22
Zuerst sah ich nichts. Mein Blickfeld war von einem schwarzen Schleier aus ätzendem Rauch vernebelt. Aber dann zog eine Brise durch mein Haar und schob den Rauch beiseite, sodass ein einfacher Raum mit ein paar Fenstern sichtbar wurde, durch die man hinaus ins Nichts sah.
Vor mir stand Alistair Duncan mit dem Rücken zu mir. Er war von einer schleimigen Aura umgeben, die um ihn herumwaberte und durch ihre silbergraue Farbe an Öl erinnerte. Wahrscheinlich hatte er diese Aura schon immer gehabt, was erklären würde, warum ich in seiner Nähe eine Gänsehaut bekam.
„Ich bin sehr enttäuscht von dir“, sagte er. Seine Stimme schien von unten, aus einem langen Tunnel zu kommen, und seine Lippen bewegten sich nicht wirklich synchron zu seinen Worten.
Durch die leicht schräge Perspektive, mit der ich in den Raum blickte, sah ich hinter Duncan noch eine weitere Gestalt, eine große, verschwommene Figur, deren Haut ganz und gar golden schimmerte. Die Aura dieser Figur war so dunkel, dass sie wie ein schwarzes Loch die Magie aus der Luft sog.
„Du bist nichts weiter als eine Puppe“, sagte Duncan. „Eine Puppe, in die ich sehr viel Zeit und Energie investiert habe, und du wirst mir gehorchen.“
Die Figur mit der goldenen Haut schaute mir in die Augen, und ich fühlte mich, als habe jemand mein Herz in Eisbeutel eingewickelt. Sie lächelte, und ich spürte dabei ihre Worte in meinem Kopf. „Befrei mich, Luna.“
Wie, zum Teufel, konnte diese fremdartige Gestalt mit ihrer unmenschlich leeren Aura meinen Namen kennen? Sie starrte mich mit einem Blick an, der nicht nur schmerzte, sondern sich auch so anfühlte, als würde er sich durch Fleisch brennen und Geheimnisse sehen können.
„Alistair.“ Eine Stimme unterbrach den Rausch meiner Vision, und Duncan drehte seinen Kopf nach rechts.
„Was bei den Hex Riots könnte wohl so wichtig sein, um uns jetzt zu unterbrechen?“
„Stephen ist verschwunden, Alistair.“
Duncan fluchte und verschwand aus meinem Blickfeld. Als er wieder zurückkehrte, zog er einen der beiden Schläger hinter sich her, die mich im Mavens festgehalten hatten, als Cassandra mich mit dem Messer bearbeitete. Duncan drückte ihn runter auf die Knie und zeigte auf etwas am Boden, das ich aber nicht sehen konnte. Der Muskelprotz fauchte, als er den Boden berührte, und ich konnte nur ahnen, was Alistair dort für einen Kreis aufgezeichnet hatte. Wahrscheinlich war er schwarz und voller sich windender und zuckender magischer Elemente, die unglaubliche Kopfschmerzen verursachten – das schien sein Stil zu sein.
„Wenn du ihn nicht findest, wirst du den Rest deines Daseins im unvollkommenen Kreis fristen. Habe ich mich klar ausgedrückt?“
Der Muskelprotz wand sich in Duncans Griff. „Ja, völlig klar! Aber er ist doch nach Hause gegangen!“
Duncan ließ ihn los. Die goldene Figur hatte sich das Schauspiel mit einem schiefen Grinsen angesehen, und ich erkannte in diesem Moment, warum der von Duncan Gepeinigte nicht vollkommen ausgerastet war – nur Duncan und ich konnten sehen, was wirklich in dem Kreis war.
Der Nebel verdichtete sich wieder, und plötzlich hatte ich das Gefühl, dass sich der Boden unter meinen Füßen drehte und schließlich in die Tiefe stürzte. Die Stimmen von Duncan und seinem Handlanger verzerrten sich. Anscheinend hatte die Wirkung des Nachtschattens nachgelassen.
In der Vision drehte ich mich auf der Suche nach einem Orientierungspunkt und war durch die schwindelerregende Bewegung kurz davor, mich übergeben zu müssen.
„Warum ist er nach Hause gegangen?“, wollte Duncan wissen, und als er den Befragten ansah, fiel mein Blick auf ein Symbol an der Wand hinter dem Kopf des Schlägers. Es war der Buchstabe A in doppelter und ineinander verschlungener Ausführung. Appleby Acres – Ghosttown.
„Er sagte, er müsse sie besuchen“, antwortete der Gefragte. „Seine Worte ergaben keinen Sinn, Alistair.“
Duncan gab dem Muskelprotz einen Tritt und wandte sich von ihm ab. Dann drehte er sich wieder zum Kreis, aber der goldene Dämon war bereits verschwunden und hatte nichts weiter als die verblasste Erinnerung an seine Aura hinterlassen. „Nein! Hex noch mal!“, schrie Duncan und trat dabei wütend mit dem Fuß auf die Markierungen, sodass er den Kreis öffnete. „Finde ihn, oder du wirst derjenige sein, den wir an Meggoth verfüttern!“
Der Gepeinigte kroch aus dem Zimmer, und vor meinen Augen wurde es schwarz.
Als ich im nächsten Moment wieder zu mir kam, sackte ich über dem Tisch zusammen, und der Geruch verbrannten Nachtschattens in meiner Nase ließ mich würgen. Ich fühlte mich schwach, aber doch aufgewühlt, und als ich meinen Kopf anhob, krampfte sich mein Magen zusammen.
„Luna.“ Dmitri hob mein Kinn mit seiner Hand an. „Da bist du ja wieder.“
Ich hustete ein paarmal und nickte Dmitri zu. „Ich habe ihn gesehen.“
„Wo?“
Ich griff nach meinem Notizblock und malte mit einem Stift schnell das Symbol aus der Vision auf. „Ich weiß nicht genau. Irgendwo in Ghosttown. An der Wand ist das alte Appleby-Acres-Symbol von vor den Riots.“
Nach einem Blick auf meine Zeichnung erwiderte Dmitri: „Der einzige Ort, den die Rudel noch nicht übernommen haben, ist das Gebäude der alten Wohnungsbaubehörde. Da gibt’s aber nichts weiter außer ein paar verlassenen Büroräumen und alten Telefonen mit Drehwahlscheiben.“
„Wurde es während der Riots durch die Feuer beschädigt?“
„Teilweise“, entgegnete Dmitri und half mir beim Aufstehen. „Einige der Büros haben es aber ganz gut überstanden.“
Nachdem mich Dmitri auf dem Weg hinaus zum Motorrad gestützt hatte, schloss ich hinter uns sorgfältig die Tür des Häuschens meiner Großmutter ab. „Dann werden wir dort Alistair Duncan finden.“
„Ist Duncan der, der Lilia ermordet hat?“, fragte Dmitri, und ich nickte.
„Ich werde ihn töten.“
„Unmöglich, Dmitri. Der Mann ist Bezirksstaatsanwalt. Wenn du ihn aus Rache für Lilia tötest, sitzt du schneller in einer luftdichten Kammer und atmest Zyanidgas ein, als du Justizmissbrauch sagen kannst.“
Dmitris Gesicht versteinerte sich zu einer hässlichen und zu allem entschlossenen Maske, die mir Angst machte. Ich kannte den Blick der Gewalt, und wenn dieser Blick so schnell und so wutentbrannt in einer Person aufflackerte, konnte man nur noch hoffen, ihr schnell genug aus dem Weg zu gehen. „Es ist mir egal“, sagte er. „Seit Lilias Tod ist mir alles egal. Ich wusste, dass ich nicht lebend aus der Sache rauskomme, aber ich möchte verdammt sein, wenn der Bastard einfach so davonkommt.“
„Er ist ein Bluthexer, Dmitri, mit fast dreißigjähriger Erfahrung. Du wirst ihn nicht töten können. Lass uns lieber Stephen finden und dafür sorgen, dass er in Sicherheit ist. Alistair ist eine Nummer zu groß für dich allein.“
„Er ist nur ein Mensch … und blutet wie alle anderen auch“, meinte Dmitri.
Ich biss mir auf die Lippe, während er sich aufs Motorrad setzte und mich so lange zornig anstarrte, bis ich auch aufstieg.
„Ich bin mir nicht mehr sicher, ob Duncan noch ein Mensch ist“, sagte ich leise. Dann gab Dmitri Gas, und wir brausten unter dem lauten Dröhnen des Motors von den Cliffs zurück in Richtung Nocturne City.
Zu meiner letzten Bemerkung schwieg Dmitri.
Als Dmitri in der Straße von Alistair Duncans Haus hielt, fielen mir als Erstes die alten Gaslampen auf. Sie warfen ein flackerndes, orangeglühendes Licht auf das Pflaster, das alle Kanten aufweichte und die gesamte Straße wie in einer weich gezeichneten Traumsequenz erscheinen ließ.
„Warte hier auf mich“, flüsterte ich Dmitri zu.
„Auf keinen Fall“, knurrte er. „Ich lass dich nicht allein in das Haus gehen.“
„Wenn du mit reinkommst, dann wirst du nur die Spuren am Tatort verwischen. Das kann ich nicht riskieren.“
Dmitri knurrte und machte Anstalten, mir zu folgen. Daraufhin legte ich meine Hand flach auf seine Brust, um ihn zu stoppen. „Ich komme klar. Wirklich.“
„Wenn ich irgendwas höre, komme ich rein“, erklärte er.
Ich antwortete nicht. Das mit dem Tatort war natürlich eine lächerliche Ausrede, aber Dmitri war nett genug, um sie mir zuliebe trotzdem zu akzeptieren. Selbst jetzt noch hielt ich an meiner Fantasie fest, nach der ich Duncan einfach nur auf frischer Tat ertappen musste, um nicht nur meinen Job wiederzubekommen, sondern auch meinen guten Ruf wiederherzustellen.
Duncans Haus war dunkel. Auf der untersten Stufe der Treppe zur Eingangstür lag ein Stapel Zeitungen. Die Blumen in den Lehmpflanzkübeln vor dem Haus waren verwelkt, und an der Tür flatterten zwei Benachrichtigungszettel des Paketdienstes.
Ich zog meine Waffe aus dem Hosenbund, machte die Fliegentür auf und ließ den Türklopfer fallen. Einmal. Zweimal. Keine Antwort.
Mit einem Blick in die Straße stellte ich fest, dass nur in wenigen Häusern noch Licht hinter den Bleiglasfenstern brannte. Eine Windböe sauste durch das Laubkleid der Bäume auf der Straße und zerzauste mein Haar.
Ich zog die geborgte Jacke aus und wickelte sie um meine Hand. Dann betete ich kurz, dass Duncan keine teure Alarmanlage in seinem teuren Haus installiert hatte, und schlug die Glasscheibe der Tür ein.
Die Scheibe zerbrach, und sofort klirrten die Scherben ins Haus, wo sie mit dumpfem Geräusch auf dem Läufer im Vorzimmer aufschlugen. Als ich die Jacke betrachtete, fand ich ein langes und anscheinend irreparables Loch auf dem Rücken. Toll. Noch ein Grund mehr für Olya, mir auf die Nerven zu gehen.
Ich warf einen Blick über meine Schulter in Richtung Straße, wo Dmitri gegen sein Motorrad gelehnt stand. Die brennende Zigarette ließ sein Gesicht hinter dem glühenden Punkt wie eine ausdruckslose schwarze Maske erscheinen.
Als sich unsere Blicke trafen, stand er sofort auf, aber ich winkte ihm zu, dass er dableiben solle. Dann schob ich meine Hand durch das ausgezackte Loch im Glas der Tür und öffnete das altmodische Riegelschloss. Unvorsichtigerweise zog ich meinen Arm zu schnell zurück, sodass ich mir einen L-förmigen Schnitt auf der Handfläche zufügte. Ich biss mir auf die Lippe und schluckte den Schmerz hinunter. Wenn Stephen oder Duncans kleine Vampirbrigade, oder eine Kombination aus beiden, im Haus saßen, wäre es fatal, sie durch übermäßige Geräusche wissen zu lassen, dass da jemand zur Vordertür hereinspazierte -zumal ich noch nicht bereit war, richtig auszuteilen.
Als sich hinter mir die Tür schloss, knirschten die alten Scharnierfedern. Die Luft in Duncans Haus war sehr dicht und mit einer unangenehmen Note aufgeladen – scharf und überwältigend zugleich. Sie legte sich sofort auf meine Zunge und geriet in meine Kehle, und ich musste mich anstrengen, um nicht zu würgen.
Im Wohnzimmer lag ein ganzer Haufen angekohlter Holzscheite im offenen Kamin, in der Küchenspüle stapelte sich das Geschirr, und der Mülleimer quoll über vor benutzten Papptellern. Im Hintergrund war das leise Summen von Fliegen zu hören. Obwohl ich nicht ins Bad geschaut hatte, vermutete ich dort ähnliche Zustände.
Duncans Arbeitszimmer hingegen war makellos aufgeräumt, aber mit einer Staubschicht bedeckt. Auf seinem riesigen, hellbraun lackierten Schreibtisch lag nur ein einziges Dokument: der Bericht zur Verhaftung von Stephen. Auf der ersten Seite stand am unteren Rand in feinen schwarzen Buchstaben der Name des verhaftenden Beamten – es war meine Unterschrift.
Der Rundgang durch die Zimmer im Erdgeschoss brachte mich schlussendlich wieder zur Diele zurück, wo ein breiter Treppenaufgang nach oben führte. Im ersten Stock war die Luft noch dichter als unten und dazu auch noch weitaus wärmer, sodass auf meinem schwarzen Shirt vereinzelte Schweißflecken auftauchten.
Von dem schmalen Flur gingen drei Zimmertüren ab. Ich stieß die erste auf, machte schnell einen Schritt zurück und suchte dann mit vorgestreckter Waffe nacheinander die Ecken des Zimmers ab. Es war ein Gästezimmer mit lavendelfarbener Ausstattung, das anscheinend von Duncans Frau vor ihrem Tod eingerichtet worden war.
Hinter der nächsten Tür verbarg sich Stephens Zimmer, das mit den rot-goldenen Farben der Alder Bay Academy und dazu passenden karierten Tapeten dekoriert war. Über dem Bett hing ein Poster, auf dem Stephen in seiner Lacrosse-Uniform posierte, und auf dem Bücherregal standen nur wenige Bücher, dafür aber jede Menge Trophäen – kein Wunder, dass das Bürschchen so neben der Spur war.
Die letzte Tür am Ende des Flurs führte in einen großen Raum, der die gesamte hintere Hälfte des Hauses einzunehmen schien. Der Geruch war hier noch schlimmer, und als ich den Türknauf anfasste, merkte ich, dass er ganz klebrig war.
Etwas Dunkles rumorte in meinem Bauch. Ich wollte nicht. Wollte die Tür nicht öffnen.
Dann schloss ich die Augen, atmete aus und drückte die Tür mit einem Ruck auf. Mit ausgestreckter Waffe zielte ich blind ins Zimmer. Nichts. Keine Dämonen, keine Monster, niemand, der nach mir griff oder meinen Arm packte.
Einen Sekundenbruchteil später öffnete ich die Augen und erstarrte. Bei dem Anblick, der sich mir bot, arbeitete sich eine panische Angst in mir nach oben, und als sie endlich in meinem Bewusstsein angekommen war, konnte ich nichts anderes tun, als nach Dmitri zu schreien. Vor mir, auf dem Fußboden von Alistairs Schlafzimmer, lagen drei Frauenkörper mit weit ausgestreckten Gliedmaßen. Alle drei waren verstümmelt. Alle drei waren tot.
Es kam mir zwar wie Stunden vor, aber wahrscheinlich dauerte es keine zehn Sekunden, bis Dmitri die Vordertür eintrat, die Treppe nach oben stürzte, und mich am Arm von der offenen Tür wegzog. „Verdammt!“, brummte er mit einem Blick in das Zimmer.
„Hoskins“, presste ich heraus. „Hoskins hat gesagt, er würde sieben brauchen.“
„Das ist eine verdammte Scheiße“, wetterte Dmitri. „Einfach nur Scheiße.“
Ich löste mich aus seinem Griff und ging in das Zimmer. An die vier Wände waren Sigillen gemalt. Sie waren riesig, und obwohl sie Stephens Markierung nicht sonderlich ähnlich sahen, wirkten sie doch genauso abscheulich und verzerrt. Ihr Anblick löste nicht nur einen Schmerz hinter meiner Stirn aus, sondern sorgte auch für ein heißes Brennen auf meiner Haut. Wenn man sie zu lange anstarrte, schienen sie sich zu drehen und langsam zum Leben zu erwachen – unzählige blutige Fangarme brachen aus ihnen hervor, die gierig nach mir zu greifen schienen.
Die drei Frauen waren ordentlich auf dem Boden aufgereiht worden wie Holzscheite vor einem Kamin. Ein Bettgestell mit einer billigen Matratze war das einzige Möbelstück im ganzen Raum, und es war beides über und über mit dem Blut der Frauen bedeckt.
„Bleib draußen, Dmitri, ich will mir erst die Leichen ansehen.“ Bei allen Frauen fehlte die Kehle, und als ich ihre Hände einzeln anhob, waren sie so schlaff wie bei Leichen, die schon einige Tage tot sind. Die anfängliche Leichenstarre lässt mit der Zeit nach, und dann werden die Körper so biegsam wie Spielzeugpuppen. Ihre Gesichter waren starr im Angesicht des blutigen Entsetzens und der Todesangst verzerrte Grimassen. Trotzdem erkannte ich, dass es sich bei ihnen um Frauen handelte, die zu den ungelösten Vermisstenfällen des letzten Jahres gehörten.
Als ich ihre Augen schloss, flüsterte ich den dreien zu: „Es tut mir leid.“ Dann suchte ich das Zimmer nach etwas Verwertbarem ab, aber Duncan hatte alle Instrumente seines Rituals beseitigt, sodass außer den Leichen nichts geblieben war.
Ich setzte mich auf die Ecke der blutbesudelten Matratze und legte meinen Kopf zwischen die Hände. Ich war zu spät gekommen. Stephen war verschwunden, Alistair – oder wer auch immer er in Wirklichkeit war – hatte bereits sechs Opfer und war wieder einmal entkommen, und alles, was ich vorzuweisen hatte, war ein Rausschmiss, ein weiterer blutverschmierter Tatort und Dmitri, der mich von der Tür aus mit seinen grünen Augen durchbohrte.
„Ich habe schon einiges gesehen“, sagte er. „Aber so etwas noch nicht.“
Ich wollte eigentlich antworten Du nicht und ich auch nicht -aber der Stolz des harten Cops in mir ließ die Worte nicht über meine Lippen kommen. „Mit Lilia, Marina und Katya sind das jetzt insgesamt sechs.“
Dmitri runzelte die Stirn. „Ich schätze mal, dass es mir gar nicht gefallen würde, wenn er es bis zur Lucky Seven schafft, oder?“
„Dann wird Meggoth frei sein und tun können, was er will.“
„Meggoth?“, fragte Dmitri und wischte sich mit der Hand übers Gesicht.
„Das ist einer der Namen des Dämons, den Alistair Duncan freisetzen will.“
Er seufzte. „Okay. Und wie killen wir den Bastard?“
„Das musstest du jetzt fragen, oder?“, stöhnte ich. In Duncans Schlafzimmer war es schätzungsweise um die sechsundzwanzig, siebenundzwanzig Grad warm, und der Geruch war widerlich. Ich war erschöpft und zitterte noch von dem Schock. Trotzdem stand ich auf und steckte dabei den Colt in den Hosenbund. Es gab keine andere Wahl, ich musste es jetzt durchziehen – für Sunny und die toten Mädchen, und wenn ich ehrlich war, auch für Dmitri und seine Blutschuld gegenüber Lilia.
Plötzlich hörte ich ein klickendes Geräusch über mir und schaute in Richtung Decke.
Auch Dmitri, der lässig am Rahmen der Tür lehnte, spannte sich an. „Was, zum Teufel, war das?“
Ich gab ihm mit einer Geste zu verstehen, dass er schweigen sollte, und zog die Pistole aus meinem Hosenbund. In der gegenüberliegenden Wand befand sich eine kleine Tür, die offenbar auf den Dachboden des Hauses führte. Vorsichtig ging ich an den toten Mädchen vorbei auf die Tür zu, die zwar fest verschlossen, aber nicht abgeschlossen war, und zog sie auf.
„Vorsichtig …“, flüsterte Dmitri.
Ich winkte ab und drückte auf den Lichtschalter am Treppenanfang. Das Licht funktionierte nicht, und so musste ich wohl oder übel im Dunkeln auf den Dachboden eines Bluthexers hinaufsteigen – müßig zu erwähnen, wie mir zumute war.
Im Unterschied zum Rest des komfortablen alten Hauses war die Dachbodentreppe schmal und nicht mit Teppich ausgelegt, sondern mit alten Nägeln gespickt, die in den eigenartigsten Winkeln aus dem Holz ragten und für einen unvorsichtigen Fuß böse Überraschungen bargen.
Mit meiner Stiftlampe tastete ich mich langsam vor und stieß neben Spinnennetzen auch noch auf jede Menge Pappkartons mit Aufschriften wie WEIHNACHTEN, STEPHEN und DIANES PROJEKTE. Diane Duncan war Alistairs Frau gewesen, und ich fragte mich beim Anblick des Kartons, ob sie gewusst hatte, was ihr Mann die ganze Zeit über im Schilde führte. Es gibt durchaus Frauen, die derartige Aktivitäten bei Männern absolut unwiderstehlich finden und in gewissem Maße Rockgroupies gleichen. Der feine Unterschied besteht darin, dass sie ihr Liebster unter Umständen einer herbeigerufenen Wesenheit zum Fraß vorwirft oder sie als Vehikel oder Kanal für einen Zauber ihres Angebeteten herhalten müssen. Am besten eignet sich dafür das unschuldige Blut einer schönen Frau, wenn irgend möglich einer Jungfrau ohne magische Fähigkeiten.
Ich nieste in den Ärmel meines Shirts. Der Dachboden war dunkel, staubig und schien absolut menschenleer. Allerdings war ich mir sicher, dass ich mir das Geräusch nicht eingebildet hatte. Ich reckte meine Nase vor, um noch einmal Witterung aufzunehmen, bevor der Staub mein Riechorgan vollends verstopfte.
Just in diesem Moment hörte ich ein Winseln aus der Ecke am Ende des Dachbodens, und auch meine Nase sagte mir jetzt, dass hier ein lebender Mensch sein musste. Als ich ein paar Schritte in Richtung des Winselns machte, sah ich im Schein meiner Lampe ein blutverschmiertes Gesicht mit blondem Haar.
„Nun, Stephen“, sagte ich, ohne meine Pistole von ihm abzuwenden. „Mir scheint, wir sollten langsam aufhören, uns immer wieder unter solch unerfreulichen Umständen zu treffen! Jedes Mal, wenn wir uns sehen, sind Sie von oben bis unten mit Blut besudelt, und jedes Mal halte ich Ihnen eine Knarre an den Kopf.“
„Gehen Sie weg“, fauchte er mich an.
„Das ist ja mal eine ganz originelle Antwort. Haben Sie vielleicht noch ein paar Klassiker auf Lager, Stephen? Wie wärs mit Der Werwolf hat ihr das angetan? An dem Spruch hatte ich nämlich eine ganze Weile zu knabbern.“
„Ich habe es Ihnen gesagt“, flüsterte er. „Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich es nicht gewesen bin.“
„Und das glaube ich Ihnen auch“, versuchte ich ihn zu beschwichtigen. Ich war allerdings noch nie gut darin gewesen, Leute durch Reden zu besänftigen – bei Selbstmördern und Geiselnehmern würde ich auf ganzer Linie versagen. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum ich mich bei der Mordermittlung ganz gut schlug. Dort gab es keine aufgebrachten Leute mehr, die es zu beruhigen galt, da meine Kunden in der Regel tot waren.
Nachdem Stephens wilde Augen mich gemustert hatten, kauerte er sich noch tiefer in seine Ecke. „Verschwinden Sie!“, schrie er. „Er sieht alles, was ich tue!“
„Wenn Sie von Lockhart sprechen – der ist im Moment nicht da. Auch dieser billige Robert-Smith-Abklatsch, den Alistair auf Sie angesetzt hat, ist nicht hier. Nur Sie und ich. Zwei Personen, die sich unterhalten.“
„Sie verstehen das nicht“, sagte Stephen.
„Dann erklären Sie s mir doch“, erwiderte ich leise. Hinter mir knirschten die Treppenstufen unter schweren Bikerstiefeln, und als Dmitri Stephen erblickte, musste er tief Luft holen.
„Bei den Hex Riots!“
„Die Phasen, die Wandlung …“, stammelte Stephen. „Ich kann es nicht kontrollieren. Er bestimmt, wann es über mich kommt. Er benutzt mich. Mein Vater. Er hat mich gezwungen. Ich habe diese Mädchen da unten getötet. Die Nutte auf der Straße. Marina …“ Er zitterte. „Ich kann nicht … dieses Monster. Ich werde nicht mehr dieses Monster sein.“
„Beruhigen Sie sich“, sagte ich. „Ehrlich. Ich verspreche Ihnen, dass Alistair Ihnen nichts mehr tun wird.“
Stephen lachte nur – es war ein unheimliches Lachen, trocken und hervorgewürgt. „Sie können mich nicht schützen, Detective. Aber versuchen Sie s ruhig.“ Er erhob sich aus seiner kauernden Haltung und setzte sich gerade hin. Als er ins Licht schaute, zogen sich seine Pupillen so stark zusammen, dass seine Augen fast komplett weiß zu sein schienen. „Es wird kommen. Ich kann es schon fühlen. Warten Sie nur.“
„Wann haben Sie herausgefunden, dass Ihr Vater … äh … dass er eine Vorliebe für Magie hat?“, fragte ich. Solange ich Stephen irgendwie beschäftigen konnte, stand die Sache zu meinen Gunsten.
„Wir verschwenden hier nur unsere Zeit“, brummte Dmitri.
„Sei ruhig“, zischte ich ihm zu.
„Vor einer langen Zeit“, sagte Stephen. „Ich bin in den Norden gegangen, zur Schule. Dort konnte er meine Markierung nicht so leicht anrufen. Aber dann starb meine Mutter, und ich musste zurück zu ihm. Wissen Sie, was er nach ihrer Beerdigung zu mir gesagt hat? Die Hure hätte nun gekriegt, was sie verdient habe … verdient habe …“ Plötzlich wölbte sich sein Rücken, und seine Gesichtszüge kräuselten sich. Es schien ein Mini-Erdbeben über seine Haut zu laufen, und ich wich instinktiv einen Schritt zurück.
„Ich hab versucht, Sie zu warnen“, stöhnte Stephen. „Ich hab s versucht. Er hat das Monster in mich gesetzt, und jetzt gibt es keinen Ausweg mehr für mich. Ich werde es nicht mehr los …“ Sein Gesicht verzerrte sich erneut, und als sein Körper dann von einem heftigen Krampf erfasst wurde, schrie er auf.
Plötzlich schienen Stephens Augen die Umwelt wieder normal zu fokussieren. „Gehen Sie!“ Seine Stimme war jetzt klar und verängstigt, aber menschlich. Wahrscheinlich hatte er so geklungen, bevor Alistair die Bestie in ihn gepflanzt hatte. „Er braucht noch eine. Verschwinden Sie lieber. Jetzt …“
Es erfasste ihn, noch bevor er den Satz beenden konnte. Unzählige Male hatte ich selbst schon die Wandlung durchgemacht. Ich kannte jedes Muskelzucken, jeden einzelnen stechenden Schmerz, wusste, wie furchterregend und gleichzeitig ekstatisch man sich wand und sich letztendlich in den Wolf verwandelte. Trotzdem hatte ich bis zu diesem Moment noch nie einem anderen Menschen dabei zugesehen.
Stephens Gesicht verlängerte sich im Kieferbereich, und im nächsten Moment fiel er vornüber und landete auf allen vieren.
In dieser Haltung zuckte sein Körper heftig und krampfte sich zusammen, bis aus der Hautoberfläche Haare sprossen und das blutige Shirt sowie die Hose von ihm abplatzten.
Dmitri ergriff meinen Arm. „Wir müssen hier schleunigst verschwinden.“
„Warte!“ Ich konnte meinen Blick nicht von Stephen abwenden. Er hatte sich nun vollständig gewandelt und ähnelte doch keinem der Werwölfe, die ich bisher gesehen hatte. Viel eher glich er den Vorstellungen der Menschen, die noch nie einen richtigen Werwolf zu Gesicht bekommen hatten: eingefallene Wangen, eine verlängerte Kieferpartie, ein Paar kurze, stummelige Ohren und ein grau geflecktes Fell, das einen unförmigen Körper und einen aufgeblähten Bauch bedeckte. Besonders auffällig waren die Zahnreihen. Aus seinem Kiefer ragten fünf Zentimeter lange, spitze Zähne, zwischen denen die rote Zunge an einer Seite aus dem Maul baumelte.
Der Werwolf richtete seine gelb-rosafarbenen Augen auf mich und presste ein feuchtes Knurren hervor, sodass schwarzer Speichel von den Angst einflößenden Zähnen tropfte.
„Luna“, zischte Dmitri in mein Ohr. „Mach keine plötzlichen Bewegungen, sondern geh langsam von ihm weg. Alles andere macht ihn nur verrückt.“
In diesem Moment war ich leider viel zu verängstigt, um Dmitri zu sagen, dass er ein unglaubliches Talent dafür hatte, stets schlaue Kommentare über das Offensichtliche zu machen. Er zog heftig an meinem Arm, und ich trat einen kleinen Schritt zurück. Dann noch einen. Und beim nächsten spürte ich schon, wie die etwas kühlere Luft aus dem ersten Stock meinen Hals kitzelte.
Stephen tapste auf seinen missgebildeten Pranken auf uns zu, und bei jedem Schritt kratzten seine gebogenen schwarzen Klauen auf dem blanken Holz des Dachfußbodens. „Geh weiter“, murmelte Dmitri. „Bleib jetzt bloß nicht stehen, Luna.“
Der Werwolf vor uns öffnete sein Maul und brüllte. Er brachte den kleinen Dachboden zum Beben und ließ mich vor Schreck und Angst fast aus der Haut fahren. In seinen tränenden Augen spürte ich eine Intelligenz, die nicht menschlich, dafür aber weitaus stärker als die aller Werwölfe war, die ich bis zu diesem Tag getroffen hatte. Aus Stephens Augen starrte uns etwas anderes an, und diesem Etwas schien es gar nicht zu gefallen, dass wir ihm zu entkommen versuchten.
Mit einer raschen Bewegung drehte ich mich zu Dmitri um, und als sich unsere Blicke trafen, rief ich: „Lauf!“
Diesmal diskutierte Dmitri noch nicht mal, sondern ließ kurzentschlossen meinen Arm fallen und rannte los. Mit ein paar Sätzen hastete er die Treppe hinunter, und ich flog ihm nach. Unten angekommen, schlug ich die Bodentür hinter mir zu und versuchte, mit meinen vom Blut der Mädchen rutschigen Fingern den Türriegel zu schließen. Erfolglos. Dmitri schob mich hastig beiseite und rammte den Riegel genau in dem Moment ins Schloss, in dem auf der anderen Seite der schwere Körper des Werwolfs mit voller Kraft gegen die Tür krachte. Die Wand erbebte, und aus dem Türrahmen flogen Holzsplitter auf unserer Seite zu Boden.
„Bei den allmächtigen Feuern der Hex Riots“, keuchte Dmitri, während er sich mit dem Rücken gegen die Tür stemmte. „Hast du jemals so etwas gesehen?“
„Nein, und ich bin auch froh drüber“, antwortete ich. „Jetzt komm schon!“
Er schüttelte den Kopf. „Geh du. Ich werde ihn so lange aufhalten wie möglich.“
Ich griff Dmitri am Reißverschluss seiner Jacke. „Jetzt spiel hier nicht den Helden. Das ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt dafür.“
Mit einem wütenden Knurren versuchte er mich abzuschütteln, als sich Stephen von der anderen Seite erneut gegen die Tür warf. „Ich komm schon klar. Hau ab, solange du noch kannst.“
Männer!
Ich griff fester zu und zog Dmitri auf meine Augenhöhe hinunter. „Ich bin keine Jungfrau in Nöten. Und du bist nicht der Scheißritter in der glänzenden Rüstung. Kapiert?“
Nach einem Moment nickte er. „Kapiert.“
„Gut. Dann renn um dein Leben.“
Als Stephen einen Augenblick später mit lautem Krachen durch die Tür brach, war Dmitri trotz der Panik des Moments so umsichtig, meine Hand zu greifen, und strafte all jene Lügen, die behaupten, es gäbe bei Werwölfen keine Tugenden mehr.
Wir kamen allerdings nur bis zum Flur. Dann hatte Stephen uns eingeholt und stieß hinter uns wieder dieses nasse, unnatürliche Knurren aus. Ich fuhr herum und zog wie aus einem Reflex die Pistole aus dem Hosenbund. Stephen spannte seine Muskeln an und sprang dann in einer für seinen deformierten Körper überraschend flüssigen Bewegung auf mich los und rammte mich. Durch die Wucht seines Gewichts prallte ich rückwärts gegen Dmitri und riss ihn mit mir zu Boden. Die Waffe schlitterte über das Geländer aus meinem Sichtfeld und war damit erst mal außer Reichweite.
Als ich wieder Luft bekam und die beiden sich drehenden schwarzen Kreise vor meinen Augen verschwanden, war ich einigermaßen erstaunt, dass Stephen noch nicht über mir kauerte, um seine Zähne in mich zu versenken. Stattdessen tapste er über uns hinweg, wobei er mir unbeholfen über den Brustkorb latschte, und lief dann die Treppe hinunter, um zur Vordertür hinaus zu fliehen. Kurz darauf hörte man auf der Straße die Reifen bremsender Autos quietschen.
Ich entwirrte meine Gliedmaßen aus dem Knäuel, das Dmitri und ich bei unserem Sturz gebildet hatten, und rannte dem Werwolf nach. Auf der Terrasse angekommen, sah ich nur noch, wie er im gegenüberliegenden Park verschwand und noch mal kurz seine gelb-rosafarbenen Augen aufblitzen ließ, bevor ihn die Bäume verschlangen.
Im nächsten Moment ließ ich mich auf die Knie fallen und sog erst mal ein paar Züge kostbare, frische Luft in meine Lungen. Nach ein paar Sekunden kam auch Dmitri aus dem Haus.
„Scheiße!“, sagte er und schlug mit der Hand gegen die Wand. „Wir haben ihn verloren!“
„Und du bist ernsthaft böse deswegen?“, fragte ich. „Hast du nicht gesehen, was für riesige Zähne er hatte?“
Aus einer Tasche in Dmitris Jacke erklang der Klingelton seines Handys. Wir beide sprangen sofort nervös auf. Mit einem Grinsen sagte ich: „Hätte nicht gedacht, dass du auf Barry Manilow stehst.“
„Klappe“, schoss er zurück, bevor er ranging. Im nächsten Moment reichte er mir das Telefon; „Deine Cousine.“
„Du musst dir wirklich ein neues Handy besorgen“, blaffte mich die Stimme meiner Cousine an, nachdem ich „Hallo, Sunny“ gesagt hatte.
„Wird sicher nicht ganz einfach, bei meinem ehemaligen Arbeitgeber ein neues Handy anzufordern und als Erklärung für den Verlust des alten nur so was wie Mein Telefon wurde von einem bösen Wesen geschmolzen angeben zu können.“
„Das Schloss für Marcus Spruchbuch ist nicht sonderlich ausgefeilt“, sagte Sunny. „Er war nicht gerade ein begnadeter Hexer, und außerdem ist seine Handschrift saumäßig.“
„Wann wissen wir, was drinsteht?“, fragte ich.
„Schon sehr bald“, erwiderte Sunny. „Du musst mir bloß ein paar Sachen für den Zauber von zu Hause mitbringen.“
Während Sunny die Liste an Utensilien und Zutaten runterratterte, schaute ich mich von der Terrasse aus in der Gegend um, ob Stephen nicht doch noch zurückkommen würde. Aber wem sollte ich was vormachen? Er würde geradewegs zu Alistair zurücklaufen. Er hatte keine Wahl, genau wie auch ich keine hatte. Die Phasen bestimmten, was wir taten, und obwohl ich es besser hätte wissen müssen, hoffte ich verzweifelt, dass uns nicht das gleiche Schicksal bevorstand, als Dmitri und ich vom Schlachthaus der Duncans wegfuhren.