Zwölf

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Am nächsten Morgen lautete die Schlagzeile:

AUTOMATENTERROR DURCH GEHEIMNISVOLLES MÄDCHEN IM STAHLKORSETT ABRUPT UND
SPEKTAKULÄR BEENDET!

Darunter stand in kleinerer Schrift: »Duke of Greythorne greift ein und befreit außergewöhnliches Fräulein aus den Armen des berüchtigten Dandy.«

In ganz London war Finley das Thema des Tages. Alle wollten wissen, wer dieses seltsame Mädchen war.

Der Mann, den man den Maschinisten nannte, war dagegen nicht beeindruckt. Griffin King hatte also schon wieder eines seiner kleinen Spielzeuge entdeckt. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sich der junge Herzog und seine ach so kluge Miss O’Brien die Wahrheit zusammenreimen würden.

Also musste er schleunigst mit seinem Plan vorankommen. Großbritannien und die ganze Welt sollten bald sehen, was er ihnen zu zeigen hatte. Sie würden ihn sehen.

Nicht einmal der wundervolle Griffin King und sein kunterbunter Haufen Streuner konnten das verhindern.

Finley wusste nicht, was der Trank enthielt, den Griffin ihr eingeflößt hatte – auf jeden Fall war er wundervoll. Sie fühlte sich, als schwebte sie auf einem Bett aus Wolken warm und sicher am Sommerhimmel, ohne je von der Sonne geblendet zu werden.

Er sagte, dieser Trank solle ihr helfen, die beiden Seiten ihrer Persönlichkeit miteinander zu versöhnen. Tatsächlich blieben die Gefühle, die sie sonst hatte, wenn ihr dunkles Ich zum Vorschein kam, dieses Mal aus. Sie fühlte sich einfach nur gut und entspannt.

»Deine Augen sind hübsch«, sagte sie grinsend zu Griff. »Alle vier.«

Als er lachte, klang es, als stünde er am anderen Ende eines langen Tunnels. »Danke. Leg dich einfach hin. So.«

»Du willst die Situation doch nicht ausnutzen?« Die Kissen hinter ihrem Kopf waren so weich, und es war wirklich schön, sich hinzulegen. »In den Romanen werden junge Frauen immer vor reichen jungen Männern gewarnt, die ihr Vertrauen missbrauchen könnten.«

»Du bist hier völlig sicher. Emily ist da und beschützt deine Tugend.«

»Wie schade.« Finley glaubte, Emily kichern zu hören, doch auch sie war unendlich weit entfernt.

»Hast du es bequem, Finley?«, fragte Griffin. Er lächelte, das konnte sie hören.

Sie wollte nicken, doch der Kopf gehorchte ihr nicht. »Ja.«

Danach war alles ein wenig verschwommen. Ihre dunkle Seite hob wie betrunken den Kopf, hatte jedoch nicht genug Kraft, um dagegen anzukämpfen. Seltsamerweise war auch ihr anderes Ich geschwächt. Griffin stellte ihr Fragen, auf die sie antwortete, auch wenn sie beim besten Willen nicht begriff, worum es überhaupt ging. Sie wünschte, sie wäre nicht so schläfrig und könnte besser aufpassen.

Sie schlummerte ein, und als sie erwachte, bemerkte sie, dass mehr als zwei Stunden vergangen waren, seit sie Griffs Gebräu getrunken hatte. Sie lag noch auf dem Sofa in der Bibliothek, und Griff stand nicht weit entfernt und steckte etwas, das aussah wie ein Messingzylinder mit Gravuren, in einen Lagerkarton.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Das bist du.« Lächelnd drehte er sich zu ihr um. »Ich dachte, du schläfst bis zum Essen durch. Das hier ist ein phonographischer Zylinder. Ich habe unsere Sitzung aufgezeichnet, damit du sie dir später anhören kannst, wenn du willst.«

Es passte ihr nicht, dass er die Aufzeichnung ohne ihr Einverständnis angefertigt hatte, aber natürlich wollte sie sich gern anhören, was während ihrer Trance herausgekommen war. Vorsichtig richtete sie sich auf. »Sind wir fertig?«

»Für heute schon.« Er kam zu ihr und hockte sich vor sie, um ihre Hand zu halten. Seine Finger waren wärmer als ihre. »Wie fühlst du dich?«

Als sie in die blaugrauen Augen blickte, wurde ihr ein wenig schwindlig, wie damals, wenn sie sich als Mädchen schnell im Kreis gedreht hatte, um mit wackligen Beinen auf dem Boden zusammenzusacken. »Gut«, erwiderte sie heiser. Bei Gott, hoffentlich blamierte sie sich nicht vor ihm. Sie wollte doch nicht wie eine Geisteskranke dummes Zeug plappern, wenn er sie etwas fragte.

»Ausgezeichnet.« Er stand auf, ohne ihre Hand loszulassen. »Darf ich dich in den Garten führen? Es ist ein schöner Tag, und es wäre schade, wenn wir nichts davon hätten.«

Langsam erhob sich Finley vom Sofa. Ihr war, als schwankte ihr Gehirn erst ein wenig nach rechts und dann nach links, ehe es sich ausrichtete.

Sobald sie stand, ließ Griffin ihre Hand los und bot ihr stattdessen den Arm an. Sie hakte sich ein.

»Was ist passiert?«, fragte sie, als sie durch die Eingangshalle und dann durch einen anderen Flur gingen. Sein Arm war kräftig, und er war groß. Eigenartig, aber es kam ihr vor, als sähe sie ihn zum ersten Mal oder doch jedenfalls mit anderen Augen.

Er grinste. »Willst du eine einfache Antwort oder die ausführliche und gelehrte Antwort hören?«

»Fang mal mit der einfachen an. Ich habe immer noch Wolken im Kopf von diesem schrecklichen Zeug, das du mir gegeben hast.«

»Zuerst sollte ich dir vielleicht versichern, dass ich wie gewünscht die Situation nicht ausgenutzt habe.« Als sie errötete, kicherte er. »Ich habe dir nur ein mildes Mittel zur Entspannung gegeben, das dein Bewusstsein für den Mesmerismus geöffnet hat. Als du in diesem Zustand der Versenkung warst, konnte ich dein anderes Selbst zum Vorschein bringen, ohne die Spannungen auszulösen, die normalerweise mit dem Wechsel einhergehen. Dadurch und indem wir es den beiden Hälften erlaubten, nebeneinander zu existieren, konnten wir beide Persönlichkeiten zur Deckung bringen und ihnen den Weg ebnen, sich zu vereinen, statt weiter getrennt zu existieren.«

Finley sagte nichts dazu. Es dauerte eine Weile, bis seine Worte den Nebel in ihrem Kopf durchdrungen hatten. »Und das war es dann?«

»Nein. Vor uns liegt noch viel Arbeit, aber es ging leichter, als ich angenommen hatte. Ich fürchtete schon, ich würde mir mindestens einen Kinnhaken einhandeln, aber du hast mich kein einziges Mal geschlagen.«

Was für eine Erleichterung! Sie hätte sich schrecklich gefühlt, wenn ihr anderes Ich ihn verprügelt hätte, während er versucht hatte, ihr zu helfen. Trotzdem … irgendwie hatte er wohl akzeptiert, dass es durchaus passieren konnte.

»Fühlst du dich anders als vorher?«, wollte er wissen.

»Ein wenig«, erwiderte sie, denn sie war sicher, dass sich ihre Gedanken in neue Richtungen bewegten. Mehr denn je empfand sie ihn als Angehörigen des anderen Geschlechts, und sie hatte kaum noch Schuldgefühle wegen ihrer dunklen Seite. Sie fühlte sich ruhig und gestärkt, angenehm, aber nicht eingeschüchtert. Es war gut. »Ich bin immer noch ich, aber irgendwie anders.«

Er nickte. »Dieser Eindruck wird sich noch verstärken, während die beiden Anteile weiter miteinander verschmelzen, aber im Laufe der Zeit wirst du dich immer besser fühlen. Und du musst dann auch keine Angst mehr haben, eine Seite könne die Oberhand über die andere gewinnen.«

Dafür wollte sie gern einige Unannehmlichkeiten auf sich nehmen. »Das ist gut. Griffin …« Sie hielt inne, weil sie nicht die richtigen Worte fand, um zu schildern, was ihr durch den Kopf ging. »Danke. Ich habe es dir wirklich nicht leicht gemacht, und trotzdem bist du so freundlich zu mir.«

Er grinste schief. »Ich denke mal, du bist es wert.«

Finley gab sich große Mühe, ihr erfreutes Lächeln zu verbergen.

Sie gingen durch den Haupteingang statt durch die inzwischen reparierte Terrassentür des Arbeitszimmers in den Garten. Auf dem hinteren Rasen, nahe am Haus, war auf Pfosten ein Sonnendach aus Segeltuch aufgespannt. Es beschattete die makellose Tischdecke und die kalten Bratenstücke, das Brot, den Käse und die Früchte, mit denen die Tafel gedeckt war. Als sie den Festschmaus sah, knurrte Finley der Magen. Peinlich berührt legte sie sich eine Hand auf den Bauch.

Griffin kicherte nur. »Ich bin auch nahe am Verhungern«, flüsterte er und nahm ihr die Verlegenheit. Emily, Sam, Cordelia und sogar Jasper, der Cowboy, den sie am vergangenen Abend kennengelernt hatte, saßen bereits am Tisch.

»Das wird aber auch Zeit«, schimpfte Sam mit gerunzelter Stirn. »Ich habe schon ein Loch im Bauch.«

Griffin zog eine Augenbraue hoch. »Das ist doch dein Normalzustand.« In der Bemerkung lag keine Bosheit, es war nur eine der freundlichen Neckereien, die für ihn so typisch waren. Sie fragte sich, ob Griffin King, dem Duke of Greythorne, jemals der Kragen platzte.

Wahrscheinlich wäre das ein spektakuläres Ereignis.

Ja, die Verwandlung war bereits in vollem Gange. Gestern noch hätte sie die Vorstellung, ein Mann könne aus der Haut fahren, beunruhigend gefunden. Andererseits hatte sich in ihrem Leben in den letzten paar Tagen so vieles verändert. Sie hätte nie gedacht, dass sie die Kräfte der dunklen Seite sinnvoll nutzen konnte, und doch hatte sie Griffin hochgehoben wie ein Kind. Die Bruchstücke, aus denen sie bestand, fügten sich zusammen, bis ein neues Ganzes entstand. Das war erschreckend und herrlich zugleich.

Griffin führte sie zum Tisch. Sein Platz war am Kopfende. Rechts neben ihm saß Sam und neben diesem wiederum Emily. Sie wirkte unsicher, was offenbar an Sams Nähe lag. Der große Trottel schien es nicht zu bemerken – wenn man allerdings bedachte, wie er die Lippen zusammenpresste, bekam er aber vielleicht sogar viel zu viel mit. Finley setzte sich auf den leeren Stuhl links neben Griffin und neben Jasper. Die Jungs waren bei ihrem Eintreffen aufgestanden und ließen sich jetzt alle nieder. Der Amerikaner lächelte sie an. »Du siehst ja heute wirklich blendend aus, Finley.«

Sie lächelte. »Danke.«

»Du musst Jasper verzeihen«, schaltete sich Sam ein. »Das Hofieren junger Damen ist für ihn wie Atemholen.«

Jasper grinste, der Seitenhieb konnte ihn nicht erschüttern. »In der Tat. Und ich muss schon sagen, Finley, dein Anblick durchfährt mich wie ein erfrischender Lufthauch.«

Darüber lachten alle – sogar Sam stimmte ein, obwohl Finley glaubte, in dem Blick, den der große Bursche Jasper zuwarf, ein unwirsches Funkeln zu entdecken.

»Gestern Abend gab es einen Einbruch bei Madame Tussauds«, berichtete Lady Marsden ein paar Augenblicke später, während sie an einem Stück Käse knabberte.

»Was haben sie denn mitgenommen?«, fragte Emily.

»Du meinst wohl: Wen haben sie mitgenommen?«, warf Jasper ein.

Einige, darunter Finley, kicherten.

Lady Marsden warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Scharf beobachtet, Mister Rale. Scotland Yard hält es für einen Lausbubenstreich. Allerdings haben die Diebe die Nachbildung Victorias mitgenommen.«

»Königin Victoria?«, staunte Finley und vergaß dabei, den Mund zu schließen.

Die Lady nickte, ohne ihren Blick zu erwidern. Die ältere Frau war viel freundlicher zu ihr, seit sie in ihren Geist eingedrungen war. »Genau die.«

»Das kann nur ein Streich sein«, meinte Sam, während er Käse und Fleisch zwischen zwei Scheiben Brot klemmte. »Wer käme schon auf die Idee, die Wachspuppe einer alten Frau zu klauen?« Er schüttelte den Kopf.

Griffin beobachtete seinen Freund mit einem leichten Lächeln. Dann wandte er sich an seine Tante. »Es kann doch kein Zufall sein, dass ihr Ebenbild ausgerechnet während der Feierlichkeiten anlässlich ihres diamantenen Thronjubiläums gestohlen wird.«

»Genau«, stimmte Lady Marsden zu. »Zumal erst kürzlich die Haarbürste Ihrer Majestät aus dem Museum entwendet wurde.«

Jasper runzelte die Stirn. »Eine Haarbürste?« Er schnaufte geringschätzig und lehnte sich, einen Apfel in der Hand, zurück. »Warum stiehlt jemand eine Bürste? War sie wenigstens aus Gold?«

Offenbar empört über seine laxen Manieren, beäugte ihn die Lady ein wenig von oben herab. »Es war ein Geschenk von Prinz Albert.« Als Jasper sie nur anstarrte, fügte sie hinzu: »Der verstorbene Gatte Ihrer Majestät. Er starb vor sechsunddreißig Jahren, und sie trauert noch heute um ihn.«

Jasper zog die Augenbrauen hoch. »Das ist aber eine sehr alte Haarbürste.«

Lady Marsden verdrehte die Augen, und Finley überspielte ihr Lächeln, indem sie sich rasch eine Weintraube in den Mund schob.

Griffin nahm sich eine reife rote Erdbeere und betrachtete sie lange, ehe er hineinbiss. »Glaubt Scotland Yard, dass der Maschinist hinter dem Diebstahl steckt?«

Cordelia zuckte mit den Achseln. »Sie sind sich nicht sicher, es ist aber anzunehmen.«

Er schluckte. »Was will er bloß? Hinter diesem Wahnsinn vermag ich einfach keine Methode zu entdecken.«

»Was wurde sonst noch aus dem Museum entwendet?«, fragte Emily. »Wenn wir alles, was gestohlen wurde, zusammen betrachten, erkennen wir vielleicht, worauf der Dieb hinauswill.« Finley begriff sofort, was das Mädchen meinte, aber nicht aussprach – sie konnten dann hoffentlich auch besser verstehen, warum der Maschinist den Apparat manipuliert hatte, der Sam angegriffen hatte.

»Das weiß ich nicht«, erwiderte Griffin. »Der Raum wurde verwüstet. Der Kurator wollte mir eine Liste schicken, sobald sie die Bestandsaufnahme abgeschlossen haben. Er ist aber sicherlich noch sehr mit der Sammlung beschäftigt, die Franks dem Museum hinterlassen hat.«

Finley wusste nicht viel über Sir Augustus Wollaston Franks, ihr war aber immerhin bekannt, dass er dem Museum eine Sammlung vermacht hatte, zu der unter anderem mehr als tausend antike Ringe aus verschiedenen Kulturen gehörten.

»Ja, es ist gut möglich, dass es eine Verbindung gibt«, meinte Lady Marsden. »Du solltest auf jeden Fall sehr vorsichtig vorgehen.«

»Normalerweise bin ich ja auch ungeheuer draufgängerisch«, gab Griffin ironisch zurück. »Zum Glück gehöre ich nicht zu den Leuten, die mit nichts als einem Schuh bewaffnet Verbrecher zur Strecke bringen.«

Lady Marsden errötete leicht, als alle aufmerkten und sie anblickten. »Wohl nicht. Verzeih mir. Manchmal geht mein Beschützerinstinkt mit mir durch.«

»Nein«, widersprach Griffin mit einem Funkeln in den Augen. »Ich kann dir nicht verzeihen, dass dir so viel an meinem Wohlergehen liegt, da ich diese Aufmerksamkeit doch überhaupt nicht verdient habe.«

Vielleicht bildete Finley es sich nur ein, doch es schien ihr, als hätte er Sam in diesem Augenblick einen vielsagenden Blick zugeworfen. Eine hübsche Art, den eigenen Standpunkt zu unterstreichen.

Lady Marsden lächelte und sagte nichts weiter, offenbar milde gestimmt durch den eleganten Humor ihres Neffen.

Nicht lange danach trat Mrs. Dodsworth an Griffin heran. Anscheinend war ein dringendes Telefongespräch vom Verwalter des Anwesens in Devon eingegangen. Er eilte ins Haus, um das Gespräch anzunehmen. Cordelia folgte langsamer und mit damenhaften Schritten.

Finley lächelte Emily an, die neben dem finster dreinschauenden Sam herumzappelte. Nur Jasper wirkte vollkommen entspannt. Er beobachtete die anderen beiden, dann drehte er sich zu Finley um. »Kennst du dich mit Jiu-Jitsu oder Kung-Fu aus?«

Sie schüttelte den Kopf, weil sie glaubte, sich verhört zu haben. »Wie bitte?«

»Jiu-Jitsu und Kung-Fu.« Er hob die Fäuste. »Asiatische Kampftechniken.«

Sie starrte ihn an. Er musste wohl den Verstand verloren haben, wenn er ihr so eine Frage stellte. »Nein.«

»Oh. Ich hätte doch angenommen, dass Seine Durchlaucht es dir beigebracht hat. Möchtest du es lernen? Für ein Mädchen wie dich könnte es nützlich sein zu wissen, wie man sich wehrt.«

Sie dachte daran, wie sie Lord Felix bezwungen hatte, und war in Versuchung, ihm zu sagen, dass sie dazu nicht eigens seine geheimnisvollen Kampftechniken lernen musste, doch teilweise musste sie ihm auch zustimmen. Sie wusste nicht, wie man richtig kämpfte, und da sie sowieso immer wieder in Schwierigkeiten geriet, wäre es sicher gut, wenn sie sich verteidigen könnte.

»Ja«, sagte sie, was nicht nur Jasper, sondern auch Emily und Sam in Erstaunen versetzte. »Das würde ich gern lernen.«

Jasper freute sich. »Gegen ein Mädchen habe ich noch nie gekämpft.«

Sie lächelte ihn an und schämte sich überhaupt nicht dafür, dass ihr Lächeln ein wenig schüchtern ausfiel. »Allerdings bin ich nicht irgendein beliebiges Mädchen.«

»Da du anscheinend fähig bist, mich mühelos bewusstlos zu prügeln, hast du sicher nichts dagegen, wenn ich meine Fähigkeiten einsetze.«

Es war keine Frage, doch Finley antwortete, als hätte er ihr eine gestellt. »Natürlich nicht. Ich hoffe aber, du bist ein Gentleman und erklärst mir vorher die Grundlagen.« Sie fragte sich, worin genau seine Fähigkeiten bestanden. Das Geheimnis steigerte ihre Neugier sogar noch.

Er schnitt eine Grimasse. »Es wäre doch höchst unhöflich, wenn ich dies nicht täte.«

»Wartet mal«, schaltete sich Sam ein. »Das ist doch Blödsinn. Du kannst doch nicht gegen ein Mädchen kämpfen. Ganz egal, wie stark sie ist.« Er warf Finley einen Blick zu. »Nimm’s nicht persönlich.«

Finley zog die Augenbrauen hoch, konnte aber nichts mehr sagen, weil Emily ihr zuvorkam. »Samuel Morgan! Was ist das nur für ein Unfug! Es ist völlig egal, ob sie ein Mädchen ist. Sie ist außer dir der stärkste Mensch, dem ich je begegnet bin, du großer dummer Elch!«

Sam errötete sogar ein wenig. »Wenn sie so ist wie jetzt«, er zeigte mit dem Finger auf Finley, »dann ist sie nicht stark. Und ich bin kein dummer Elch.«

»O doch, das bist du«, widersprach Emily. »Außerdem soll sie lernen, ihre beiden Seiten zusammenzubringen, und dafür ist das eine gute Übung.«

Es war Finley peinlich, dass Emily ihre beiden Seiten erwähnte, doch Jasper schien keineswegs überrascht. Entweder hatte Griffin ihn nach ihrem Auftritt am vergangenen Abend eingeweiht, oder es war ihm egal.

»Habt ihr denn hier einen Trainingsraum?«, fragte er.

Emily nickte. »Der alte Ballsaal.«

Der Amerikaner grinste. »Vielen Dank, Emily.«

Die kleine Irin errötete. »Keine Ursache.«

Die vier standen auf und gingen ins Haus, Emily und Sam übernahmen die Führung und stritten hitzig miteinander. Finley lächelte. Vielleicht gab es für die beiden doch noch Hoffnung.

Als sie den Ballsaal betraten, sprang Jasper sofort in den Boxring, der in der hinteren Ecke eingerichtet war. Finley folgte ihm. Er zog die Jacke und das Hemd aus und schien keineswegs verlegen, dass er nun von der Hüfte an aufwärts nackt war. Nicht, dass er einen Grund gehabt hätte, sich seines Körpers zu schämen. Er war durchtrainiert und hatte die Proportionen einer antiken Skulptur. Finley wusste den Anblick durchaus zu schätzen, hatte aber nicht dieses eigenartige Flattern im Bauch, das sie oft in Griffs Nähe verspürte.

Sie war froh, dass sie einen kurzen Rock, ihr Korsett, ein Unterhemd und Stiefel trug. So hatte sie viel Bewegungsfreiheit.

Jasper lehnte lässig an einem Seilspanner, als täte er den ganzen Tag nichts anderes. »Sie haben gewettet«, flüsterte er verschwörerisch und deutete auf Emily und Sam.

»Wirklich?«, staunte Finley. »Ich dachte, das wäre nur eine freundschaftliche Trainingsrunde.«

»Ich auch«, meinte Jasper. »Es scheint, als hätten deine Freunde andere Vorstellungen.«

Es gefiel Finley, dass er sie in den Kreis der Freunde einbezogen hatte, auch wenn sie nicht so naiv war, es ganz und gar für bare Münze zu nehmen. Im Augenblick war sie nur ein Gast, eine Streunerin, die Griffin aufgelesen hatte, weil er sie verletzt und danach Schuldgefühle entwickelt hatte. Es war ihr lieber, wenn sie sich die Achtung der anderen verdiente, statt sie einfach geschenkt zu bekommen.

Jasper bandagierte erst seine und dann ihre Hände mit dünnem Stoff. »Das schützt die Knöchel«, erklärte er und riss einen Streifen mit den Zähnen ab. »Außerdem saugt es den Schweiß auf.«

»Oder das Blut«, ergänzte sie.

Jasper blickte sie an. In den Haselnussaugen blitzte echte Belustigung. »Oder das Blut«, bestätigte er. »Hoffentlich vergießen wir nicht zu viel davon.«

Finley zuckte mit den Achseln. »Meine Wunden verheilen schnell.«

Jasper lachte. »Meine nicht.«

Sie nickte in Richtung der Zuschauer. »Emily kann das in Ordnung bringen.«

Der Cowboy sah sich rasch über die Schulter um. »Emily kann alles in Ordnung bringen.« Zum ersten Mal, seit sich Finley in diesem Haus befand, hatte er vollkommen ernst geklungen. Und es war unverkennbar, dass sich Emily über das Lob freute, während Sam dunkelrot anlief.

Ein Liebesdreieck, dachte Finley. Wie dramatisch. Sie blinzelte. Sarkasmus lag ihr gewöhnlich nicht. Griffins Experiment hatte tatsächlich gewirkt: Ihre beiden Seiten fügten sich zusammen.

Sobald sie bandagiert und bereit war, zeigte Jasper Finley die Grundlagen des Kung-Fu und Jiu-Jitsu. Er führte ihr verschiedene Grundstellungen vor, die wirkungsvollere Angriffe ermöglichten, erklärte ihr, wie sie es zuwege brachte, sich selbst nicht stärker zu verletzen als den Gegner, und wies sie darauf hin, wie wichtig die Beinarbeit war. Jetzt offenbarte er ihr auch, dass seine besondere Fähigkeit darin bestand, sich extrem schnell bewegen zu können. So schnell, dass es einem vor den Augen verschwamm. Finley hatte keine Angst, sie war nur aufgeregt und wollte sehen, was Jasper vollbringen konnte. Ebenso dringend wollte sie herausfinden, was in ihr selbst steckte.

Sie begannen langsam, Jasper gab ihr immer wieder Anweisungen und lockte sie aus der Reserve, während sie durch den Ring tänzelten. Wenn Finley etwas richtig machte, lobte er sie, und wenn sie Fehler machte, hielt er inne und erklärte es ihr.

»Achte immer auf deine Verteidigung«, ermahnte er sie. »Ein gemeiner Gegner zielt auf die Punkte, die dich am schnellsten auf die Bretter schicken – den Kopf, den Bauch und den Unterleib.«

Kaum hatte er ihr die Stellen genannt, da überkam Finley ein boshafter Impuls. Sie ließ einen Schwinger auf seinen Bauch los – so hinterhältig, seine tiefer liegenden Körperteile zu attackieren, war sie dann doch nicht. Jasper hatte es anscheinend geahnt, denn er wich blitzschnell aus. Immerhin grinste er sie an.

»Genau«, sagte er. »An diese Körperteile musst du denken, wenn dir ein Kerl auf die Pelle rückt. Pass nur auf, dass er dich nicht zu früh durchschaut.« Wie um dies zu beweisen, tippte er ihr mit den Knöcheln gegen das Kinn. »Jetzt hätte ich dich erwischt.«

Ein paar Minuten später atmeten sie etwas schneller, und Finley bekam das Gefühl, endlich den Rhythmus dieses eigenartigen Tanzes begriffen zu haben. Ihr Ohr brannte von einem Schlag, dem sie nicht rechtzeitig ausgewichen war, doch auch Jaspers linke Wange glühte nach einem ihrer Hiebe, die das Ziel gefunden hatten.

»Los jetzt, Mädchen!«, rief Emily. Der Blutrausch verstärkte ihren irischen Akzent. »Schick ihn auf die Matte!«

Finley grinste ihren Gegner an, der auf die gleiche Weise reagierte. Er griff an, doch sie duckte sich instinktiv und drosch ihm die Faust in den angespannten Bauch. Die asiatischen Kampfformen waren vergessen und einer gewöhnlichen kleinen Rauferei gewichen.

»Uff!« Er krümmte sich, woraufhin sie ihm sofort noch einen Schlag gegen das Kinn verpasste. Dabei hüpfte sie vor Energie auf den Zehenspitzen.

Als er sich aufrichtete, wirkte er vorsichtig und entschlossen zugleich. »Wie ich sehe, ist dein Freund zum Spielen herausgekommen.«

Sie brauchte einen Moment, um zu erfassen, was er meinte. Er hatte Recht – ihr anderes Selbst war erwacht, doch nicht mit gewohnter Intensität. Gerade weit genug, damit sie sich stark, frei und ein bisschen gemein fühlte. Sie hatte das Gefühl, sie könnte den ganzen Abend kämpfen oder tanzen, besaß aber immer noch die Kontrolle. »So sieht’s aus«, sagte sie.

Jasper lächelte. »Gut. Jetzt bin ich an der Reihe.«

Bevor sie richtig begreifen konnte, was er damit meinte, ging er so schnell auf sie los, dass sie kaum noch reagieren konnte. Es gelang ihm, ihr einen Schlag auf die Schulter zu versetzen.

Ihre dunkle Seite besaß einen viel besseren Instinkt und reagierte erheblich schneller, also griff sie nach dieser besonderen Gabe, duckte sich und wich aus, während sich der Amerikaner schneller bewegte, als es einem normalen Menschen möglich gewesen wäre.

Er drängte sie in eine Ecke, wo sie auf den Seilspanner stieg und mit einem Überschlag über seinen Kopf hinwegsetzte. Dann verpasste sie ihm von hinten einen Haken in die Nieren. Ihre Freude war jedoch nicht von Dauer, denn er keilte rückwärts aus und trat ihr beide Beine weg.

Emily rief ihr zu, sie solle wieder aufstehen, und Sam feuerte Jasper an, doch sie und der Cowboy standen nur da und beobachteten einander.

Aus dem Augenwinkel – auch ihre Sehfähigkeit war viel besser, wenn die dunkle Seite das Sagen hatte – bemerkte Finley, wie Griffin die Tür des Ballsaals öffnete und hereinkam. Wieder verspürte sie dieses seltsame Flattern im Bauch, doch sie war nicht sicher, ob es mit Griffin oder dem dunklen, beinahe finster aussehenden jungen Mann zu tun hatte, der ihn begleitete. Was zum Teufel hatte Jack Dandy hier zu suchen?

Genau diese Frage hätte sie gern gestellt, doch Jasper nutzte ihre Unachtsamkeit sofort aus und schlug zu – hart und schnell. Er hatte keine Ahnung, wie abgelenkt sie wirklich war, und verpasste ihr mühelos einen Kinnhaken.

Der Schmerz schoss durch ihr Gesicht, Sterne tanzten vor ihren Augen, als ihr Kopf zurückflog und ihre Knie weich wurden. Finley stürzte schwer auf die Matte.