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Club Velvet war nicht schwer zu finden. Besser gesagt, war er nur schwer zu übersehen. Die Fassade des Clubs zierte eine nur von ihrem langen Haar bedeckte Nackte im Jugendstil, die über einem mehr als zwei Meter großen neonfarbenen Schriftzug auf rosafarbenem Untergrund prangte.

Der Club lag im Westen von Mainline mit seinen trendigen Restaurants und Boutiquen, in denen man gefälschte Designertaschen und echte Rolex en masse kaufen konnte, und wies für ein derart pompöses Etablissement recht erbärmliche Sicherheitsvorkehrungen auf. Keine Ausweiskontrolle am Eingang, keine Türsteher, keine roten Seile zum Ordnen der Menschenschlangen – nur gut gekleidete Damen mittleren Alters, die ein und aus gingen. Pärchenweise.

Ich musste lachen. Allem Anschein nach hatte Stephen Duncan Marina in einem Luxusnachtclub für Lesben kennengelernt. Das erklärte seine Bemerkung während des Verhörs – ein paar Freunde haben mich überredet da hinzugehen.

Der Eingangsbereich war ebenfalls in hellen und dunklen Rosatönen gehalten, und an den mit Seidestoffen abgehängten Wänden prangten weitere Nacktdarstellungen. An einigen Stellen konnte man die Reste von Reparaturarbeiten an der Wandbespannung und einige hässliche Flecke sehen, die anscheinend nicht ganz rausgewaschen werden konnten.

„Was ist da passiert?“, fragte ich die Frau am Einlass.

„Ein Einbruch vor ein paar Monaten. Einige unserer Nachbarn finden es nun mal inakzeptabel, dass wir … dass wir uns so offen und provokativ zur Schau stellen, wie es in einem der letzten Briefe hieß. Anscheinend bieten wir durch unsere bloße Existenz schon eine zu große Angriffsfläche“, erklärte sie mit einem bezaubernden Lächeln. „Name?“

„Ich suche nach Olya.“

„Olya hat heute frei“, erwiderte sie kalt. „Wenn Sie eine Freundin sind, muss ich Ihnen mitteilen, dass wir private Unterhaltungen und Treffen unseres Servicepersonals während unserer Geschäftszeiten nicht dulden.“

Ich zeigte ihr meine Dienstmarke. „Ich bin nicht privat hier. Sie ist eine Zeugin in einem Mordfall.“

Die Frau presste die Lippen aufeinander. „In diesem Fall werde ich die Clubinhaberin, Ms Carlisle, rufen. Warten Sie bitte an der Bar.“ Sie fasste mich am Ellbogen und führte mich zu einer riesigen, mit Messing beschlagenen Ebenholztheke, die sich über die gesamte hintere Clubwand erstreckte. Dort angekommen wies sie mir einen Hocker zu und entschwand dann wieder in Richtung ihres Platzes im Eingangsbereich, wo sie den Telefonhörer abhob.

„Etwas, um die Kehle anzufeuchten?“, fragte die burschikose Barkeeperin, die mit ihren kornblumenblauen Augen selbst nicht alt genug aussah, um trinken zu dürfen, geschweige denn, um auszuschenken.

„Nur ein Wasser bitte.“

„Sind Sie etwa Drogenfahnderin?“, fragte sie mich, und ich hob erstaunt eine Augenbraue.

„Ist das so offensichtlich?“

„Ich hab gesehen, wie Sie der Eisprinzessin eine Marke unter die Nase gehalten haben. So nennen wir die Henriette hier. Die Eisprinzessin.“

„Und wie heißen Sie?“

„Kyle“, erwiderte das Mädchen. „Ich weiß, ich weiß … komischer Name für eine Frau. Die Optionen für geschlechtsneutrale Namen sind nun mal begrenzt. Sie werden wahrscheinlich nie wieder so viele Frauen auf einem Haufen treffen, die sich Alex oder Jamie nennen, wie hier.“

„Nun denn, Kyle“, sagte ich und hob das Glas Wasser, das sie mir hingestellt hatte. „Ich bin nicht bei der Drogenfahndung, sondern vom Morddezernat, und ich suche nach Olya.“

„Das ist jetzt ein Witz, oder? Olya Sandovsky? Und ich dachte immer, das Mädchen wäre absolut sauber und eine gesetzestreue Bürgerin.“

Ich verschluckte mich bei ihren Worten. „Wie war der Nachname noch mal?“

„Sandovsky.“ Sie zeigte ans andere Ende der Bar auf eine große Gestalt, die dort im Schatten stand. „Der Bikertyp da drüben ist ihr Bruder.“

In Sekundenbruchteilen trat der wummernde Bass der Musik in den Hintergrund, und ich konnte nur noch mein wild klopfendes Herz hören. Er war es tatsächlich! Am anderen Ende der Bar beugte sich Dmitri Sandovsky etwas nach vorn ins Licht und nahm einen Schluck aus einem Glas mit irgendeinem dunklen Getränk. Seine Augen schienen glasig zu sein, und im nächsten Augenblick stieg er auf den vor ihm stehenden Hocker. Keine Spur von dem überheblichen Stolz, den ich während unseres ersten Treffens bei ihm beobachtet zu haben glaubte.

Ich ließ mein Wasser und die verdutzte Kyle stehen und ging auf Sandovsky zu. Mein ganzer Körper zitterte, da er sich bei dem Anblick des Hünen an unsere Auseinandersetzung auf dem Dach erinnerte – die Reflektion der Nachtlichter in seinen gelben Wolfsaugen und sein markerschütterndes Knurren hatte ich nur allzu lebhaft in Erinnerung.

„Dieser Ort hier scheint nicht ganz Ihre Kragenweite zu sein, oder?“, sprach ich ihn an.

Sandovsky wandte mir langsam den Kopf zu. „Hat ja ganz schön gedauert“, raunte er mir entgegen. „So wie Sie mich auf das Dach da hochgejagt haben, dachte ich eigentlich, dass Sie mich schon viel früher für eine zweite Runde aufstöbern würden.“

„Sony, dass ich Sie da enttäuscht habe“, antwortete ich. Dieses Mal sah es besser für mich aus. Sandovsky würde sich nicht nur über meine Pistole, sondern auch über einen Club voller Leute Gedanken machen müssen.

„Wenn Sie jetzt vielleicht denken, dass mich ein Haufen Menschen davon abhalten würde, mich zu wandeln, dann sind Sie falsch gewickelt“, sagte er.

Naja, zumindest hatte ich noch die Pistole.

„Warum haben Sie Lilia getötet?“, fragte ich. In meinem Innern war ich nicht wirklich davon überzeugt, dass er auch Marina ermordet hatte. Und wenn ich ganz tief in mich hineinhorchte, war ich noch nicht mal sicher, ob er der Täter im ersten Mordfall war. Sandovsky war ein Werwolf, der aufgrund seiner Instinkte handelte und sehr impulsiv war. Mein Mörder war aber ein Typ, der seinen Opfern fein säuberlich die Zeigefinger abschnitt, um die Fingerknochen für irgendwelche Rituale zu benutzen. Vorerst wollte ich mich aber an die Fakten halten, und die besagten, dass Sandovsky beide Frauen getötet haben könnte.

Er kippte noch einen Drink hinunter und knallte das Glas dann mit Wucht auf die Thekenkante, die er aber fast verfehlt hätte. Es war nicht nur der starke Geruch, der mir sagte, dass Sandovsky außerordentlich betrunken war. „Warum hätte ich Lilia denn ermorden sollen?“

„Na vielleicht, weil Sie ihr Zuhälter waren und Lilia Sie wütend gemacht hat?“ Ich öffnete mein Pistolenholster.

„Ich war nicht mehr Lilias Zuhälter, und ich habe sie auch nicht getötet“, stieß er wütend hervor. In der Tiefe seiner Augen flackerte die gelbe Farbe des Wolfes.

Lügen stinken normalerweise. Sie strömen einen feuchten, kupferartigen Geruch aus, so als würde sich jede Menge Angstschweiß zu stark erhitzen. Dmitri roch aber nach nichts von alledem, sondern nur nach teurem Whisky, billigen Zigaretten und einer guten Portion Weltschmerz.

„Ihre DNA und Ihre Fingerabdrücke waren massenhaft auf Lilias Körper verteilt“, erinnerte ich ihn. Kyle beobachtete uns vom anderen Ende der Bar aus und hielt einen Telefonhörer in der linken Hand. Ich stellte mich so hin, dass ich ihr die Sicht versperrte und flüsterte in Sandovskys Ohr: „Lilia hat erbittert um ihr Leben gekämpft. Man hat sie unter Drogen gesetzt und brutal misshandelt, aber sie hat gekämpft.“

Das Eis in Sandovskys Glas fing durch seine zitternden Hände an zu klirren.

„Anscheinend hatte sie etwas, für das es sich zu leben lohnte“, fuhr ich fort und hatte meine Entscheidung bereits gefällt: Sandovsky war nicht der Mörder. „So wie es aussieht, waren Sie das. Sie können jetzt entweder weiter versuchen, vor mir davonzulaufen, oder Sie können mir helfen, den Freak zu finden, der Lilia verstümmelt und umgebracht hat. Aber ich sage Ihnen eins, wenn Sie davonlaufen, werde ich meine Meinung ändern und sehr wahrscheinlich zu dem Schluss kommen, dass Sie derjenige waren, der Sie zu Tode gequält hat. Und dann, Sandovsky, dann beginnt die Jagd erst richtig.“

Sandovsky brüllte auf, zerdrückte das Glas in seiner Hand und schleuderte die Scherben zu Boden. „Fahren Sie zum Teufel!“, schrie er mich an.

Ich zog die Glock und legte auf ihn an. „Beruhigen Sie sich, Sandovsky.“ Um uns herum ergriffen die Clubgäste wie ein paar aufgescheuchte Hühner panisch die Flucht. Einige fielen sogar über ihre eigenen Sessel, als sie meine Pistole und Dmitri Sandovskys zornig verzerrtes Gesicht sahen.

„Lilia hat sich gewehrt?“, wollte er wissen. „Sie hatte einen schweren Tod?“

„Ja“, antwortete ich, ohne die Mündung meiner Waffe zu senken. „Und deshalb ist sie langsam und unter großen Qualen gestorben.“

„Oh mein Gott. Oh mein Gott. Verdammt!“ Seine Brust bebte, und seine Hände zitterten. Eine glänzende Träne rollte seine Wange hinunter.

„Dmitri“, sagte ich und versuchte dabei, meine Stimme sanft und ruhig klingen zu lassen. „Beruhigen Sie sich, und legen Sie Ihre Hände hinter den Kopf.“

„Dieser Bastard!“, brüllte er. „Ich werde ihn umbringen. Langsam und qualvoll wird er sterben. So wie Lilia.“ Plötzlich blitzten seine Augen gelb auf, leuchteten im nächsten Moment aber wieder in ihrer menschlichen smaragdgrünen Farbe. Ich umfasste die Glock jetzt noch fester.

„Heute Nacht wird hier niemand irgendjemanden töten, außer mir vielleicht“, sagte ich. „Und jetzt Hände hinter den Kopf, sofort!“

Die Muskeln in seinem Körper spannten sich an, und ich sah ihn schon zum Sprung ansetzen, um meinen Körper unter sich zu begraben und dann mit der mir entrissenen Pistole auf mich anzulegen.

Doch plötzlich schüttelte er sich, stieß einen Schluchzer aus und sackte zusammen. „Verdammt!“, stieß er hervor. „Mein Gott, es ist alles meine Schuld.“

Langsam senkte ich die Waffe. „Was meinen Sie damit, Sandovsky?“

„Sie wollte raus“, erklärte er. „Ich hab sie ausgeführt zu diesem Diner, und dann sind wir zurück in unser Quartier, um … Sie wollte mit mir kommen. Nocturne verlassen, und sie wollte eine Beziehung mit mir. Ich habe aufgehört mit dieser Arbeit, und sie wollte auch raus. Der Strich war nichts für sie … In der Ukraine wollte sie eigentlich Lehrerin werden …“ Seine Schultern bebten, und er drehte sein Gesicht von mir weg. Für jemanden wie Sandovsky war es wahrscheinlich schlimmer, vor einer Polizistin zu heulen, als mit glühenden Schüreisen gefoltert zu werden.

„Ich wusste nicht, dass Lilia tot ist, bis Sie in dem Laden in Waterfront aufgetaucht sind.“

„Und da haben Sie sich aus einem Gefühl der tiefen und unvorstellbaren Trauer heraus entschieden, sich der Verhaftung zu widersetzen und mich fast umzubringen?“, fragte ich.

Mit ernster Miene setzte sich Sandovsky wieder auf seinen Barhocker. „Lilia war eine von uns. Aus dem Rudel. Und jetzt ist sie tot. Sie würden das nicht verstehen.“

Der Alkohol und der Schreck hatten ihn anscheinend erst in diesem Moment voll erwischt. Mit trüben, glasigen Augen sank er auf dem Hocker in sich zusammen und starrte mich an, ohne mich wirklich zu sehen.

Ich schnaubte kurz vor Wut über seine versteckte Beleidigung, setzte mich dann aber auf den Hocker neben ihm. „Warum sind Sie davongelaufen, wenn Sie Lilia nicht getötet haben?“

„Die Gesetze des Rudels besagen, dass ich es tun muss“, murmelte er. „Ich selbst muss den Mörder zur Strecke bringen. Denken Sie vielleicht, ich würde zulassen, dass mir eine Ausgestoßene wie Sie dazwischenfunkt? Auf keinen Fall.“

Ich holte meine Handschellen heraus. „Na los, Dmitri, gehen wir. Wir können das Ganze auch auf dem Revier besprechen.“

„Er geht nirgendwohin“ sagte Olya, die aus einem Hinterzimmer kam und sofort einen Arm um die Schultern ihre Bruders legte. Wenn die roten Haare nicht gewesen wären, hätte ich die beiden maximal für Cousin und Cousine gehalten.

„Wollen Sie mich etwa aufhalten?“, fragte ich sie.

„Eine Insoli mit einer Pistole gegen zwei Redbacks. Die Chancen stehen schlecht für Sie, Detective Wilder.“

Zu allem Überfluss kam jetzt auch noch Kyle mit einem Baseballschläger in der Hand hinter der Bar hervorgeklettert.

„Bloß gut, dass ich Ihnen noch kein Trinkgeld gegeben habe“, sagte ich zu ihr.

„Dmitri hat Lilia nicht ermordet“, sagte Olya gefühlvoll. „Aber Sie sollten langsam in Erfahrung bringen, wer es gewesen ist. Und zwar bald. Wenn das Rudel es nämlich vor Ihnen herausfindet, ist der Typ tot. Und ich meine nicht so gut wie tot, sondern mausetot – nach vielen Qualen!“

„Ich werde Ihren Bruder nicht hier sitzen lassen und einfach seelenruhig nach Hause fahren“, sagte ich. „Er ist in dieser Sache ein unabdingbarer Zeuge.“ Wenn mir die Munition ausging, hatte ich schon oft meine letzte Hoffnung in hochgestochenes Anwaltskauderwelsch gelegt. Auf Olya schien das aber keinerlei Eindruck zu machen. Mittlerweile war auch niemand mehr im Club Velvet, der sich noch wundern würde, wenn aus einer Kellnerin und einem ungepflegten Biker plötzlich zwei große, rothaarige Wölfe werden würden. Olya hatte recht, es sah definitiv nicht gut für mich aus.

„Lassen Sie mich zufrieden, Detective“, sagte Sandovsky. „Drehen Sie sich doch einfach um und gehen Sie.“

„Wissen Sie nicht, dass es gefährlich ist, einem wilden Hund den Rücken zuzuwenden?“, fragte ich ihn. „Man weiß schließlich nie, wann es ihm in den Sinn kommt zu beißen.“

Sandovsky reckte seinen Kopf und atmete mit einem leisen Knurren tief durch die Nase ein. Ich fühlte ein Prickeln und lief rot an. Er witterte mich. Männliche Werwölfe taten das, um sich bei potenziellen Partnern oder Gegnern für Zuneigung oder Feindschaft zu entscheiden.

Es herrschte völliges Schweigen, bis Dmitri ausatmete und mich mit seinen tiefgrünen Augen anblinzelte. „Für eine Insoli gar nicht schlecht“, sagte er mit dem Ansatz eines schiefen Lächelns. Eine Hitzewelle rollte über mein Gesicht, und ich hatte das Gefühl, dass sich meine Wangen purpurrot verfärbten. Großartig! Es gab kaum eine Sache, die mein Image als knallharter Detective vor Sandovsky mehr hätte verstärken können, als wenn mir wie bei einem ertappten Schulmädchen die Schamesröte ins Gesicht stieg.

„Fahren Sie nach Hause, Detective, und kommen Sie morgen ins alte Crown Theater in Ghosttown“, sagte Dmitri mit plötzlich versteinerten Gesichtsausdruck. Ich wusste in diesem Moment, dass ich ihn nie wieder so sehen würde wie in jenem Augenblick, als er begriff, dass Lilia tot war.

Olyas Augen schienen ihn anzuschreien. „Dmitri!“

„Halt die Klappe“, knurrte er. Olya senkte kleinlaut den Kopf, wie es auch Manley getan hatte, als ich ihn und seine Spießgesellen dominiert hatte. Dmitri war also nicht nur ein einfaches Mitglied des Rudels, sondern hatte seinen Platz ziemlich weit oben in der Hierarchie, vielleicht sogar nah am Alphatier.

„Und was ist im Crown Theater?“, wollte ich wissen.

Er lächelte etwas. „Das Quartier meines Rudels. Da können wir uns dann unterhalten.“

Hatte ich richtig gehört? Das Quartier meines Rudels? Er musste tatsächlich weit oben auf der Leiter stehen.

„Also ehrlich gesagt, hört es sich für mich nicht nach einem unterhaltsamen Abend an, in das Revier eines rivalisierenden Rudels zu marschieren. Können wir uns nicht an einem öffentlichen Ort treffen?“, fragte ich Dmitri.

„Rivalisierend? Sie nehmen sich wohl ziemlich ernst, was, Detective?“, sagte Olya ohne einen Funken Humor. „Sie stellen keinerlei Bedrohung für die Redbacks dar. Die Wachen in unserem Quartier würden weiterschlafen, wenn sie Sie wittern.“

„Kommen sich Ihre monströse Arroganz und ihr riesengroßes Mundwerk eigentlich öfter derartig in die Quere, oder gibt es da normalerweise eine Regelung, wann wer von den beiden bellen darf?“, fauchte ich zurück.

„Streitsüchtig auch noch“, meinte Olya. „Kein Wunder, dass der, der Sie gebissen hat, Sie nicht behalten wollte.“

„Olya, genug jetzt“, sagte Dmitri, ohne die Stimme zu heben. Seine Schwester war jetzt zwar ruhig, aber ich hatte immer noch eine ungeheure Lust, ihr mit einem kräftigen Schlag das Feixen aus dem Gesicht zu treiben.

„Morgen Abend“, sagte Sandovsky. „Bei Einbruch der Dunkelheit.“ Er rümpfte noch einmal kurz die Nase und warf dann seinen Kopf in Richtung seiner Schwester. „Komm, Schwesterchen. Du hast heute früher Schichtende.“ Die beiden verließen den Club durch die Tür zum Hinterzimmer.

Kyle schwang sich wieder auf ihre Seite der Bar und verstaute den Baseballschläger. „Sony, war nicht so gemeint. Es ist alles nur wegen Amanda Carlisle, der Inhaberin, verstehen Sie? Sie erlaubt den Mitgliedern des Rudels hierherzukommen, wenn es ihnen nicht gut geht. Vor einiger Zeit hat sie Olya sogar einen Job gegeben.“

„Und Sie haben überhaupt keine Probleme damit?“, fragte ich Kyle.

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich bin zwar ein Mensch, aber ich habe nichts gegen Leute mit dem Blut. Außerdem hab ich selbst miterlebt, was Dmitri für uns getan hat. Vor den Briefen und dem Vandalismus gab es zwei College-Kids von der Nocturne University, die ständig hier vorbeikamen und die Leute belästigt haben. Eines Nachts haben sie Ms Carlisle auf dem Mitarbeiterparkplatz aus ihrem Mercedes gezogen und ihr die Klamotten vom Leib gerissen. Da kam Sandovsky dazu … Diese College-Bürschchen machten sich beim Anblick seiner Reißzähne sofort in die Hose. Sie wussten zwar nicht, was sie da eigentlich sahen, aber es hat sie zu Tode erschreckt.“

„Wie großmütig von Mr Sandovsky, was?“, brummte ich mit einem ironischen Unterton.

„Er ist kein ehrenhafter Ritter in einer glänzenden Rüstung oder so was Ähnliches“, sagte Kyle. „Aber er ist in Ordnung. Und glauben Sie mir, er ist kein Mörder.“

„Ich weiß“, erwiderte ich. „Aber irgendwas ist mit ihm. Also sagen Sie mir bitte nicht, was ich glauben soll und was nicht.“

Als ich nach Hause kam, lag über dem Ozean bereits das rosafarbene Licht des kommenden Tages, und die zunehmende Mondsichel schien nur noch eine blasse Geistergestalt vor dem bläulichen Himmel. Ich fiel sofort ins Bett und wachte zu einer -wie es mir schien – unchristlichen Stunde am frühen Abend auf. Sunny hatte mich an der Schulter gepackt und unsanft wach gerüttelt.

„Luna!“, rief sie. „Ich hab vielleicht was gefunden!“ Ihr Gesicht war blass, und sie hatte dunkle Schatten unter den Augen.

„Wie lange hast du nicht mehr geschlafen, Sunny?“

Mit einem Achselzucken antwortete sie: „Hab die Nacht durchgemacht. Ist aber nicht der Rede wert angesichts meiner Entdeckung. Schau dir das hier mal an!“ Sie reichte mir ein Buch mit blauem Ledereinband, das ich sofort als eines der alten Zauberspruchbücher unserer Großmutter erkannte. Casterhexen wussten ihre Sprüche größtenteils auswendig. Normalerweise verinnerlichten sie den Inhalt ihrer kleinen Spruchbücher und verbrannten sie dann.

„Sunny, wie bist du da rangekommen?“, wollte ich wissen.

Sie biss sich auf die Unterlippe. „Das willst du lieber nicht wissen, glaub ich.“

„Verdammt richtig, ich will s nicht wissen. Du wirst es mir aber trotzdem erzählen.“

Sunny seufzte und nestelte an der Quaste, die am Buchrücken hing. „Ich habs … na ja … mir ausgeliehen. Das letzte Mal, als ich bei Großmutter war.“

Mit mehr Schwung als notwendig drückte ich Sunny das Buch wieder in die Hände.

„Wie oft habt ihr beiden Kreiskritzler euch denn hinter meinem Rücken getroffen?“

Sunny biss nicht an, sondern wich gekonnt meiner Frage aus. „Du bist doch diejenige, die ihrer gesamten Familie mütterlicherseits den Krieg erklärt hat. Ich habe damit nichts zu tun. Unsere Großmutter ist eine hervorragende Casterhexe, und ich kann mich mit ihr treffen, wann ich will.“

„Sunny, diese Frau ist böse. Sie würde mich lieber mit dem Tafelsilber erstechen, als meinen Anblick ertragen zu müssen.“

„Du weißt, dass das nicht …“

„Oh doch, das ist sehr wohl wahr! Sie verabscheut mich. Welchen anderen Grund könnte sie ‚sonst dafür gehabt haben, ihre fünfzehnjährige Enkelin auf die Straße zu setzen?“

„Gut, du willst meine Hilfe anscheinend nicht. Ich bin draußen, falls du mich suchst“, sagte sie resignierend.

Ich wartete ungefähr fünfzehn Sekunden, nachdem sie aus dem Zimmer gestürmt war, und folgte ihr dann. Sie war im Garten hinter unserem Haus, in dem die Rosen an einem Rankgitter unter meinem Fenster emporwuchsen und Sunny die meisten ihrer Zauber durchführte. In der Mitte des Gartens befand sich eine unbepflanzte Fläche aus Erde mit einer Vertiefung im Zentrum – der Fokus für den Großteil von Sunnys Zaubereien.

Sie trug ihren Holzeaster und ihren Stab bei sich und zeichnete mit Letzterem routiniert einen magischen Kreis auf den Boden. In die verschiedenen Ecken des Pentagramms ritzte sie jeweils ein Zeichen in den Boden. Dann stellte sie sich selbst in die Mitte des Symbols.

„Wofür ist das?“, fragte ich und zeigte auf das Pentagramm. Casterhexen kanalisieren ihre Kräfte und brauchen normalerweise keine visuellen Markierungen oder Zeichen für ihren Zauber.

„Ich banne gerade“, sagte Sunny. „Geh jetzt lieber, Luna, du störst meine Konzentration.“

„Was bannst du?“

Sie ließ die Arme sinken und schaute mich zornig an. „All diese herrlich negative Energie, die du in letzter Zeit hier verbreitet hast, wenn du es genau wissen willst. Die Aura an diesem Ort ist so dunkel, dass ich noch nicht mal einen einfachen Suchzauberspruch hinbekomme, und dabei habe ich doch meine Ersatzschlüssel verloren. Schon wieder!“

„Ich dachte, dass man zum Bannen einen Doppelkreis braucht“, sagte ich und blätterte durch Rhodas Spruchbuch. Die Seiten waren in einer spinnenartigen Handschrift beschrieben und mit kunstvollen Zeichnungen von Sigillen, Pflanzen und Zauberrunen gefüllt.

„Doppelkreis? Nein“, erwiderte Sunny kopfschüttelnd. „Den braucht man nur, um die richtig Fiesen zu bannen -Wesenheiten und Dämonen.“

„Igitt“, stieß ich hervor. „Und ich dachte, das Herbeirufen von Dämonen sei nach dem Mittelalter zusammen mit der Eisernen Jungfrau aus der Mode gekommen.“

„Meines Wissens nach hat auch nie jemand behauptet, dass die Ideen der Bluthexen besonders intelligent oder gar zeitgemäß seien“, antwortete Sunny.

Nach einigem Blättern fand ich die umgeknickte Seite mit dem Zauber, wegen dem mich Sunny aus dem Schlaf gerissen hatte. Der Titel lautete „Wolfswurz-Tinktur“. Darunter stand in der akkuraten Handschrift unserer Großmutter geschrieben: Für die Aufhebung von Gestaltwandler-Flüchen und zur Verhinderung von Wandlungen.

„Das ist eigentlich für Menschen gedacht“, sagte Sunny und hob ihren Caster erneut an. „Für Leute, die von einem Umwandlungsfluch gequält werden und dann zum Beispiel von Beulen oder so was in der Art befallen werden. Wenn ich die Rezeptur etwas modifiziere, wette ich, dass man damit deine Wandlung unterdrücken kann, bis der Mond wieder abnimmt.“

„Modifizieren? Wie genau soll das funktionieren? Es ist nicht gerade ein Kuchenrezept, über das wir hier reden, Sunny.“ Ich las mir die Liste der Zutaten durch. Neben jeder Menge Kräuter, deren Namen ich nicht kannte, wurden auch so appetitliche Dinge wie Holzkohle und Silbernitrat aufgeführt.

„Es ist so“, begann Sunny, „wenn ich dir die Tinktur genau so verabreiche, wie sie jetzt ist, dann, hmm …“

„Was dann?“, forschte ich misstrauisch nach.

Sunny biss sich mit den Schneidezähnen auf die Unterlippe. „Wenn du sie als Werwölfin nimmst, dann könnte dich diese Mischung umbringen.“

„Oh, das ist großartig, Sunny! Deine Lösung für meine Wandlungen bei Vollmond lautet also Tod?“

Ihr Caster knisterte und verströmte diesen besonderen Geruch, der nur eine Sache bedeuten konnte: Ihr Zauber hatte begonnen, Energie zu ziehen. Ich wich zur Veranda zurück. Bei magischen Vorgängen wie diesem bekam ich sofort eine unangenehme Gänsehaut, wenn ich keinen Sicherheitsabstand hielt.

„Jetzt werd nicht gleich hysterisch“, sagte sie zu mir. „Du musst dich dafür öffnen, wenn du deine Wandlungen jemals in den Griff kriegen willst.“

„Sunny, ich weiß wirklich zu schätzen, was du zu tun versuchst, aber ich verwandle mich lieber jeden Vollmond in eine geifernde Höllenbestie, als eine Tinktur aus giftigen Kräutern zu schlucken und auf das Beste zu hoffen. Wirklich.“

„Wenn das so ist, bist du wieder auf dich allein gestellt, da ich nicht denke, dass du dir von irgendwo anders Hilfe holen wirst“, sagte sie abschließend. Der Caster fing an, sehr sanft zu summen, und Sunnys Augen flackerten, als die Energie durch ihren Körper strömte.

„Ich denke, ich werde jetzt mal lieber reingehen“, meinte ich und verschwand im Haus. In meiner Kindheit hatte ich bei Rhoda und Tante Delia genügend Zauber gesehen, um irgendwann festzustellen, dass es mir nicht gefiel, dabei zu sein. Ich duschte mich schnell, zog mir frische Klamotten an und ging dann in die Küche, um nach etwas Essbarem zu suchen.

Wenig später kam Sunny herein und wusch sich in der Spüle die Hände. „Fühlt sich schon viel besser an!“, sagte sie. „Nicht mehr so dunkel hier. Du musst wirklich mal wieder lachen und was für deine Stimmung tun, Luna.“

„Genau, weil ich ja auch die typisch quietschfidele Ulknudel bin, was?“ Sunny musterte mich mit einem kritischen Blick – ich hatte mir für das Treffen mit Sandovsky ein enges weißes T-Shirt und die tiefsitzendste Jeans angezogen, die ich hatte finden können.

„Ein Date? Du? Echt jetzt?“

Ich verdrehte die Augen. „So gern ich dich auch schocken würde, liebe Cousine, aber nein – kein Date. Ich treffe nur jemanden. Einen Werwolf.“

Ihre Augen wurden größer. „Wen?“

„Dmitri Sandovsky.“

Sie hob eine Augenbraue und ließ mich durch ihren Blick wissen, dass sie mich für völlig durch geknallt hielt. Anscheinend überlegte sie jetzt ernsthaft, ob sie lieber gleich die Jungs mit der Zwangsjacke rufen sollte oder erst später. „Der Typ, der dich so schlimm zugerichtet und dieses arme Mädchen ermordet hat?“

„Er ist nicht der Mörder … zumindest glaube ich das nicht mehr“, erklärte ich. „Und ja, er ist nicht unbedingt zimperlich.“

Hat aber ein paar umwerfende dunkelgrüne Augen. Und schönes rotes Haar. Und gut gebaut ist er außerdem. Und …

„Komm mal wieder auf den Planeten Erde zurück, wenn du dich wieder gefangen hast, Luna“, sagte Sunny und schnippte mir dabei mit den Fingern vor dem Gesicht herum. „Du kannst dich unmöglich ernsthaft mit diesem Psycho treffen wollen.“

„Ich muss aber“, erwiderte ich, ohne zuzugeben, dass ich einem Wiedersehen mit Sandovsky auch nicht wirklich abgeneigt war. Es war ja schließlich nichts dabei, ihn mir einfach mal genauer anzusehen – auch wenn er mich beim ersten Treffen arg zugerichtet hatte.

Aber was noch viel wichtiger war: Sandovsky schien so voller nervösem Tatendrang, dass er einfach mehr über den Mord an Lilia wissen musste, als er bisher zugegeben hatte. Lilia und Marina waren vom selben Mann – oder was er oder sie oder es auch immer gewesen sein mochte – ermordet worden. Dessen war ich mir absolut sicher. Und-umso mehr ich darüber nachdachte, desto weniger passte Sandovsky zu dem Profil eines durchorganisierten Killers, der Ritualmorde verübte. Warum sollte ein Typ wie Sandovsky seine Opfer erst unter Drogen setzen und dann zu Tode quälen, wenn er sich doch einfach verwandeln und ihnen buchstäblich den Kopf abreißen könnte?

So zu handeln lag einfach nicht in seinem Naturell. Ich suchte einen Täter anderen Kalibers. Kleiner und leiser, aber nicht weniger tödlich. Ich brauchte langsam ein Gesicht zu meinen ganzen Theorien, musste eine Gestalt für die Grausamkeit finden. Diese Unwissenheit machte mich wahnsinnig und verursachte ein unerträgliches Jucken auf meiner Haut. Es war fast so, als würde ich durch die beiden Morde langsam sehr reale und physisch spürbare Beschwerden bekommen.

„Ich werde die Tinktur trotzdem ansetzen“, erklärte Sunny mit einer für die Familie Swann typischen unerschütterlichen Dickköpfigkeit. „Vielleicht überlegst du es dir ja doch noch anders. Ist bald Vollmond, aber das weißt du ja selbst.“

„Warum auch nicht?“, sagte ich „Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass ich tot umfalle.“ Ich stand auf und schnappte mir die Wagenschlüssel. „Ich muss los. Das Treffen mit Sandovsky ist bei Sonnenuntergang.“ In der sanften Abenddämmerung klang dieser Satz derart melodramatisch, dass es schon wieder lächerlich war. Andererseits war ich auf dem Weg in einen Teil der Stadt, in dem kein Gesetz galt, um mich mit dem Anführer eines Werwolfrudels zu treffen – wenn diese Nacht nicht wenigstens ein wenig Drama für mich bereithielt, würde ich ziemlich enttäuscht sein.