19
Der Ort, den Sunny gemeint hatte, nannte sich Faery Food -eine Teebar-Bücherladen-Kombination, geführt von einer Casterhexe aus Sunnys loserem Bekanntenkreis. Die Besitzerin und Sunny begrüßten sich sehr herzlich mit einer Unmenge von „Gesegnet seiest du innerhalb der Kreise“, mich aber schaute die Frau eher misstrauisch an.
„Du bist die Cousine?“, fragte sie mich.
„Luna, das ist Genevieve. Gene, Luna.“
Ich streckte meine Hand aus. „Kann zwar nicht sagen, dass ich schon viel von dir gehört hätte, aber trotzdem hallo.“
„Nimm s nicht persönlich, aber ich gebe Werwölfen nicht die Hand“, erwiderte sie. „Eure Energien sind zu unvorhersehbar.“
„Gene ist ein Touchseer, eine Seherin, die Menschen durch Berührung lesen kann.“
„Ich weiß, was ein Touchseer ist, Sunny. Wir sind mit der gleichen Großmutter aufgewachsen“, erwiderte ich genervt.
„Rhoda ist eine wunderbare Frau“, sagte Genevieve und fiel damit auf meiner Beliebtheitsskala noch weiter nach unten.
Ich ließ die Cedar-Hill-Box auf einen Tisch fallen und fühlte etwas Genugtuung, als Genevieve durch das laute Geräusch zurückschreckte. „Ich sag dir, wie wir s machen, Gene. Bring Sunny einfach das, was sie essen oder trinken will und meinetwegen auch das Zeug, das sie braucht, um die vier Elemente anzurufen. Und während ihr zwei dann ein Schwätzchen haltet, setze ich mich mit meiner widerlichen Werwolfenergie hier hin und schau mir die Akte an, okay?“
Genevieve rümpfte zwar die Nase, entfernte sich dann aber, ohne ein Wort zu sagen, in ihrer grün-blau wallenden Robe, die perfekt auf ihre Slipper abgestimmt war.
„Vielleicht sollte dir Sunny bei der Gelegenheit auch gleich noch was über die Mode des 21. Jahrhunderts erzählen“, brummte ich.
Sunny warf mir ihren Werd-endlich-erwachsen-Blick zu. „Sie ist einfach nur vorsichtig“, bemühte sie sich, das Verhalten von Genevieve zu erklären.
„Ich weiß, Sunny. Es ist kein großes Geheimnis, dass die meisten Casterhexen uns Werwölfe hassen.“
„Ich hasse dich nicht“, sagte sie seufzend. „Genauso sieht es bei Rhoda und Genevieve oder anderen Leuten mit dem Blut aus.“
„Genau. Und der Hexer, der mich ermorden wollte, ist dann natürlich die große Ausnahme.“
Genevieve kam mit einem Tablett und zwei dampfenden Tassen zurück. Die beiden Frauen setzten sich auf ein mit Kissen übersätes Sofa, und ich wandte mich der Cedar-Hill-Box zu. Mit einer raschen Handbewegung stieß ich den Deckel von der Box, wobei die Wächter nicht viel mehr als ein erschöpftes Schnappen hervorbrachten.
Der Inhalt der Box – größtenteils unordentlich in Aktenmappen gestopfte Papierdokumente – war zwar angesengt, aber intakt. Auf dem Boden der Box fand ich die Notizbücher der zuständigen Detectives sowie ein ledergebundenes Journal.
Zuerst schaute ich mir die Notizbücher an und entdeckte, dass der mit dem Fall betraute Detective nicht nur gern die Frauen auflistete, mit denen er ausging, sondern den Flecken nach zu urteilen auch mit Vorliebe in Restaurants zu essen pflegte, in denen Gerichte mit fettiger Bratensauce serviert wurden. Auf der Seite über Marcus Levinson hatte er nur ein mehrmals unterstrichenes Wort geschrieben: FREAK.
Die persönliche Meinung des Detectives ließ sich also kurz und bündig in einem Wort zusammenfassen. Bei den Dokumenten in den Aktenmappen handelte es sich um Kopien der Autopsieberichte und ein paar Protokolle der Anhörung zur Freilassung auf Kaution von Marcus Levinson. Sie waren fälschlicherweise in diese Akte einsortiert worden und für mich absolut unbrauchbar.
Schließlich nahm ich das Journal zur Hand und sah, dass es sich eigentlich um ein Buch handelte, auf dessen Vorderseite eine Sigille eingeritzt war. Die erste Seite war über und über in einer winzigen Handschrift beschrieben, und in der oberen Ecke standen die Initialen M. L.
Entsetzt ließ ich das Buch fallen. „Sunny?“ Es war zwar eigentlich unmöglich, aber ich war mir in diesem Moment trotzdem ziemlich sicher, dass vor mir auf dem Tisch der für Marcus wertvollste Gegenstand auf Erden lag, das Ding, wegen dem er von der Uni geworfen worden und letztendlich gestorben war.
Sunny beugte sich über meine Schulter. „Was ist los?“
Ich öffnete das Buch erneut. „Ist es das, was ich denke, dass es ist?“
Sie blätterte mit erstauntem Gesichtsausdruck durch das Buch. „Unglaublich.“
Ich konnte ihr nur zustimmen. Das gestohlene Spruchbuch von Marcus Levinson sah auf den ersten Blick völlig harmlos aus. Der in spinnenartiger Handschrift verfasste Text war nicht nur mikroskopisch klein, sondern auch in einer fremdartigen Sprache geschrieben und wirkte daher auf mich wie eine willkürliche Anordnung von Buchstaben, die keinen Sinn ergaben.
„Das Buch ist mit einem Schloss versehen“, stellte Sunny fest. „Ein Verschlüsselungszauber. Es gibt aber einen Spruch, durch den dieser Zauber zurückgesetzt und das Buch wieder lesbar wird.“
„Großartig. Kannst du nicht deine Freundin da auf dem Sofa fragen, ob sie mal das Buch betatschen könnte, um den Spruch herauszufinden?“
„So funktioniert ihre Gabe nicht“, erwiderte Sunny etwas zickig. Im nächsten Augenblick griff sie genervt nach ihrem klingelnden Telefon. „Hallo?“ Einen zornigen Gesichtsausdruck später reichte sie mir das Handy. „Da will jemand mit Detective Wilder sprechen.“
„Wer ist dran?“
Sunny zuckte mit den Schultern. Ich nahm das Telefon, und eine männliche Stimme fragte: „Detective?“
„Ja, hallo. Wer ist dran?“
„Officer Thorpe hier, Ma’am. Wir haben uns bei diesen beiden Morden am Tatort gesehen.“ Thorpe? Und er ruß mich auf Sunnys Handy an? Seltsam, aber in den letzten Tagen war alles irgendwie seltsam gewesen, also fragte ich nicht weiter.
„Was gibt s, Officer?“
„Ich habe hier etwas, das Sie sehen müssen, Ma’am.“ Seine Stimme hörte sich irgendwie gezwungen und angespannt an, als würde er sich anstrengen, normal zu wirken. „Hat mit dem Mord im Club zu tun. Dieses Mädchen … Katrina. Ich glaube, das könnte Sie interessieren.“
„Katya“, brummte ich. „Sie hieß Katya.“ Sunny machte eine fragende Geste, aber ich war nicht in der Lage, ihr ohne Worte mitzuteilen, dass dies der merkwürdigste Anruf meines ganzen Lebens war, und zuckte deshalb nur mit den Schultern.
„Katya. Dann eben so“, stimmte Thorpe zu. „Lieutenant McAllister sagte mir, dass ich Sie herholen soll. Er meinte, Sie wüssten, wie mit der Sache umzugehen sei.“ Thorpes Worte hörten sich fast nach einem auswendig gelernten Vortrag an. Mich beschlich ein eigenartiges Gefühl, das weniger mit den Instinkten einer Wölfin, sondern eher mit dem schlechten Bauchgefühl eines Cops zu tun hatte. Wenn mich dieses schlechte Bauchgefühl aber zu der Hexe führen konnte, würde ich diese Gelegenheit auf jeden Fall wahrnehmen.
„Wo ist ‚hier, Thorpe?“
Er ratterte die Adresse einer Wohnanlage in Mainline runter und fügte hinzu: „Beeilen Sie sich, Detective. Bitte.“
Ich wollte gerade fragen, warum, bei den Hex Riots, es ihm so eilig war, aber da hatte er schon aufgelegt. Rasch wählte ich Dmitris Nummer, die ich mittlerweile auswendig kannte, und musste es wohl fünfzehnmal klingeln lassen, bevor mir seine müde Stimme antwortete.
„Ja?“
„Ich bin s“, sagte ich.
„Hallo, du Ich. Hat sich fast gelohnt für den Klang deiner Stimme aus dem Bett zu rollen.“ Ich spürte, wie meine Wangen rot anliefen, sodass ich mich schnell von Sunny und Genevieve wegdrehte.
„Du musst mir einen Gefallen tun, Dmitri.“
„Dein Wunsch ist mir Befehl und so weiter und sofort. Was kann ich für dich tun?“
„Ich brauche eine Pistole“, sagte ich im Flüsterton. Ich bin vielleicht etwas zu neugierig, aber noch lange nicht dumm. Falls Mac wirklich wollte, dass Officer Thorpe mir etwas zeigte, konnte er das auch tun, wenn ich bewaffnet war. Ich war mir klar darüber, dass ich mit einer Pistole wenig gegen die Wesen ausrichten konnte, die mich in den letzten Tagen zu töten versucht hatten, aber trotzdem würde ich mich mit einer Waffe sicherer fühlen, egal, was alle anderen sagten.
In dieser Beziehung war Dmitri glücklicherweise weitaus offener als der Rest meines Umfelds und änderte kaum seinen Tonfall, als er fragte: „Irgendein bestimmtes Model?“
„Mir ist nur wichtig, dass man damit große Löcher in böse Leute schießen kann. Alles Weitere überlasse ich deiner Sachkenntnis.“
„Okay. Dann treffen wir uns in einer halben Stunde. Wo?“
Ich gab ihm die Adresse von Faery Food durch und legte auf. Sunny nahm ihr Handy zurück und fragte: „War das die Person, von der ich denke, dass sie es war?“
„Jawohl. Niemand Geringeres als dein teevernarrter Lieblingswerwolfbiker, um genau zu sein“, antwortete ich. Ich wandte mich Genevieve zu. „Wenn du denkst, dass ich böse bin, dann solltest du erst mal meinen Freund sehen. Eine Berührung, und seine Energien würden die Drähte in deinem Kopf wie einen Flipperautomaten beim Jackpot glühen lassen.“
Genevieve rümpfte die Nase. „Es freut mich, dass meine Gabe dich so sehr zu amüsieren scheint.“
„Manchmal“, zitierte ich Dr. Kronen, „ist Humor das einzige Mittel, um sich die Wölfe des Wahnsinns vom Leib zu halten.“
„Das dürfte in deinem Fall wohl schon zu spät sein“, erwiderte Genevieve und wandte sich ab, um das Tablett in die Küche zurückzubringen.
Miststück.
Vor der Tür setzte ich mich auf den Bordstein. Mit den Füßen in der Abflussrinne und dem Kinn in den Händen wartete ich auf Dmitri. Kurze Zeit später näherte sich sein Bike mit Donnergeräuschen. Als er mit einem Grinsen abstieg, sagte er: „Na, Süße, willst du eine Runde auf meiner Maschine reiten?“
„Du hast doch bestimmt irgendwo ein Buch mit diesen Sprüchen, oder?“, erwiderte ich seine Begrüßung.
Er zuckte mit den Schultern. „Für Lilia hatte ich immer kitschige Tiernamen. Hat sie auf die Palme getrieben.“ Mein Gesichtsausdruck sagte anscheinend alles, denn im Handumdrehen hörte Dmitri auf zu lachen und hielt mir eine Plastiktüte hin. „Große Löcher, ganz, wie die Dame es gewünscht hat.“
Dmitri hatte eine Colt 1911 mitgebracht. Diese robuste Armeewaffe mit Kaliber 45 war ursprünglich entwickelt worden, um selbst mit Unmengen Speed aufgeputschte feindliche Soldaten aufzuhalten, und sollte allemal für meine Zwecke ausreichen.
„Nun, wenn man schon aufs Ganze geht, dann so …“, meinte ich, und als ich am Schlitten der Monsterkanone hantierte, bemerkte ich das volle Magazin.
„Nur das Beste für meinen Lieblingsbullen.“ Dmitri stupste mich an, als ich nicht über seine Bemerkung lachte. „War ein Witz. Du bist genauso wenig ein Bulle wie ich ein Dackel.“
„Eigentlich hast du vollkommen recht“, stimmte ich ihm zu und steckte die Waffe in den Hosenbund. „Offiziell bin ich gar kein Bulle mehr.“
Als Sunny aus der Teebar kam, beugte ich mich nah zu Dmitri. „Und wenn du meine Cousine noch mal zu irgendwelchen moralischen Vorträgen ermutigst, verpass ich dir höchstpersönlich eine Abreibung.“
Dmitris Nasenflügel bebten. „Das würde mir vielleicht sogar ein bisschen Spaß machen.“
Sunny hielt die Akte in die Luft. „Du hast die Box vergessen. Hallo, Mr Sandovsky.“
Er warf ihr ein freundliches Lächeln zu. „Hi, Sunny.“ In dreißig Sekunden von total anzüglich auf total nett – was für ein Teufelsbraten!
Ich winkte Sunny zu mir. „Du gehst mit Dmitri.“ Sie öffnete gerade ihren Mund, um Einspruch einzulegen, aber ich kam ihr zuvor: „Jemand muss das Spruchbuch sicher verwahren, bis ich die Bluthexe gefunden habe. Außerdem muss jemand dafür sorgen, dass sich Mr Sandovsky gut benimmt.“
„Eigentlich besitze ich so etwas wie gutes Benehmen überhaupt nicht“, brummte Dmitri.
Sunny tätschelte seinen Arm. „Ich bin mir sicher, dass wir das schon irgendwo finden werden.“
Dmitri warf mir einen vielsagenden Blick zu, als Sunny mit der Box in das Cabrio stieg. „Wenn sie die ganze Zeit so keck ist, bin ich nicht für die Konsequenzen verantwortlich.“
„Du wirst dich dran gewöhnen, glaub mir.“
Er nahm meine Hand. „Wohin gehst du mit der Riesenknarre in deinem Hosenbund, Luna?“
Ich erwiderte seine Berührung. „Nirgendwohin, wo ich nicht allein klarkommen würde.“ Dann setzte sich Dmitri auf seine Maschine und folgte Sunnys Cabrio in den Verkehr. Ich ging in die entgegengesetzte Richtung und versuchte, nicht allzu sehr daran zu denken, welche Gefühle die Lüge gegenüber Dmitri in mir hervorrief.
Die Adresse von Thorpe führte mich zu einem dieser modernen, seelenlosen Wohnkomplexe, die im plötzlich trendigen Mainline wie Pilze aus dem Boden schössen, seitdem die Stadt mehr und mehr vor Waterfront und Highland Park flüchtete, als würde es sich bei diesen Vierteln um tollwütige Hunde handeln. An der Tür angekommen, drückte ich auf die zur Nummer gehörige Klingel, und ein Klicken der Gegensprechanlage signalisierte mir, dass jemand in der Wohnung den Hörer abgenommen hatte. Ein paar Sekunden lang hörte ich nichts außer Rauschen. „Hallo? Detective Wilder hier … Thorpe, sind Sie das?“ Nichts. Nach einer weiteren Sekunde summte das Schloss, und ich trat in den Vorhof.
Neben einer weiteren Tür, die auf den Hof und zu den Wohnungen hinter den makellosen Wänden führte, befand sich eine Reihe Briefkästen. Ich schaute auf den Kasten mit der Nummer, die Thorpe mir gegeben hatte. Auf dem Schild stand W. ROEN BERG.
Ich hatte keine Ahnung, warum man mich zur Wohnanlage meines ehemaligen Captains bestellt hatte.
Plötzlich ging die Tür auf, und als ich mich umwandte, sah ich direkt in die Augen von Regan Lockhart. Er lächelte mich an, und in seinem Nicken lag nicht die Spur einer Überraschung, mich an diesem Ort zu sehen.
„Ms Wilder. Schön, Sie wiederzusehen. Wir scheinen uns immer wieder in eher konfliktreichen Situationen zu treffen. Ich bin sehr erleichtert darüber, dass das zukünftig nicht mehr der Fall sein wird.“
Wenn man in kurzer Zeit einen Überraschungstreffer nach dem anderen kassiert, macht bei jedem irgendwann das Hirn schlapp und sagt: Genug jetzt! Das schien bei mir der Fall zu sein, denn in diesem Moment brachte ich nichts weiter fertig, als Lockhart wortlos anzustarren, während er sagte: „Falls Sie gekommen sind, um den Captain zu sprechen, so fürchte ich, dass er zur Zeit nicht verfügbar ist.“
In meinem Innersten läuteten die Alarmglocken Sturm. „Er hat mich gerade erst reingelassen“, presste ich in einem, meinem Empfinden nach, bemerkenswert neutralen Ton hervor. „Nein, das war ich“, sagte Lockhart. „Captain Roenberg hat die Bühne verlassen, fürchte ich. Aber bitte, überzeugen Sie sich doch selbst von der Lage. Ich denke, die Polizeikraft sollte sich das Ganze mal ansehen.“ Dann holte er sein Handy hervor und wählte 911.
Die einzige Sache, die meinem Hirn einfiel, war: „Was haben Sie getan, Lockhart?“
„Nur das, was notwendig war. Auf Wiedersehen, Detective Wilder.“ Er kippte seinen Kopf leicht seitwärts, machte eine selbstzufriedene Geste und ließ mich allein im Vorhof stehen, als er in seinem schwarzen Mantel aus dem Eingangstor huschte.
Als ich über die kleine Gartenfläche rannte und mit einem Satz die paar Stufen zu Roenbergs Wohnungstür hochsprang, war ich wirklich froh, dass eine Pistole in meinem Hosenbund steckte.
Kaum hatte ich die Tür berührt, drehte sich der Türknopf, und die Wohnung stand offen. Mit dem Rücken am Türrahmen überprüfte ich mit vorgehaltener Waffe das Foyer, bis mir mein Geruchssinn und meine Augen zweifelsfrei bestätigten, dass ich allein war. Nach dem Eintreten schloss ich die Tür hinter mir ab.
Die Wohnung war so steril und bieder wie Roenberg selbst -das Geschirr war akkurat in den Abtropfständer einsortiert, und die hellbraune Sofagarnitur passte perfekt zur Wandfarbe.
Ich warf einen Blick ins Esszimmer, in dem eine dicke Staubschicht über den Möbeln lag, und sah drei braune Kisten auf einem mit blutverschmierten Fingerabdrücken übersäten Tisch. Sie lagen auf der Seite, sodass der Inhalt herausgefallen war: kleine Plastiktüten mit Beweismitteln und ein paar Aktenmappen mit der Aufschrift PETROFFSKI, K. Neben den Akten lag eine offene DVD-Hülle. Zweifelsohne waren das die Beweismittel, die Roenberg im Club hatte sicherstellen lassen.
Mit der Pistole im Anschlag schnellte ich herum und ging auf die Tür hinter mir zu, die in Roenbergs Schlafzimmer führte. Mit der Fußspitze stupste ich sie auf und sah sich selbst in einem riesigen Wandspiegel. Zu meiner Linken saß Officer Thorpe in einem Stuhl.
„Verdammt“, murmelte ich, ließ die Waffe sinken und lehnte mich angesichts des grauenhaften Anblicks mit dem Rücken gegen die Wand. Direkt unter dem Kinn hatte man Thorpe die Kehle durchgeschnitten, sodass das Hemd seiner blauen Uniform über und über mit Blut besudelt war. In der schlaffen Hand des Toten baumelte noch Roenbergs schnurloses Telefon. Fassungslos machte ich einen Schritt auf die Leiche zu und schloss ihre Augen.
Da das Blut noch frisch war, begann mein Magen zu rebellieren.
„Tut mir leid, Officer“, flüsterte ich wütend angesichts der Tatsache, dass es keinerlei Grund für seinen Tod gegeben hatte. Ich weiß nicht, wie lange ich noch in einem Gefühl von Trauer und Wut dagestanden und den Toten angestarrt hätte, wenn nicht plötzlich jemand gegen die Wohnungstür gehämmert hätte.
„Nocturne City Police! Öffnen Sie die Tür, Detective Wilder!“
„Mist!“, entfuhr es mir, und ich wusste, dass dieser Ausdruck mein Dilemma nur unzureichend beschrieb.
„Hier ist Detective Wilder!“, schrie ich zurück. „Was ist das Problem?“
„Wir müssen Sie verhaften, Detective! Öffnen Sie die Tür, oder wir kommen rein und holen Sie, Sie Copkiller!“
VERDAMMT! Lockhart, der kleine, rachsüchtige Bastard, hatte allem Anschein nach die Kavallerie auf mich gehetzt. Dank meiner Wolfsohren hörte ich einen der Cops draußen sagen: „Los, Tür aufbrechen.“
„Wir kommen jetzt rein, Detective!“, brüllte ein anderer. Panisch suchte ich im Schlafzimmer nach etwas Brauchbarem.
Auf dem Bett lag ein offener Reisekoffer, ein Stapel Socken und Unterwäsche. Roenberg war schon lange auf und davon. Gegenüber von Thorpes Leiche stand ein Fernsehschränkchen, und aus dem DVD-Player lugte eine Disc. Das Blitzen des Silberlings zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Es war ein unbeschrifteter, silberfarbener Rohling – die Art von DVD, mit der man Pornos aufnimmt. Vielleicht hatte man Roenberg überrascht, als er seinen Bedürfnissen nachging, schoss es mir durch den Kopf. Ich riss die DVD förmlich aus dem Player und stopfte sie in meine Jackentasche. Dann rannte ich zur Küche und schlüpfte genau in dem Moment durch den Hinterausgang, als die Cops mit einem lauten Knall die Wohnungstür aufbrachen.