Elf
ELF
Finley klammerte sich an Jack Dandys Arm, als ginge es um das nackte Überleben. Sie sah sich im überfüllten Zirkus um und fragte sich, was sie hier verloren hatte.
Ihr Begleiter war gewiss sehr charmant, sah auf finstere Art gut aus und hatte eine entzückende Art, die Sprache zugleich schöpferisch anzuwenden und zu massakrieren. Jedes Wort, das aus seinem Mund kam, fand sie einfach nur faszinierend. Allerdings hatte sie nicht die geringste Ahnung, warum er ausgerechnet sie hierher ausgeführt hatte.
Kaum vorstellbar, dass er an ihr interessiert war. Nein, ihre dunkle Seite hatte Jack Dandys Interesse geweckt, und diese Seite wurde beständig stärker, je mehr Zeit sie in diesem Etablissement verbrachte. Sie spürte förmlich, wie diese Kraft gegen die Wände des Käfigs anrannte, den sie in sich errichtet hatte. Die dunkle Seite mochte diesen Ort und die Gesellschaft, doch dieser Energie durfte sie keinen freien Lauf lassen – jedenfalls nicht ganz und gar. Sie konnte sich nicht einmal erinnern, was das letzte Mal geschehen war, als die dunkle Seite hervorgebrochen war, und so etwas wollte sie gewiss nicht noch einmal riskieren.
»Alles in Ordnung, Schätzchen?«
Sie blickte zu den besorgten Augen auf, die sie durch die Teufelsmaske betrachteten, und lächelte leicht. »Es ist überwältigend.«
Er nickte. »Versteh ich. So ’ne Menschenmenge macht mich auch manchmal rammdösig. Woll’n wir tanzen?«
Bevor sie antworten konnte, hatte er sie schon auf die Tanzfläche gezogen, legte ihr einen Arm um die Hüften und übernahm beim Walzer die Führung. Sie tanzten viel enger, als es sich gehörte, aber nicht nahe genug, um einen Skandal zu verursachen. Mr. Dandy wusste offenbar ganz genau, wo die Grenzen des Anstands verliefen.
»Ich muss schon sagen, Sie sehen wunderhübsch aus«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Finley erschauerte. »Vielen Dank. Es ist auch ein wunderschönes Kostüm. Sie hätten aber nicht so viel Geld ausgeben dürfen. Ihre Großzügigkeit macht mich verlegen.«
Er drückte ihre Hand. »Nein, sei’n Sie nich’ verlegen. Sie haben’s verdient, wie ’ne Königin behandelt zu werden. Eigentlich sogar von besseren Leuten als von mir, aber ich kann nun mal nich’ anders.«
Sie schluckte schwer. »Guter Gott, Sie wissen aber genau, was ein Mädchen gern hört, was?«
Darüber lachte er laut und fröhlich, übertönte vorübergehend sogar die Musik und warf den Kopf zurück. Im Umkreis einer Meile hatte ihn sicher jeder gehört. Finley sah sich um, ob schon jemand gaffte.
Ein großer und breitschultriger Mann, der maßgeschneiderte schwarze und weiße Abendgarderobe trug, starrte sie an. Das Licht der Lüster streifte das rotbraun schimmernde Haar.
Griffin.
Plötzlich fühlte sie sich, als wäre sie mit Nadelstichen aus einem tiefen Schlaf gerissen worden. Was tat er hier? Warum beobachtete er sie so? Und wer zum Teufel war die verwegen gekleidete Schlampe an seinem Arm?
Sie hatte einen unangenehmen Geschmack im Mund, der mit einem ebenso unschönen Gefühl einherging. Griffin Kings Leben ging sie nichts an, und es stand ihr kaum zu, über seine Begleitung zu lästern, wenn sie sich an der Seite eines Unterweltkönigs blicken ließ. Trotzdem, es gefiel ihr überhaupt nicht, ihn mit einem Zirkusmädchen zu sehen.
Wie sie an seinen zusammengepressten Lippen ablesen konnte, behagte es ihm wohl ebenso wenig, sie mit Jack Dandy tanzen zu sehen.
Was würde Emily zu alledem sagen? Die kleine Irin hatte Finley das Versprechen abgerungen, sie nach dem Ball zu wecken und ihr alle Einzelheiten zu berichten. Emily war von Jack und seinem durchaus selbstironischen Aufzug sehr beeindruckt gewesen. Andererseits gab es aber wohl sowieso nicht viele junge Frauen, die nicht auf die eine oder andere Art von Jack beeindruckt gewesen wären. Mindestens genauso viele flogen natürlich auf Griffin.
Immerhin, sie hätte ihren letzten halben Penny darauf verwettet, dass sie die einzige junge Frau war, die beide Männer gleich faszinierend fand.
Vor ein paar Augenblicken hätte sie noch nicht behauptet, dass ihre Gefühle für die beiden gleich stark waren. Beim Anblick Griffins und des Mädchens mit dem unmöglichen roten Haar war ihr altes Selbst wieder stärker in den Vordergrund getreten.
Sie riss ihren Blick von Griffin los und konzentrierte sich auf Jacks Krawatte. Das war die sicherste Stelle, die sie überhaupt anschauen konnte, wäre ihr Blick nicht unweigerlich nach oben zu dem entblößten Teil seines Halses und dann zu seinem Mund gewandert.
Er hatte ein kleines Grübchen. Warum hatte sie das noch nicht bemerkt? Wirklich, ein ausgesprochen niedliches Grübchen.
»Na, meine Hübsche, prägen Sie sich mein großartiges Äußeres ein, damit Sie mich nie wieder vergessen?«
Sie grinste ironisch. »Sie sind aber sehr von sich selbst überzeugt, Mister Dandy.«
Er legte den Kopf schief. »Sie dürfen mich ruhig Jack nennen.«
»Warum haben Sie mich hierher eingeladen, Jack? Immerhin haben Sie mir neulich gesagt, ich solle so weit wie möglich vor Ihnen weglaufen.«
Er zuckte mit den Achseln. »Vielleicht wollt’ ich nur mal sehn, ob Ihre Willenskraft stärker ist als meine. Ich hab Sie eingeladen, und Sie sind gekommen. Ich glaub, Sie könn’ mich gut leiden, Schätzchen.«
Sie errötete, doch irgendetwas drängte sie, bei ihm nicht die Schüchterne zu spielen. »Ich denke, Sie mögen mich, mein Herr.«
Er zog sie näher an sich. »Welcher Kerl, der ganz bei Sinnen ist, könnte Sie nicht mögen?«
Was sollte sie darauf sagen? Seine Worte ließen ein warmes, ein viel zu schönes Gefühl in ihr wachsen, und gleichzeitig wollte sie sich nach Griffin umsehen. Beobachtete er sie?
»Suchen Sie Ihren Herzog?« Das klang überhaupt nicht mehr neckend, sondern eher, als müsste er sich große Mühe geben, desinteressiert zu wirken.
Finley erwiderte seinen Blick und entdeckte tatsächlich etwas wie Schmerz in den dunklen Tiefen seiner Augen. Hatte sie ihn tatsächlich verletzt? »Jack, ich …«
»Keine Sorge, Schätzchen. Ich weiß, wie es in der Welt läuft.«
Dann wirbelte er sie so schnell und anmutig auf der Tanzfläche umher, dass ihr schwindlig wurde und sie sich fühlte, als könnte sie gleich von der Erde abheben und davonschweben. Plötzlich aber hielt er inne. Sie prallte gegen ihn und hätte fast das Gleichgewicht verloren. Nur seine starken Arme hielten sie aufrecht.
Er blickte ihr tief in die Augen. »Finley Jayne, ich spiele dieses Spiel mit, weil ich glaube, dass Sie es wert sind, aber Sie sollten es nicht übertreiben. Haben Sie verstanden? Eines Tages müssen Sie sich entscheiden.«
Mit einem leeren Gefühl im Bauch starrte sie ihn an. Sie hatte verstanden, war zugleich aber auch verwirrt. Wofür hielt er sie eigentlich? Sie öffnete den Mund und wollte widersprechen oder sich verteidigen, brachte aber kein Wort heraus. Unter der Maske lächelte Jack ironisch. Dann war der Walzer vorbei, und er führte sie von der Tanzfläche. Zwischen ihnen herrschte drückendes Schweigen.
»Es tut mir leid«, sagte Finley schließlich.
Jack betrachtete sie. »Was denn, Schätzchen?«
Sie zuckte zusammen, als er so freundlich fragte. »Dass ich Ihnen wehgetan habe, womit auch immer.«
»Mir wehgetan? Ich bin Jack Dandy, meine Liebe. Ich bin einer der kältesten, finstersten Schweinehunde in ganz London, wussten Sie das noch nicht? Mir tut nichts weh, also zerbrechen Sie sich deshalb nicht den hübschen kleinen Kopf.«
Finley fühlte sich entsetzlich und wandte sich ab. Wie es der Zufall wollte, fiel ihr Blick auf Griffin.
Griffin wollte sich sofort umdrehen, als sich ihre Blicke kreuzten, doch er konnte es nicht. Wie gebannt starrte er Finley an und hatte das Gefühl, etwas zu beobachten, das ihn nichts anging und das er nicht sehen sollte.
Im Augenblick lief es zwischen Finley und Dandy anscheinend nicht so gut. Er war kleinmütig genug, um sich ein wenig darüber zu freuen, konnte der Tatsache, dass Finley traurig war, jedoch nichts abgewinnen. Gern wäre er zu ihr gegangen und hätte sie Dandy weggenommen, doch er hatte eine Begleiterin, die seine Aufmerksamkeit verlangte. Es wäre unhöflich, die junge Zirkusartistin einfach stehen zu lassen, und außerdem sollte gleich die Hauptattraktion des Abends beginnen.
Da spürte er es – eine Störung im Äther. Wie ein leichter Wellenschlag oder ein Kribbeln im Nacken, das ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Er sah sich um und entdeckte einen dürren kleinen Automaten mit einem Serviertablett, der auf Finley und Dandy zuhielt. Die Bewegungen waren ruckartig, aber zielstrebig, als hätte er sich noch nie auf diese Weise bewegt. Er langte nach Finley …
»Nein!«, rief er und sprang los. Jeder Gedanke an Höflichkeit und Schicklichkeit war verflogen. Er drängte sich durch die Menge, um sie möglichst schnell zu erreichen.
Zu spät. Der Automat hatte sie schon an der Kehle gepackt.
Die Zeit schien sich zu verlangsamen, seine Wahrnehmung veränderte sich. Er sah die lodernden Auren der Menschen und die Umgebung durch den Schleier des Äthers. Finleys doppelte Aura flackerte hell und dunkel – ihr anderes Selbst kam zum Vorschein. Dandy wollte den Automaten abwehren, Jasper hatte schon die Pistole gezogen und stürmte zusammen mit Griffin los. Der Cowboy würde nicht schießen, wenn es nicht unbedingt sein musste. Es war viel zu leicht, einen Fehler zu begehen und Unbeteiligte zu verletzen oder zu töten.
Inzwischen hatte Finley den dürren Metallarm gepackt, der ihr die Kehle zudrückte. Ein normaler Mensch hätte nicht genug Kraft gehabt, doch Finley war kein normaler Mensch. Sie brach den Arm am Ellbogengelenk ab und riss sich die Hand der Maschine vom Hals.
Dann hielt sie den Metallarm an der Hand und am Handgelenk fest und prügelte damit auf die Kontrolltafel des Automaten ein. Die übrigen Besucher kreischten und rannten los wie verschreckte Gazellen. Sie hatten Angst, die nächsten Opfer der Maschine zu werden, und stürmten blindlings zum nächsten Ausgang.
Finley hatte die Maschine inzwischen mit deren eigenem Arm weitgehend zerstört. Das Ding wehrte sich zwar noch, war aber als Servierautomat nicht dazu gebaut, solche Angriffe zu ertragen. Schließlich riss Finley auch den zweiten Arm ab und drosch beide Gliedmaßen auf den Hals der Maschine, um die Verbindungen und Zahnräder zu zerschmettern.
Griffin und Jasper hatten sich endlich durch das Gedränge gewühlt und blieben nun ein paar Schritte vor Finley stehen.
Ihre dunkle Seite hatte endgültig die Herrschaft übernommen.
Diejenigen, die nicht voller Panik geflohen waren, hatten die Prügelei verfolgt und kamen jetzt wieder näher wie neugierige Ratten, denn sie wollten das Mädchen begaffen, das mit bloßen Händen eine Maschine zerstört hatte.
Finleys Mieder war zerfetzt, und darunter kam das Stahlkorsett zum Vorschein. Schon tuschelten die Leute über das seltsame Kleidungsstück und die Besitzerin. Finley erweckte unterdessen den Eindruck, sie werde jedem das Fell über die Ohren ziehen, der es wagte, ihr zu nahe zu kommen.
Griffin musste sie hier herausschaffen. Das brachte zwar seinen guten Ruf und die Geheimhaltung in Gefahr, doch er konnte sie nicht hier lassen, wo sie jemanden verletzen konnte oder womöglich selbst verletzt wurde.
Er machte einen Schritt und hielt Dandy auf, der sie berühren wollte. »Nicht. Es sei denn, Sie wollen ebenfalls eine Hand verlieren, Dandy.«
Der Verbrecher war ein kluger Kerl und hielt sofort inne, hinter der Teufelsmaske blitzten die hellwachen Augen. Griffin näherte sich Finley, als wäre sie ein verängstigtes wildes Tier. »Finley?«
Als sie ihren Namen hörte, blickte sie auf. »Oh, der reiche Knabe. Und Mister Dandy ist auch da. Bin ich nicht ein Glückspilz?«
»Wir müssen dich hier rausbringen«, sagte Griffin. Er suchte ihren Blick und bearbeitete sie zugleich mit seiner Äthermagie. Wenn er ihre Aura unter Kontrolle brachte, konnte er sie vielleicht beruhigen. Dabei konnten allerdings die Schaulustigen erkennen, dass er irgendetwas mit ihr angestellt hatte, auch wenn sie nicht wussten, was es war.
Glücklicherweise ging sie auf seinen Vorschlag ein. »In Ordnung. Wohin gehen wir?«
»Wohin du willst«, log er. »Wir fahren mit meiner Kutsche.«
Sie warf den Kopf zurück, richtete sich auf und lenkte damit noch mehr Aufmerksamkeit auf das Mieder und das Metall darunter, das sich dicht an ihren Körper schmiegte. »Dann fahren wir heute nicht mit dem Velo, Durchlaucht?«
Er lächelte. »Nein, heute nicht.«
Sie starrte die Hand, die er ihr bot, einen Moment an, ehe sie einschlug. Als sie einen Blick wechselten, spürte er, wie ihre Finger zitterten. Nun setzte er seine Kräfte ein.
Finley blinzelte. »Griffin?«
»Braves Mädchen«, murmelte er so leise, dass es niemand außer ihr hören konnte. Ehe ihnen die Gaffer zu nahe kamen, führte er Finley hinaus, Jasper begleitete sie. Dandy blieb, wo er war, und hielt die neugierigen Kostümierten auf, die ihnen folgen wollten.
Kurz danach saßen Griffin und Finley nebeneinander in der Kutsche, und Jasper hatte sich ihnen gegenüber niedergelassen.
»Was ist nur mit ihr los?«, fragte der Amerikaner.
Griff schüttelte den Kopf. »Nichts, außer dass in ihr zwei Seiten um die Vorherrschaft ringen.«
Jasper zog die Augenbrauen hoch, doch seine Miene blieb mitfühlend. »Armes kleines Ding.«
»Griffin?«, ließ sich ein kleines Stimmchen vernehmen. Er drehte sich zu Finley um, die ihn mit riesigen Augen und bleichem Gesicht betrachtete. »Ich will nicht mehr so sein«, murmelte sie und sackte auf dem gepolsterten Sitz in sich zusammen. »Ich mag es nicht, wenn ich mich nicht beherrschen kann. Hilf mir bitte.«
Griffin drückte ihr die Hand. »Bestimmt. Ich verspreche es dir.«
Nun lächelte sie leicht. »Danke. Ich wusste, dass ich dir vertrauen kann.«
Erschöpft von dem Kampf schlief sie auf der Stelle ein. Griffin hoffte, er könne ihrem Vertrauen gerecht werden und ihr helfen. Die Vorstellung, was aus ihr werden konnte, wenn es ihm nicht gelang, war viel zu schrecklich, um sie ernsthaft ins Auge zu fassen.