hände schwitzten, und sein Herz klopfte in seiner Kehle.
Sie hielten nicht. Die Spitzen der Sichel schlossen sich hinter dem Steinhügel zusammen. Die feste Front der Dorfbewohner hatte sich ihnen mit langsamem amöbenhaftem Schlurfen Hunderter von Füßen bis auf zehn Meter genähert. Innerhalb von wenigen Sekunden würden sie, wie Kinross irgendwie wußte, Silva auf den blutigen Steinen Gesellschaft leisten.
»Schnell, Kinross«, sagte von Lankenau. »Sagen Sie mir es, solange noch Zeit dazu ist. Was haben Sie getan?«
»Hand aufs Herz«, flüsterte Kinross, »ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht!«
»Laßt uns gegen sie kämpfen«, brummte Garcia, und dann: »He! Sie bleiben stehen!«
Ein bunter Vogelschwarm schwirrte herbei und kreiste kreischend über der Lichtung. Büsche knackten, und Wasser platschte in den dunklen Wald. Dann geschah etwas Unerwartetes hinter dem Haufen der Dorfbewohner. Sie erschauderten und wichen rasch auf zwei Seiten zurück und ließen einen Mittelgang frei.
Es war Kerbeck, dessen wehendes Haar und wallender Bart in der Sonne flammten. Kleiderfetzen flatterten um die mächtigen bronzefarbenen Glieder. Hiebe seiner kräftigen Arme wirbelten Dorfbewohner meterweit durch die Luft. Summend und brummend ging er mit weitaufgerissenen, flächigen und gedankenleeren blauen Augen an den drei verwunderten Männern vorbei. Mary Chadwick folgte, Vögel um den Kopf, in seiner Spur.
»Er wird hineingehen, um Krügers Körper zu töten«, sagte sie zu ihnen und blieb stehen. Erschreckende Bosheit zeichnete immer noch ihre Züge, und Kinross’ Angst verflog nicht ganz. »Madre de Dios!« stieß Garcia hervor.
Sie sahen, wie der hünenhafte Schwede um das Steinpodest herum ging und auf die Höhle zuschritt. Aus dem Dunkel drang ein gräßliches Geheul, bei dem es Kinross kalt über den Rücken lief. Bo Bos wuchtige Gestalt tauchte auf, um den Eingang zu versperren.
Mit einem Schrei stürzte Kerbeck vor. Der Neger rannte ihm mit seinem gurgelnden Gebrüll entgegen. Die beiden mächtigen Gestalten prallten aufeinander, und die Welt schien zu erbeben. Sie schwankten, taumelten zurück und wieder vor, einander wütend umklammernd, und ein lautes Stöhnen stieg aus dem geteilten Haufen der Dorfbewohner auf. Kinross fühlte eine Hand auf seinem Arm und erhaschte einen Blick von v. Lankenaus weißem, verzücktem Gesicht neben sich. Der schwarze Riese kämpfte mit dem weißen, sie brüllten und heulten und wankten. Sie stießen gegen den Steinhügel und zerstörten ihn, unter ihren Füßen stoben die Steine wie Kiesel auseinander. Sie platschten in den Bach und wieder heraus, wobei sie das klare Wasser dunkel trübten. In Kinross’ Augen wuchsen die beiden Riesen ständig, waren jetzt deutlich übermenschlich. Die Lautstärke ihres Brüllens und Heulens legte sich auf ihn wie ein körperlicher Druck. Er sah Mary Chadwick zu seiner Rechten, die Augen blauviolett funkelnd, die glühenden roten Lippen gierig geöffnet.
Erst ging der eine, dann der andere Riese in die Knie, nur um sich unter donnerndem Gebrüll und Geheul wieder aufzurichten. Der Kampf trieb sie zum Eingang der Höhle, sie drangen ein und wirbelten wieder heraus, drangen nochmals ein und blieben darin. Kerbecks Haar und Bart schienen aufzuleuchten, verloschen wie Funken in der Tiefe. Die gigantischen Schlachtrufe wurden zu einem anhaltenden hohlklingenden Gebrüll unter der Erde. Kinross spürte, daß eine Hand ihn beharrlich schüttelte. Es war von Lankenau.
»Gehen Sie jetzt«, sagte er. »Bestimmt ist die Schranke zur Zeit gefallen. Ich verstehe es allmählich. Fast … Ich grüße Sie, Mister Kinross. Nehmen Sie die Frau mit, wenn sie will.«
Kinross sammelte seine Gedanken. »Mary, gehst du mit?« fragte er.
»Verdammt noch mal, und ob«, sagte sie. »Und ich nehme meine Vögel mit!«
Kinross sah Garcia an und reichte ihm die Hand. »Wollen wir als gute Freunde scheiden, Joe?« fragte er.
»Ich kapiere zwar nichts, Kinross«, sagte der Mexikaner, »aber viel Glück, und sorge dafür, daß du hier rauskommst.« Kinross schüttelte den beiden Männern die Hände. Dann gingen er und Mary Chadwick, Arm in Arm, hastig zum Dorf zurück.
Im dunklen Wald wimmelte es von Kabeiroi, aber im offenen Talbecken ließen sich nur noch vereinzelte häßliche Gestalten erblicken. Der Himmel war bedeckt, und das diffuse, wäßrige Licht früherer Tage lag wieder über dem Tal. Die einstige Verschwommenheit war zurückgekehrt, nichts deutlich zu erkennen.
»Mary«, sagte Kinross, »ich glaube, wir haben die Schranke schon durchbrochen. Der Raum hat sich um die Höhlenöffnung zusammengezogen.«
»Ach du meine Güte.«
Kinross führte sie den Hügel hinauf, redete fieberhaft. Sie wollten heiraten, sagte er. Es gehe ihm recht gut, er habe einen guten Job als Vertrauensmann der US-Regierung. Er müsse noch eine hohe Nachzahlung für seinen letzten Auftrag bekommen, und außerdem eine Prämie, wenn er ihnen hierüber berichte. Sie wollten in Kalifornien leben, es sei ähnlich wie Queensland. Reisen, Theater, Musik, ein schönes Heim, ein angenehmes Leben.
Mary sagte wenig. Vögel flatterten herbei, um sich ihr auf Kopf und Schultern zu setzen, aber die Anzahl um sie herum schien nicht zuzunehmen. Das Licht wurde schwächer, während sie hinaufstiegen, und das Land verschwommener. Als sie die Anhöhe erreichten und Kinross genau wußte, daß sie entkommen waren, wurde es fast dunkel. Von Zeit zu Zeit kräuselte ein Beben die Erde, so daß sie hinfielen, aber sie rafften sich wieder auf und eilten weiter. Wie zuvor schien der Weg zeitlos und mühelos zu sein. Kein Mond war da.
Mary blieb hinter ihm zurück, und Kinross drehte sich dauernd um, um auf sie zu warten. Im schwindenden Licht sah er, daß die gespannte Bosheit ihrer Miene allmählich einem vagen und fernen Kummer wich. Die breite Stirn war wieder glatt, die roten Lippen verträumt. Einmal sagte sie: »Meine Vögel. Ich kann nicht all meine Vögel zurückbringen.«
Plötzlich drang der Klageschrei einer Schnepfe aus der Dunkelheit. Mary blieb stehen und sah empor. Kinross schaute sich um. Der verlorene, schluchzende Schrei wiederholte sich. Mary hob die Arme zum schwarzen Himmel und summte. Nichts geschah.
Sie blickte Kinross an, seine Gestalt, ebenso verschwommen im Dämmerlicht wie ihre eigene. »Sie kommt nicht zu mir«, flüsterte sie jammernd.
Zum drittenmal erklang der Schrei. Mary ließ die Arme sinken.
»Ich gehe zurück«, sagte sie. »Geh allein weiter, Allan.«
»Nein!« protestierte er. »Du mußt mit mir kommen. Ich lasse dich nicht zurückkehren!«
Er packte sie bei den Schultern. Sie richtete sich steif auf, und ihre Augen glänzten. Ein Hauch, eine Anwandlung des einstigen Gefühls berührte ihn, und seine Knie wurden weich. Er sank zu Boden, umklammerte ihre Schenkel, flehte: »Nein, nein, Mary! Laß mich nicht hier im Dunkeln allein!«
»Ich muß«, sagte sie ruhig. Dann mit einem Anflug von Mitleid: »Sei tapfer und geh jetzt weiter, Allan. Es bleibt dir nichts anderes übrig.«
Sie hob ihn auf und küßte ihn auf die Stirn. Er taumelte weiter und wagte es nicht, sich umzuschauen, aus Angst vor einem neuen Schwächeanfall. Der Himmel öffnete sich silbern, als die Bewölkung aufbrach, und nun schien der Vollmond vor ihm. Da schaute er sich um, aber sie war nirgendwo.
Bei dem weiten Abgrund unter dem Mond setzte er unbewußt Fuß vor Fuß. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Er fand die Schlucht und watete sie entlang, schneller als die Strömung. Er hörte das Tosen des Wasserfalls und erblickte den letzten Felsvorsprung, der ihn von dem Rande trennte. Einen Herzschlag lang klammerte er sich an den Felsen und starrte in den Abgrund in all seiner silbrigen Schönheit, mit dem widerspiegelnden See auf seinem Boden. Dann ließ er sich nicht nur vom Wasser mitreißen, sondern drängte, stürzte seinen Körper über den Rand.
Es war kein glatter, sondern ein stufenweiser Sturz. Fall, Aufprall, Weiterrollen, Fall, Aufprall, Weiterrollen, rhythmisch, schmerzlos, unter unerträglicher geistiger Erregung, hinab und hinab, bis das Himmelsrund über ihm durch die Entfernung immer kleiner wurde und der silbrige See unter ihm ins Ungeheuerliche wuchs. Der weite Abgrund schien seine Ausmaße umzukehren, sich umzustülpen, sein Inneres nach außen zu wenden, es war so, als fiele Kinross in den Mond. Dann schlug das Wasser am äußersten Punkt des Aushaltevermögens über ihm zusammen.
Hinab und hinab durch das Wasser, seine Brust im Schraubstock des Schmerzes, der Finsternis und der Angst, mit Armen und Beinen fuchtelnd, und dann ein dürres Knacken, ein stechender Schmerz in seiner Zehe, und er saß keuchend in einem Dornengestrüpp. Seine Haut war trocken.
Es war Tag. Ein Bach floß in der Nähe, und darüber erhob sich eine gelbliche Sandsteinwand mit Zeichnungen von dickbäuchigen Känguruhs und Strichmännern in verblichenem Rot und Schwarz. Er nahm eine Handvoll Erde und betrachtete sie. Da war sie, hart und scharf und klar bis in all ihre winzigen Einzelheiten, so tief jedes Mikroskop zu dringen vermochte, fest und gefeit gegen jede Pfuscherei. Es war die alte Welt. Seine Welt. Kinross stand auf und verspürte überwältigenden Durst.
Er ging hinab zum Bach, trank gierig und war so durstig wie zuvor. Er vergrub das Gesicht im Wasser und trank, bis er fast platzte, richtete sich wankend auf, während ihn unerträglicher Durst zerriß. Er zupfte an seinem Bart und wunderte sich.
Geräusche erklangen, Klirren von Metall und Geplansche. Dann das Knarren von Leder und leise Stimmen. Reiter kamen den Bach hinauf. Plötzlich spürte er sie unmittelbar, Pferde und Männer, strotzend von Leben, rotes, lebendiges, pumpendes Blut in den Adern. Sein Durst hüllte ihn wie eine Wolke des Wahnsinns ein, und er wußte, wer und was er war. Er wartete und fragte sich, ob sie ihn wohl sehen konnten …