Vierzehn
VIERZEHN
Emilys Labor war anders als alles, was Finley bisher gesehen hatte und vermutlich jemals sehen würde.
Es war eine Art makabrer Spielzeugladen oder die Behausung eines verrückten Erfinders. Überall lagen Teile von Automaten, Zahnrädern und Maschinen herum. Auf der Arbeitsfläche, die an einer Wand entlanglief, war Werkzeug verstreut. Es roch nach heißem Metall, Öl und verschiedenen in der Krankenpflege benutzten Stoffen. An der hinteren Wand standen Becher und Bunsenbrenner bereit. Auf hohen Regalen lagerten verschiedenfarbige Flüssigkeiten in durchsichtigen Flaschen, während andere Behälter aus kobaltblauem oder dunkelbraunem Glas lichtempfindliche Chemikalien schützten. Sie waren hübsch und erinnerten an Edelsteine in verschiedenen Formen und Größen.
In einer Ecke hockte eine große Katze aus grauem Metall. Sie erinnerte Finley an die Kupferstiche exotischer Dschungelkatzen, die sie einmal gesehen hatte. Sie war schön und zugleich irgendwie … verkehrt.
Auf einem langen Tisch in der Mitte des Raums lag ein Automat mit einem Rumpf aus stumpfem Messing, die vordere Blende fehlte. Finley dachte an die Zeichnungen in den medizinischen Lehrbüchern, die ihr Stiefvater in seinem Laden verkaufte. Dieses Exemplar hier bestand aber glücklicherweise aus Metall und nicht aus Fleisch und Blut.
Auf einem anderen Tisch lag Königin Victorias wächsernes Ebenbild. Es war so lebensecht, dass es Finley kalt den Rücken hinunterlief. Nein, die Figur wirkte eher wie eine Leiche – eine arme alte Frau, die neben ihrer Kleidung auch das Leben verloren hatte. So realistisch war die Nachbildung, dass man fast das Bedürfnis verspürte, um die Herrscherin zu trauern, sie mit einem Tuch zu bedecken und ein kurzes Gebet für die Tote zu sprechen.
Allerdings war dies letzten Endes doch nur eine Puppe. Finley trat näher heran. Wachs, kein Fleisch und Blut. Kein richtiger Mensch. Trotzdem zögerte ihre Hand eine Sekunde, bevor sie die Figur berührte. Sie tastete die Rippen ab. Das Wachs war hart und gab nicht nach. Finley seufzte erleichtert.
Emily lächelte sie an. »Hast du befürchtet, sie werde sich aufrichten und dich beißen?«
Finley kicherte ein wenig verlegen und lachte schließlich über sich selbst. »Bis zum Aufrichten konnte ich es mir gerade noch vorstellen.«
»Ich finde sie unheimlich, wie aus einer Gruselgeschichte.«
Emilys freundliches Lächeln trug mehr als alles andere dazu bei, Finley die Unsicherheit zu nehmen, sogar mehr als das Bewusstsein, dass sie die Figur jederzeit zerstören konnte, falls sie etwas Unschönes tat.
Sie runzelte die Stirn. Der Dieb hatte die Figur nur teilweise entkleidet und ihr einen Teil ihrer Würde belassen. Und dann hatte er sie in Whitechapel abgestellt, wo von Würde keine Rede sein konnte.
»Warum hat der Kerl bloß die Kleidung behalten und die Figur vor Jacks Haustür abgesetzt?«
»Aaaah, Jack heißt er, ja?«, neckte Emily sie. »Dann seid ihr zwei wohl eng befreundet?«
Finley konnte nicht anders, sie musste grinsen. »Du hast gut reden, mich aufzuziehen, während Sam und der hübsche Cowboy um dich herumscharwenzeln.« Sie betrachtete wieder die Wachsfigur, und die Belustigung verflog schlagartig. »Ähm, Emily? Ich glaube, ich weiß, warum er die Figur geklaut hat.«
Die Rothaarige kam um den Tisch herum und blickte auf die Stelle, die Finley ihr zeigte.
»Oh, aye. Mir ist auch schon aufgefallen, dass sie fehlen.«
Wo die Glasaugen der Figur hätten sein sollen, klafften leere Höhlen.
»Hier kann man sehen, wie er sie herausgehebelt hat.« Finley deutete auf die Wimpern. Es war ein unangenehmer Anblick. »Aber was will jemand mit Glasaugen?«
»Damit kann man eine Menge anfangen. Manche Menschen haben Glasaugen, auch Puppen. Auch bei komplizierten lebensechten Automaten werden sie benutzt.«
Finley merkte auf. »Ich habe hässliche Geschichten darüber gehört, wozu diese Maschinen eingesetzt werden.«
Emily schnitt eine Grimasse. »Glaube nicht alles, was du hörst. Ich kenne mehrere menschenähnliche Maschinen, die von ihren Besitzern mit dem größten Respekt behandelt werden.«
»Meinst du, der Maschinist hat die Figur vor allem wegen der Augen gestohlen?«
»Kann sein. Entweder er braucht sie selbst, oder er verkauft sie. Ich schicke eine Nachricht an meinen Lieferanten und frage ihn, ob er von jemandem gehört hat, der Augen in Victorias Farbe verkaufen will. Gut möglich, dass man sie für gutes Geld verkaufen kann, weil sie ja genau denen Ihrer Majestät entsprechen.«
Finley hatte die Hand in die Hüfte gestemmt und aufmerksam zugehört. »Du bist wirklich ein sehr kluges Mädchen, Emily.«
Die Irin platzte fast vor Stolz. »Du bist auch nicht schlecht. Ich würde im Leben nicht mit Jasper in den Boxring steigen.«
»Nun ja, Jasper würde vermutlich sowieso an ganz andere Dinge denken, falls ihr zwei mal in einem engen Raum allein seid.«
Emily errötete. »Er neckt mich doch nur, er meint das nicht ernst.«
Finley verdrehte die Augen. »Ein so kluges Mädchen wie du kann doch nicht so dumm sein. Hat er schon mal versucht, dich zu küssen?«
»Nein! Natürlich nicht!«
Finley stützte die Ellbogen neben Victorias Schulter auf den Tisch und grinste. »Und was ist mit Sam?«
Die Röte vertiefte sich. »Der auch nicht.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das ist unverzeihlich. Zwei gut aussehende Burschen, die um deine Gunst buhlen, und du hast keinen der beiden je geküsst. Wenn ich du wäre, würde ich Sam eine Ohrfeige verpassen, weil er so ein Trottel ist. Küss Jasper, der ist viel charmanter.«
»Charmant bei jedem Mädchen, das er trifft«, entgegnete Emily nicht gerade freundlich.
Finley zog die Augenbrauen hoch. »Eifersüchtig?«
Emily knuffte sie mit einer bleichen Hand fest genug, dass Finley ein wenig schwankte. »Was ist mit dir? Hast du Dandy geküsst?«
»Nein.« Sie richtete sich auf und sah Jack Dandys Gesicht vor sich. »Glaubst du, er kann gut küssen?« Vorher hätte sie solche Gedanken ihrer dunklen Seite zugeschrieben, inzwischen war sie gar nicht mehr so sicher.
»Ich glaube, er hat genug Erfahrung und dürfte ein guter Küsser sein.« Ein boshaftes Funkeln trat in Emilys Augen. »Und was ist mit Griffin?«
Finley tat so, als hätte sie die Frage nicht verstanden, und musterte angelegentlich ihre Fingernägel. »Was soll mit ihm sein?«
»Hat er dich schon mal geküsst?«
»Nein, hat er nicht.« Sie schnitt eine Grimasse. »Meine Güte, ich bin für ihn ein Fürsorgefall – eine Frau, für deren Leben er sich verantwortlich fühlt, sonst nichts.«
Emily war nicht überzeugt. »Ich habe beobachtet, wie er dich anschaut, und auch, wie du ihn ansiehst. Er hat darüber nachgedacht, glaub’s mir.«
Finley lächelte leicht. Sie beugte sich vertraulich vor, damit nicht einmal die Maschinen sie belauschen konnten. »Ich habe auch schon daran gedacht, aber ich glaube, das wäre nicht sehr klug. Jedenfalls nicht, solange er mir zu helfen versucht. Das würde alles nur komplizierter machen.«
»Dann kannst du ja wieder zu Dandy gehen«, neckte Emily sie, den Blick auf die linke Hand der Wachsfigur gerichtet. »Er lässt dich sicher gern üben. Vielleicht dämmert Griffin dann auch, dass er dich selbst haben will.«
»Nein, danke. Ich werde bei niemandem üben. Ich kann nicht mit zwei Bewunderern jonglieren, wie du es tust.« Noch während sie sprach, verspürte Finley eine seltsame Verwirrung im Herzen. Sie mochte Griffin und hielt ihn für sehr gut aussehend, doch sie empfand auch etwas für Jack Dandy. Die Gefühle unterschieden sich voneinander und waren sich doch darin ähnlich, dass sie beide Männer auf ihre eigene Weise anziehend fand.
Es kam allerdings nicht infrage, so über die beiden nachzudenken. Es gehörte sich nicht, und es war schlicht ein Fehler, über Küsse nachzudenken, während dort draußen jemand herumlief, der ihr Leben zerstören und sie als Kriminelle hinstellen wollte.
»Was ist das da?« Das Gesicht der Wachsfigur wies an den Seiten kleine Vertiefungen auf.
Emily kniff konzentriert die Augen zusammen. »Ich kann da nichts entdecken.«
Finley brauchte einen Moment, um sich zu vergewissern, dass sie es sich nicht eingebildet hatte. Tatsächlich betrachtete sie die Königin nun so, wie nur ihre dunklere Seite sie wahrnehmen konnte – mit übernatürlich scharfen Augen. »Schau genauer hin. Da sind Abdrücke im Wachs.«
Emily runzelte die Stirn, klappte sich eine Schutzbrille vor die Augen und zog die Lupen davor. Dann drehte sie an kleinen Knöpfen an den Seiten und stellte die Schärfe ein, während sie sich vorbeugte, um das Gesicht der Figur zu untersuchen. Zuerst betrachtete sie eine, dann die andere Seite. »Das sieht aus wie die Abdrücke eines Greifzirkels. Jemand hat das Gesicht Ihrer Majestät vermessen.«
»Könnte dies bei der Konstruktion der Figur im Museum geschehen sein?«
Emily schüttelte den Kopf und suchte den Rest der Figur nach Markierungen ab. »Die Figuren werden mithilfe von Formen und Maßen anhand der lebenden Person hergestellt, wo immer es möglich ist. Die Königin hat Modell gesessen, bevor sie ihr Ebenbild angefertigt haben. Diese Spuren hier stammen meiner Ansicht nach von dem Dieb.«
»Worauf ich abermals fragen muss, warum er sich diese Mühe macht.« Finley richtete sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Was führt dieser Mistkerl im Schilde?«
»Keine Ahnung«, murmelte Emily. Sie war ebenso verblüfft wie Finley, als sie die Brille wieder hochklappte. »Jedenfalls will er dir die Schuld zuschieben, und daher sollten wir vielleicht eine ganz andere Frage stellen.«
Finley erwiderte den Blick des kleineren Mädchens und nickte grimmig. »Wer ist er? Und woher kennt er mich?«
»Sie macht uns nur Ärger, aber das will niemand einsehen.« Sam hockte ausgesprochen gereizt auf Leons Sofa in dessen Wohnung in der Russell Street. »Scotland Yard war da und wollte mit ihr über den ermordeten Sohn ihres früheren Arbeitgebers sprechen, aber alle haben nur gesagt: ›Oh, die arme Finley.‹« Die letzten Worte stieß er höhnisch und mit schriller Stimme aus.
Sein älterer Freund kam aus der kleinen Küche ins Wohnzimmer herüber und reichte ihm eine Tasse Kaffee. Sam nahm sie dankbar an und zuckte zusammen, als das heiße Porzellan ihm die Hände verbrannte. Leons Metallhand machte die Hitze natürlich nichts aus, aber Sam spürte sie trotz der metallenen Knochen unter der Haut.
Er stellte die Tasse auf den niedrigen Tisch und betrachtete die gerötete und geschwollene Hand. Es brannte noch ein paar Augenblicke, dann verblasste die Stelle zu einem rosafarbenen Fleck und verschwand schließlich völlig.
»Das ist wirklich erstaunlich.« Leon setzte sich neben dem Sofa auf einen Stuhl. Mit seinem makellosen seidenen Gehrock und der eleganten Wolljacke war er vom Scheitel bis zur Sohle ein Gentleman. »Sind deine Wunden schon immer so schnell verheilt?«
In einem ihrer Gespräche hatte Sam ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit von seiner seltsamen körperlichen Stärke und seinen Heilungskräften erzählt, die sich in letzter Zeit sogar noch vergrößert hatten. »So schnell ging es noch nie«, gab er zurück. »Sonst brauchte ich immer ein wenig von Emilys Salbe, damit eine Wunde völlig abheilt.«
»Ah ja.« Leon lächelte leicht. »Die brillante, erfindungsreiche Emily. Was hat sie denn wohl in diese Salbe hineingetan?«
Sam zögerte. Es war eine Sache, seine eigenen Geheimnisse zu offenbaren, doch er hatte Griffin geschworen, niemandem von den Organellen zu erzählen. »Ich bin nicht sicher«, erwiderte er und betrachtete seine Hand, um dem Freund nicht ins Gesicht lügen zu müssen. »Das hat sie mir nicht verraten.«
Es gab ein kurzes Schweigen, das Leon nutzte, um einen Schluck von dem heißen, starken Kaffee zu trinken, den er Espresso nannte. »Erzähle mir doch noch etwas über diese Finley. Anscheinend ist sie ja eine sehr außergewöhnliche und gefährliche Person.«
»Ja«, stimmte Sam aus ganzem Herzen zu. »Seit Griffin sie aufgenommen hat, gibt es nichts als Ärger. Sie kommt und geht, wie sie will, lässt sich mit Verbrechern ein, gerät unter Mordverdacht, und nun … vielleicht hat sie sogar mit einer Sache zu tun, die Griff erforscht. Auch wenn man ihr nicht direkt die Schuld geben kann, sie hängt auf jeden Fall mit drin, das weiß ich genau.«
»Der tüchtige Duke of Greythorne«, sagte Leon nicht ohne milden Spott in der Stimme. »Er ist noch ein Junge, Samuel. Ich wage zu behaupten, dass er dem Mädchen verfallen ist und sich strikt weigert, auch nur die kleinste Unvollkommenheit an ihm zu entdecken.«
Sam hob grunzend die Tasse an die Lippen. Der Kaffee brannte auf der Zunge, schmeckte jedoch wundervoll. »Er weiß, dass mit ihr etwas nicht stimmt«, meinte er. »Er hat gesehen, wozu sie fähig ist, doch er glaubt, er könne das in Ordnung bringen.«
»Manche Menschen kann man nicht in Ordnung bringen.« Leon stellte die Tasse ab. »Nach allem, was du mir über ihn und seine Taten erzählt hast, würde ich annehmen, dass du nichts dagegen hättest, wenn der Herzog auch einmal der Dumme wäre.« Natürlich bezog sich Leon auf das, was Griff und Emily ihm angetan hatten. Sie hatten ihn in ein Monster verwandelt. »Du könntest einfach weggehen.«
»Sie sind immer noch meine Freunde«, gestand Sam ihm. »Ich will nicht, dass ihnen irgendjemand wehtut.«
»Mein guter Mann, wenn du wegen der Sicherheit deiner Freunde besorgt bist, solltest du hinsichtlich dieses Mädchens etwas unternehmen.«
Sams finstere Miene zeigte jetzt vor allem Verwirrung. »Was denn?«
Leon zuckte mit den Achseln und machte eine Geste, die nach Sams Ansicht wohl vor allem auf dem Kontinent benutzt und verstanden wurde. »Sorge dafür, dass sie so gesehen wird, wie sie wirklich ist. Zwing sie, sich unverstellt zu zeigen.«
Das Stirnrunzeln vertiefte sich wieder, als Sam darüber nachdachte. »Wie das?«
Der ältere Mann lächelte geduldig. »Du hast keinerlei Arglist in dir, nicht wahr? Wie edel das ist. Dränge sie in die Ecke. Du sagtest doch, ihre … ihr Leiden zeigt sich, wenn sie sich bedroht fühlt. Drohe ihr mit der Wahrheit und zwing sie, sich gegen deine Freunde zu wenden. Dann werden auch sie erkennen, was du schon die ganze Zeit weißt.«
Wenn Leon es aussprach, klang es so einfach. »Du hast Recht.«
»Das Alter hat durchaus seine Vorzüge«, entgegnete sein Freund lächelnd.
Sie redeten noch eine Weile über andere Dinge, bis Leon seinen Kaffee austrank und erklärte, der Besuch müsse nun ein Ende finden. »Leider ruft mich noch eine andere Verpflichtung. Ich hoffe aber sehr, dass wir uns bald wiedersehen.«
Sam stand auf, er überragte den anderen Mann deutlich. Trotz seiner Größe und der überlegenen Körperkraft kam er sich neben diesem weltgewandten Herrn, der seinen metallenen Körperteil würdevoll und ohne Schwierigkeiten angenommen hatte, jung und kindisch vor. Vielleicht würde auch Sam eines Tages so weit sein und den neuen Arm – und sein Herz – nicht mehr als etwas Fremdes und Falsches empfinden, nicht mehr als Verrat, zugefügt von den Menschen, die ihm so teuer waren.
»Natürlich.« Er nahm die angebotene Hand und zuckte nicht zusammen, als Leon die verchromten Finger um die seinen schloss. Das Metall war warm, wo es die Kaffeetasse berührt hatte, und an den übrigen Stellen kalt.
»Danke«, sagte er, als sie zusammen zur Tür gingen. »Es tut gut, dass du dir Zeit für mich nimmst und mir Ratschläge gibst.«
Der ältere Mann lächelte. »Ich bin hier, wenn du einen Freund brauchst. Das wirst du hoffentlich nie vergessen. Du bist ein guter Mann, du wirst das Richtige tun, was deine Freunde angeht, und sie werden dir dafür dankbar sein.«
Sam lächelte. Wie lange war es her, dass er das letzte Mal den Eindruck gehabt hatte, jemand könne ihn wirklich verstehen? »Auf Wiedersehen, Leon.«
Der Mann mit den dunklen Haaren nickte knapp. »Samuel.«
Sam polterte die enge Treppe hinunter, verließ das Gebäude und trat in die beginnende Dämmerung des Spätnachmittags hinaus. So wohl war ihm schon lange nicht mehr gewesen. Er wollte nach Mayfair zurückkehren und den anderen verdeutlichen, was Finley Jayne wirklich war. Dann würden sie einsehen, dass er Recht hatte und kein Idiot war. Sie würden die Wahrheit erkennen, und Finley würde geradewegs zu Jack Dandy rennen, wo sie hingehörte.
Er hoffte nur, er konnte sie loswerden, ehe sie jemanden verletzte.
Nach dem Museumsbesuch verabschiedete sich Jasper, um bei einigen Kontaktleuten Erkundigungen einzuziehen. Später wollte er Griffin aufsuchen.
Als Griffin ins Haus zurückkehrte, waren Emily und Finley im Laboratorium immer noch mit Victorias Wachsfigur beschäftigt. Ihre eifrigen Gesichter entschädigten ihn für den Aufenthalt in der winzigen Kiste, die ihn in den Keller befördert hatte.
»Habt ihr etwas herausgefunden?«, fragten die Mädchen fast gleichzeitig.
»Ja«, antwortete Griffin und sah sich im Raum um. »Ist Sam immer noch unterwegs?«
Emily nickte, und der Kummer stand ihr ins Gesicht geschrieben. Mit der Schutzbrille und der Schürze wirkte sie etwas verloren. Die unförmigen Stiefel waren ihr zu groß, die Schutzbrille viel zu wuchtig für ihren Kopf. Sogar die struppigen roten Haarsträhnen schienen die falschen Proportionen zu haben. Neben ihr stand Finley wie eine Amazone in Lederkorsett, kurzärmligem Hemd und schwarzen Hosen. Die Absätze ihrer schwarzen Lederstiefel waren kräftig genug, um die Knochen eines Mannes zu Staub zu zermahlen.
»Was denn?«, bohrte Emily.
Griffin wandte sich an sie und schämte sich dafür, dass er sich wieder einmal auf Finley konzentriert hatte, obwohl er Wichtigeres zu tun hatte. »Es war der Maschinist, wir haben sein Öl entdeckt. Der Nachtwächter hat ein wenig davon auf den Kopf bekommen, und es hat ihn geheilt. Der Maschinist besitzt Organellen und benutzt sie in dem Öl, mit dem er seine Automaten schmiert.«
Emily runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. »Ich wüsste nicht, wieso die Biesterchen einem Schmiermittel nützlich sein sollen, aber ich mache mal lieber ein paar Tests.«
»Hättest du in den anderen Proben nicht ebenfalls Organellen finden müssen?«, fragte Finley.
Emily schüttelte den Kopf, die roten Fransen pendelten über den Schultern. »Sie brauchen etwas, aus dem sie Energie ziehen können, und sie imitieren die Materie, mit der sie in Berührung kommen. Ich hätte sie nur in einer frischen Probe entdecken können. Eine Weile später sind sie tot und sehen aus wie die Umgebung.«
Griffin war nicht sicher, ob Finley es wirklich verstand. Zum Teufel, er verstand es selbst nicht richtig, dabei war er schon als Kind mit den Organellen in Berührung gekommen und wusste, wie sie wirkten. »Ja, du solltest unbedingt Tests durchführen, Emmy«, sagte er.
»Jetzt komm mal her und sieh dir an, was wir gefunden haben.« Emily deutete auf die Wachsfigur.
Griffin staunte, als sie ihn auf die fehlenden Augen und die Abdrücke des Greifzirkels hinwies. »Ich glaube nicht, dass die Augen verkauft wurden. Ich würde sagen, er baut einen Automaten.«
»Ein Ebenbild der Königin Victoria?«, fragte Finley so ungläubig, dass Griffin unwillkürlich lächelte.
»Ja«, antwortete er. »Er könnte den Automaten zu einer Jubiläumsfeier schaffen, als neue Erfindung zum Vergnügen der Zuschauer ausgeben und dann alles in die Luft jagen.«
»Aber warum?« Emily war es, die die wichtigste Frage formulierte. »Welchen Sinn sollte eine solche Gewalttat haben?«
Finley zuckte mit den Achseln. »Auch seine übrigen Verbrechen waren recht eigenartig.«
»Nein.« Griffin machte eine finstere Miene, während ihm eine Million Gedanken durch den Kopf schossen. »Sie kommen uns nur so eigenartig vor, weil wir nicht wissen, worauf er hinauswill.« Er wünschte, Cordelia wäre da, die sich wie kaum jemand sonst darauf verstand, die Einzelteile eines Puzzles zusammenzufügen. Doch sie war nach Devon gefahren, um zu ermitteln, welchen Schaden der Einbrecher in den Höhlen auf dem Anwesen angerichtet hatte und um möglichst viel über den geheimnisvollen Gärtner herauszufinden, der so plötzlich verschwunden war. Inzwischen bestand kaum noch ein Zweifel daran, dass es sich bei dem Mann um den Maschinisten gehandelt hatte, doch sie konnten es sich nicht erlauben, aufgrund unbewiesener Annahmen zu handeln.
»Was ist mit Dandy?«, fragte Finley. Sie hatte Hemmungen, Griffin in die Augen zu blicken. »Wenn dieser Maschinist so ein gerissener Verbrecher ist, müsste Dandy doch irgendetwas über ihn wissen.«
Einen kleinen Moment lang fragte sich Griffin, ob Sams Bedenken, was Finley anging, vielleicht doch nicht ganz unbegründet waren. Er kannte sie im Grunde überhaupt nicht, wusste so gut wie nichts über sie. Und doch …
Er brachte es nicht über sich, sie als Bösewicht zu sehen.
»Nein«, sagte er entschieden und fluchte insgeheim darüber, dass sie seinem Blick auswich. »Ich meine …« Was meinte er eigentlich? Er räusperte sich. »Ich glaube nicht, dass Dandy uns etwas verrät, nicht mal dann, wenn er etwas weiß. An der Redewendung über die Ganovenehre ist durchaus etwas dran. Gut möglich, dass die beiden sogar geschäftlich miteinander in Verbindung stehen. Er wird seinen Ruf in der Unterwelt nicht gefährden wollen, und er ist sowieso schon ein hohes Risiko eingegangen, als er uns die Wachspuppe gebracht hat.«
Finley verschränkte die Arme vor der Brust. »Es könnte nicht schaden, ihn mal zu fragen.«
Griffin knirschte mit den Zähnen. Er wollte nicht, dass sich Finley in Jack Dandys Nähe begab – aber nicht, weil er sich ihretwegen Sorgen machte, sondern weil er fürchtete, sie könnte etwas für den Verbrecher empfinden.
Er schluckte den bitteren Geschmack der Eifersucht herunter. »Also gut«, gab er nach. »Frag ihn. Aber verabrede dich an einem sicheren Ort mit ihm. Ich will nicht, dass du noch einmal allein zu ihm gehst. Der Maschinist weiß, wer du bist, und es ist möglich, dass er dich beobachtet – dich oder Dandy. Ich will ihm keine Gelegenheit geben, dich anzugreifen.«
Anscheinend war sie nicht einmal halb so ängstlich wie bei ihrer Ankunft in seinem Haus, hatte aber diese Möglichkeit offensichtlich nicht bedacht und ging sofort auf seinen Vorschlag ein. »Einverstanden.«
Emily riss auf einmal den Kopf hoch, weil ihr etwas eingefallen war. »Ich kenne jemanden, der uns womöglich etwas erzählen kann.«
»Wen?«, fragten Griffin und Finley im Chor.
Verschlagen kniff sie die Augen zusammen. »Wir haben an den Tatorten das Öl des Maschinisten gefunden. Auch der Automat, der Sam angegriffen hat, war damit geschmiert.«
Griffin nickte. »Deshalb sind wir ja auf die Idee gekommen, dass der Maschinist hinter den Fehlfunktionen der Metallmänner steckt. Du hast allerdings gesagt, du wüsstest nicht, was er mit der Maschine gemacht hat«, sagte er sanft, damit sie seinen Einwand nicht als Vorwurf auffasste.
»Das war, bevor ich erkannt habe, dass ich mit Maschinen sprechen kann.« Zielstrebig marschierte sie durch das Labor, die Stiefel knirschten laut auf dem Boden. Sie steuerte den großen eisernen Tresor in der Ecke des Labors an.
Griffin beobachtete sie unsicher. »Emmy, was hast du vor?«
»Etwas, das ich schon längst hätte tun sollen. Ich war bloß zu feige dazu.« Sie entriegelte den Tresor und drehte am Rad. Es zischte – Dampf entwich, als der Mechanismus des Tresors ansprach –, und dann klickte es. Emily zog die Tür auf.
Drinnen befand sich der Automat, der Sam angegriffen hatte. Als Griffin ihn sah, wurde ihm eiskalt ums Herz. Vor ihnen stand ein mächtiger Eisenmann mit einem tonnenförmigen Rumpf, langen Armen, Reifen mit dickem Profil und einer kleinen Navigationskuppel, wo der Kopf hätte sein sollen.
»Emmy.« Finley sprang vor, denn sie wollte nicht, dass sich die kleine Irin dem grässlichen Ding weiter näherte. Griffin musste seine ganze Entschlossenheit aufbieten, um nicht ebenfalls zu Emily zu eilen.
»Halte dich bereit«, flüsterte er Finley ins Ohr. »Man weiß ja nie.«
Sie nickte.
»Ich fahre ihn jetzt hoch«, erklärte Emily. »Bleibt vorsichtshalber etwas zurück. Falls etwas passieren sollte, dürft ihr ihn erst angreifen, wenn ich es sage. Ich brauche ein wenig Zeit, um den Kontakt herzustellen.«
Griffin hielt das für ein viel zu hohes Risiko, doch er wäre es auch selbst eingegangen, und deshalb versuchte er gar nicht erst, sie davon abzubringen. Schweigend und voll schlimmer Vorahnungen sah er zu, wie das kleine irische Mädchen nach oben langte und einen gekerbten Messingstab in das Zündschloss in der Brust des Automaten schob. Alle Metallmänner der Stadt besaßen ähnliche Zündschlösser, die ein einfaches Mittel darstellten, die Maschinen rasch abzuschalten, falls es nötig war.
Emily drehte den Stab herum, die Kerben rasteten klickend ein, bewegten die Stifte und drehten sie in die richtige Position. Auf ein hohles Klappern folgte fast sofort ein Surren, und die Zahnräder setzten sich in Bewegung. Die Maschine summte und machte sich betriebsbereit. Als die Energiequelle – sie bestand aus dem Erz, das Griffins Großvater entdeckt hatte – ihre Arbeit aufnahm, erschauderte der ganze Apparat. Schließlich ertönte ein Geräusch, als betätigte jemand einen großen Blasebalg.
Das Ungetüm erwachte zum Leben.
Emily war höchstens drei viertel so groß wie das Ding. Winzig klein lagen ihre Hände auf der vernarbten, schmutzigen Frontpartie. Auf ihrem linken Handrücken klebte dunkles Öl.
Als wüsste sie genau, was sie zu tun hatte, schloss sie die Augen. Wie auch immer sie mit dem Metallmann sprach, es geschah nicht mithilfe von Worten. Hätte der Apparat gelebt, dann hätte Griffin es als Telepathie bezeichnet, doch es gab offenbar kein passendes Wort dafür.
Der Automat stieß ein stetiges Grollen aus, rührte sich aber nicht. Dennoch wagten Griffin und Finley nicht, sich zu entspannen. Griffin war bereit, über dem Automaten das ganze Haus einstürzen zu lassen, wenn es sein musste.
Emilys Gesicht war blass vor Konzentration, die Sommersprossen zeichneten sich deutlicher ab denn je. Sie hatte die Stirn in Falten gelegt und die Lippen zusammengepresst. Ihre Hände lagen flach auf dem Metall, als könnte sie das Ungetüm allein damit aufhalten. Griffin war nicht sicher, wie lange sie so verharrten, doch auf einmal bemerkte er, dass Emily zitterte, und es lag nicht nur an den Vibrationen der Maschine, die durch ihren Körper liefen.
»Emmy?« Er machte einen Schritt, Finley warf ihm aus dem Augenwinkel einen Blick zu, rührte sich aber noch nicht. Sie warteten mit angehaltenem Atem.
Die zerzausten roten Strähnen fielen nach vorn, als Emily den Kopf senkte. Dieses Stöhnen – kam es aus der Maschine? Da er nicht sicher war, machte er noch einen Schritt auf die kleine Irin zu. »Emily?«
Er bemerkte das Blut im gleichen Augenblick wie Finley. Es rann aus Emilys Nase und fiel auf die schmutzige Schürze und den Boden. Die Tropfen zerplatzten auf den Dielenbrettern zwischen ihren Stiefeln.
Emilys Knie wurden weich, ihre Hände hinterließen feuchte Abdrücke auf dem schmutzigen Messing, als sie auf der Abdeckung nach unten rutschten.
»Stell ihn ab«, befahl Griffin und sprang vor. Auch Finley schaltete sich jetzt ein und fing Emily auf, bevor sie völlig zusammenbrach. Griffin packte den Zündstab, als der Automat den verbliebenen Arm hob. Den zweiten hatten sie teilweise benutzt, um Sams Arm zu rekonstruieren. Das Surren und Poltern wurde lauter und brach mit einem erstickten Geräusch ab. Der Arm sackte laut scheppernd herunter, dann herrschte Stille.