Siebzehn

Hut_Cross_SW.JPGSIEBZEHN

Sam hätte lieber Glassplitter gegessen, als sich bei Finley zu entschuldigen, zumal diese Verrückte ihn beinahe umgebracht hätte. Doch er hatte den Streit angefangen und versucht, sie zu töten, also waren sie seiner Ansicht nach wohl quitt.

Emily und Griffin waren allerdings wütend auf ihn. Er musste sie alle für diesen Schlamassel um Verzeihung bitten und bei Finley beginnen.

Außerdem musste er es möglichst schnell hinter sich bringen, weil sie später die Tunnel unter der Stadt erkunden wollten, und es kam nicht infrage, die anderen allein gehen zu lassen. Seine irrationale Angst, da unten könne ihm ein Automat auflauern, der ihn endgültig in Stücke riss, durfte ihn nicht davon abhalten – auch Griffin bewegte sich nicht gern in engen Räumen unter der Erde, und doch wollte er sich dorthin begeben. Sam wollte nicht der Feigling der Gruppe sein. Außerdem würde Finley mitgehen, und er wollte seine Freunde nicht mit ihr alleinlassen. Es war ihm egal, dass sie nun doch nicht die Schurkin war, für die er sie gehalten hatte – er hielt sie immer noch für äußerst gefährlich. Jeder, der ihn so leicht ausschalten konnte, war es wert, genau beobachtet zu werden.

Der Schnitt auf der Brust, der von Emilys Behandlung herrührte, war verheilt, als hätte sie die Haut niemals aufgeschnitten. Er legte die flache Hand darauf und spürte das stetige Pochen darunter. Es fühlte sich natürlich an, überhaupt nicht wie eine Maschine.

Als er am vergangenen Abend auf dem Boden des Labors gelegen und erkannt hatte, dass es mit ihm zu Ende ging, hatte er etwas erlebt, das Griff als Epiphanie bezeichnete. Ihm war bewusst geworden, dass er das Metall in seinem Körper immer noch nicht mochte, aber es war immer noch besser, als überhaupt nicht mehr zu leben.

Emily hatte ihm das Leben gerettet – schon wieder. Wie konnte er das je wiedergutmachen? Vor allem, nachdem er sich ihr gegenüber so abscheulich benommen hatte.

Von dem Schlag, den Finley ihm versetzt hatte, war nichts zurückgeblieben; er war vollkommen wiederhergestellt. Und auch wenn er sie nicht mochte und ihr nicht traute – er musste zugeben, dass sie kämpfen konnte. Stark war sie auch. Wenn sie sich als vertrauenswürdig erwies, wäre sie eine wertvolle Unterstützung, sobald es Ärger gab. Auch Emily wäre in ihrer Nähe gut geschützt, und die beiden Mädchen konnten Orte aufsuchen, die ihm, Griff und sogar Jasper nicht zugänglich waren. Emilys Sicherheit lag ihm sehr am Herzen. Sie war so klein und zerbrechlich, so unendlich zierlich.

Dennoch war immer er derjenige, der zerbrach, und sie flickte ihn danach wieder zusammen.

Gedankenverloren rieb er sich über die linke Brustseite, warf die Decke zurück und stand auf, um zu baden, sich zu rasieren und braune Hosen und eine honiggelbe Weste anzulegen. Er versuchte sich sogar an einem anständigen Krawattenknoten, obwohl er sich mit den verdammten Dingern immer unwohl fühlte. Schließlich kämmte er sich die Haare, doch eine Locke fiel ihm beharrlich ins Gesicht, so finster er sie auch anstarrte. Schließlich gab er es auf, zog die Stiefel an und ging nach unten, um den anderen unter die Augen zu treten. Es war sinnlos, es noch länger hinauszuzögern.

Am Morgen waren Wolken aufgezogen, und jetzt, am Nachmittag, hatte sich ein leichter Dunst über die Stadt gesenkt. Sie konnten nicht draußen essen, und so fand Sam die drei anderen im Esszimmer, wo sie gerade das Mittagsmahl einnehmen wollten.

Auch für ihn hatten sie gedeckt, was seine Ängste ein wenig linderte. Wenn sie das Brot mit ihm brechen wollten, hatten sie ihn wohl doch nicht endgültig abgeschrieben.

Sie hatten sich noch nicht gesetzt, sondern standen um den Tisch herum, als er eintrat. Alle blickten ihn schweigend an und warteten.

Sie würden es ihm nicht leicht machen. Es war besser, er brachte es so schnell wie möglich hinter sich. Zuerst näherte er sich Finley, die anscheinend mindestens ebenso unsicher war wie er selbst. Wenigstens das verband sie – dies und die Fähigkeit, Wunden rasch verheilen zu lassen, wie er den verblassten Prellungen in ihrem Gesicht entnehmen konnte. Griffin ging es nicht ganz so gut. Sam zuckte zusammen, als er den Freund sah.

Er gab Finley die Hand. »Ich möchte mich für mein gestriges Verhalten entschuldigen. Es war falsch, dich so anzugreifen. Auch wenn ich dir nicht traue, war es nicht richtig, und es tut mir leid.«

Sie zog eine blonde Augenbraue hoch. Zweifellos hatte sie schon bessere Entschuldigungen gehört, doch diese war wenigstens aufrichtig. Sie schlug ein. »Es tut mir leid, dass ich dich fast umgebracht habe.«

Sam musste lächeln. Auch er hatte schon bessere Entschuldigungen vernommen, aber sie meinte es ehrlich, denn sie musste sich überwinden, ihm in die Augen zu blicken. Sie hielten nicht viel voneinander, gingen aber wenigstens offen miteinander um.

Griffin sollte der Nächste sein. Dieses Mal gab es kein Händeschütteln. »Alles wieder gut?«, fragte er.

Griff ließ ihn noch einen Augenblick schwitzen. »Würde ich schon sagen«, entgegnete er schließlich lächelnd. »Aber ich bin dir noch eine ordentliche Tracht Prügel schuldig.«

Jeder andere hätte darüber gelacht. Griffin war ihm körperlich weit unterlegen, doch Sam hatte gesehen, wozu sein Freund fähig war, und wusste, wie unklug es gewesen wäre, ihn zu unterschätzen. »Von mir aus.«

Emily war die Letzte. Die liebe, süße Emmy, die zerbrechlich schien wie Glas und in gewisser Weise hart war wie Diamant. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und blickte ihn mit den großen hübschen Augen so trotzig an, wie er es noch nie bei ihr gesehen hatte. Oder jedenfalls nicht, wenn er selbst betroffen war. Er war schuld daran, dass sich ihr Verhältnis verändert hatte, und sicher nicht zum Besseren. Er spürte genau, dass er in ihrer Achtung deutlich gesunken war.

»Danke«, sagte er so laut zu ihr, dass es alle hören konnten. »Danke, dass du mir das Leben gerettet hast. Es war ja nicht das erste Mal. Ich versuche, mich dessen würdig zu erweisen.«

Das schien sie milder zu stimmen – nicht sehr, aber es war ein Anfang. Sie ließ die Arme sinken. »Tu das, mein Junge.«

Sie setzten sich, Sam auf seinen gewohnten Platz neben Emmy und Finley ihm gegenüber. Es war nicht der angenehmste Platz, aber er war froh, überhaupt wieder bei seinen Freunden zu sitzen. Griffin informierte ihn über die jüngsten Entdeckungen.

»Der Maschinist ist für den Tod deiner Eltern verantwortlich?« Beinahe wäre ihm der Unterkiefer auf den Tisch gefallen. »Bist du sicher?«

»Sehr sicher«, entgegnete Griffin. »Ich werde mehr erfahren, wenn Tante Cordelia heute Nachmittag aus Devon zurückkehrt.«

Es schien zu fantastisch, um es zu glauben – wie ein Abenteuer aus den Romanen über Helden und teuflische Schurken, die er so gern las. »Wir gehen später in die Tunnel«, erklärte Griffin. »An die Stelle, wo wir den Tunnelbauer gefunden haben. Bist du dazu bereit?«

Wenn er ehrlich war, hätte sich Sam lieber das mechanische Herz aus der Brust gerissen und darauf herumgetrampelt, statt an diesen dunklen, schrecklichen Ort zurückzukehren.

»Das kann ich«, antwortete er entschlossen und rieb sich gedankenverloren über die Hand, in der Knochen aus Metall steckten. Er suchte den scharfen Blick seines Freundes. »Und ob ich das kann.«

Danach redeten sie kaum noch. Zwar hatte er sich entschuldigt und somit das getan, was sie von ihm erwartet hatten, doch die Spannung in der Gruppe war noch nicht völlig verflogen, und Sam war klug genug, um zu erkennen, dass es nicht allein an ihm lag. Er fragte sich, was zwischen Griff und Finley vor sich ging und warum sie einander heimlich beobachteten, wenn sie glaubten, der andere bemerkte es nicht.

Außerdem überlegte er, ob er es sich durch seinen Angriff auf Finley endgültig mit Emily verscherzt hatte. Er wollte nicht glauben, dass sie nie wieder Freunde sein konnten. Diesen Riss zwischen ihnen wollte er um jeden Preis kitten.

Nach dem Essen bot er ihr an, die Ausrüstung zu tragen, die sie aus ihrem Labor mitnehmen wollte.

Sie lehnte dankend ab: »Das ist nett, aber alles, was ich brauche, steckt schon in meiner Tasche.« Sie klopfte auf den Lederbeutel, den sie sich über die Schulter geschlungen hatte.

Das widerborstige kupferfarbene Haar hatte sie mit einem einfachen Tuch zusammengebunden, über einem Leinenhemd und knielangen, mit Spitzen abgesetzten Hosen trug sie ein Lederkorsett. Die abgestoßenen braunen Stiefel reichten bis kurz unter die Knie. Ihre Kleidung war nicht ungewöhnlich, solche Sachen trug sie sonst auch, doch manchmal fiel Sam auf, wie hübsch sie war, und es schien ihm, als sähe er sie mit neuen Augen. Dies war ein solcher Moment, und er kam sich ausgesprochen dumm dabei vor.

Sie wandte den Blick ab. Hatte sie etwa gespürt, was in ihm vorging? »Du kannst aber mit mir hinausgehen, wenn du willst«, sagte sie leise.

Das erfüllte ihn so sehr mit Freude, als hätte sie ihn ihren Helden genannt. Er sagte nichts, doch als sie sich umdrehte und zur Tür ging, schritt er neben ihr, und es war ihm völlig egal, dass er seine Schritte erheblich verkürzen musste, um sie nicht zu überholen.

In den Ställen stießen sie zu den anderen – inzwischen war auch Jasper eingetroffen, der sie begleiten wollte – und stiegen auf die Velos. Griffin fuhr als Erster los, die anderen folgten nacheinander. Draußen herrschte dichter Verkehr, was in diesem Jubiläumsjahr und obendrein in der Nähe des Buckingham Palace aber kein Wunder war. Sie brauchten länger als sonst, um den Zugang zur Untergrundbahn ein Stück nördlich der Vauxhall Bridge Road zu erreichen. Sam war nicht sicher, ob er möglichst schnell oder überhaupt nicht dort ankommen wollte. In ihm tobten heftige Gefühle, als sie zu dem Ort zurückkehrten, an dem sein Blut geflossen war.

Schließlich langten sie am Ziel an, und Griffin führte sie über die Treppe in die dunklen Höhlen unter den geschäftigen Straßen Londons.

Unten schalteten Griff, Emily, Jasper und Sam die Handlampen ein, die Emily eigens für solche Gelegenheiten konstruiert hatte. Es waren lange Zylinder mit einer Energiequelle und einer hinter Glas geschützten Birne. Mit ihnen war es viel einfacher, die Schatten zu durchdringen. Leider waren die Besitzer durch den hellen Schein auch viel leichter auszumachen.

Jasper, stets der Gentleman, zur Hölle mit ihm, bot Finley seine Lampe an, die jedoch ablehnte. »Anscheinend kann ich im Dunkeln ganz gut sehen«, informierte sie ihn mit einem ironischen Lächeln. »Ich lerne jeden Tag etwas Neues über mich.«

Gibt es denn überhaupt etwas, das sie nicht kann?, fragte sich Sam verbittert. Er hätte sich nicht gewundert, wenn ihr Flügel aus dem Hintern gewachsen wären und sie abgehoben hätte.

Sie mussten sich durch eine improvisierte Barriere zwängen, die normale Bürger von der Baustelle fernhalten sollte. Inzwischen stand die Sperre erheblich weiter vom Eingang entfernt auf den Schienen als noch vor sechs Monaten. Irgendwie fand Sam diese Veränderung beruhigend.

Emily sah sich über die Schulter um. »Alles in Ordnung, Sam?«, fragte sie leise.

Sie meinte natürlich seine innere Verfassung, da er an den Ort zurückkehrte, der ihm so viele Albträume beschert hatte. Eine vertraute Verärgerung erwachte in ihm. Wahrscheinlich würde sie ihn als Nächstes fragen, ob sie ihm nicht die Windeln wechseln sollte.

Andererseits war ihm klar, dass sie ehrlich um ihn besorgt war, und er wollte nicht schroff reagieren, nachdem ihre Beziehung einen solchen Rückschlag erlitten hatte.

»Es geht mir gut«, erwiderte er. Völlig gelogen war es nicht. Er war so angespannt wie eine Pfundnote zwischen zwei Bankiers, doch das ließ sich ertragen. Die Angst lähmte ihn nicht, und er hielt nicht jeden Schatten für einen Tunnelbauer, der ihn angreifen wollte.

Der Gedanke an den Tunnelgräber weckte die Erinnerungen an sein Verhalten am vergangenen Tag. Wenn sie die Tür des Tresors offen gelassen hätten, dann hätte er Finley nicht angegriffen. Wahrscheinlich hätte er sich in die Hosen gemacht und wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, jemandem wehzutun. Wie furchtbar, sich so etwas zu wünschen. Es war ein Beweis dafür, wie dringend er zurückspringen und alles ungeschehen machen wollte.

Auch Griffin betrachtete ihn, sagte aber nichts. Anscheinend wollte sich sein Freund nur vergewissern, ob er wirklich wohlauf war, kannte ihn aber gut genug, um sich eine direkte Frage zu verkneifen. Griff kannte ihn sogar viel zu gut. Wenn sie ihn behandelten wie ein Baby, würde er durchdrehen. Also nickte er knapp und zeigte damit, dass er sich mit der Aufgabe nicht überfordert fühlte.

Nachdem sie fast eine Viertelstunde gewandert waren, fanden sie die richtige Stelle. Sam erkannte sie als Erster. Eigentlich gab es hier gar nichts Besonderes zu sehen – es war nur ein kleiner Abschnitt eines langen Tunnels, wo die Gleise einer neuen U-Bahnlinie verlegt wurden. Er erinnerte sich jedoch an den kleinen Rest einer römischen Mauer, der bei den Arbeiten freigelegt worden war. Der Stein hatte sich im Laufe der Jahrhunderte dunkel gefärbt, Staub hatte sich darauf abgelagert. Während sein Blut auf den Boden gelaufen war, hatte er die Mauer angestarrt. Nicht weit von ihm war der Automat gestürzt. Er erinnerte sich noch daran, dass er sich gefragt hatte, ob der Himmel so hübsch war wie das kleine Stück eines Gemäldes, das er auf der römischen Mauer erkennen konnte.

Er blieb stehen, während die anderen nach Spuren suchten, und ließ den Strahl der Handlampe hierhin und dorthin wandern. Er suchte nach Blut, konnte aber Gott sei Dank keins finden. Es war alles gesäubert oder während der Bauarbeiten einfach im Staub versunken. Wie viele Arbeiter waren wohl über den roten Fleck gelaufen und hatten kleine Partikel von ihm mit den Stiefeln verteilt?

»Achtet auf Tunnel, die nicht so aussehen, wie sie aussehen sollten«, wies Griffin sie an. »Oder Schutthaufen, die einen Zugang verbergen könnten. Es dürfte nicht leicht zu finden sein, der Maschinist ist gerissen.«

Der Maschinist. Fünf Minuten allein mit diesem Mistkerl, und seine Stimmung würde sich deutlich bessern.

Sein Herz – es war so gut wie neu – pochte in der Brust. Er legte die Hand darauf, verachtete sich selbst für seine Angst und freute sich über die Regelmäßigkeit der Schläge. Auch wenn Metall das Blut durch seinen Körper pumpte, er war immer noch am Leben, er war ein Mensch. Er hatte Dinge überstanden, die jeden außer Finley umgebracht hätten. Darauf konnte er doch eher stolz sein, statt es als einen Fluch zu empfinden.

In letzter Zeit hatte er viele Einsichten, und so schien es ihm nur passend, dass der Strahl seiner Lampe auf einem großen Steinhaufen verharrte, der dicht vor ihm an der Wand aufgetürmt war. Damit stimmte etwas nicht, er wirkte nicht echt.

Er ging zu dem Schutthaufen und hatte das Gefühl, sein Herz schlüge lauter und ängstlicher. Nachdem er die Lampe in die linke Hand genommen hatte, zog er mit der verstärkten rechten ein paar Brocken weg. Binnen weniger Sekunden hatte er genug Trümmer weggeräumt, um einen Luftzug zu spüren. Die Lampe zeigte ihm einen etwa zwei Schritte breiten und mehr als mannshohen Durchgang.

»Ich hab’s gefunden«, rief er über die Schulter zurück und machte sich eifriger als zuvor daran, die Öffnung freizulegen. Er war stolz, sie vor allen anderen entdeckt zu haben, und fühlte sich nach längerer Zeit endlich wieder nützlich.

Finley war als Erste an seiner Seite. Bevor die anderen drei eintrafen, hatten sie den Schutt beseitigt. Wieder übernahm Griffin die Führung.

Finley ging hinter ihm, dann folgten Jasper, Emily und schließlich Sam. Emily blieb hinten, damit sie nicht in Gefahr geriet, wenn es zu einem Kampf kam, oder im Weg war, falls Jasper schießen musste. Sam bildete die Nachhut, um Angriffe aus dem Rücken abzuwehren. So hatten sie es immer gehalten, nur dass jetzt Finley hinter Griff blieb, um ihm den Rücken zu decken – oder um ihm ein Messer ins Kreuz zu jagen. Sam war nicht sicher, was er für wahrscheinlicher halten sollte.

Sie wanderten längere Zeit im Gänsemarsch durch den Gang mit den Wänden aus Stein und Erde. Er war breit genug, um sich nicht beengt zu fühlen, aber ganz geheuer war Sam die Sache nicht. Sie befanden sich unter der Erde in einem Geheimgang ohne Licht und ohne Fluchtweg.

Wie ging es eigentlich Griffin dabei? Sein Freund mochte enge Räume nicht, doch Griff war immer besser darin gewesen, seine Ängste zu beherrschen. Eines Tages würde auch Sam einen Automaten anblicken können, ohne zu fürchten, er werde ihn töten.

Nach einer halben Ewigkeit hielten sie an. Sie standen in einer Sackgasse.

»Das ist doch unmöglich«, meinte Emily, während sie den Strahl ihrer Lampe über die nackte Erde wandern ließ. »Warum gräbt jemand einen Tunnel, der ins Nichts führt?«

Griffin deutete auf die Wand vor ihnen. Dort zeichneten sich Löcher im Erdreich ab, als hätte jemand etwas hineingetrieben. Gleichzeitig mit Sam hob er die Lampe, bis die Strahlen die Decke erfassten.

»Ich glaube, da ist eine Luke.« Sam hatte eine kleine Fuge im Stein entdeckt. Die Löcher in der Erdwand hatte jemand – oder etwas – beim Hinaufklettern hinterlassen. »Finley, steig auf meine Schultern und versuch, die Klappe zu öffnen.«

Das Mädchen sah ihn an, als sei er nicht bei Verstand. Er seufzte. »Na gut, dann komm her und lass mich auf deine Schultern klettern«, sagte Sam. »Wir wissen nicht, was uns da oben erwartet, aber ich bin ziemlich sicher, dass wir zwei die besten Aussichten haben, es zu überleben, wenn es etwas Unschönes ist.«

»Meinetwegen.« Sie schob sich zwischen Jasper und Emily hindurch zu ihm. Die beiden mussten sich an die Wand pressen, damit sie vorbeikam. Sam hatte nicht genug Platz, um sich hinzuhocken, deshalb bückte er sich so weit wie möglich, und sie hielt sich an der Wand fest, während nun doch Finley auf seine Schultern kletterte. Als er sich aufrichtete, musste sie den Kopf einziehen. Die Luke knarrte, als sie drückte, Dreck rieselte auf Sam herab. Er hustete.

»Ich bin unter einem Teppich oder so«, berichtete Finley. »Ich kann nichts sehen …«

Es polterte leise, dann wurde der Teppich weggezogen. »Oh mein Gott«, sagte Finley.

»Was ist denn?«, fragte Griffin.

Sam wollte nach oben blicken, doch Finley versperrte ihm die Sicht. Nur ihre verblüffte Miene konnte er erkennen, weil der Raum über ihnen gut beleuchtet war.

»Griffin King, sind Sie es?«, ließ sich eine herrische Frauenstimme vernehmen.

Griffin fluchte, aber nur ganz leise. »Ja, ich bin es, Madam.« Er schob sich zu Sam nach vorne.

»Kommen Sie sofort herauf«, rief die Frau. »Und Sie, Mädchen, steigen besser schnell aus diesem Loch heraus.«

»Bin gleich da«, rief Griffin zurück. Aufregung und Schreck erhöhten seine Tonlage um eine ganze Oktave. »Sam«, zischelte er, »ich muss da rauf.«

»Dann klettere hoch«, bot Sam ihm an. Finley hatte längst gehorcht, und der Weg für Griffin war frei.

Gewandt stieg Griffin seinem Freund auf die Schultern und zog sich rasch durch das Loch nach oben.

Sam hörte ihn mit leiser Stimme reden. Was er zu der Frau sagte und ob er sie beim Namen nannte, bekam er jedoch nicht mit. Nach einer Weile rief Griff zu ihnen hinunter: »Sam, Jasper, Emily? Kommt doch bitte herauf.«

So langsam fühlte Sam sich wie eine Trittleiter, doch er hielt den Mund, während er Emily und Jasper nach oben half. Dann kletterte er an der Wand empor, stützte sich an vorstehenden Steinen ab und sprang, bis er sich an der Kante festhalten und sich hinaufziehen konnte.

Er befand sich in einem großen Salon, neben dessen Reichtum das Greythorne House wie eine bescheidene Hütte wirkte. Finley, Jasper und Emily standen dicht beieinander und starrten mit offenem Mund Griffin an, der mit einer älteren, schwarz gekleideten Frau sprach.

Sam klopfte sich die Erde von der Jacke und ignorierte die empörten Blicke der anderen drei. In einem so prächtigen Haus musste es doch wohl Angestellte geben, die ein wenig Dreck entfernen konnten.

»Und wer ist dieser junge Mann?«, fragte die alte Dame.

Sam öffnete den Mund und hielt gleich wieder inne, als ihm dämmerte, wer die alte Frau war.

»Sam Morgan, Hoheit«, sagte Griffin.

Verdammt auch. Es war Königin Victoria. Sie hatten sich gerade in den Buckingham-Palast durchgegraben.

»Ich kann gar nicht glauben, dass ich der Königin begegnet bin!«, platzte Emily heraus, als sie vom Palast zu ihren Velos zurückkehrten.

»Ich wäre ihr lieber mit sauberen Haaren unter die Augen getreten.« Das Entsetzen, dass sie im Salon der Königin wie ein Nagetier durch den Boden emporgekrochen war, würde Finley ihr Leben lang nicht mehr loslassen.

Trotzdem, es war aufregend gewesen, die Frau kennenzulernen, die das ganze britische Empire beherrschte. Sie hatte angenommen, Victoria sei größer.

Griffin hatte bisher geschwiegen. Ihre königliche Hoheit hatte ihnen eine Kutsche angeboten, doch Griffin hatte das großzügige Angebot ausgeschlagen und gesagt, sie hätten die Königin schon mehr als genug belästigt.

Natürlich hatten sie erzählen müssen, wie sie dorthin gelangt waren. Man konnte nicht durch einen Geheimgang in die Gemächer der Königin eindringen, ohne ihr zu verraten, wie es dazu gekommen war. Im Grunde hätte Victoria sie alle ins Gefängnis stecken können. Also hatte Griffin ihr erzählt, wie sie den Gang gefunden und was sie überhaupt in den Tunneln gesucht hatten. Die Königin war, um es vorsichtig auszudrücken, äußerst besorgt gewesen, besonders als Griffin ihr erzählt hatte, dass seiner Ansicht nach der Maschinist den Gang gegraben und die Haarbürste aus dem Museum entwendet hatte. Er hatte gefragt, ob sonst noch etwas aus dem Palast verschwunden sei. Der Königin war bislang nichts darüber bekannt, doch sie wollte sich bei ihrem Personal erkundigen.

Als sie sich verabschiedeten, hatten Arbeiter bereits damit begonnen, das Loch zu verschließen und den Boden zu reparieren. Finley war sicher, dass der Tunnel spätestens am folgenden Tag unpassierbar wäre. Das war gut, denn dadurch verlor der Maschinist den Zugang zum Palast.

Nachdem sie lange mit der Königin gesprochen hatten, wirkte Griffin geradezu eingeschüchtert und lief mit gerunzelter Stirn und tief in die Taschen des langen grauen Übermantels geschobenen Händen neben seinen Freunden her. Seine Kleidung war nach dem Abenteuer ein wenig schmutzig, doch ein geschicktes Dienstmädchen konnte das leicht in Ordnung bringen. Finley fragte sich, was ihn wohl so sehr beschäftigte.

Schließlich lief sie neben ihm und überließ es den anderen dreien, sich über den Palast zu unterhalten. Die jüngsten Ereignisse waren so aufregend, dass die Spannungen zwischen ihnen völlig vergessen waren. Sam lachte sogar über etwas, das Jasper gesagt hatte. Emily lief natürlich zwischen den beiden – ein Kätzchen und zwei Kater.

»Worüber denkst du nach?«, fragte sie.

Griffin warf ihr einen Blick zu, als sei er überrascht, sie an seiner Seite zu finden. »Etwas, über das ich lieber nicht nachdenken würde, aber es beschäftigt mich und lässt mich nicht los.«

So ernst hatte sie ihn in der zugegebenermaßen kurzen Zeit, die sie einander kannten, noch nie reden hören. Was ihn auch beschäftigte, es musste etwas sehr Beunruhigendes sein.

Sie hätte ihn weiter gedrängt, hätten sie nicht gerade die Velos erreicht. Finley setzte ihr Fahrzeug in Gang und fuhr mit den anderen zurück nach Mayfair. Die Straßen waren voller Adliger, die wie jeden Tag um fünf Uhr zum Hyde Park strömten, um zu sehen und gesehen zu werden. Sie ritten auf Pferden oder fuhren mit Kutschen. Es war eine Stunde der Muße, und dazu waren die modernen Verkehrsmittel viel zu schnell. Es kam ja vor allem darauf an, sich blicken zu lassen.

Griffin beteiligte sich nicht an solchen Veranstaltungen, doch er war ohnehin anders als alle Peers, denen Finley je begegnet war. Warum ging er eigentlich nicht ständig auf Feste und Bälle wie andere junge Männer seines Alters? Nach allem, was sie über ihn gehört und selbst gesehen hatte, hielt er nicht viel von Vergnügungen. Erwartete man nicht von ihm, dass er sich in der feinen Gesellschaft zeigte? Eines Tages würde er eine Frau heiraten, die es wert war, Herzogin zu sein, und eine eigene Familie gründen. Dann würden sie, Emily und Sam auf der Straße stehen.

Himmel, was für bedrückende Gedanken! Da sie keinem Zweck dienten, schob Finley sie zur Seite. Eines Tages würde auch sie heiraten, also spielte es doch keine Rolle, oder? Nein, es spielte keine Rolle, und sie regte sich auch nicht auf. Es kam ja sowieso nicht infrage, dass Griffin sie heiratete. Was für ein Witz!

Als sie den eleganten Herrensitz erreichten, waren Griffin und die Gedanken an eine Heirat längst vergessen. Lady Marsden war aus Devon zurückgekehrt und wollte sie alle im Arbeitszimmer sprechen. Sie gingen sofort zu ihr und nahmen sich nicht einmal die Zeit, sich zu waschen.

Die elegante Lady erwartete sie schon und schritt ungeduldig auf dem Teppich hin und her. Die Silberketten, die vom Ohr zur Nase verliefen, glitzerten im Licht der Spätnachmittagssonne, die durch die Fenster hereinschien. Offenen Mundes betrachtete sie die Truppe.

»Was ist denn mit euch passiert?«, fragte sie. Selbst wenn es gar nicht zutraf, erweckte sie oft den Eindruck, völlig verblüfft zu sein.

Griffin erklärte, was geschehen war. Seine Tante wusste eine Weile nicht, ob sie entsetzt oder belustigt reagieren sollte, weil ihr Neffe derart bei der Königin hineingeplatzt war. Dies währte jedoch nicht lange. Sobald Griffin seine Annahme darlegte, der Maschinist habe den Tunnel gegraben, wurde sie bitterernst.

»Aber warum hat er die Figur bei Madame Tussauds gestohlen?«, schaltete sich Sam ein. »Er war doch im Palast und hätte mitnehmen können, was immer er wollte.«

»Das wäre schwierig gewesen, denn man hätte es rasch bemerkt«, widersprach Finley. »Ein Kleid kannst du nicht unter das Hemd oder in die Hosentasche stecken. Vielleicht war er dreist genug, im Palast umherzuspazieren, aber er war dennoch so vorsichtig, sich nicht erwischen zu lassen.«

»Er hat sicher sehr darauf geachtet, nicht aufzufallen«, stimmte Lady Marsden zu. »Denn wäre er bemerkt worden, hätte Victoria ihn vermutlich auch erkannt.«

Griffin merkte auf und starrte wie alle anderen seine Tante an. »Weißt du denn, wer er ist?«

»Ich glaube schon. Dein Verwalter hat ihn mir beschrieben, und alles passt zu anderen Berichten, die ich gehört habe. Außerdem hat dein Verwalter ein Detail erwähnt, das niemand sonst genannt hat. Der Maschinist hat eine Metallhand. Seine eigene hat er vor Jahren bei einem Arbeitsunfall verloren. Ich glaube, an diesem Unfall gab er deinem Vater die Schuld, Griffin.«

Griffin kniff die Augen zusammen. »Demnach kannte er meinen Vater.«

»Er nahm sogar an der Expedition teil«, erklärte seine Tante und zeigte ihm ein Foto. »Leonardo Garibaldi. Er war einer der engsten Freunde meines Bruders und das einzige Expeditionsmitglied, dessen Leiche nie gefunden wurde. Offenbar, weil er gar nicht gestorben ist.«

Finley betrachtete über Griffins Schulter hinweg das Foto. Es zeigte seine Eltern, die schön aussahen und glücklich wirkten, und eine Reihe anderer Menschen. Einen davon erkannte sie als ihren Vater. War es dumm, dass der Anblick sie traurig stimmte, obwohl sie ihn nie kennengelernt hatte?

Ihr Blick fiel auf Garibaldi. Sie glaubte, Sam neben sich keuchen zu hören, doch bevor sie sich an ihn wenden konnte, fuhr Lady Marsden fort.

»Garibaldi wollte die Entdeckung der Organellen öffentlich machen. Er dachte, sie könnten die Welt verändern und war wütend, als Victoria befahl, alles geheim zu halten. Sie war der Ansicht, es könnten viele böse Dinge geschehen, wenn die Menschen etwas so Wunderbares in die Hände bekämen.«

»Damit hatte sie Recht«, stimmte Griffin zu. »Es wäre schrecklich. Ganz besonders jetzt, da wir wissen, dass die Organellen für unsere besonderen Fähigkeiten verantwortlich sind. Garibaldi weiß jedoch, was man mit ihnen anstellen kann – und auch, dass sie menschliches Gewebe ersetzen können.«

Alle starrten ihn an. »Was hast du herausgefunden?«, fragte Lady Marsden.

Griffin wandte sich an Emily. »Eigentlich war sie es. Sie hat erkannt, zu was die Organellen imstande sind, als sie Sams Arm rekonstruiert hat. Wir konnten feststellen, dass die Organellen ein Teil von Sams Physis geworden sind. Wenn Garibaldi Proben von Haut oder Haaren eines Menschen hat, kann er wahrscheinlich eine Kopie des Betreffenden herstellen. Einen Doppelgänger – wenigstens dem Äußeren nach. Er müsste nur noch eine Art Skelett bauen, um ihn zu stützen – beispielsweise einen Automaten.«

Es dauerte einen Augenblick, bis Finley die ganze schreckliche Tragweite seiner Worte erfasste. Der Maschinist hatte die Haarbürste der Königin und vielleicht auch andere persönliche Gegenstände gestohlen. Er besaß Proben von ihr, und er besaß die Organellen. An der wächsernen Victoria hatten sie die Abdrücke eines Greifzirkels entdeckt, und die Augenhöhlen der Figur waren leer gewesen.

Sie warf einen Blick zu Griffin, der ebenso bestürzt schien wie sie. Ihr blieb fast das Herz stehen, und Emily bestätigte alle ihre Befürchtungen.

»Er will Königin Victoria durch ein mechanisches Ebenbild ersetzen.«